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Als die Schauspielerin Madeleine Blais erhängt in der Scheune ihres Anwesens aufgefunden wird, deutet alles auf Selbstmord hin. Madeleine war in einer Krise, ihre Karriere offenbar am Ende. Einzig ihre Großmutter ist überzeugt, dass es Mord war. Sie bittet Pierre Rousseau, einen engen Freund der Familie, nach einem mysteriösen Anhalter zu suchen, den Madeleine in der Nacht ihres Todes mit auf ihr Zimmer genommen hat. Pierre weiß, dass er sich auf ein gefährliches Spiel einlässt: Er hat Madeleine einst geliebt - aber seine Liebe hat ihn zu einem einsamen, verlorenen Menschen gemacht. Der Versuch das Rätsel ihres Todes zu lösen bedeutet für ihn, die Schatten zu vertreiben, die über seiner eigenen Vergangenheit liegen ...
Raffnierter Psychothriller und poetische Liebesgeschichte.
",In der Stille des Winters' ist literarisch, psychologisch dicht und aller Spannung zum Trotz eine wunderschöne Liebesgeschichte." Hamburger Abendblatt.
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Seitenzahl: 586
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Lisa Appignanesi wurde in Polen geboren, wuchs aber in Frankreich und Kanada auf. Sie war stellvertretende Direktorin am Londoner Institute of Contemporary Arts, bevor sie freie Autorin wurde. Neben Romanen und Kriminalromanen hat sie u.a. Bücher über Marcel Proust, Simone de Beauvoir und die Frauen Sigmund Freuds geschrieben.
Raffnierter Psychothriller und poetische Liebesgeschichte.
Als die Schauspielerin Madeleine Blais erhängt in der Scheune ihres Anwesens aufgefunden wird, deutet alles auf Selbstmord hin. Madeleine war in einer Krise, ihre Karriere offenbar am Ende. Einzig ihre Großmutter ist überzeugt, dass es Mord war. Sie bittet Pierre Rousseau, einen engen Freund der Familie, nach einem mysteriösen Anhalter zu suchen, den Madeleine in der Nacht ihres Todes mit auf ihr Zimmer genommen hat. Pierre weiß, dass er sich auf ein gefährliches Spiel einlässt: Er hat Madeleine einst geliebt – aber seine Liebe hat ihn zu einem einsamen, verlorenen Menschen gemacht. Der Versuch das Rätsel ihres Todes zu lösen bedeutet für ihn, die Schatten zu vertreiben, die über seiner eigenen Vergangenheit liegen.
»›In der Stille des Winters‹ ist literarisch, psychologisch dicht und aller Spannung zum Trotz eine wunderschöne Liebesgeschichte.« Hamburger Abendblatt
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Lisa Appignanesi
In der Stille des Winters
Roman
Aus dem Englischen von Wolfdietrich Müller
Inhaltsübersicht
Über Lisa Appignanesi
Informationen zum Buch
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Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Teil 2
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Teil 3
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Impressum
Für John, wieder
PRINZ ESCERNY: Können Sie sich ein höheres Lebensglück für eine Frau denken, als einen Mann vollkommen in ihrer Gewalt zu haben?
LULUmit den Absätzen klirrend: O ja!
Frank Wedekind Erdgeist
Begehren geht nicht so sehr über sein Objekt hinaus, sondern ignoriert es eher zugunsten einer phantastischen Neuerschaffung.
Angela Carter Nichts heilig
Ste-Anne-de-Beaulieu ist ein guter Ort, um zu sterben.
Im eisigen Winter, der hier sieben Monate währt, bedeckt unerbittlicher Schnee den Boden. Es gibt keinen Frühling. In der Sommerhitze sitzen die Alten in Schaukelstühlen vor ihren Häusern beisammen und schauen zu, wie dicke Honigstreifen schwarz werden von Fliegen, die in ihren süßen Tod surren.
Mit dem Herbst kommen die Jäger. Im Schrittempo fahren sie durch die schmalen Straßen der Stadt und zeigen stolz die reiche Beute vor, die sie aus den entlegenen Wäldern mitgebracht haben. Elche mit schweren Wammen und Hirsche mit sanftmütigeren Gesichtern zieren die Geländewagen. Starre Tieraugen weisen mit einem feierlichen Ernst zum Himmel, der Leichenzügen würdig ist.
Viel länger als Montréal, die weltläufige Nachbarin weiter im Süden, blieb diese Stadt schwarz von wehenden Soutanen der Priester. Auch die Nonnen hier lehnten die erlaubten kürzeren Röcke ab. Veränderung steht in Ste-Anne nicht an erster Stelle.
Auf der Hauptstraße gibt es nur ein einziges neueres Gebäude, das eine gewisse Beachtung verdient. Es ist die Leichenhalle, die genauso prächtig und glitzernd wirkt wie die riesigen Bilder, die früher einmal über die Leinwand des Kinos flimmerten, das an dieser Stelle stand.
Die Leiche wurde im Winter gefunden. Am ersten Weihnachtstag 1989. Sie hing an einem Dachsparren in der alten Scheune hinter dem Haus. Zwischen Spinnweben, gefrorener Erde und dem Häufchen Pulverschnee, der durch die Ritzen hereingeweht war, lag noch immer ein wenig Heu aus einer vergangenen Zeit, als die Scheune einem Zweck gedient hatte.
Erst als ich auf die Leiche starrte, die so schmal und verletzlich in ihrem Pelzmantel dahing, wurde mir bewusst, dass auch ich mit einer Sehnsucht, die den Namen Tod trug, nach Ste-Anne zurückgekehrt war.
In jener Nacht riefen die Glocken der Kirche St.Anna mit überschwenglichem Jubel zur Mitternachtsmesse.
In meinem Halbschlaf verwandelten sich die Klänge in riesige Vögel, die durch die Dunkelheit des Dezembers schwebten. Aus den Fensterbögen des Glockenturms geworfen, glitten sie auf den Luftströmen über die Dächer der Stadt, streiften die Bäume im Tal und landeten hier in dem Haus auf dem Berg, um mich mit ihren Schwingen zu bedecken. Ich ließ mich von ihnen einhüllen. Ich wollte schlafen. Ich war so gespannt auf den Morgen.
Als neben meinem Bett misstönend ein schrilleres Läuten einsetzte, glaubte ich, es seien wieder die Glocken. Es dauerte eine Weile, bis ich die Hand nach dem Telefon ausstreckte, doch auf mein ›Allo‹ antwortete nur noch Schweigen, gefolgt von einem Klicken und einem Signal.
Madeleine. Sie musste es gewesen sein. Wer sonst würde es wagen, so spät noch anzurufen? Ich war nahe daran, die Nummer ihrer Großmutter zu wählen, um zurückzurufen, aber eine Mischung aus Taktgefühl und Ängstlichkeit hielt mich davon ab. Ich konnte mich irren. Und Madeleine würde es nicht schaden, wenn sie merkte, dass es Zeiten gab, zu denen ich nicht erreichbar war.
Die roten Ziffern des Radioweckers zeigten 1.18 an. Ich schüttelte den Ärger ab, der mit unterbrochenem Schlaf verbunden ist. Schließlich musste ich nicht vor der Morgendämmerung aufstehen. Es warteten keine Termine auf mich – keine greise Mme. Groulx, die verlangte, ihr immer wieder umgeschriebenes Testament erneut zu ändern; keine im gegenseitigen Hass erstarrten Scheidungswilligen, die um die Vermögensklauseln in den überholten Versprechungen eines Ehevertrags feilschten.
Am ersten Weihnachtstag und in der darauffolgenden Woche ist die Kanzlei von Pierre Rousseau, Notaire, geschlossen, nimmt der Anrufbeantworter keine Gespräche auf. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass diese Woche sein muss. Man muss den Ausbrüchen von Gereiztheit, die Weihnachten im Familienkreis auslöst, Zeit lassen, sich zu setzen, bevor man zu neuen Taten schreitet. Und ich habe meine Klienten gern. Viele kenne ich seit Jahren. Mitunter halte ich sie lieber fern von jenen teuren verbindlichen Klauseln und eigensinnigen Regeln, die den offiziellen Teil meiner Arbeit ausmachen. Denn gegenüber den Erschütterungen individueller Empfindungen ist das Gesetz blind.
Als ich die Kanzlei übernahm, hatte ich keine Ahnung, dass ich einmal so denken würde. Widerstrebend hatte ich mich vom Bürgermeister bei dem Trauerempfang, den er zu Ehren meines Vaters gab, überrumpeln lassen. Die fette Hand auf dem dicken Bauch bedachte M. Desforges mich mit seinem eitlen Lächeln, blickte mit den kleinen schlauen Augen zu mir auf und sagte: »Genug vom Reisen jetzt, wie? Zeit, nach Hause zu kommen. Wann fangen Sie an?«
Er hatte es nicht nur für sich entschieden, sondern war auch bereits davon überzeugt, dass ich gewissermaßen in die auf Hochglanz polierten Schuhe meines Vaters schlüpfen würde: Es würde eine dritte Generation von Rousseaus geben, die als Notare in Ste-Anne wirkten. Vielleicht glaubte Desforges, ich würde seine Angelegenheiten, seine Immobiliengeschäfte und die Verträge, die er für Ste-Anne abschloss, genauso reibungslos und verschwiegen regeln, wie mein Vater es getan hatte.
Es vergingen Wochen, aber schließlich entschied ich mich. Desforges hatte mit der Erwähnung des Skandals um den Mirabel Airport meinen Gerechtigkeitssinn wach gekitzelt. Die Bundesregierung hatte das Land mehrerer Familien enteignet, als der gigantische Flughafen geplant wurde, und nun, dreizehn Jahre später, als nur 5000 der 97000 Acres besten Ackerlands verwendet worden waren, wurde es ernst mit den Rückgabeansprüchen.
Um die Wahrheit zu sagen, war ich auch auf einem Tiefpunkt meines Lebens angelangt, ein Stück Treibgut, auf den Strand meines heimatlichen Québec zurückgeworfen. Ich hatte kein Verlangen, mit dem Journalismus weiterzumachen, der mich nach Frankreich, nach Nordafrika und dann in das Büro von Le Devoir in Ottawa geführt hatte. Meine Überzeugungen hatten mich im Stich gelassen. Vielleicht hatte die lange Zeit im Ausland meinen Patriotismus als Québecois untergraben.
Ich vermochte nicht mehr als verbale Entrüstung über die Ungerechtigkeiten aufzubieten, die eine von Großbritannien entlehnte und an Ottawa übertragene Verfassung für meine französischsprachige Provinz schaffen würde. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass die einst ersehnten Sprachgesetze, die den Gebrauch der französischen Sprache und ein französisches Bildungswesen durchsetzten, Mauern engstirniger Intoleranz um uns herum errichteten.
In diesem Zustand persönlicher Ungewissheit nahm die trockene Exaktheit des bürgerlichen Gesetzbuches, dem ich mein Studium gewidmet hatte, allen Charme eines Sirenenrufs an.
Ich zog in das Büro meines Vaters ein, das einen Steinwurf vom Rathaus entfernt lag. Außerdem richtete ich mich in dem geerbten Haus ein. Sogar das Auto meines Vaters übernahm ich. Mit der Sicherheit eines Schlafwandlers schlüpfte ich in die Amtsroutine eines Kleinstadtnotars – gegen meine jugendlichen Ideale, die mich gelehrt hatten, diesen Beruf als korrupte Bastion traditioneller Macht zu verabscheuen.
Ich brauchte einige Jahre, bis ich aufwachte. Dann allerdings merkte ich, dass die Arbeit ganz anders war, als ich mir vorgestellt hatte. Vielleicht war ich nicht korrupt genug oder nicht so sehr an Geld interessiert. Auf jeden Fall kam mir der Gedanke, dass meine Tätigkeit in Wirklichkeit irgendwo zwischen der eines Priesters und der eines Psychotherapeuten einzuordnen war. Ich war der Hüter und Chronist der Geheimnisse der Stadt. Vertrauliche Mitteilungen können gefährlich sein. Und einsam machen. Zum Glück habe ich heute Erfahrung mit dem Alleinsein.
In der Wärme des Federbetts beschleichen mich wieder Gedanken an Madeleine. Ich muss sie sehen. Ich habe etwas zu erklären. Ja, ich muss es erklären. Die Versuchung, mich sofort auf den Weg zu machen, droht mich schier zu überwältigen. Ich schalte die Nachttischlampe an. Die plötzliche Helligkeit blendet. Mit fast geschlossenen Augen taste ich nach meinen Sachen und gehe zur Haustür. Als ich den Schutz der Veranda verlasse, umfängt mich eine eisige Bö.
Das ist verrückt. Welchen Sinn sollte es eigentlich haben, durch die kalte Dunkelheit zu laufen? Ich treffe Madeleine später am Tag im Haus ihrer Großmutter Mme. Tremblay – zum weihnachtlichen Abendessen, wie sie es ausdrückt, obwohl es schon am Nachmittag beginnt. Es ist merkwürdig, dass ich sie Mme. Tremblay nenne, gerade so wie ich es als Junge tat; merkwürdiger noch, weil sie wieder meine nächste Nachbarin ist, nur einen Garten und ein Wäldchen entfernt auf dem Südhang des Berges – was in der Unermesslichkeit dieser Landschaft nicht allzu weit ist. Wir treffen uns regelmäßig sonntags zum Tee.
Mme. Tremblay hält sich trotz der Jahre, die verstrichen sind, an die Bräuche ihrer Kindheit in Schottland, obgleich sie mit mir französisch spricht, ein Französisch, das klar und korrekt ist und ebenso hartnäckig nicht Québecois wie ihre karierten Wollröcke und Strickjacken in gedeckten Farben.
Das einzige, was Madeleine von ihr annahm, war jenes Französisch. In Paris tat es ihr gute Dienste.
Madeleine in Paris.
Als nächstes merke ich, dass ich wieder im Bett liege, und heitere Bilder an jene frühen Tage in Paris lullen mich ebenso sicher ein wie oft erzählte Märchen aus der Kindheit.
Als die kalte graue Dämmerung zögernd durch mein Fenster kriecht, sind die Bilder meiner Erinnerung dunkler geworden. Ich möchte nicht an diese Dinge denken. Nicht heute, wo ich Madeleine auf ganz alltägliche Weise treffen werde – falls man sagen kann, dass irgend etwas bei meinen Begegnungen mit Madeleine jemals ganz alltäglich war.
Die Lampen im Bad sind irritierend grell. Ich erinnere mich daran, dass dies zu den Dingen gehört, die ich verändern möchte in dem Haus, das in meinen Gedanken noch immer das Haus meines Vaters ist.
Als ich Madeleine vor etwa zwei Wochen in Montréal zum letztenmal besuchte, war sie nicht lebhaft wie gewohnt. Sie trug alte Jeans und einen dunklen Pullover, der ihre Figur verbarg. Ihre Haare waren zerzaust, die Augen rot unterlaufen von zu wenig Schlaf. In der Woche davor war sie zum erstenmal in einem neuen Stück am Théâtre du Nouveau Monde aufgetreten, ihr erstes Erscheinen auf einer Bühne in Montréal seit langer Zeit, und die Kritiker hatten ihre Darstellung gnadenlos verrissen – die französische Presse mehr noch als die englische. Eine Stadt, die sich groß sehen möchte, aber klein weiß, legte einem Star seine ganze Gehässigkeit zu Füßen, der den fundamentalen Fehler begangen hatte, nach Hause zurückzukehren.
Der Premierentermin lag unglücklich. Nur zwei Tage davor hatte ein geistesgestörter Mann vierzehn Studentinnen der École Polytechnique, der technischen Fakultät der Université de Montréal, niedergeschossen. Wie ein Aufseher eines Konzentrationslagers hatte er Männern und Frauen befohlen, sich in getrennten Reihen aufzustellen. Dann hatte er mit seiner halbautomatischen Pistole nur auf die Frauen geschossen. »Ihr seid alle ein Haufen Feministinnen«, hatte er geschrien. »Ich hasse Feministinnen.«
Es war der letzte Tag des Semesters. Zuerst in der Cafeteria, dann im Seminarraum hatten die Studenten den jungen Mann mit der Baseballkappe für einen Witzbold gehalten. Er hatte gelächelt. Aber das Blut, das floss, war entsetzlich echt gewesen. Auch sein eigenes. Nach dem Gemetzel mit vierzehn Toten und dreizehn Verletzten hatte er sich selbst getötet.
In seiner Tasche fand die Polizei einen drei Seiten langen Brief, der den politischen Charakter seiner Tat kundtat. Feministinnen, erklärte er, hätten sein Leben ruiniert, hätten ihn jeglicher Chance beraubt. Dem Brief beigefügt war eine Liste von Prominenten, die man aus dem Fernsehen kannte, und Personen aus der Politik, ein stattliches Aufgebot erfolgreicher Frauen.
Die Provinz war wie gelähmt und trauerte um ihre Toten. Einen solchen Zwischenfall konnten wir uns in New York, in Kalifornien, in Texas vorstellen – aber nicht in Montréal, wo es immer noch vorkommt, dass jemand seine Haustür nicht verriegelt.
Tausende strömten zu einer Totenwache in der Universität und verwandelten die Straße am Berg in ein helles Lichterband. Zehntausende reihten sich am nächsten Tag ein, um den acht Toten, deren mit Blumen geschmückte Särge in der Halle der Universität aufgestellt waren, die letzte Ehre zu erweisen. Die Totenmesse in der mächtigen Basilika Notre Dame musste ein Teil der Trauernden auf dem Vorplatz verfolgen, und überall in der Provinz fanden Gedenkfeiern statt.
Madeleine hatte an beiden Zeremonien teilgenommen. Sie stand noch immer unter Schock, als wir uns trafen, als wären die Schüsse direkt auf sie gezielt gewesen. Ihre Hand zitterte, als ich ihr Feuer gab. Sie konnte sich auf nichts anderes als das grenzenlose Entsetzen über den Vorfall konzentrieren. Meine Versuche, vernünftig zu argumentieren, vermochten sie kaum zu trösten.
Wir saßen in einem kleinen portugiesischen Restaurant abseits der Main Street: weiße Wände, die durch schräge, leuchtend türkisfarbene Leisten noch weißer wirkten, Bilder von Fischerbooten in fernen Häfen. Ein kaltes, kristallenes Licht fiel durch hohe Fenster. Madeleine mochte das Licht nicht. Sie hätte sich am liebsten in irgendeine dunkle Ecke verkrochen. Während wir uns unterhielten, setzte sie ihre Sonnenbrille immer wieder auf und ab.
Sie berichtete mir, sie habe versucht, die Premiere des Stücks abzusagen und statt dessen zu Ehren der toten Frauen eine Lesung zu halten oder das Theater für einige Tage ganz zu schließen. Es sei nicht die Zeit für Schauspiele, schon gar nicht für eine Darstellung der Hedda, jener grandiosen, Waffen liebenden Tochter des Generals Gabler. Aber die Direktion hatte sie gezwungen weiterzumachen und nur ein kurzes Gedenken an die ermordeten Frauen erlaubt.
Madeleine streicht sich wiederholt über die Wange, als eine unsichtbare Fliege versuchte darauf zu landen.
»Ich verstehe nicht, warum ihr uns hasst. Sag es mir, Pierre.« Sie hat plötzlich in mir ein Ziel für ihren heftigen Zorn gefunden. »Warum wollt ihr uns weh tun, uns töten? Warum?«
»Bitte, Madeleine. Dieser Marc Lépine, dieser Amokläufer war ein Einzelfall. Er war wahnsinnig.«
»So viele von euch sind anscheinend wahnsinnig. Männer, die Frauen hassen. Gewalttätige Männer, Mörder, Serienmörder überall. Sogar hier.«
»In Romanen und Filmen gibt es viel mehr Serienmörder als im Leben, Madeleine. Gewalt gegen Frauen findet meist zu Hause statt. Du hast zuviel gelesen, zu viele Filme angeschaut.«
Es drängt sich mir der unangenehme Gedanke auf, dass Madeleine von Serienmördern besessen ist, weil sie eine Seriengeliebte ist.
Madeleine blickt mich finster an. »Also gut. Erkläre mir einfach den Hass. Verrate mir, warum. Und erzähle mir nicht, du wüsstest nicht, wovon ich rede. Komme mir nicht damit, du hättest sie nicht gehört. Sogar in dieser Woche hat es in den Programmen mit Zuschauertelefon eine ganze Menge von der Sorte gegeben. Männer, die ihre schlechte Laune abreagieren, als wären an ihren sämtlichen Misserfolgen Frauen schuld. Als hätten sich Marc Lépines Opfer ihren Tod selbst zuzuschreiben.«
»Ich weiß nicht, Madeleine. Ich halte es nicht für einen Hass, der mit dem Geschlecht zu tun hat. Nicht Männer gegen Frauen. Es sind einfach die Verlierer – Männer, die von ihren Frauen verlassen worden sind, Männer, die ihre Arbeit verloren haben oder keine finden, während Frauen anscheinend erfolgreich sind, Männer, die aus kaputten oder brutalen Familien stammen. Es sind nicht alle Männer gleich.«
Mein Versuch, ihre Angst mit vernünftigen Argumenten zu widerlegen, vermag ihre Aufregung kaum zu lindern. Sie setzt wieder die Brille auf. Ihre Stimme ist plötzlich leise und zittert ein wenig.
»Als ich gestern aus dem Theater kam, streifte ich aus Versehen einen Mann. Einen Fremden. Und er ging sofort auf mich los. ›Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Verdammtes Weibsstück! Marilyn Monroe? Die Königin von Saba? Maudite pute!‹ Und er spuckte mich an. Er spuckte!«
»Schrecklich.« Ich bin still. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich möchte sie festhalten, aber ich weiß, dass sie es nicht zulassen wird.
»Ich entschuldige mich für mein Geschlecht, Madeleine. Aber vergiss nicht, Marc Lépine war ein Einzelfall. Du brauchst dich vor nichts zu fürchten.«
Sie sticht mit der Gabel in die Salatblätter auf ihrem Teller, schiebt sie herum. »Vor nichts zu fürchten? Das kannst du heute sagen? Nach allem, was passiert ist.« Ihr Gesicht verrät eine heimatlose, verzweifelte, im Stich gelassene Frau. »Augen, die mich anstarren. Feurig. Seltsam. Ich kann sie manchmal im Publikum spüren.« Sie fröstelt. »Als besäßen sie mich. Als hätten sie ein Recht auf mein ganzes Wesen. Die Augen eines Jägers auf der Pirsch. Ich habe dir früher schon davon erzählt.«
»Madeleine, du bist Schauspielerin. Du …«
Sie fällt mir ins Wort. »Ich begreife wirklich nicht, wie du hier so ruhig sitzen und essen kannst. Ausgerechnet du!«
»Macht es die Sache besser, wenn ich aufhöre?«
»Vielleicht.«
Ich lege Messer und Gabel hin und falte meine gestärkte Serviette wieder zu einem ordentlichen Dreieck. Ich bin schuldig, stillschweigend verurteilt. Ich rufe die Verbrechen auf, die ich gegen Frauen begangen haben könnte, und mich schaudert unwillkürlich.
Eisige Finger umklammern plötzlich mein Handgelenk. »Entschuldige«, flüstert Madeleine.
Es ist ein Wort, das sie nicht oft gebraucht. Ich lege meine Hand auf ihre, versuche, ihre Augen hinter der undurchsichtigen Schwärze der Brille zu deuten.
»Ich sehe dich heute abend in dem Stück.«
»Nein! Ganz gewiss nicht.« Madeleine entzieht mir ihre Hand, obwohl ich versuche, sie festzuhalten. Sie springt auf und zieht ihren Mantel über. »Ich treffe dich bei Mémère. Am ersten Weihnachtstag. Abgemacht?« Sie zögert. »Du kommst doch? Ich möchte, dass du kommst.«
Ich nicke, mache Anstalten aufzustehen, aber Madeleine schüttelt den Kopf. Sie möchte nicht von mir begleitet werden. Ein ängstliches Lächeln, ein mattes angedeutetes Winken, und sie ist durch die Tür, ehe ich meinen Mantel holen kann. Ich habe keine Zeit, das »Hab doch nicht solche Angst« zu sagen, das mir auf der Zunge liegt.
An jenem Abend gehe ich trotzdem ins Theater. Ich muss Madeleine auf der Bühne sehen. Ich warte, bis das Licht langsam ausgeht, und schlüpfe auf einen Sitz hinten im Parkett. Ich mache mich ganz klein. Das Haus ist halb leer, und ich fürchte, dass Madeleine selbst auf diese Entfernung meine Silhouette erkennen kann.
Sie hat die Rolle der Hedda Gabler bisher noch nicht gespielt, doch es hat sie immer gereizt. Ich weiß, dass es die Herausforderung, die Hedda zu spielen, gewesen ist, die sie zum Theater zurückgelockt hat. Aber vom ersten Moment an, da Madeleine die Bühne betritt, wird klar, dass irgend etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist.
Der magische Glanz, der sie so oft zu einer faszinierenden Erscheinung auf der Bühne werden ließ, stellt sich nicht ein. Madeleine bewegt sich hölzern, als fürchte sie, Heddas unvergleichlicher Zauber könne sie selbst in den Bann ziehen. Anstatt Heddas kleine alltägliche Akte der Bosheit freudig zur Schau zu stellen, hält sie sich zurück, ist nicht mehr als ein Miststück, das zaudert und zögert.
Erst ganz am Ende, als sie ihr bleiches, schon körperloses Gesicht durch die Türvorhänge streckt, um anzukündigen, »Gleich werde ich still sein«, kommen ihre Worte mit unheimlicher Kraft – ein Hinweis auf den Pistolenschuss, der binnen Augenblicken die Stille auf der Bühne zerreißt.
Obschon ich eigentlich ungesehen bleiben wollte, eile ich hinter die Bühne. Hastig zeige ich einen alten Presseausweis vor. Aus Madeleines Garderobe höre ich Stimmen. Ich klopfe hartnäckig.
Madeleine öffnet die Tür einen Spalt. Aus dem weiß eingecremten Gesicht starren mich ihre Augen ohne ein Zeichen des Erkennens an. »Jetzt nicht«, sagt sie in dumpfem Ton. »Ich bin zu müde.«
Langsam gehe ich vor das Theater und drücke mich in der leeren Straße herum. Als Madeleine auftaucht, wird sie von einer anderen Frau begleitet. Ich zögere einen Augenblick zu lang. Sie sitzt bereits in einem wartenden Taxi. Als es mit einem Ruck losfährt, streift mich ihr Blick. Ihre Augen werden groß, aber ich kann ihren Ausdruck nicht ganz deuten. Sie winkt nicht.
Später auf der dunklen Schnellstraße zurück nach Ste-Anne denke ich, wie merkwürdig Madeleines Spiel gewesen ist. Sie hat der stolzen und unverletzlichen Hedda, die Gefallen daran fand, mit Pistolen und Menschenleben zu spielen, eine seltsame Verletzlichkeit gegeben, sie gewaltsam zu einer Frau gemacht, die in irgendeiner Mischung aus den Umständen und ihrer Natur gefangen ist. Was ihrem Selbstmord an Trotz fehlt, gewinnt er an Emotion. Es ist der Ausweg eines getriebenen und gefangenen Geschöpfs aus einer Sackgasse.
Im Spiegel über dem Waschbecken sehe ich zum erstenmal an diesem Tag meine Augen. Gegen den Schaum der Rasiercreme wirken sie unnatürlich dunkel. Flüssig, sagte Madeleine in den alten Tagen stets zu mir.
Oft stand sie da, verstohlen, unsichtbar, in der Ecke eines Badezimmers irgendwo, und beobachtete mich, bis sich unsere Blicke zufällig im Spiegel begegneten und ich sie davonscheuchte. Madeleine ging immer nur widerwillig. Vielleicht fand sie es interessant, weil sie nie einem Vater zuschauen konnte, als sie klein war.
Rasieren, sagte sie zu mir, sei meine intimste Handlung. Die angespannte Konzentration, die Schärfe meines Blicks, die chirurgische Präzision, mit der ich das Rasiermesser führe, die unbewusste Spannung meiner Bewegungen, als müsse bei jedem Strich Gefahr abgewendet werden, und dann das glückliche Abspülen mit Wasser, das Lächeln, jungenhaft und streng, ein wenig blasiert, doch unleugbar attraktiv – in all dem, behauptete sie, erkenne sie mein eigentliches Wesen.
Einmal zeigte sie es mir. Sie bot mir eine Interpretation meiner Person, die in ihren versammelten Details so erschreckend zutraf, dass ich jetzt manchmal beim Rasieren glaube, eher mein Double darzustellen, als meiner täglichen Routine nachzugehen.
Madeleine ist eine unersättliche Beobachterin. Sie beobachtet zwanghaft, grimmig. Sie denkt nicht darüber nach. Es ist, als denke ihr Körper für sie. Und hinterher kann sie alles nachspielen. In der instinktiven Nachahmung verliert sie sich völlig. Sie wird zu jenem Freund oder Bekannten, jenem Politiker oder Tier. Ich erinnere mich, wie sie sich einmal, als wir noch sehr jung waren und faul auf einer Wiese lagen, in die Hocke aufrichtete, die Brust vorstreckte, etwas mit dem Armen und dem Gesicht machte, und plötzlich war sie das sich putzende Rotkehlchen auf dem Zweig. Es ist eine unheimliche Begabung.
Ich wasche mir das Gesicht und frage mich, ob mein Lächeln noch immer blasiert und jungenhaft ist. Der Rest hat sich nicht so sehr verändert. Ich bin neununddreißig Jahre alt, und mein Haar ist voll, mein Bauch fest … Ich merke, dass ich eitel vor mich hin summe. Ich bin glücklich aus Vorfreude auf die Begegnung mit Madeleine. Ich werde sie davon überzeugen, dass ihr Stück kein Flop ist, wie die Zeitungen erklärt haben. Weit gefehlt. Madeleine ist die richtige Hedda für unsere unruhige Zeit.
Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen, um aus dem Fenster zu sehen. Der Himmel über dem Tal ist fast farblos, so blass wie der Frost, der Boden und Bäume mit Zuckerguss überzieht. In der Ferne ist der Horizont stählern dunkel getönt. Schnee kündigt sich an.
Unten überlege ich, ob ich mich nach rechts oder links wenden soll. Das Haus ist zu groß für mich. Mein Vater hatte vornehme Größe im Sinn, als er es bauen ließ, als hätte er endlich, nachdem meine Mutter gestorben war und er eine neue, jüngere Frau an seiner Seite hatte, den ersehnten Rang eines Feudalherrn erreicht. Eine Wendung nach links bedeutet das Flackern und Knistern eines Feuers als Untermalung meines einsamen Frühstücks. Eine Wendung nach rechts verspricht frisch bereiteten Kaffee.
Ich finde mich vor dem Kamin wieder. Ich kehre die Asche vom vergangenen Abend zusammen, schichte Holzscheite, Zweige und Zeitungspapier auf, sehe zu, wie sich Papier rollt und Zweige Feuer fangen, bevor ich den verzierten Metallschirm mit dem schwungvollen R in der Mitte davorstelle.
Bis auf den Bücherschrank und die Stereoanlage ist dieser Raum noch genauso, wie mein Vater ihn hinterlassen hat. Mächtige geblümte Sofas stehen beiderseits eines niedrigen Tisches aus altem nachgedunkeltem Kiefernholz. In zufälligen Gruppen stehen Sessel, Schaukelstühle und runde Tische im Raum. Es gibt sogar eine Rarität, eine Bank aus dem 19. Jahrhundert, die sich zu einem steinharten Bett aufklappen lässt.
Die Begeisterung für Geschichte, die während Québecs stiller Revolution geweckt wurde und am Ende der sechziger Jahre mit erstaunlicher Geschwindigkeit um sich griff, hatte meinen Vater früh angesteckt und zum Sammler gemacht. Mit einem eigens dafür angeschafften Lieferwagen klapperte er die halbe Provinz ab, ein Gebiet, das größer als Westeuropa ist. Auf der Suche nach »echten« Möbeln und Antiquitäten aus Québec bereiste er die Gaspé-Halbinsel und die Ufer des Saguenay, die Straßen der Hauptstadt, von den nördlichsten Ausläufern der Laurentides gar nicht zu reden. Er kaufte so viele Möbelstücke, dass ein Auktionshaus ein Jahr lang sorgenfrei gewesen wäre. Er sammelte auch einen Berg blutender Herzen und Ahornzuckerformen, von Ursulinen bestickte Kissenbezüge und Butterdosen, aus denen gallische Hähne wuchsen, und natürlich das unvermeidliche Aufgebot an geschnitzten Kruzifixen.
Dem Salon gegenüber befindet sich ein Speisezimmer, das einem kleinen klösterlichen Orden genügen würde. Und tatsächlich stammen die Stühle und der lange schwere Esstisch aus einem Kloster, während die eleganten Rautenformen an den beiden Geschirrschränken auf eine andere Herkunft hinweisen. Das gilt auch für den bronzenen Kronleuchter mit seinen Reihen von Kerzenhaltern, die nun durch Glühbirnen ersetzt worden sind.
Wie ein Fremder gehe ich auf Zehenspitzen durch diesen Raum. Nicht dass mir nicht gefiele, was hier steht. Aber wenn man allein in einem Museum wohnt, benimmt man sich allmählich ein wenig wie ein Gespenst, ist sich nicht sicher, ob man in der Vergangenheit lebt oder in der Gegenwart.
Ich bin heilfroh, dass die Küche modern ist. Sie weist alle Zeichen menschlicher Nachlässigkeit auf – ungespülte Teetassen und Becher und Gläser, Brandflecken auf dem Tisch.
Ich schalte das Radio ein und höre einen Augenblick der Erzählung der Weihnachtsgeschichte zu, dann schalte ich schnell um. Während ich Kaffee mahle, läuft Bach. Die Katze springt durch ihre Klappe, stößt gegen ein Paar alte Stiefel, das ich hier vergessen habe, und streicht um meine Beine. Ich öffne eine Büchse für sie und sehe zu, wie sie konzentriert frisst und den zierlichen Kopf zurückwirft, während sie einen großen Fleischbrocken kaut.
Ich streiche Butter auf einige Stücke Toastbrot und trage ein Tablett zum Kamin. Ich genieße das Gefühl, einige Mußestunden vor mir zu haben. Gleichzeitig bin ich unruhig, kann es nicht erwarten, dass die Zeit verstreicht, die mich von Madeleine trennt.
Nach dem Frühstück ziehe ich die alten Stiefel und meine ziemlich abgerissene pelzgefütterte Wildlederjacke an und gehe unter dem Vorwand los, Brennholz zu suchen. Im Schuppen gibt es genügend gehacktes Holz, aber Zweige sind knapp und immer nützlich. Ich habe meinen Vorrat über das lange Wochenende aufgebraucht. Montag ist kein günstiger Tag für Weihnachten, wenn es auch bedeutet hat, dass Madeleine hierher kommen kann, wo ich sie so gern sehe. Heute werde ich die Gelegenheit finden, es ihr zu sagen. Ich muss es ihr sagen.
Die Luft ist nasskalt. Meine auf dem gefrorenen Boden knirschenden Schritte klingen unnatürlich laut.
Ich blicke zum Haus zurück und sehe es, durch den Nebel meines Atems, in seiner ganzen sentimentalen frankokanadischen Pracht – die großzügige Terrasse mit der Säulenreihe, Mauern aus säuberlich verfugtem einheimischem Stein, ein altmodisches Satteldach mit einer Reihe Mansardenfenster, die Holzteile, wie an der breiten Tür, blaugrün angestrichen.
Der Wald zieht sich hinter dem Haus den Berg hinauf. Vögel zwitschern und schwirren von Eiche zu Birke, von Ahorn zu Wildkirsche, deren Zweige dunkel und spröde sind. Im Herbst lodert hier alles vor Farbe, die Ahorne glühend rot, die Birken golden; der Boden ist ein glänzender Teppich aus Laub, als gäben die Wälder im Moment des Sterbens ihr Bestes, ein erhabener Höhepunkt vor der Leere des Winters. Jetzt erinnert nur das ernste Grün der Kiefern an die Existenz von Farbe.
Auf dem Berg halte ich inne, um Atem zu schöpfen, und durch die kahlen Bäume bekomme ich flüchtig das ferne Grau des Flusses zu sehen. Ich bin versucht, einen Umweg zu machen, nur um festzustellen, ob Madeleines Auto wirklich in der Auffahrt zum Haus ihrer Großmutter steht. Doch ich halte mich zurück, stelle statt dessen fest, dass die Rauchfetzen in der Luft nur aus ihrem Schornstein kommen können.
Mit meinem Sack voller Zweige kehre ich zum Haus zurück. Aus purer Freude am Klang spalte ich einige Scheite mit dem alten Beil, das an der Wand hängt. Es überrascht mich noch immer, dass ich mich an solch einfachen Dingen freuen kann. Bis ich hierher zurückkam, hatte ich mich für einen Städter gehalten.
Während ich eine zweite Last Holz zum Haus trage, zerreißt plötzlich Hundegebell die Stille. Ich kenne die Hunde. Mme. Tremblays zwei Collies. Vielleicht hat sich Madeleine zu einem Spaziergang und zu einem Besuch bei mir entschlossen.
Ich eile ins Haus, lege meine Last ab und bürste aufgeregt Splitter und Späne von meinem Pullover. Dann sehe ich mich prüfend im Wohnzimmer um. Es ist lange her, dass Madeleine zum letztenmal hergekommen ist.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es schon elf ist. Ich starre aus dem Fenster. Die Hunde bellen noch genauso aufgeregt. Aber sie scheinen nicht näher zu kommen. Wahrscheinlich spielt Madeleine mit ihnen. Es sind faule Köter, meint sie, die vorzeitig alt werden, wenn sie immer nur vornehm spazierengehen und vor dem Kamin herumliegen.
Um meine Ungeduld zu dämpfen, bereite ich mehr Kaffee und gieße ihn in eine Thermosflasche. Ich mache ein frisches Tablett zurecht, lege ein paar Kekse darauf und bringe es ins Wohnzimmer. Die Hunde sind nun ruhig geworden. Als ich vor dem Fenster stehe, höre ich nur ab und zu leises Jaulen.
Ich versuche mich mit einem Buch abzulenken, dann fällt mir ein, dass ich die Weihnachtsgeschenke noch nicht eingepackt habe. Bis ich das Schlafzimmer erreiche, hat das Gekläffe wieder eingesetzt. Zuerst kann ich von der Höhe meines Fensters nur feines pulvriges Stäuben sehen, wie Wirbel aus Talkum. Es hat zu schneien begonnen.
Dann erkenne ich die Hunde und eine einzelne Gestalt, halb gehend, halb laufend hinter ihnen. Mit golden fließendem Fell rasen sie ihr voraus, halten dann inne und rasen zurück. Ich eile die Treppe hinunter und stürze fast auf den mit Schnee überpuderten Stufen der Veranda.
Aber es ist nicht Madeleine, die ich auf mich zukommen sehe.
»Hol deinen Mantel«, sagt Mme. Tremblay. Sie denkt weder daran, französisch zu sprechen, noch zu grüßen. Ihr Haar ist wirr, ihr langer Schal schleift hinter ihr auf der Erde. Sie keucht, scheint kaum sprechen zu können, obwohl sie noch einmal krächzt: »Hol deinen Mantel.«
»Möchten Sie keinen Kaffee?« frage ich. Die Worte klingen albern, als ich ihrem dunklen Blick begegne. Ich hole meinen Mantel und bin im Nu wieder da.
Ihre Hand packt meinen Arm. Sie stützt sich schwer auf mich. Das hat sie noch nie getan.
»Frag jetzt nicht.« Ihre Stimme ist rauh. »Komm einfach mit. Schnell.«
Wir folgen den Hunden, gehen um das Haus herum, dann den Weg hinunter, der das Feld durchschneidet, und dann wieder hinauf durch den kleinen Apfelgarten. Es ist die Abkürzung zu dem alten Bauernhaus.
Ich verbiete mir nachzudenken. Ich habe genug zu tun, Mme. Tremblays Gewicht zu stützen und meine Schritte ihren ungelenken Bewegungen anzupassen. Die Hunde sind uns voraus, ihr Gebell ist wieder hektisch. Ich bin überrascht, als sie nicht an dem weißen Schindelhaus haltmachen, und werfe einen raschen Blick auf Mme. Tremblay, aber ihr aschfahles Gesicht drückt nichts aus. Selbst die gewohnte Linie in Burgunderrot, die ihre Lippen so sorgfältig hervorhebt, ist verschwunden.
Madeleines Auto steht weder auf der Auffahrt, noch entdecke ich es unter den Bäumen, die ihre verzweigten Äste über die Nebengebäude breiten. Wir bleiben auch hier nicht stehen, sondern laufen weiter bergab. Endlich ist unser Ziel klar.
Die Hunde rennen in Kreisen vor der alten Scheune herum, wo Madeleine früher ihr Pony unterbrachte. Mme. Tremblay deutet mit einem zitternden Finger auf die wacklige Tür und kehrt mir den Rücken zu.
Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Ich sehe einen Stoß Brennholz, ein paar alte Stühle ohne Lehnen oder Beine. Die Erde unter meinen Füßen ist hart und holprig. Licht fällt durch einen kniehohen Spalt herein.
Ich weiß nicht, wonach ich suche, und als ich es sehe, möchte ich nicht hinschauen. Den Stuhl sehe ich zuerst. Er liegt hinter der behelfsmäßigen Box, in der früher das Pferd gehalten wurde. Der kleine übriggebliebene Heuballen ergibt keinen Sinn. Im ersten Augenblick auch der umgekippte Stuhl nicht.
Dann geraten die Füße, elegant in weichen Schnürstiefeln, in mein Blickfeld. Ich weiche zurück, stolpere über eine Leiter, und plötzlich ist sie vor mir. Madeleine. An einem Strick hängt sie von dem Balken, der den alten Heuboden abstützt. Ihr blasses Gesicht ist zur Seite geneigt, und ihre Augen sind groß vor Verwunderung. Sie sieht aus wie eine überlebensgroße Marionette, die von ihrem Puppenspieler im Stich gelassen worden ist.
Mein Blick bleibt auf sie gerichtet. Ich warte darauf, dass sie den Kopf hebt, warte auf ihr zartes Lächeln und die angedeutete Verneigung, auf den Applaus, der das Ende der Vorstellung signalisiert. Ich warte auf das Dunkelwerden einer Leinwand, auf den Beginn des Nachspanns, das Gemurmel von Stimmen und das Schlurfen von Füßen, die das Kino verlassen.
Aber das hier ist kein Theaterstück. Madeleine rührt sich nicht. Sie ist tot. Sie hat jenen allerletzten Akt gespielt und sich das Leben genommen. Ich war nicht da, um sie daran zu hindern.
Plötzlich höre ich ein Stöhnen. Ich brauche eine Weile, bis ich merke, dass es von meinen eigenen Lippen kommt, und im selben Moment spüre ich Mme. Tremblay neben mir. Ihr Arm liegt auf meinem. Ich weiß nicht, wer wen stützt, aber gemeinsam schleppen wir uns zum Haus. Mein Bein verfängt sich in ihrem langen Schal, so dass ich auf der Treppe stolpere. Sie taumelt hinter mir, und halb trage, halb schleife ich sie hinein und lege sie auf das Sofa.
Im Eckschrank mache ich eine Flasche Whisky ausfindig, zwinge Mme. Tremblay, ein wenig zu trinken. Während ich das Telefon abnehme, höre ich sie husten oder vielleicht laut schluchzen. Bei der Polizei lässt man sich lange Zeit, bis sich jemand meldet. Als endlich eine mürrische Stimme »Allo« sagt, klingt meine eigene unangemessen distanziert. Ich melde einen Todesfall.
Mme. Tremblay und ich warten im Wohnzimmer. Sie hat noch kein Wort gesprochen, aber jedesmal, wenn ich Anstalten mache, zur Scheune zu gehen, hält sie mich mit ernstem Blick zurück. Als wollte ich die Tote wärmen, fache ich das Feuer an, bis es glühend heiß ist.
Nebenan ist der Tisch schon für das Weihnachtsmahl gedeckt. Vier Gedecke auf einer gestärkten weißen Tischdecke, in Goldpapier gewickelte Knallbonbons und Kandelaber an ihrem Platz, schimmernde Gläser. In der Ecke steht ein Weihnachtsbaum. Alter Holzschmuck und Lametta hängen an den Zweigen. Auf der Spitze sitzt ein Engel mit vergoldeten Flügeln und einem Heiligenschein. Ich erinnere mich an diesen Engel. Madeleine hat ihn gemacht.
Dieser Gedanke sucht mich wie eine Verführung heim, verführerischer als die Schlange im Paradies. Ja, Madeleine hat soeben eine ihrer Rollen geprobt, in der sie einen Streich spielt. Jeden Augenblick wird sie zur Tür hereinstürzen, uns auslachen und ein gutes Glas Bordeaux verlangen.
Dann legt sich das Bild von ihr in der Scheune über meine Vision. Ich sehe ihre Reglosigkeit, ihre bleiche Haut. Ich setze mich hin und schlage die Hände vors Gesicht. Schuld quält mich und ein Gefühl äußerster Hilflosigkeit. Ich denke an jenen Anruf, den ich nicht rechtzeitig annahm. Ich erinnere mich an Madeleines Verzweiflung bei unserer letzten Begegnung, an die letzte Szene des Stücks, ihr bleiches Hedda-Gesicht, vom Vorhang unheimlich wie mit einem Heiligenschein umgeben, der bereits wie ein Strick aussieht.
Eine scharfe Stimme zerschneidet die Stille des Zimmers.
»Sie hat es nicht getan.«
Mme. Tremblay hat meine Gedanken gelesen. Zwei helle Flecke leuchten auf ihren Wangen, als hätte ihr ganzes Blut sich da gesammelt.
»Du glaubst mir nicht.« Mit einem Ruck schleudert sie die Decke, die ich ihr über die Beine gelegt habe, auf den Boden und beginnt, auf und ab zu gehen. »Mein Mädchen würde das nicht tun. Meine Madeleine nicht. Du müsstest das verstehen. Gerade du. Kein Selbstmord.« Ihre Stimme, heiser vor Zorn, tut mir weh.
Noch nie habe ich sie so zornig gesehen. Und ich ahne, dass ich irgendwie daran schuld bin. »Aber Mme. Tremblay …« Ich halte inne. Ich begreife, dass ihr die Vorstellung von Selbstmord ein Greuel ist.
»Lassen Sie mich noch einen Drink holen«, sage ich lahm. »Der wird Ihnen guttun.«
»Nichts wird mir jemals wieder guttun. Jetzt nicht. Und nie wieder.«
Ihr Blick wirkt gehetzt, dann plötzlich leer und teilnahmslos. Sie lässt sich auf einen Stuhl fallen.
Das Knirschen von Reifen auf der Auffahrt und das gleichzeitige Gebell der Hunde sind eine Erleichterung.
»Die Polizei«, flüstere ich.
»Du sagst es ihnen. Berichte ihnen, was ich gesagt habe. Bring sie dann zu mir herein.«
Zwei junge, pausbäckige Polizisten blicken zu mir auf, als ich die Tür öffne. Sie sehen jung genug aus, um sich von ihren Müttern am Morgen noch die Kleider rauslegen zu lassen.
Der kleinere, dickere richtet höflich das Wort an mich. »M. Rousseau?«
Ich nicke. Ich glaube ihn zu kennen. Er muss einer der Miron-Söhne sein. Guillaume vielleicht.
»Venez, c’est par ici.« Ich führe sie zur Scheune. Die Hunde schnuppern an ihren Fersen, dann springen sie vor uns her. Sie haben sich müde gebellt und sind still.
Der Schnee bleibt inzwischen als dünner Überzug auf der Erde liegen, aber in der Luft ist er bloß eine eisige Feuchtigkeit. In der Scheune vermag ich mich kaum zu überwinden, den Blick auf Madeleine zu richten. Vielleicht ist sie, wenn ich nicht hinsehe, gar nicht da. Aber das Gestammel des größeren Polizisten belehrt mich eines besseren.
»Mauditcriss de tabarnak!« flucht er und fährt sich durch den dichten dunklen Lockenschopf. »Et c’est Noël …«
»Qu’est qu’on va faire?« Der andere ist ratlos.
»Rien. Faut téléphoner.«
Sie sehen mich mit einem Achselzucken an, bitten mich, nichts anzufassen, schicken mich sogar hinaus, da sie nichts sehnlicher wünschen, als selbst wegzukommen.
Ich zwinge mich, zu Madeleines Gesicht aufzublicken. Ihr Ausdruck hat sich nicht verändert, aber ich bemerke jetzt eine gewisse Wehmut darin. Der Strick um ihre Kehle ist schwer und zu grob. Kein Halsband, das sie sich ausgesucht hätte. Ich denke an die Worte ihrer Großmutter, und dann merke ich, dass Madeleine unter dem Mantel nur ein sehr kurzes blaues Nachthemd trägt. Sie sieht so zerbrechlich aus. Zerbrechlich und schön. Ich berühre ihre Hand. Sie ist kalt und wächsern, und der Druck meiner Finger scheint einen Abdruck zu hinterlassen.
»He.« Der junge Miron drängt mich zu gehen, und ich wende mich mit einem Frösteln ab.
»Wir müssen das Präsidium anrufen. Keine Ahnung, wen wir heute herholen können. Der Fotograf macht Urlaub. Dr. Bertrand schlägt sich vermutlich den Bauch voll im …« Er presst die Lippen zusammen. »Ich hole Absperrband aus dem Auto. Wir können wenigstens den Bereich absperren.« Er sagt dies, als wäre ihm eine göttliche Eingebung zuteil geworden, und dann herrscht er mich dann an: »Niemand darf in die Scheune gehen, haben Sie verstanden?«
Wir sind bei ihrem Auto angelangt, und ich höre den Polizisten mit den lockigen Haaren ins Telefon sprechen. Als er aus dem Auto steigt, wirft er die Hände in die Luft. »Niemand da. Nur Lucie. Sie telefoniert herum.«
»Ich weiß, wo ich Dr. Bertrand erreichen könnte«, biete ich meine Hilfe an.
»Aha?« Sie blicken mich mit vorübergehendem Argwohn an, dann folgen sie mir zum Haus. Gleich darauf besinnt sich Miron anders. »Ich mache die Absperrung«, sagt er wichtigtuerisch.
Mme. Tremblay ist in der Küche, als wir ins Haus kommen. Sie wirkt gefasst. Wortlos schenkt sie zwei dampfende Tassen Tee ein und reicht sie uns. Sie weicht meinem Blick aus, als ich sie um ein Telefonbuch bitte.
Die Privatnummer des Bürgermeisters ist mir entfallen, aber sie steht da, deutlich aufgeführt, wie es einem offenbar untadeligen städtischen Beamten ansteht. Ich muss es mindestens zehnmal klingeln lassen, bis sich eine Stimme meldet, und dann ist sie wegen des Dutzends anderer Stimmen im Hintergrund kaum zu verstehen.
»Mme. Desforges?« Ich entschuldige mich, dass ich ihre Weihnachtsfeier störe, mache ihr aber klar, dass ich ihren Mann sprechen muss.
Der Bürgermeister tadelt mich, sobald er am Apparat ist. Er rügt mich, weil ich meine Weihnachtsgrüße nicht persönlich überbringe.
Ich kann ihn vor mir sehen, ein Glas in der Hand, leicht schwankend, mit strahlendem Gesicht, das sich dann vor Ärger strafft, während ich knapp den Grund meines Anrufs erkläre.
»Madeleine Blais! Ah non. Was für ein Drama!« Er stellt sich die Schlagzeilen vor, fragt sich, ob sie abgewendet werden können, wägt rasch ab, wie der Zwischenfall zum Vorteil der Stadt umgemünzt werden könnte.
Desforges ist ein schlauer Mann. Er hält sich auf dem laufenden. Er hat es sogar geschafft, einen Nutzen daraus zu ziehen, dass Ste-Anne so abgelegen ist. Entlang der alten Hauptstraße, die jetzt recht malerisch wirkt, da sich der Durchgangsverkehr auf die Schnellstraße von Montréal konzentriert, haben Antiquitätenläden Konzessionen erhalten. Künstler und Kunsthandwerker sind mit dem Versprechen auf viel Platz und ländliche Stille aus der Großstadt gelockt worden. Indem er nationalistische Leidenschaft an den Tag legte, hat Desforges der Provinzregierung Mittel abgeschwatzt und eine alte Scheune in eine Ausstellungshalle umbauen lassen. Wie ein kleiner de Gaulle, ein Präsident, dessen Namen er oft auf den Lippen führt, begreift Desforges die Bedeutung von Kultur, auch wenn er gegenüber Kunst blind und taub ist.
»Ja, Bertrand ist hier«, verrät er mir nach einer Pause. »Ich schicke ihn rüber. Und ich wecke unseren geliebten Polizeichef.« Der alte Gagnon war nicht sein Lieblingsbeamter. »Er sollte eigentlich in der Lage sein, einen Fotoapparat aufzutreiben. Aber hören Sie, Pierre«, fährt er nach neuerlichem Zögern fort. »Das ist zu groß für uns. Madeleine Blais’ erster Wohnsitz ist doch jetzt Montréal, nicht wahr? Ich glaube, ich rufe am besten dort an.« Er lacht vor sich hin, dann fügt er hinzu: »Furchtbare Geschichte. Herzzerreißend. Drücken Sie Mme. Tremblay mein aufrichtiges Beileid aus.«
Zwei Stunden später sieht der Bereich um die Scheune wie der Parkplatz für eine Open Air-Veranstaltung aus. Dr. Bertrand ist eingetroffen und bewegt seinen Bauch mit weniger Geschick als seine schwarze Tasche. Der alte Gagnon, der Polizeichef, ist mit irgendeinem Assistenten da, der ein Notizbuch schwingt. Die beiden Polizisten drücken sich um sie herum und warten auf Befehle. Ein anderer Mann schleppt eine Metalleiter, die bei jedem Kamerablitz funkelt.
Ein magerer Fotograf mit Wuschelkopf knipst pausenlos nach Gagnons Anweisungen. Während ich ihm zuschaue, beschleicht mich das eindeutige Gefühl, dass er in Wirklichkeit der neue Mann ist, den unsere Lokalzeitung angestellt hat. Er hat eine Frau dabei. Vielleicht ist sie seine Freundin, doch lässt sie die ganze unersättliche Neugier einer angehenden Journalistin erkennen.
Inzwischen ist auch die Ambulanz da, deren Licht noch blinkt. Wenn es die dicker werdenden Schneeflocken einfängt und sie wieder in die zunehmende Dämmerung entlässt, werden sie blau, dann weiß und wieder blau. Die uniformierten Sanitäter stehen etwas abseits und stampfen mit den Füßen auf, während sie ungeduldig auf den Befehl warten, Madeleine wegzubringen. Sogar Bürgermeister Desforges hat sich in seinem neuen stadteigenen Mercedes eingefunden.
In einer perfekten Pose der Trauer nimmt er Mme. Tremblays Hand. Sie wendet ihr Gesicht ab, und er dreht sich zu mir um. »Eine Tragödie«, sagt er leise. »Sie war so jung. So talentiert.«
Ich nicke. Ich kann weder sprechen noch glauben, dass dies alles wirklich geschieht.
Die Begleiterin des Fotografen kennt solche Schwierigkeiten nicht. Sie tritt mit einem Lächeln an uns heran. »Was halten Sie von dem Ganzen, Monsieur le Maire?« fragt sie devot und zaubert ein Notizbuch aus ihrer Tasche.
Desforges ist nicht der Mann, der Journalisten vor den Kopf stößt, und so räuspert er sich und setzt zu einer angemessenen Erklärung an.
Mme. Tremblay unterbricht ihn mit überraschendem Nachdruck. »Ich muss den Polizeichef sprechen. Es ist dringend.«
»Natürlich.« Desforges zeigt sich beflissen. »Er hat bestimmt gleich Zeit für Sie.«
»Und Sie sind …?« fragt das Mädchen freundlich.
»Kümmern Sie sich nicht darum, wer ich bin.« Mme. Tremblay sieht sie mit einem vernichtenden Blick an. Sie stapft mit den Hunden in Richtung Scheune davon.
Ich folge ihr. Ich habe Angst um sie.
»Ich überzeuge mich davon, dass Gagnon mit Ihnen spricht, sobald er hier drinnen fertig ist.«
Sie starrt mich an, als hätte sie vergessen, wer ich bin.
»Sehen Sie, jetzt kommt er heraus. Warum gehen Sie nicht wieder ins Haus? Wärmen Sie sich. Ich bringe ihn zu Ihnen.«
»Nein, ich bleibe hier. Dann fahre ich mit der Ambulanz«, sagt sie. Sie hat bereits gesehen, wie Gagnon den Sanitätern Zeichen gemacht hat. »Fahre mit Madeleine.«
Ich lenke Gagnons Aufmerksamkeit auf mich und winke ihn herüber. Er ist nicht der Mann, der sich gern im Freien aufhält. Der alte Schützling meines Vaters zieht Schreibarbeiten vor und verbirgt seine Klugheit hinter mürrischer Trägheit.
»C’est Mme. Tremblay«, stelle ich sie vor. »Madeleine Blais’ Großmutter.«
»Ja, ich weiß.« Er starrt sie mit wässrigen Augen an, dann neigt er respektvoll den Kopf.
Bevor einer von uns fortfahren kann, sagt Mme. Tremblay voller Erregung: »Es war kein Selbstmord. Madeleine hat es nicht selbst getan.«
»Aber Madame … alle Anzeichen.«
»Die Anzeichen sind mir egal.« Ihre Stimme wird so schrill, dass sich alle umdrehen. »Sie hat es nicht getan, sage ich Ihnen.«
»Die Autopsie wird …«
»Kümmern Sie sich nicht um die Autopsie. Gestern abend war sie glücklich. Sie hat gelacht.«
Die Männer tragen die Bahre aus der Scheune. Ein düsterer Reißverschlusssack liegt darauf.
Im Kopf spüre ich einen plötzlichen Druck, so als würde mir der Schädel zu eng werden. Zitternd hole ich tief Luft. Ehe ich mich rühren kann, ist Mme. Tremblay zur Ambulanz gelaufen und hat sich durch die offenen Türen geworfen. Die Collies bellen wieder. Einer springt hinter ihr in den Wagen.
»Ah non!« ruft Gagnon aus. Er geht schwerfällig zum Auto. Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn mit ihr. Aber mein Blick ruht auf dem Sack auf der Bahre. Ich lege meine Hand darauf, als er nahe an mir vorbeigetragen wird. Unter der dicken Polyäthylenhülle fühle ich etwas Seidiges und Festes. Doch es widersetzt sich meiner Berührung. Madeleine hinter einer Leinwand, denke ich. Einer nur mit Schatten gefüllten Leinwand.
Ein hoher Schrei dringt von der Ambulanz herüber.
»Pierre, viens ici«, ruft Gagnon. »Erklären Sie es ihr. Sagen Sie ihr, dass sie nicht mitfahren kann. Sagen Sie, dass wir gut auf die Leiche aufpassen. Auf ihre Enkeltochter«, korrigiert er sich. »Sagen Sie es ihr auf englisch.«
»Ich gebe ihr ein Beruhigungsmittel.« Dr. Bertrand ist neben uns getreten. Mit einiger Mühe hievt er sich in die Ambulanz. »Sie kennen mich, Mme. Tremblay.« Er flüstert ihr etwas zu, und nach wenigen Augenblicken taucht sie auf. Bertrand ist direkt hinter ihr.
Gagnons Erleichterung ist nicht zu übersehen. »Ich merke mir, was Sie gesagt haben, Mme. Tremblay.«
Sie starrt ihn kalt an. »Dieser Mann war es. Der Mann, der mit ihr gekommen ist.« Plötzlich spuckt sie aus. Die Geste passt so wenig zu ihr, dass wir alle wie versteinert sind.
»Ein Mann?« fragt Gagnon schließlich.
»Ein Mann mit einem Pferdeschwanz. Und einer schwarzen Lederjacke.«
»Wie heißt er?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Es war so spät. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich wusste nicht …«
Ihr Gesicht ist so weiß, dass ich fürchte, sie könnte in Ohnmacht fallen. Ich lege einen Arm um sie.
Die Sanitäter mit der Bahre machen einen Umweg um uns und heben die Leiche in die Ambulanz.
»Paul oder Pierre oder …« Sie wirft einen Blick auf mich. »Nein, etwas Ausländisches.«
»Morgen fällt Ihnen der Name wieder ein.« Gagnon achtet nicht mehr auf sie. Sein Polizist steht mit einer großen Tasche neben ihm. Seine Hände sind milchige Hüllen aus durchscheinendem Plastik.
»Das sind alle Kleidungsstücke, der Strick, alles, was Sie gesagt haben«, erklärt er.
»Angelo oder …«
»Sie müssen bei ihr bleiben, Pierre«, sagt Bertrand. »Sorgen Sie dafür, dass sie nicht friert und etwas zu sich nimmt. Lassen Sie sie nicht allein.« Er senkt die Stimme. »Sie hält was aus, aber solche Sachen gehen nicht spurlos an einem vorüber. Sie sehen auch aus, als könnten Sie einen Tropfen von diesem alten Feuerwasser gebrauchen. Wie steht’s damit, Mme. Tremblay?« Er schaut sie mit seinen blassblauen Augen an. »Haben Sie etwas, um diese alten Knochen zu wärmen?«
Bei ihr untergehakt, schiebt er sie den Weg zum Haus hinauf und bedeutet mir mitzukommen, doch Gagnon hält mich zurück.
»Hatte Madeleine jemals mit Drogen zu tun?« fragt er mit gesenkter Stimme.
»Was wollen Sie damit sagen?« Die Frage bestürzt mich.
»Es ist nichts. Schon gut.« Gagnon wendet sich ab, gerade als Bürgermeister Desforges neben mir erscheint.
»Ich bin diese lästige Journalistin losgeworden.« Er leckt sich die gespitzten Lippen.
»He, trinken Sie ein Glas mit uns«, ruft Dr. Bertrand herüber.
»Habe nichts dagegen. Ich bin kälter als eine Leiche«, verkündet Desforges, dann presst er schnell die Hand auf den Mund.
Im Haus steuert Mme. Tremblay sofort die Küche an. Mit den eckigen Bewegungen eines Roboters stellt sie drei Gläser hin, holt eine Flasche von nebenan, schenkt Whisky ein, dann schaut sie sich hilflos um.
Ihr Blick fällt auf die Arbeitsplatte. Dort liegt der ungebratene Truthahn, das weiße Fleisch feucht und mit dicken Speckscheiben bedeckt. Schweigend hebt sie den schweren Truthahn hoch. Dann bedeutet sie mir, ihr die Tür aufzumachen, und pfeift nach den Hunden. Mit einem mächtigen Ruck schleudert sie den blassen toten Truthahn in den Schnee hinaus.
Eine einzelne Lampe wirft Schatten über Mme. Tremblays Wohnzimmer. Irgendwo schlägt eine Holztür im Wind. Es ist das einzige Geräusch, das in all den Stunden, die wir hier sitzen, die Stille unterbrochen hat, wenn man von dem »Nein« absieht, das sie äußerte, als ich das Feuer schüren wollte. Es ist längst zu Asche heruntergebrannt.
Ich würde unsere stumme Nachtwache gern beenden. Mme. Tremblay wartet darauf, dass ich gehe, und ich weiß, dass ich bleiben muss, wenn es mir auch lieber wäre, sie ginge zu Bett. Ihr Zorn und ihre Anspannung haben sich meiner Gefühle bemächtigt. Ich kann in ihrer Gegenwart nicht denken, kann nicht empfinden, was ich empfinden möchte und muss – nämlich den Zustand, in dem sich Madeleine in jenen letzten Tagen oder Stunden befand, die zu dem Entschluss führten, sich das Leben zu nehmen. Denn davon bin ich so fest überzeugt wie Mme. Tremblay vom Gegenteil. Die Geschichte von einem namenlosen Mann mit verdächtigem Pferdeschwanz und feindseligem Blick, die sie Gagnon erzählt hat, ergibt in meinen Augen keinen Sinn. Aber eigentlich ergibt überhaupt nichts einen Sinn. Ich muss allein sein und die Taubheit vertreiben, die da sitzt, wo Gefühle sein sollten.
Rote und blaue und graue Fäden schlingen sich durch die Arabesken des abgetretenen Teppichs. Ich habe mir ihr Muster eingeprägt, wie ich inzwischen die Formen sämtlicher Gegenstände in diesem Zimmer auswendig kenne – die in Silber gerahmten Fotografien von Madeleine aus verschiedenen Jahren und in verschiedenen Rollen, das blau-weiße Porzellan auf dem Geschirrschrank, die Tierstiche an den Wänden, Pferde und Schafe, Wildenten und Rotkehlchen, das zerkratzte und polierte Mahagoni des Klaviers in der Ecke.
Die alte Uhr in der Diele schlägt die halbe Stunde. Ich sehe auf meine Armbanduhr und stelle fest, dass es schon zwanzig vor zwölf ist. Ich weiß nicht, warum die Pillen, die Bertrand Mme. Tremblay gegeben hat, nicht wirken.
»Vielleicht sollten Sie etwas essen«, sage ich. »Ich kann Ihnen ein Sandwich machen. Dann sollten wir wirklich zu Bett gehen.«
Ihr Blick konzentriert sich mit Mühe auf mich. »Bediene dich selbst. Du findest alles im Kühlschrank. Danach kannst du nach Hause gehen.«
»Dr. Bertrand hat gesagt …«
»Ich weiß, was er gesagt hat.« Mme. Tremblay zieht die Schultern hoch, und plötzlich sind Tränen auf ihren Wangen, leuchtend und still. »Pierre«, murmelt sie in einem anderen Ton, in dem Ton von früher, als sie mir noch vertraute. »Du glaubst es doch auch nicht, oder? Madeleine würde das doch nicht tun. Sie hat das Leben zu sehr geliebt. Sie war nicht so.«
Ihr bricht die Stimme, und sie schluchzt laut auf, nur einmal, wie ein lauter unkontrollierter Schrei. Er scheint sie zu überraschen, denn sie legt die Hand auf die Lippen.
»Lassen Sie sich hinauf begleiten«, sage ich.
Sie schüttelt den Kopf. »Du gehst. Das Gästezimmer ist gerichtet. Du kennst es ja. Letzte Tür rechts.«
»Bitte, Mme. Tremblay. Sie müssen sich ausruhen. Ausruhen für morgen.«
Endlich lässt sie mich ihren Arm nehmen. Auf der Treppe spüre ich, wie sehr sie meinen Beistand braucht. Aber vor Madeleines Tür macht sie sich mit plötzlicher, unvermuteter Kraft los. Sie stößt die Tür auf.
»Wie dumm von mir.«
Licht fällt grell auf ein Bett, das so zerwühlt ist, dass ich den Blick nicht abwenden kann, obwohl ich es nicht sehen möchte. Ein schwarzes Kleid aus einer weichen Angorawolle scheint soeben auf dem Bettpfosten gelandet zu sein. Sein Ärmel schaukelt leicht. Der flauschige weiße Teppich ist mit Schwarz getüpfelt – Schlüpfer, ein BH aus Spitze, Strümpfe.
»Ist Ihnen der Name des Mannes mit dem Pferdeschwanz eingefallen?« höre ich mich mit zittriger Stimme fragen.
Mme. Tremblay hört nicht zu. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz woanders. Sie durchsucht den Ecktisch, den Schreibtisch, die Kommode. Gegenstände werden weggerückt. Papiere fliegen zu Boden. Jeder Gegenstand aus Madeleines Handtasche wird auf das Bett geschleudert. Mme. Tremblay bückt sich vor Madeleines offener Reisetasche und zerrt Hosen, Röcke, Pullover, Unterwäsche heraus, die das Durcheinander auf dem Boden vermehren.
»Nichts!« verkündet sie nach einer Weile mit triumphierender Schärfe im Ton. »Nichts!«
Mir ist klar, wonach sie gesucht hat. Es hat keinen Sinn, dass ich sage, ein Abschiedsbrief könnte wer weiß wo sein – im Haus oder bei der Post, in Madeleines Apartment.
Ich möchte nur noch aus dem Zimmer herauskommen, aber dann ertappe ich mich dabei, dass ich die Kleidungsstücke, die Mme. Tremblay aus Madeleines Tasche geschleudert hat, zusammenlege und eins nach dem anderen wieder einpacke, in einem stummen Ritual einsammle.
Mme. Tremblay schaut mir zu, und so packe ich alles ein, auch das, was ursprünglich nicht in der Tasche war. Obwohl ich gern heimlich etwas mitnehmen würde, um den Duft von Madeleines Haut in irgendeiner Form für mich zu bewahren.
Das Bett im Gästezimmer wackelt und hängt in der Mitte durch und duftet nach Lavendel. Es ist unmöglich, darin zu liegen, ohne bergab zu rollen. Madeleine und ich haben hier gelegentlich zusammen geschlafen und über das Quietschen der Federn und das gefährliche Gefälle gelacht. Das ist lange her.
Draußen knarrt die alte Buche im Wind. Schnee rahmt das äußere Fenster ein, und das Weiß erzeugt die Illusion der Dämmerung. Erinnerungen drängen auf mich ein, halten den Schlaf fern. Sie sind mir willkommen. Ich brauche sie. Im Tod muss ich, wieder einmal, die Frau von der Ikone trennen, zu der Madeleine wurde.
Wann begann ich, Madeleine zu lieben? War es, als ich merkte, dass mit ihr zusammen Tage die Intensität von Wochen hatten? Liebte ich sie schon, bevor ich wusste, was Liebe ist?
Ostern 1964. Ich war vierzehn Jahre alt und über die Feiertage vom Internat in Montréal zu Hause. Freilich nicht mehr in dem Haus, das ich verlassen hatte.
Mein Vater war aus dem Backsteinhaus mit den Türmchen in Ste-Anne ausgezogen, dem einzigen Zuhause, das ich jemals hatte. Nun wohnten wir auf dem Berg in einem aufdringlich neuen, prunkvollen Gebäude, noch ungeschützt durch Bäume und statt eines Gartens nur von widerlichem Schlamm umgeben, den die Bauarbeiter hinterlassen hatten. Ich musste bitten, mit dem Auto gefahren zu werden, oder drei Meilen in die Stadt und drei Meilen zurück laufen. Bis ich es mit dem Fahrrad über die Zufahrt auf die schmale Straße geschafft hatte, war es so mit Schlamm bedeckt, dass die Räder sich nicht mehr drehten.
Wie eine Gutsherrin hatte sich in dem protzigen Haus eine ebenso geschmacklose Frau eingerichtet, die seit zwei Jahren meine Stiefmutter war. Sie hatte ein durchdringendes Lachen, blondes toupiertes Haar und eine Brille, die mit Straß besetzt war. Sie trug nur leuchtendes Rot oder ebenso leuchtendes Pink, und ihre Gespräche waren so laut und albern, wie sie endlos waren.
Ich konnte nicht begreifen, wie mein Vater meine Mutter so schnell hatte vergessen können. Genauso wenig begriff ich, wie er sie durch diese ordinäre Frau hatte ersetzen können. Meine Mutter war schön gewesen, ihre Stimme und Hände stets freundlich vor Verständnis, ihr Haar dunkel und glänzend wie ein Blauhäherflügel, ihre Haltung, selbst in jenem letzten langen Jahr der Krankheit, immer würdig und stolz.
Ich konnte meinem Vater nicht verzeihen.
Um meiner aufdringlichen Stiefmutter aus dem Weg zu gehen, verbrachte ich so viel Zeit wie möglich eingeschlossen in dem Zimmer, das zu meinem bestimmt war, in dem aber die einzigen vertrauten Gegenstände meine Bücher waren. Ich las, und ich starrte aus dem Fenster und träumte, bis es mich irgendwann ins Freie trieb.
Die Wälder hinter dem Haus waren herrlich, und ich durchstreifte sie kreuz und quer, die Stiefel schwer vom Schlamm. Eines späten Nachmittags befand ich mich an ihrem höchsten Punkt, als ich es hinter mir knacken hörte, und als ich mich umdrehte, sah ich einen Jungen an einem Ast schwingen. Er sprang und landete mit einem dumpfen Schlag lachend auf dem Boden.
»B’jour«, grüßte er mich. Er trug einen zu großen Lumberjack und eine braune Mütze mit Schild und Ohrenklappen, und als er auf mich zukam, bemerkte ich, dass er kleiner war als ich. Aber das war ich gewohnt. Ich war groß für mein Alter.
»Wohnst du in der Gegend?«
Ich deutete den Berg hinunter.
»Was? Prima. Wo gehst du zur Schule?«
»Jean Brébeuf. In Montréal«, sagte ich eingebildet.
Wir gingen einige Minuten zusammen weiter, und dann fragte der Junge: »Hast du Musik gern? Weil wir nämlich welche hören könnten.« Er zeigte auf die andere Seite des Bergs. »Komm mit, wahrscheinlich proben sie gerade.« Er rannte los und sprang so geschickt über heruntergefallene Äste, als wüsste er genau, wo jeder einzelne Zweig lag.
Ich folgte langsamer nach und konzentrierte mich auf meine Füße. Ich hatte keine rechte Vorstellung, wo wir waren, bis ich das Rauschen des Flusses hörte, der vom Schnee des Winters angeschwollen war. Am Ufer an der alten Landstraße stand ein Gasthaus mit einem großen Neonschild. Es blinkten schon die pinkfarbenen und dunkelroten Buchstaben seines Namens in der Dämmerung: Point Ste-Anne.
Mein neuer Freund legte einen Finger an die Lippen. Seine Pose wirkte irgendwie heimlichtuerisch, so als wären wir plötzlich Komplizen geworden. Wir schlüpften schweigend zwischen den Autos auf dem Parkplatz durch und schlichen hinter das Gebäude. Kästen mit leeren Bierflaschen waren hoch zwischen alten Autoreifen und ausrangierten Möbeln aufgestapelt. Aus einer offenen Tür drang eine Duftwolke von brutzelnden Zwiebeln und Hamburgern. Wir kletterten auf einen Zaun und sprangen in nasses Gras.
Wie um unsere Ankunft bekanntzugeben, setzten Trommeln mit einem Wirbel und Grollen ein. Elektrische Gitarren wimmerten und jaulten. Ein Keyboard suchte sich eine Melodie zusammen. Bis wir uns auf die Böschung gehockt und die Knie an die Brust hochgezogen hatten, um uns zu wärmen, hatten die Mauern des Gasthauses und sogar der Boden vom Schall zu vibrieren begonnen. Mein neuer Freund strahlte, das Gesicht in den Farben des Neonlichts gestreift. »Warte, bis sie richtig in Fahrt kommen.«
Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen. Hier zu diesem Lokal zu kommen war natürlich für Kinder verboten. Man hätte uns auch nicht hineingelassen. Aber da draußen hatten wir, während die Nacht hereinbrach, kostenlose Vorzugsplätze. Wir wiegten uns und schaukelten und summten mit der Band, bis mein Freund in einer Pause zwischen den Nummern einen Fäustling zurückstreifte und plötzlich aufsprang. »Oh, ist es schon spät. Ich muss heim. Komm.«