Wut ist auch keine Lösung - Dr. Christoph Augner - E-Book

Wut ist auch keine Lösung E-Book

Dr. Christoph Augner

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  • Herausgeber: Humboldt
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Wut ist fast nie eine Lösung, ihre negativen Seiten sind unübersehbar. Sie schädigt Beziehungen, vergiftet das soziale Umfeld und richtet sogar gesundheitlichen Schaden an. Konflikte eskalieren, statt sich zu entspannen, Probleme vertiefen sich, anstatt gelöst zu werden. Dr. Christoph Augner zeigt in seinem Ratgeber, dass die Wut kein Feind sein muss. Er hilft seinen Leserinnen und Lesern, mit negativen Gefühlen gut umzugehen und die eigene Haltung zu verändern, um als „Wut-Entschärfer“ Ärger auslösende Situationen souverän zu meistern. Zudem liefert er eine Vielzahl von alltagstauglichen Gedanken, Impulsen und Techniken, um mit negativen Gefühlen umzugehen, die eigene Wut besser zu kontrollieren und bei der der Mitmenschen gelassen zu bleiben.

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INHALT

Einleitung

„Mein Name ist Wut“ – Eine unverstandene Emotion stellt sich vor

Was ist Wut überhaupt?

Wut im Lauf der Geschichte

Wut psychologisch gesehen

Wut und Persönlichkeit

Wut physiologisch gesehen

Warum werden wir wütend?

Ursachen der Wut

Funktionen der Wut

Die negativen Folgen der Wut

Wut in persönlichen Beziehungen

Wut am Arbeitsplatz

Die Folgen für den Wütenden

Wut, Hilflosigkeit und die Macht der Demut

So werden Sie zum Wut-Entschärfer: Crashkurs

Der „Feuerdrache in uns“: So managen Sie Ihren Ärger

Die Grundlagen

Vorbeugen ist besser als heilen

Wenn der Vulkan zu rauchen beginnt

Entwickeln Sie einen Wut-Kontrollplan

Die „Feuerdrachen um uns“: So gehen Sie mit der Wut der anderen um

Die Perspektive des anderen einnehmen

Den Wütenden ins Leere laufen lassen und Zeit gewinnen

Angebote machen, um wieder in Verbindung zu kommen

So tun, als ob

Großzügig sein

So kontrollieren Sie Ihre Wut langfristig: Vertiefung

Der Wut nachhaltig Grenzen setzen

Analyse #1: Die eigene Wut verstehen

Analyse #2: Die Wahrnehmung schärfen, Wutauslöser erkennen

Anti-Wut-Methode #1: Widerstandsfähigkeit kultivieren

Anti-Wut-Methode #2: Empathische Offenheit zeigen

Anti-Wut-Methode #3: Die Perspektive des anderen einnehmen

Anti-Wut-Methode #4: Entscheidende Gesprächssituationenerkennen und steuern

Anti-Wut-Methode #5: Den eigenen Handlungsspielraum nutzen

Anti-Wut-Methode #6: Den Stress meistern, fast alles ignorieren

Anti-Wut-Methode #7: Die Wut konstruktiv einsetzen

Zum Schluss

Der „Werkzeugkoffer Wut“ –die Top 7

Dank

Anhang

Quellen

Weitere Bücher von Christoph Augner

EINLEITUNG

Kennen Sie diese Tage? Nichts funktioniert, alles scheint irgendwie gegen Sie zu arbeiten. Dann kommt auch noch dieser Kollege, den Sie nicht leiden können, mit haltlosen Vorwürfen um die Ecke. Mit unendlicher Selbstbeherrschung unterdrücken Sie Ihre Wut – nur um sie am Abend wegen einer Kleinigkeit bei Ihrem Partner rauszulassen. Irgendwann reicht es eben!

Später am Abend drehen Sie vielleicht den Fernseher auf und kommen gerade recht zum Interview mit einem Fußballer, der ein Spiel knapp verloren hat. Sichtlich wütend schnauzt er den Reporter bei jeder Frage an. „War es ein Fehler, in der zweiten Hälfte so offensiv zu spielen?“ – „Sie können sich ja selbst mal auf den Platz stellen, wenn Sie so ein Schlaumeier sind!“, blafft der Spieler zurück. „Es ist mein Job, diese Fragen zu stellen“, sagt der Reporter. „Dann stell doch mal eine, die nicht dumm ist“, bricht der Spieler das Interview ab.

Klar, im Sport ist reichlich Adrenalin im Spiel, da geht man schnell in die Luft. Aber auch im Alltag begegnen wir ständig irgendwo wütenden Menschen.

Ich sitze in der S-Bahn, die Fahrkarten werden kontrolliert. Die Frau vor mir zückt wie ich ihre Jahreskarte, doch leider scheint der Scanner des Kontrolleurs die Karte nicht lesen zu können. „Die ist ungültig“, sagt er. „Sie müssen ein Ticket kaufen.“ – „Die läuft erst in acht Monaten ab, natürlich ist die gültig“, erwidert die Frau schon leicht gereizt. Sie ahnen, was kommt: Ein Wort gibt das andere, es kommt zu einem Schreiduell, in dem der Frau mit der Polizei und dem Kontrolleur mit der Entlassung gedroht wird.

Ich denke noch: „Muss sie sich jetzt so aufregen?“, doch beim Aussteigen später sagt sie mir, dass ihr Tag furchtbar war und sie jetzt auch das noch regeln müsse. „Ich kenne solche Tage“, antworte ich und meine es auch so. Man muss kein geborener Choleriker sein, um einmal die Nerven zu verlieren und wütend zu werden. Wenn die Kinder schon beim Frühstück quengeln, der Chef zu Hause anruft, man keine Zeit mehr für den Einkauf hat, die Kollegen die Arbeitsaufteilung absichtlich missverstehen – dann kann der Topf einfach einmal übergehen.

Beim Heimgehen biege ich in meine Gasse ein, in dem Moment dreht eine Autofahrerin mitten auf dem Gehweg um – ich kann gerade noch zur Seite springen. Ich blicke zur Fahrerseite und erwarte voller Naivität eine entschuldigende Geste. Weit gefehlt, die Frau deutet mir den Mittelfinger. Sie gibt Gas, und wieder muss ich ausweichen, um nicht mit ihrem Seitenspiegel zu kollidieren. Fassungslos schaue ich dem Auto hinterher, ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass ich wütend werde …

Im Straßenverkehr, auf Demonstrationen, in Internetforen, sogar in Diskussionssendungen – überall wütende Menschen. Klar, Wut hat es schon immer gegeben, ist zutiefst menschlich, aber es scheint kaum von der Hand zu weisen, dass diese Emotion im Trend liegt. Wütende Rächer à la „Ein Mann sieht rot“ sind mittlerweile gängige Heldencharaktere in Film und Fernsehen. Viele Serien bestehen mittlerweile daraus, dass sich Menschen anbrüllen, „auf den Tisch hauen“ oder sich sonst irgendwie die Meinung geigen.

Auch die psychologische Forschung interessiert das Thema Wut brennend – allerdings erst seit Kurzem. Eine einschlägige Schlagwortsuche in der größten medizinischen Datenbank PubMed zeigt einen bemerkenswerten Trend: Bis 2006 wurden nur wenige Studien pro Jahr publiziert, dann plötzlich ein massiver Anstieg: Drei Viertel aller Studien zur Wut sind seit 2006 erschienen.

Manche sagen, in der modernen Gesellschaft, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit sind negative Emotionen nicht mehr akzeptiert, man darf nicht mehr sagen, was man denkt, man muss immer schön brav sein. Das staut sich dann alles auf und entlädt sich in anderen Situationen. Die Gattung „Wutbürger“ entsteht.

Doch Wut ist keine Lösung. Ihre negativen Seiten sind unübersehbar. Wütende Menschen beschädigen ihre Beziehungen, vergiften ihre Umgebung und schaden letztlich sich selbst. Manchmal führt Wut zu Aggression oder gar Gewalt. Konflikte eskalieren, statt sich zu entspannen, Probleme vertiefen sich, anstatt gelöst zu werden. Nicht umsonst galt die Wut schon in der Antike als Charakterschwäche und war deshalb verpönt.

Ist der Wutanfall schließlich vorbei, überkommen den Wütenden nicht selten Schuldgefühle. Man hat es ja nicht so gemeint, entschuldigt sich im besten Falle, relativiert die ganze Sache („So schlimm war es ja auch nicht“, „Es musste halt raus“) oder tut einfach so, als wäre nichts gewesen.

Doch die Wut ist keine nutzlose Emotion, die nur Schaden erzeugt. Sie hat Funktionen in unserem Leben. Ein konstruktiver Umgang mit ihr heißt auch nicht, sie zu ignorieren oder einfach hinunterzuschlucken. Sie weist uns auf etwas hin, was nicht „passt“. Auf eine Ungerechtigkeit, auf verletzte Bedürfnisse oder Gefühle, auf eine Situation, die uns schadet.

Wut ist dann zwar nicht die Lösung. Aber wir können dafür sorgen, dass sie den Beginn einer Lösung darstellt. Wenn wir lernen, unsere Wut zu kontrollieren, also sie weder zu ignorieren noch sie einfach rauszulassen, kann sie ihre wichtige Funktion voll entfalten.

Genau darum geht es in diesem Buch. Wir werden zunächst unseren vermeintlichen Feind einmal kennenlernen und ihn uns zum Freund machen: Im ersten Hauptkapitel Mein Name ist Wut: Eine unverstandene Emotion stellt sich vor werden wir erfahren,

• was Wut genau ist,

• warum wir überhaupt wütend werden und

• welche Folgen die Wut wirklich hat.

Nach diesem ersten Einblick erfahren wir, wie wir den Feuerdrachen in uns selbst zähmen, also unsere eigene Wut, unseren Ärger kontrollieren lernen und mit wutauslösenden Situationen besser umgehen. Nicht zuletzt müssen wir uns aber auch mit den wütenden Menschen in unserer Umgebung auseinandersetzen. Dies ist der Inhalt des zweiten Hauptkapitels, So werden Sie zum Wut-Entschärfer: Crashkurs.

Um langfristig einen besseren Umgang mit Wut zu etablieren, müssen wir unsere Haltung negativen Emotionen gegenüber überdenken. Dafür liefert das dritte Hauptkapitel dieses Buches zahlreiche Impulse: So kontrollieren Sie Ihre Wut langfristig: Vertiefung. Dazu gehört, die eigene Wut besser zu verstehen, aber auch, die Wahrnehmung zu schärfen und voreilige Bewertungen zu reduzieren.

Allzu oft stolpern wir in wichtige Dialoge völlig unvorbereitet und unkoordiniert hinein und lösen unnötigerweise einen Teufelskreis negativer Emotionen aus. Daher beschäftigen wir uns damit, wie wir in der Begegnung mit anderen Menschen wutauslösende Momente reduzieren können, also wie wir „offener“ in Gesprächssituationen gehen, aber auch, wie wir wichtige Gespräche erkennen und besser führen können.

Wut entsteht oft als Ohnmacht oder aber aus Überforderung und Stress. Beides macht uns irgendwie hilflos, lässt uns dünnhäutig werden. Daher geht es in meinem Buch auch darum, sich auf das zu fokussieren, was wir ändern können, was in unserer Kontrolle liegt – und das ist immer noch sehr viel, nicht selten zu viel. Genau darum müssen wir wählerischer sein bei unseren Aktivitäten und Aufgaben, müssen Prioritäten setzen, reduzieren und so manches auch ignorieren.

Am Ende geht alles gut aus, das verspreche ich. Zumindest in diesem Buch, aber – da bin ich zuversichtlich auch bei Ihnen – wir versöhnen uns jedenfalls mit der Wut. Sie ist ein Teil von uns, und manchmal ist es sogar sinnvoll, sie von der Leine zu lassen.

In Wut ist auch keine Lösung ist es mir wichtig,

• Ihnen so viel fundierte Hintergrundinfos zum Thema Wut und negative Emotionen zu geben wie nötig,

• den Fokus auf praktische Impulse und Tipps zu legen, mit denen Sie die eigene Wut wirksam kontrollieren und nutzen können, um Ihr Wohlbefinden zu verbessern,

• Ihnen alltagstaugliche Methoden an die Hand zu geben, die es Ihnen ermöglichen, mit der Wut anderer Menschen besser umzugehen,

• Vorschläge zu machen, wie Sie durch relativ einfache Haltungsänderungen die negative Energie der Wut stoppen und die positiven Seiten dieser Emotion nutzen, um Ihr Leben und die Beziehung zu den Menschen, die Ihnen wichtig sind, erfolgreicher zu gestalten,

• wissenschaftlich fundiertes Material aus den verschiedensten Fachdisziplinen anzubieten, das aber gleichzeitig einfach und effektiv in die Praxis umsetzbar ist.

Sind Sie bereit, sich der Wut zu stellen? Dann los!

Herzlichst

Ihr

Dr. Christoph Augner

„MEIN NAME IST WUT“ – EINE UNVERSTANDENE EMOTION STELLT SICH VOR

Die Wut hat kein gutes Image. Häufig wird sie ignoriert oder unterdrückt. Wenn sie sich dann doch Gehör verschafft, verstehen wir sie nicht richtig. Wir sehen nicht, was dahintersteht, wo ihre Ursachen liegen. Wir bringen sie nur mit Gewalt und Aggression in Verbindung. In diesem Kapitel wollen wir ganz unvoreingenommen die Wut kennenlernen, ihre negativen Seiten aufdecken, aber auch mehr über ihre Funktion erfahren.

Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer

Aristoteles

Was ist Wut überhaupt?

Wut im Lauf der Geschichte

Kennen Sie Achilles? Ja, genau, Brad Pitt im Film „Troja“. Und ja, genau, das war der Kerl mit der verwundbaren Ferse. Die griechischen Mythen sind zum Teil etwas verworren und schwierig interpretierbar. Aber die Sache mit Achilles geht in etwa so:

Achilles ist ein fast unverwundbarer Held der Griechen, der aber auch sehr schnell beleidigt ist. Im Trojanischen Krieg überwirft er sich mit dem Anführer der Griechen, Agamemnon. Er schwört, nicht mehr an den Kampfhandlungen teilzunehmen, und schmollt. Die Griechen verlieren Schlacht um Schlacht. Schließlich flehen ihn die Griechen an, wieder mitzukämpfen, er schickt aber nur seinen Freund Patroklos, der schließlich vom trojanischen Helden Hektor getötet wird. Wutentbrannt steigt Achilles mit neuen Waffen wieder in den Krieg ein, metzelt Feinde nieder und tötet schließlich auch Hektor, um seinen Freund zu rächen.

Achilles’ Zorn gilt im Mythos aber nicht einfach als banale menschliche Wut, sondern als etwas Göttliches, etwas Positives – trotz der verheerenden Folgen. Das liegt vielleicht an der Ursache der Emotion, tief empfundene Ungerechtigkeit. Vielleicht auch das Gefühl, nur eine Marionette zu sein, ein Opfer des Schicksals, das Gefühl, nicht selbst über das eigene Leben bestimmen zu können. Das ist ein wichtiger Punkt bei der Wut, auf den wir später zurückkommen werden.

Die Geschichte des Achilles übt bis heute eine große Faszination aus. Wir leben in einer Welt eng abgesteckter Handlungsspielräume, bis ins kleinste Detail geregelter bürokratischer Prozesse.

Oft haben wir das Gefühl, nicht nur ohnmächtig zu sein, sondern ungerecht behandelt zu werden. Und dann kommt mit Achilles jemand, der mal auf den Putz haut, der sich nicht alles bieten lässt und die Dinge wieder „richtigstellt“. Dass das alles nicht gut ausgeht, ist dabei nicht so bedeutsam.

Spannend ist, dass die griechische Mythologie hier nicht ganz im Einklang steht mit der Bedeutung der Wut im richtigen Leben in der Antike. Im alten Griechenland und im Römischen Reich waren sich die Philosophen weitgehend einig, dass Wut verhindert und kontrolliert werden muss und Ruhe und Mäßigung wichtige Tugenden darstellen.

Insbesondere die philosophische Schule der Stoiker hat sich um die Emotionskontrolle bemüht. Die Stoiker sind der Meinung, dass nichts, was von außen kommt, wirklich schlecht ist. Alles hängt nur von unserer Interpretation ab. Das klingt sehr gut, im normalen Alltag mag das auch ganz gut funktionieren, in Krisensituationen kann es aber schwierig werden. Unfälle, Krankheiten, Unglücke, Ungerechtigkeiten einfach nur als mentale Probleme zu sehen, die gar nicht wirklich da sind, wird schnell zynisch.

Doch die Stoiker sagen: Wut macht uns dumm, sie verengt unsere Wahrnehmung, und das wiederum führt dazu, dass wir schlechte Entscheidungen treffen. Wut ist also nur eine Einstellung, das Produkt unserer Glaubenssätze und Werte.1

So meint etwa der römische Philosophenkaiser Marc Aurel, dass Stärke und Tapferkeit wichtige Tugenden sind. Trauer, aber auch Wut sind Zeichen der Schwäche. Diese Überlegungen sind deshalb so wichtig, weil sie Eingang gefunden haben in die moderne Psychotherapie. „Kognitives Umstrukturieren“ bedeutet, dass ich ein Ereignis einfach uminterpretiere, sodass es mich nicht mehr wütend macht.

Wut wurde bald „Krankheit der Seele“ gesehen und später im Christentum schließlich als Todsünde. Die antiken Philosophen waren recht besorgt um die Folgen zügelloser Emotionen. Weil insbesondere die Wut das gesamte Staatswesen beeinträchtigen konnte, waren sie so versessen darauf, sie möglichst negativ darzustellen. Damit war die Emotionskontrolle auch ein wichtiges Element sozialer Kontrolle. Wut wurde sehr stark als weibliche Emotion gesehen, als sachlich weitgehend ungerechtfertigte Gemütsregung. Somit waren Frauen nicht vertrauenswürdig und nicht sachlich genug für öffentliche Funktionen.2

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, auf den sehr viel später unter anderem der Feminismus geantwortet hat. Wut wird demnach nicht mehr nur als negative Emotion, als Symptom für eine nicht funktionierende Emotionskontrolle, sondern als Indiz für das Vorliegen von Ungerechtigkeiten gesehen. Damit kommt der Wut auch ein rationaler Wert zu:3 Wenn man in diesem Sinne die Wut unterdrückt, akzeptiert man die ungerechte Situation und verschließt die Augen davor.

Wie Emotionen gesehen werden und was man damit Verbindung bringt, ist also sehr stark abhängig davon, in welcher Zeit und in welcher Gesellschaft wir leben, und nicht zuletzt, welche Interessen die Mächtigen verfolgen.

Wut, das lehrt uns die Geschichte, kann verheerende Folgen haben, zerstörerisch sein. Sie hat aber auch eine wichtige Funktion: Sie kann dazu führen, dass wir gegen Ungerechtigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust aktiv werden.

Wut psychologisch gesehen

Vielleicht kennen Sie die US-amerikanische TV-Serie „Scandal“. Wenn nicht, kein Problem, der Inhalt ist schnell erklärt. Im politischen Machtzentrum von Washington ist eine ehemalige Beraterin des US-Präsidenten damit beschäftigt, Kriminelle aus der Oberschicht von ihren juristischen Problemen zu befreien. Da werden die Spuren von Affären verwischt oder auch Morde vertuscht. Wenn man die Handlungsabläufe analysiert, bestehen die Episoden zu etwa der Hälfte daraus, dass Menschen miteinander schlafen, und zur anderen Hälfte daraus, dass sie sich wütend anschreien. Kaum vorstellbar, wie das im normalen Alltag aussehen könnte. Jedenfalls würde man sie nicht – wie in der Serie – als Helden sehen. Wer seine Emotionen gar nicht unter Kontrolle hat, wer von einem Wutanfall zum nächsten wankt, wird es schwer haben, nachhaltige Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Und so haben Psychologinnen und Psychologen die Tradition der Stoiker weitgehend fortgeschrieben und Wut als einen unerwünschten Zustand definiert. In Sigmund Freuds Psychoanalyse ist die Wut das Resultat unserer aggressiven Grundtriebe, die der Mensch natürlicherweise einfach hat. Das heißt, hier geht es darum, sie auf möglichst harmlose Weise umzulenken. Wut könnte etwa im Sport abgebaut werden.

Neuere Theorien sehen in der Wut die Folge von Frustrationen und Kränkungen. Wird der Selbstwert tatsächlich oder gefühlt immer wieder verletzt, wird ein Mensch wütend. Eine weitere Erklärung geht davon aus, dass Wut genauso gelernt wird wie alles andere. Das heißt, dass man möglicherweise schon als Kind lernt, in welchen Situationen man wie reagiert – und in manchen Situationen reagiert man eben wütend.

Wir kennen jetzt ein paar Ideen, welche Ursachen Wut haben kann. Gehen wir noch ein wenig tiefer. Was ist Wut genau? Grundsätzlich geht man in den Verhaltenswissenschaften davon aus, dass es so etwas wie Grundemotionen gibt, also Emotionen, die in allen Kulturen, zu allen Zeiten in etwa gleich erlebt und ausgedrückt werden (wir haben oben gesehen, dass Historiker das etwas anders sehen. Aus ihrer Sicht sind Emotionen immer kulturabhängig!). Der Psychologe Paul Ekman hat festgestellt, dass diese Emotionen kulturübergreifend erkannt werden: Freude, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit, Überraschung – und eben die Wut.4

Wie wird man jetzt wütend? Denken wir zurück an das Beispiel, als mich die nicht ganz so freundliche Autofahrerin beinahe zweimal überfahren hätte. Die Psychologie sagt über solche Situationen: Okay, es gibt Menschen, die nehmen die Dinge rund um sich schnell mal negativ als Provokation oder Ähnliches wahr. Das ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die man Feindseligkeit nennt (der Gegenpol ist Verträglichkeit, da kommt man mit anderen recht gut aus). Sie ist vielleicht angeboren, vielleicht durch negative Vorerfahrungen geprägt, wahrscheinlich beides. Feindseligere Menschen misstrauen anderen Menschen eher, sind zynisch – und werden auch leichter wütend.

Nehmen wir an, ich bin ein eher feindseliger Mensch und unterstelle der Autofahrerin gleich mal Absicht oder Dummheit oder beides. Das führt dazu, dass ich aggressiv werde, die Frau anschreie, beleidige, was auch immer. Entscheidend ist dieser gedankliche Prozess, der aus meiner Persönlichkeitseigenschaft folgt. Wenn ich weniger feindselig wäre, würde ich mir vielleicht denken: Die Frau hatte sicher einen anstrengenden Tag, daher ist sie nicht konzentriert, das geht mir auch manchmal so, also kein Grund, sich aufzuregen, ist ja nichts passiert. Und ich werde gar nicht aggressiv, sondern lasse mir die Laune nicht verderben.5

Die Neuropsychologie geht noch einen Schritt weiter. Sie sagt: Meine Wut liegt nicht nur an mir, an meinen Bewertungsprozessen, sondern daran, wie emotionale Reize von außen in meinem Gehirn verarbeitet werden. Wut ist demzufolge die Folge von physiologischen Prozessen im Gehirn, die – so könnte man interpretieren – ein bisschen aus dem Ruder gelaufen sind. Wut als Hirndefekt sozusagen. Bildgebende Verfahren haben jedenfalls gezeigt, dass emotionales „Material“ zu Aktivierungen in jenen Gehirnarealen führt, die auch für Gedächtnis und Sprache zuständig sind. Bei Menschen, die sehr häufig wütend werden und wegen Kleinigkeiten ausflippen, wurden tatsächlich auch Veränderungen in diesen Gehirnregionen gefunden.

Das erklärt möglicherweise auch, dass besonders feindselige Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Impulse zu kontrollieren, und Defizite in ihrer Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit haben. Dass man bei einem Wutanfall nicht mehr klar denken kann, ist also keine Einbildung! Alle Emotionen werden in den gleichen Gehirnarealen verarbeitet. Daher ist es nur logisch, dass „Wutprobleme“ auch mit anderen negativen Emotionen verbunden sind, wie etwa mit überdurchschnittlicher Angst.6

Auch wenn man gut erklären kann, wo Wut im Gehirn entsteht und warum sie auch auf andere Faktoren unseres Erlebens und Verhaltens Auswirkungen hat, zeigt sie sich doch recht unterschiedlich. Klassisch stellt man sich das so vor, dass jemand herumschreit, also, dass jemand alles rauslässt. Das muss nicht sein. Viele Menschen zeigen ihre Wut nicht, sondern tragen ihren Groll und ihre negativen Emotionen mit sich herum. Die Wut bleibt unsichtbar.

Ob das besser oder schlechter ist, als die Wut rauszulassen, kann man nicht eindeutig sagen. Es hängt wohl von der konkreten Situation ab. Schreie ich einen wildfremden Menschen an, hat das wahrscheinlich kaum nachhaltige Konsequenzen (es sei denn, ich werde von ihm verprügelt). Tue ich das bei einer geliebten Person, nimmt die Beziehung Schaden, ein nachhaltig negativer Effekt kann die Folge sein. Meistens agieren wir aber umgekehrt: Wir wahren den Schein gegenüber der fremden Person und lassen bei nahestehenden Personen alles raus – oft auch ohne dass die etwas dafürkönnen.

Wir haben jetzt drei sehr wichtige Dinge gehört, die uns noch beschäftigen werden:

1. Wut kann man rauslassen

Der Klassiker: den anderen anschreien, beleidigen, aggressiv werden. Angeblich soll das entspannen und verhindern, dass wir implodieren. Allerdings hat das auch negative Konsequenzen für unsere Beziehungen. Wer ist schon gern mit einem Choleriker befreundet?

2. Wut kann man unterdrücken

Man sieht also von außen nicht, dass die Person wütend ist. So gesund kann das aber auch nicht sein. Bei einer Studie mit Pflegepersonal konnte gezeigt werden, dass Mitarbeiter, die Wut immer in sich hineinfressen, eher einen Burnout bekommen und eine geringe Arbeitszufriedenheit aufweisen.7

3. Wut ist die Folge mangelnder Impulskontrolle

Kontrolle bedeutet nicht unbedingt Unterdrückung, sondern z. B. Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt (etwa durch Abreagieren im Sport), Versachlichung und konstruktives Austragen eines Konflikts. Kann ich das nicht, neige ich zu 1. oder 2. Das hat negative Folgen für die mentale Gesundheit. In der Studie mit dem Pflegepersonal konnte gezeigt werden, dass Mitarbeiter, die Wut besser kontrollieren können, eine höhere Arbeitszufriedenheit hatten und mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen Burnout erleiden.

Wut und Persönlichkeit

Ich möchte nun etwas genauer betrachten, nämlich welche Rolle die Persönlichkeit bei unserer Wut spielt. Unabhängig von unserer Persönlichkeit muss man davon ausgehen, dass jeder Mensch Wut empfinden und artikulieren kann. Dennoch scheint es in der Art und Weise, wie Wut geäußert wird, aber auch in der Häufigkeit und in der Tiefe deutliche Unterschiede zwischen den Menschen zu geben.

Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von state anger (Wut als aktueller Zustand), trait anger (Charaktereigenschaft Wut) und Wutausdruck (also wie man seine Wut zeigt – die Grundausprägungen haben wir bereits kennengelernt). Im Zusammenhang mit der Persönlichkeit interessiert uns insbesondere die Charaktereigenschaft der Wut. Hier geht man davon aus, dass eine gewisse „Wutanfälligkeit“ Teil einer relativ stabilen Persönlichkeitsausprägung ist. Also, dass manche Menschen anfälliger für Wut sind als andere. Das kann sich so äußern, dass diese Menschen häufiger und/oder intensiver und/oder länger anhaltend Wut erleben (und vielleicht auch ausleben).8 Das lässt sich beispielsweise dadurch erheben, indem man Menschen mittels Fragebogen zu ihrem WutErleben befragt.

Schön und gut, aber was die Psychologen da sagen, wissen wir ja schon weitgehend aus unserem ganz normalen Alltag. Für uns in diesem Buch ist aber wichtig zu sehen, was Menschen mit hoher „Wutanfälligkeit“ falsch machen im Vergleich zu jenen, bei denen diese Anfälligkeit sehr gering ausfällt.

Der Psychologe Benjamin Wilkowski von der Universität Wyoming fasst das sehr schön zusammen.9 Er sagt, es gibt drei gedankliche Prozesse, die „Wutanfälligkeit“ charakterisieren. Erstens besteht eine automatische Tendenz, negative bzw. feindselige Eigenschaften bei anderen Menschen zu sehen. Das heißt, man tendiert eher dazu, Handlungen von anderen als Angriff zu sehen (auch wenn es gar nicht so gemeint war). Umgekehrt schaffen es Menschen, die weniger „wutanfällig“ sind, die Handlungen anderer positiver zu bewerten bzw. zumindest in geringem Ausmaß als Angriff zu erleben.

Der zweite gedankliche Prozess betrifft das häufige Grübeln über Situationen oder Handlungen, die mit negativen bzw. feindseligen Gedanken verbunden sind. Das führt dazu, dass die negativen Emotionen länger und intensiver anhalten. Umgekehrt schaffen es wiederum Menschen mit niedrigerer Wutanfälligkeit, mit relativ wenigen feindseligen Gedanken auszukommen.