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Zwei Frauen und die mörderische Macht von Liebe und Freundschaft.
Bei der Suche nach ihrer besten Freundin, die plötzlich verschwunden ist, muss Leonora feststellen, wie wenig sie Isabel in Wahrheit kennt. Leonora weiß weder von dem neuesten Liebhaber ihrer Freundin, noch von der Familienhölle, der sie einst entflohen ist. Vor allem aber hat sie keine Ahnung, warum Isabel verschwunden sein könnte. Hat sie sich als furchtlose Journalistin bei Recherchen in Gefahr begeben?
Anscheinend steckte Isabel in ernsten Schwierigkeiten und war einer aufsehenerregenden Geschichte auf der Spur, die sich um ein Familiengeheimnis drehte: das Verschwinden ihres Vaters und die Frage, ob ihre Mutter eine Mörderin war. Leonoras Ängste scheinen sich zu bewahrheiten, als an der englischen Küste die Leiche einer Frau gefunden wird ...
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Seitenzahl: 628
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Lisa Appignanesi wurde in Polen geboren, wuchs aber in Frankreich und Kanada auf. Sie war stellvertretende Direktorin am Londoner Institute of Contemporary Arts, bevor sie freie Autorin wurde. Neben Romanen und Kriminalromanen hat sie u.a. Bücher über Marcel Proust, Simone de Beauvoir und die Frauen Sigmund Freuds geschrieben.
Thomas Haufschild, geb. 1967, arbeitet seit 1991 als Übersetzer und hat alle Romane von Eliot Pattison ins Deutsche übertragen.
Zwei Frauen und die mörderische Macht von Liebe und Freundschaft.
Bei der Suche nach ihrer besten Freundin, die plötzlich verschwunden ist, muss Leonora feststellen, wie wenig sie Isabel in Wahrheit kennt. Leonora weiß weder von dem neuesten Liebhaber ihrer Freundin noch von der Familienhölle, der sie einst entflohen ist. Vor allem aber hat sie keine Ahnung, warum Isabel verschwunden sein könnte. Hat sie sich als furchtlose Journalistin bei Recherchen in Gefahr begeben? Anscheinend steckte Isabel in ernsten Schwierigkeiten und war einer aufsehenerregenden Geschichte auf der Spur, die sich um ein Familiengeheimnis drehte: das Verschwinden ihres Vaters und die Frage, ob ihre Mutter eine Mörderin war. Leonoras Ängste scheinen sich zu bewahrheiten, als an der englischen Küste die Leiche einer Frau gefunden wird …
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Lisa Appignanesi
Kalt ist die See
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Haufschild
Inhaltsübersicht
Über Lisa Appignanesi
Informationen zum Buch
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Prolog
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Zweiter Teil
Protokoll einer Fallstudie (I)
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Dritter Teil
Protokoll einer Fallstudie (II)
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Vierter Teil
Protokoll einer Fallstudie (III)
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Impressum
Für Adam Phillips
Die Wahrheit ist nur selten rein und niemals einfach.
Oscar Wilde
Der Wahnsinn umfing und durchdrang sie wie ein Schwarm Fliegen, der sich auf einen aufgedunsenen Kadaver stürzte. Sie wollte ihn töten. Noch nie hatte sie etwas so sehr gewollt. Seit drei Tagen und Nächten war das Verlangen derart übermächtig, dass alles andere unwichtig wurde. Doch erkannte sie diesen sehnlichen Wunsch als Wahnsinn, was bedeutete, dass sie nicht vollständig den Verstand verloren hatte, jedenfalls noch nicht, trotz all der Gifte, die man ihr verabreicht hatte.
Tief unter ihr brandete die Gischt gegen die Klippe. Kalt war die See. Sie stellte ihn sich dort unten vor, wie sein Kopf auf dem Wasser tanzte, bis die Wellen ihn mit unüberwindlicher Gewalt packten und auf die Felsen warfen.
Sie wollte, dass er langsam starb, dass ihn ein grausamer Tod nach dem anderen ereilte, ein Tod für jeden Monat, den er sie gleichgültig behandelt hatte. Ein Mord aus Vergeltung, genau das war es, und sie stellte dabei den Racheengel dar, ein strahlendhelles Geschöpf, das zusammen mit dem Abendstern zwischen den Wolken am indigoblauen Himmel emporstieg, um seinem Ende beizuwohnen. Sein selbstgefälliges Lächeln würde als erstes verschwinden. Seine Wangen würden zittern, und auf seinem blasierten Gesicht würde sich Entsetzen über sein Schicksal breitmachen. Sie wollte, dass er um Gnade winselte.
Gestern abend hatte sie sich ausgemalt, wie er in einem riesigen brodelnden Kessel saß. Sie alle tanzten als stolze Kannibalen im Feuerschein um ihn herum und rissen ihn in Stücke, die sie dann den Hunden zum Fraß vorwarfen. Seinen Penis hatte sie persönlich an sich genommen, um das sehnige Stück Fleisch und die runzlige Haut in den Staub zu treten. Diesen Bissen konnte man nicht einmal den Hunden zumuten.
War es wirklich erst sechs Tage her, dass sie ihn zur Rede gestellt hatte? Sie hatte die Stelle unter dem vom Wind gebeugten Baum gewählt, wo das Grundstück in den steilen Pfad überging. Die Überwachungskameras des Anwesens konnten jenen Punkt nicht einsehen, vermutete sie, obwohl es ansonsten kein Entrinnen vor dem unheilvollen Blick dieser Apparaturen gab, ganz gleich, an welchem Ende der Landzunge man sich befand. Er kam jeden Tag kurz vor Sonnenuntergang hierher. Sie hatte ihn beobachtet und kannte seine Route sowie die Punkte, an denen er den Schritt verlangsamte oder stehenblieb.
Als sie es ihm sagte, tätschelte er ihre Schulter und tadelte sie sanft, als wäre sie eine Patientin, die an Wahnvorstellungen litt. Er speiste sie mit einer fadenscheinigen Ausrede ab und behauptete, sie alle wären wie Söhne und Töchter für ihn. Doch etwas in seinem Blick veränderte sich. Sie beide kannten die Wahrheit.
Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er kategorisch alles abstreiten und mit seiner Hand über ihre Schulter streichen würde, ganz beiläufig, als hätten Frauen keine anderen Wünsche und ließen sich durch eine Berührung über jeden Schmerz hinwegtrösten. Als sie erkannte, wie er immer mehr in Wallung geriet, schlug die Verachtung, die sich während der letzten Woche in ihr aufgestaut hatte, schlagartig in Abscheu um. Gleichzeitig entstand dieses überwältigende Verlangen nach Rache.
In der Stille ihres Zimmers hatte sie noch am selben Abend einen Brief geschrieben und sich dann fortgestohlen, um ihn abzuschicken.
Die Abendsonne ließ das Meer silbern aufblitzen. Sie stellte sich vor, dass Blut auf den Wellen trieb. »Eine weindunkle See«, hatte Homer es genannt. Verdunkelt durch Schatten oder durch das Blut der Helden. Hier gab es keine Helden. Nur ihn, ihn und das Heulen des Windes.
Er war überaus pünktlich. Langsam kam er auf dem Pfad in ihre Richtung, ein widerwärtiger Mann, der sich nur durch verlogene Wichtigtuerei zu vermeintlicher Größe aufgeplustert hatte. Er hatte nicht mit ihr gerechnet, und als er sie sah, legte seine glänzende Stirn sich in Falten.
Sie hob die Hand zum Gruß und wünschte sich den Beistand der Furien, um nun Vergeltung zu üben.
Es regnete in Manhattan. Nicht der übliche graue Nieselregen, sondern ein Regen, der wie tausend verrückte Trommler auf die Dächer niederprasselte, Rinnsale in den Gossen zu reißenden Bächen anschwellen ließ und den Central Park in eine Sumpflandschaft verwandelte. Die Scheibenwischer weder der Taxis noch der eleganten Limousinen konnten etwas gegen diesen Regen ausrichten; kein Regenmantel, kein Hut und keine modische Frisur hielt diesem Ansturm stand. Es schien fast so, als wolle der Regen die Stadt nicht etwa reinwaschen, sondern vielmehr davonspülen.
Die Frau, die auf der Upper West Side ihre Stirn an ein Penthousefenster drückte, dachte an Bullaugen in tosender See und an die Arche Noah unter einem dunkelgrauen Sturmhimmel. Sie dachte an undurchdringlichen Nebel und an ihre Tochter Becca, wie sie als kleines Kind im sicheren Zuhause sang: »Regen, Regen, heb dich fort, zieh an einen anderen Ort.«
Die Frau am Fenster war klein, nicht größer als einen Meter sechzig, wenngleich sie den gebieterischen Namen Leo trug und ihm mitunter auch gerecht wurde. In ihrem weißen, von Tinte befleckten Hemd und ihrer Jeans sah sie beinahe wie eine Straßengöre aus. Ihr Gesicht, das wegen ihrer tiefliegenden Augen von Natur aus nachdenklich wirkte, zeigte unverhüllt alle Spuren ihrer achtunddreißig Lebensjahre. Sie machte sich nur selten Gedanken darüber, aber im großen und ganzen gefiel ihr der Anflug von Melancholie, der sie umgab. Ihr Gesicht war ihr mit der Zeit vertrauter geworden, es entsprach der inneren Vorstellung, die sie von sich selbst hatte, eine praktische, eher nüchterne Frau zu sein, die gleichwohl bisweilen anfällig für plötzliche Eingebungen war.
»Regen, Regen, heb dich fort«, sang sie so laut, dass es sie selbst überraschte, und dann fiel ihr ein, dass sie letzte Nacht von Regen geträumt hatte. Von einem merkwürdigen Regen, einem braunen Regen, denn sie befand sich in ihrem Traum unter der Erde, und es regnete vom Dach einer Art riesiger Höhle, die sich über einer labyrinthischen Stadt wölbte, deren Gebäude und Straßen vollkommen verlassen waren.
Leo verdrängte dieses beunruhigende Bild und warf einen Blick auf die Uhr, die an der weißen Wand hing. Es dauerte einen Moment, bis sie die Zeit abgelesen hatte, denn die Zeiger und Ziffern der Uhr verliefen in umgekehrter Richtung. Gegen den Uhrzeigersinn. »Damit du Zeit zum Träumen hast«, hatte Jeff gescherzt, als er ihr die Uhr vor so vielen Jahren schenkte. »Stell dir einfach vor, dass die Zeit rückwärts läuft. Dann hast du nie wieder Probleme mit dem Abgabetermin.«
Das übertriebene Ungetüm von einer Uhr sah aus wie ein Requisit aus einem der von Jeff so sehr geschätzten Hitchcock-Filme und entsprach ganz dem Geschmack ihres früheren Ehemanns. Leo hasste dieses Ding inzwischen. Doch hing es noch immer da an der Wand, obwohl Jeff bereits seit mehr als zwei Jahren zur Vergangenheit gehörte. Genaugenommen gab es nur einen einzigen Gegenstand aus ihrem – wie sie es gern nannte – zweiten Lebensabschnitt, von dem ihr letztendlich die Trennung gelungen war, und das war das Ehebett. Aus irgendeinem, mittlerweile auch ihr unerfindlichen Grund hatte sie es gegen einen purpurroten Diwan ausgetauscht, einen grellen Farbklecks in dem ansonsten weißen und karg möblierten Schlafzimmer.
Ein wenig gereizt eilte Leo zurück an ihren Arbeitstisch. Sie setzte sich, nahm einen der zahlreichen Federhalter und beugte sich über ihre Zeichnung. Mit schnellem sicherem Strich umriss sie das lange zerzauste Haar und den ausladenden Leib einer finster blickenden Gestalt an einem Cafétisch. Gegenüber dieser Frau entstand eine schlankere Figur, eine elegante, gutgekleidete Dame, die ein Exemplar von Tolstois Anna Karenina in den Händen hielt.
Über dem Kopf der ersten Gestalt entstand eine Sprechblase. »Woran denkt man wohl, wenn man heutzutage ›Familie‹ sagt? Na?«
Eine zweite Blase. »Man denkt an Politiker, man denkt an Probleme. Jawohl, Ma’am, große Probleme. Man denkt an gemeinsame Kreditkarten, an Missbrauch, Schläge, seelische Grausamkeit, Schikanen, Ehebruch, Pflichtvergessenheit, Scheidung, Rache!«
Die korpulente Gestalt griff nach dem Buch und schlug es auf. Unterdessen schwebte über ihr die dritte Blase: »Ich sage, es ist höchste Zeit, Tolstoi an das moderne Manhattan anzupassen. Und daher wird mein nächstes Werk mit dem folgenden zeitgemäßen Satz beginnen …«
Ein breites zufriedenes Lächeln in Großaufnahme. »Alle unglücklichen Familien ähneln einander; jede glückliche aber ist auf ihre eigene Art glücklich.«
»Leonora H« lautete die schwungvolle Signatur am Ende des Cartoons.
Leo streckte sich. Dann gab sie ihrer geheimen Leidenschaft nach, zündete sich eine Zigarette an und rauchte mit tiefen Zügen, während sie den Strip ein weiteres Mal begutachtete. Sie war zufrieden mit ihrem Cartoon, ihrer sogenannten Frau des Zorns, so wie mit all ihren lustigen Weibern von Manhattan, ihrem Stöhnen und Jammern über Exmänner, real existierende Mütter und faule Kinder. Noch mehr allerdings gefiel Leo der Umstand, dass sie vier Cartoons fertiggestellt und sich dadurch vier Wochen freie Zeit erkauft hatte. In den nächsten Wochen würde es für sie weder glückliche noch unglückliche Familien geben. Statt dessen würden sie und ihre Freundin Isabel Morgan die Hauptrollen in einem ganz privaten Roadmovie übernehmen.
Vor Weihnachten hatte sie mit Isabel diesen Trip besprochen. Ihre Freundin hatte geradezu mythische Bilder heraufbeschworen – endlose Straßen, die am Horizont verschwanden, Kleinstadtcafés mit Fliegengittern vor den Türen und misstrauischen Männern an den Tischen, abgelegene Motels, einsame Wüsten und zerklüftete Berge. In ihrer letzten E-Mail hatte Isabel detailliert ein weißes Kabriolett beschrieben und hinzugefügt: »So groß wie möglich. Savannah, Georgia, wir kommen.«
Der heftige Regen, der in New York niederging, spielte da keine Rolle. Isabel würde Geschmack an der damit verbundenen Gefahr finden, und je weiter sie nach Süden und dann gemächlich nach Westen kamen, desto mehr würde der Regen nachlassen. Enden würde die Reise in Kalifornien mit einem Besuch bei Becca, die kürzlich ein Studium an der Stanford University begonnen hatte. Auf ein Treffen mit Jeff, Beccas Vater, und dessen viel zu junger Lebensgefährtin würde Leo jedoch liebend gern verzichten.
Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Isabel hätte schon längst dasein müssen. Die Maschine aus London sollte um vier Uhr landen, und mittlerweile war es kurz vor sieben. Vermutlich war der Regen an der Verspätung schuld. Sie starrte aus dem Fenster. Manhattans berühmte Skyline hatte sich in eine Reihe verschwommener Schemen verwandelt, die drohend im Dunst aufragten, nur unterbrochen durch vereinzelte unscharfe Lichter. Leos hölzerne Pflanzkübel und Terrakottatöpfe, die draußen auf der Terrasse standen und in denen sich Stiefmütterchen und Osterglocken gegen den heftigen Regen stemmten, schienen beinahe fortgespült zu werden.
Einer plötzlichen Regung folgend, öffnete Leo die gläserne Schiebetür und trat aufs Dach hinaus. Sie ging zu dem eisernen Geländer und schaute auf die Straße hinunter. Ein einzelner Regenschirm eilte durch die Schlucht zwischen den Gebäuden voran und bog um eine Ecke. Ein vorbeifahrendes Auto ließ das Wasser aus den Pfützen der Fahrbahn aufspritzen, hielt jedoch nicht vor Leos Hauseingang. Sie wich einen Schritt zurück, hob das Gesicht dem Regen und dem Himmel entgegen. Sie kam sich vor wie ein Kind, das, ganz ohne Angst, den Elementen trotzte und sich dem Wetter auslieferte. Die Regentropfen auf ihren Augenlidern fühlten sich wunderbar an.
Irgendwo hinter ihr war plötzlich ein Geräusch zu vernehmen. Zunächst handelte es sich lediglich um ein gedämpftes Dröhnen, doch es kam näher und wurde dabei immer lauter, bis es das Prasseln des Regens übertönte. Es klang wie ein scheußliches mechanisches Knattern und erinnerte sie an eines der Geräusche in ihrem Traum. Leo öffnete die Augen und erblickte direkt über sich den schwarzen bedrohlichen Schatten eines Helikopters, der so tief flog, dass sie die Silhouette des Piloten erkennen konnte.
Ihr Atem beschleunigte sich abrupt. Wieder ergriff Furcht von ihr Besitz. Ihr Mund war wie ausgedörrt; sie konnte die Angst förmlich schmecken. Einen Moment lang blieb sie wie angewurzelt stehen. Dann überwand sie sich mühsam und floh zurück in ihre Wohnung.
Auf einmal überkam Leo das Gefühl, etwas Schreckliches sei geschehen. Sie erschauderte.
Mit nassem Haar setzte sie sich an den Computer und öffnete die zwei Wochen alte E-Mail, in der Isabel ihr die genaue Ankunftszeit mitgeteilt hatte. Gleichzeitig wählte sie die Nummer des Kennedy Airport.
Die Maschine war mit nur fünfzehn Minuten Verspätung gelandet.
Leo atmete tief durch, zögerte kurz und entschied sich dann, bei ihrem Exmann anzurufen. Becca musste gestern abend in Jeffs Haus in den Berkley Hills eingetroffen sein. Ihre Tochter hatte beschlossen, nicht nach New York zurückzufliegen, sondern ihre Osterferien bei ihrem Vater zu verbringen. Falls Leo Glück hatte, würde die Putzfrau den Hörer abnehmen.
Doch sie hatte kein Glück. Jeff ging ans Telefon, und als er Leos Stimme erkannte, verwandelte sein unbeschwert charmanter Tonfall sich in gestelzte Höflichkeit.
»Ja, Becca ist hier. Im Augenblick ist sie mit Tip draußen im Garten. Soll ich sie holen?«
»Nein, ich wollte mich bloß vergewissern, dass …«
»Gut. Ich sage ihr, dass du angerufen hast.«
»Okay.«
»Ach, übrigens, Cora ist schwanger.«
»Ja? Das ging aber schnell.« Es gelang ihr nicht, ihre Gereiztheit zu verbergen.
»Ich habe noch nie lange herumgetrödelt. Zumindest nicht in dieser Hinsicht, wie du bestimmt noch aus eigener Erfahrung weißt.«
Jeff legte auf.
»Arschloch«, murmelte Leo in den Hörer. Sie blieb einen Moment lang reglos sitzen. Gut, dass Isabel jede Minute eintreffen würde.
Doch Isabel traf nicht ein; auch nicht, nachdem Leo geduscht und sich die Haare gefönt hatte. Auch nicht, nachdem sie eine schwarze Hose, eine weiße Bluse ohne Tintenflecke und eine satingesäumte schwarze Jacke angezogen hatte – die passende Garderobe für einen Besuch im eleganten Rainbow Room, wie Isabel ihn sich für den ersten ihrer beiden Abende in New York gewünscht hatte.
Geduldig zu sein gehörte nicht zu Leos Stärken. Sie goss sich einen Fingerbreit Whisky ein, aß ein paar Erdnüsse, las flüchtig einen Artikel in der New York Times, der auf die Problematik der Genforschung einging, überflog einige weitere Beiträge, die sich näher mit der allgemein üblichen Bedeutung des Begriffs »sexuelle Beziehung« beschäftigten, und hörte sich ein Lied von Steely Dan an, das sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr liebte, und schaute immer wieder aus dem Fenster auf Manhattan hinab.
Um neun Uhr hatte die leichte Beunruhigung sich in eine ausgewachsene Panik verwandelt. Vor ihrem inneren Auge sah Leo Massenkarambolagen auf dem Freeway, Autos, die von der Triborough Bridge stürzten, verrückte Fahrer, die ihre Messer zückten und denen sich die stets heldenmütige Isabel in den Weg stellte …
Leo rief erneut beim Flughafen an, und noch während sie darauf wartete, dass jemand ans Telefon ging, verfluchte sie sich dafür, dass sie ihre Freundin nicht persönlich in Empfang genommen hatte. Doch es bestand eine ausdrückliche Vereinbarung zwischen ihnen: Keine von beiden sollte sich je die Mühe machen, die andere abzuholen. Mittlerweile besaß jede von ihnen einen Schlüssel für die Wohnung der Freundin, so dass es für sie nicht einmal mehr erforderlich war, sich ausdrücklich anzumelden.
»Nein, Ma’am, wir dürfen keine Auskünfte über einzelne Passagiere erteilen.«
»Aber …«
»So lauten nun mal die Vorschriften, Ma’am. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.«
»Aber meine Stieftochter …«, hörte Leo sich lügen. »Ich mache mir solche Sorgen.« Wie beiläufig schlich sich ein leises Schluchzen in ihre Stimme.
»Tut mir leid, Ma’am.«
»Aber was soll ich denn tun? An wen kann ich mich wenden?«
»Ihre Stieftochter? Bitte warten Sie kurz, Ma’am.«
Es herrschte einen Moment lang Stille, dann war der Mann wieder am Apparat. »Wie lautet Ihr Name, Ma’am?«
»Morgan«, log Leo. »Meine Stieftochter heißt Isabel Morgan.«
Sie hörte, wie der Mann etwas auf einer Tastatur eingab.
»Auf der Passagierliste des Fluges, den Sie mir genannt haben, steht keine Person dieses Namens.«
»Keine Person dieses Namens«, wiederholte Leo tonlos.
»Vielleicht hat Ihre Stieftochter auf einen späteren Flug umgebucht.«
Leo dachte daran, dass Isabel auf dem Weg nach Heathrow womöglich in einen Stau geraten war. »Können Sie das überprüfen?«
»Nein, Ma’am. Ich wünsche noch einen guten Abend.«
Leo lief unruhig durch die Wohnung – vorbei an dem blauweißen Sofa, der geschwungenen, mit Samt bezogenen Chaiselongue und dem gläsernen Esstisch mit den sechs Stühlen, dann durch ihren Arbeitsbereich und aus alter Gewohnheit in Beccas Zimmer, als wäre ihre Tochter noch immer da und läge zusammengerollt im Bett und würde im Schlaf leise atmen. Doch das Zimmer war leer; nur ein paar alte Poster und Fotos hingen an den Wänden, und auf dem Bett und einem Korbsessel hockten, wie wartend, ihre vielen Stofftiere, die Becca als Kind so geliebt hatte. Leo schloss sanft die Tür und ging weiter in den nächsten Raum, der Jeff früher als Arbeitszimmer gedient hatte und nun liebevoll als Unterkunft für Isabel zurechtgemacht war.
Als Leo wieder an ihrem Schreibtisch saß, versuchte sie, die Ursachen ihrer Besorgnis zu ergründen. Bestimmt hatte der sintflutartige Regen damit zu tun, dann der Monsterhubschrauber und außerdem Beccas Besuch bei ihrem Vater und dessen schwangerer Lebensgefährtin. Isabel hatte wahrscheinlich schlicht und einfach ihre Maschine verpasst und würde sich nur etwas verspäten. Schließlich gab es jede Menge Flüge von London nach New York.
Leo zog die Jacke aus und beugte sich noch einmal über ihre Zeichnungen. Ihre Cartoonreihe gab es bereits seit ungefähr vier Jahren. Im Zentrum standen vier Charaktere, deren Alltag mit einem sarkastischen Blick auf die ständig wechselnden Moden und Marotten erzählt wurde. Zunächst war da die stämmige Bella, eine alternde Aktivistin und frühere Lehrerin, die an der 92. Straße einen Eltern-Workshop leitete. Dann gab es die grazile Clio, die zu den oberen Zehntausend gehörte und deren Scheidung fast genauso lange gedauert hatte wie ihre Ehe, allerdings viel kostspieliger ausgefallen war. Ihre Anwältin, die sachliche Judith, wurde nicht müde, sie darauf hinzuweisen, dass jeder Monat sie ein Facelifting kostete. Die vierte im Bunde war Bellas Nichte, die angehende Retro-Rocksängerin Jenny – auch bekannt als Seraphita – samt ihrer tatkräftigen Entourage.
Als das Telefon klingelte, stürzte Leo hastig an den Apparat.
»Isabel!« rief sie.
»Nein, Leonora, ich bin’s«, antwortete ihre Mutter. »Also ist deine Freundin noch nicht angekommen. Ich wollte mich nur vergewissern.«
Leo bemühte sich, nicht wieder gleich vorwurfsvoll zu klingen. »Sie wird bald hier sein, Mom.«
»Du weißt, welche Sorgen ich mir mache.«
»Ja. Ich kann jetzt nicht reden. Ich warte auf einen Anruf.«
»Ich dachte nur … Bei diesem Wetter … Es wäre vielleicht vernünftiger, eure Reise zu verschieben. Es …«
»Ich rufe dich morgen zurück, Mom.« Leo legte auf.
Seit Leos Trennung von Jeff hatte die Fürsorglichkeit ihrer Mutter beinahe unerträgliche Ausmaße angenommen. Rückblickend kam es Leo so vor, als habe Jeff wie ein Bollwerk gegen den späten Wunsch ihrer Mutter fungiert, sie mit einer Nähe zu umfangen, die es zwischen ihnen beiden nie wirklich gegeben hatte. Nicht in der Kindheit, als ihre Mutter zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, und ganz gewiss nicht während Leos Jahren als Teenager. Als ihr Vater starb, war Leo vierzehn gewesen; es machte sie noch nachträglich wütend, dass ihre Mutter bereits kurz darauf wieder heiratete, diesmal einen Psychiater.
»Aber du warst früher einmal seine Patientin. Das ist unmoralisch«, hatte Leo sie angebrüllt.
»Das liegt schon viele Jahre zurück, und es waren ja auch nur drei Monate, mein Schatz«, hatte ihre Mutter in aller Ruhe erwidert. »Warte nur ab, er wird dir gefallen.«
Doch das war nicht der Fall gewesen. Leo hatte sich entwurzelt gefühlt. Den größten Teil ihrer Kindheit hatte sie in einem englischen Internat verbracht, das ihr zu einem zweiten Zuhause geworden war, während ihre Eltern im Auftrag diverser Hilfsorganisationen kreuz und quer durch Südostasien reisten. Im Alter von siebzehn kam Leo sich in ihrer Geburtsstadt Manhattan wie ein Fremdkörper vor. Das Apartment an der Park Avenue mit all seinen Antiquitäten, den dicken Teppichen, den nicht zu öffnenden Fenstern und der gedämpften Stille erschien ihr nach den weitläufigen Anlagen und den lärmenden Mädchen ihrer Schule in Cambridge wie ein Gefängnis. Leo verließ das frischverliebte Paar so bald wie möglich, ging nach Harvard, um Kunstgeschichte zu studieren, und schaute nie wieder zurück.
Dort lernte sie Jeff kennen. Sie heirateten zwei Wochen vor Beccas Geburt. Leo war noch keine einundzwanzig. Jeff war sechsundzwanzig und stand kurz vor der Beendigung seiner Doktorarbeit. Leo brach ihr Studium ab, um sich um das Baby zu kümmern. Ein solches Verhalten stand vielleicht nicht ganz im Einklang mit dem Zeitgeist, aber sie und Jeff waren glücklich. Dann fing sie an, nach und nach wieder zu zeichnen, was sie bereits in frühester Kindheit geliebt hatte. Bald bekam sie erste Aufträge, Kinderbücher zu illustrieren. Diese Arbeit gestattete es ihr, Jeff zu folgen, zunächst nach Amherst und später nach New York, nicht zu vergessen das wunderbare Sabbatjahr in London. Damals hatte sie auch Isabel kennengelernt.
Leo ertappte sich dabei, dass sie nach dem Telefonhörer griff. Ohne groß nachzudenken, wählte sie Isabels Nummer in London. Sie ließ es lange klingeln, doch niemand hob ab. Nicht einmal der Anrufbeantworter sprang an, was nur bedeuten konnte, dass Isabel unterwegs nach New York war. Leo sah zum Fenster hinaus, als könnte sie ihre Freundin aus der trüben Dunkelheit des regnerischen Manhattan heraufbeschwören. Das Dröhnen war wieder da, ein sachtes Vibrieren in der Ferne. Mit ihm kam das Zittern.
Um sich abzulenken, eilte Leo in die Küche und holte sich ein Stück Mozzarella, ein paar Kirschtomaten und zwei dicke Scheiben Weißbrot aus dem Kühlschrank. Sie machte sich ein Sandwich, das sie mit frischem Basilikum und Nelkenpfeffer garnierte. Während sie mit ihrem Brot beschäftigt war, zwängte sich eine Küchenschabe durch den winzigen Spalt am anderen Ende des blankgescheuerten Tresens und huschte auf einen Krümel zu. Leo zerschmetterte das Insekt mit ihrem Schuh und wischte mit mühsam unterdrücktem Ekel die Überreste weg.
Bei ihrem Einzug in diese Wohnung, in der sich noch einige Möbelstücke des Vormieters befunden hatten, waren Jeff und sie unter einer alten Matratze auf einen riesigen Schwarm Küchenschaben gestoßen, der wie eine Armee gepanzerter Krieger gewirkt hatte. Ungeachtet der Anstrengungen des Kammerjägers, hatten sie sich eine jahrelange Schlacht mit diesen abstoßenden Kreaturen geliefert, bis Leo schließlich dazu übergegangen war, die Schaben als unvermeidliche Begleiter zu betrachten, genauso gleichbleibend und unausweichlich wie die Träume, die der Schlaf mit sich brachte.
Schließlich schenkte Leo sich ein Glas Chardonnay ein und trug das Tablett dann zum Sofa herüber. Seit Becca ausgezogen war, hatte sie kaum noch Lust, sich an den Herd zu stellen, wenn nicht gerade der Besuch einiger Freunde anstand, was inzwischen immer seltener vorkam. Früher hatte sie viel Spaß an der Zubereitung üppiger Festmähler gefunden und ihre Küche als eine Art Alchimistenkammer betrachtet. Doch mittlerweile machte das Kochen ihr keinen rechten Spaß mehr.
Sie ließ sich auf das Sofa sinken, nahm die Fernbedienung und suchte die TV-Kanäle nach einer Nachrichtensendung ab, fand aber nur einen alten Film mit Paul Newman, den sie laufen ließ, während sie aß. Nach und nach vermischten sich die Bilder des Films mit den Eingebungen von ihrer Phantasie. Obwohl sie sicher war, nicht eingeschlafen zu sein, sah sie Isabel ins Zimmer kommen. Isabel, endlich. Doch diese Isabel sah genauso aus wie damals, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten.
Es war Thanksgiving, ein stürmischer Novemberabend; Leo und Jeff waren nach Notting Hill zu einer Party eingeladen. Trotz der dicken Vorhänge konnten sie durch die geschlossenen Fenster hindurch das Heulen des Windes hören. Etwa dreißig Gäste saßen bei Kerzenlicht beisammen. Über einem reich verzierten Kamin hing ein verblichenes Ölgemälde, auf dem man die vagen Umrisse eines weiblichen Gesichts erkennen konnte. Es war ein geheimnisvolles Gesicht, hochmütig und zugleich tieftraurig. Leo vermochte die Augen kaum davon abzuwenden, als würde die Frau auf dem Bild ihren Blick magisch anziehen. Von ihrem Platz am Tisch aus konnte Leo nicht genau erkennen, wie der Künstler diesen besonderen Effekt erzielt hatte, durch den das Antlitz sowohl realistisch als auch gespenstisch wirkte.
Nachdem man die Tische beiseite geräumt und der Gastgeber alle Anwesenden aufgefordert hatte, sich auf die Tanzfläche zu begeben, trat Leo dicht vor das Gemälde, um es genauer zu inspizieren. Eine Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken.
»Großartig, nicht wahr? Und auch faszinierend. Ich frage mich, was sie wohl im wirklichen Leben tut.«
Leo drehte sich um und sah eine großgewachsene Frau in einem engen, smaragdgrünen Kleid vor sich. Der Blick zweier tiefliegender, von winzigen Lachfältchen umgebener Augen richtete sich auf sie. Leo wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als fühle sie sich plötzlich eingeschüchtert, da streckte ihr die Fremde unvermittelt eine Hand entgegen.
»Hallo, mein Name ist Isabel Morgan, und ich bin keine Britin.« Ihr Lächeln war entwaffnend.
»Ich auch nicht.«
»Ich weiß. Ich weiß beinahe alles über Sie. Gerade habe ich mich mit Ihrem Mann unterhalten. Und nun möchte ich Sie gern kennenlernen.« Isabel Morgan zwinkerte ihr zu. Leo war sich nicht sicher, ob dieser Wink komplizenhaft wirken sollte oder ob etwas anderes damit gemeint war.
Sie erwiderte die Begrüßung mit einer Frage: »Und was machen Sie im wirklichen Leben?«
Isabel lachte auf. »Hier in England schickt sich eine solche Frage nicht, aber ich werde es Ihnen trotzdem verraten. Ich arbeite für den Verbraucherverband. Vielleicht aber nicht mehr allzulange.« Und dann, bevor sie weiterreden konnte, forderte ein korpulenter Mann mit schreiend blauer Brille sie zum Tanzen auf.
Später am Abend sah Leo, dass Jeff mit Isabel tanzte und offensichtlich hingerissen von ihr war. Sie verspürte eine unterschwellige Eifersucht, wenngleich auch sie selbst nicht umhinkonnte, Isabel Morgan zu bewundern. Sie hatte es bislang nur selten erlebt, dass Schönheit mit einer solchen Zwanglosigkeit und Unschuld einherging.
Als sie sich anschickten, den Heimweg anzutreten, tauchte Isabel unerwartet an Leos Seite auf und legte ihr mit vertrauter Geste eine Hand auf den Arm.
»Lassen Sie uns zusammen zu Mittag essen. Ich rufe Sie an. Ach, übrigens, ich weiß jetzt, wer die Dame auf dem Gemälde ist. Die Frau eines amerikanischen Botschafters. Sie ist leider schon tot, in Beirut gestorben.«
Leo schreckte aus dem Schlaf auf. Sie schwitzte und war völlig durcheinander. Isabel. Ein lauter Knall. Sie sprang auf. Der Wind hatte draußen auf der Dachterrasse den Azaleentopf umgeworfen. Inmitten der nassen Erde lagen einige Tonscherben. Während Leo mühsam versuchte, alles wieder aufzuräumen, überkam sie auf einmal die Gewissheit, dass etwas Schreckliches mit Isabel geschehen war. Ein solches Gefühl hatte sie bisher erst ein einziges Mal erlebt.
Vier Tage später saß Leo in einem Flugzeug nach London. Ihr graues Wollkostüm wirkte geschäftsmäßig, und ihr kastanienbraunes Haar war sorgfältig gebürstet und schimmerte sanft. Nur die dunklen Schatten unter den Augen verrieten, wie es in Wirklichkeit um sie stand. Sie lehnte sich auf ihrem Platz zurück und versuchte, sich zu entspannen. Das Meer lag unter einer weißgrauen Wolkenschicht verborgen. Das Flugpersonal und die anderen Passagiere nahm Leo genausowenig wahr. Die Leute hatten kaum Ähnlichkeit mit der Realität, als handelte es sich bei ihnen um Figuren aus einem Kinderbuch. Leo schlug den Roman auf, den sie achtlos am Flughafen gekauft hatte, doch sie war nicht in der Lage, sich auf den Text zu konzentrieren.
Die letzten Tage hatte sie voller Besorgnis verbracht. Isabel war weder aufgetaucht, noch hatte sie sich gemeldet. Verzweifelt hatte Leo sich bemüht, ihre Freundin irgendwo aufzuspüren, doch ihre Anrufe bei gemeinsamen Londoner Freunden waren ohne Ergebnis geblieben. Niemand schien während der letzten Wochen mit Isabel gesprochen zu haben, und kaum jemand wusste von ihrer geplanten Reise nach New York. Da Isabel nicht mehr als Angestellte arbeitete, gab es auch kein Büro, in dem man sich nach ihr hätte erkundigen können.
Vergeblich versuchte Leo, sich an den Namen von Isabels Redakteur zu erinnern. Vielleicht hatte Isabel ihn ihr gegenüber auch nie erwähnt, denn sie sprach nicht gern über laufende Projekte. Daher wusste Leo nicht genau, woran ihre Freundin im Verlauf der letzten Monate gearbeitet hatte. Bei ihrem kurzen Treffen in London, unmittelbar vor Weihnachten, hatte Becca sie begleitet, und zwischen den Einkaufsbummeln, den Galerie- und Theaterbesuchen war kaum Zeit für vertrauliche Gespräche geblieben.
Die New Yorker Polizei, an die Leo sich schließlich gewandt hatte, war ihr keine große Hilfe gewesen. Der verächtliche Tonfall des Beamten ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
»Hören Sie mal, Lady, wir haben schon genug zu tun, auch ohne unsere Zeit mit der Suche nach jemandem zu verschwenden, der nicht einmal amerikanischer Staatsbürger ist und vermutlich bloß beschlossen hat, seinen Besuch hier abzublasen. Alles klar?«
Leo hatte ihre Cartoons persönlich bei der Zeitung abgeliefert und war dann ins Büro des Nachrichtenredakteurs gegangen. Nachdem sie ihm von Isabel erzählt hatte, fragte sie ihn, ob es irgendwie möglich war, herauszufinden, ob Isabel Morgan in die Vereinigten Staaten eingereist war. Leos letzte Anrufe bei den Fluglinien, die auf der Strecke London – New York verkehrten, hatten keinerlei Resultate erbracht.
»Überlassen Sie das mir«, sagte der Nachrichtenredakteur. »Ich setze jemanden darauf an.«
Sie wollte ihn fragen, wie lange die Angelegenheit dauern würde, aber dann klingelte sein Telefon, und er bedeutete ihr, das Büro zu verlassen. Während am anderen Ende der Leitung bereits eine barsche Stimme auf ihn einredete, formte er stumm die Worte »heute nachmittag«.
Leo harrte ungeduldig neben ihrem Telefon aus und musste sich zwingen, nicht alle zehn Minuten ihre E-Mails zu überprüfen. Um drei Uhr erhielt sie endlich Bescheid. Anscheinend war niemand mit dem Namen Isabel Morgan auf dem Kennedy Airport oder in Newark gelandet.
Innerhalb der nächsten Stunde sprach Leo mit Becca, um sie von ihrem Flug nach London zu unterrichten, und mit Jeff, der wieder als erster den Hörer abgenommen hatte.
»Ich verstehe«, erklärte er ihr mit einem Anflug von Missbilligung. »Vergiss aber nicht, dass Isabel noch nie besonders zuverlässig gewesen ist.«
»Was soll das denn heißen?« Es gelang Leo nicht, den plötzlich aufkeimenden Ärger zu verbergen. »Ich konnte mich bislang immer auf sie verlassen.«
»Na, dann ist ja alles bestens«, fügte er hinzu und machte sie dadurch noch wütender. »Aber lass dich nicht zu sehr beunruhigen.«
Leo lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und nippte an dem Mineralwasser, das vor ihr auf dem aufgeklappten Tisch stand. Auf dem winzigen Bildschirm vor ihr tauchte aus einem Hintergrund, der blauer als jedes Meer war, eine Karte auf. Ein gestrichelter Pfeil zeichnete in sauberem Bogen die Route nach und verwandelte sich mit fortschreitender Meilenzahl allmählich in eine durchgezogene Linie. Mehrere andere Zahlen gaben Leo Aufschluss über die Flughöhe und Außentemperatur sowie über die stetig schrumpfende Entfernung zwischen ihr und Isabel.
Ihre Gedanken schweiften zu Jeff ab. Es war seltsam, wie all jene Charakterzüge, die sie einst an ihm übersehen oder für sympathisch oder gar liebenswert erachtet hatte, sie inzwischen nicht nur verärgerten, sondern bisweilen beinahe zur Weißglut brachten. Zum Beispiel seine Art, ihr zu sagen, sie solle sich keine Sorgen machen, sondern locker bleiben und den Dingen ihren Lauf lassen. Zunächst hatte das wie Fürsorglichkeit gewirkt, doch mittlerweile kam es ihr wie eine Schikane vor, so dass seine Aufforderung, sie solle sich nicht zu sehr beunruhigen lassen, genau das Gegenteil bewirkte.
Mit ihrer Arbeit verhielt es sich genauso. Sie hatte stets Wert auf seine Meinung gelegt, doch seit ihre Cartoons ihr zu einer gewissen Bekanntheit verholfen hatten, gewann seine Kritik dermaßen an Schärfe, dass alles andere davon überschattet wurde. Es kam häufig vor, dass er lachte und sagte, etwas sei ihr sehr gut gelungen, eine bestimmte Textzeile oder ein besonders treffender Einblick, nur um im nächsten Moment über die generelle Mittelmäßigkeit ihrer Arbeit zu spotten und dadurch alles wieder kaputtzumachen.
Es war etwas dran an dem Klischee, dass Männer Probleme mit dem Erfolg ihrer Frauen haben.
Viel schlimmer fand Leo jedoch Jeffs Angewohnheit, anfangs so zu tun, als würde er ihre Freunde mögen, nur um dann doch eine kleine Gemeinheit oder Gehässigkeit gegen jemandem vom Stapel zu lassen. Irgendwie blieben ihr diese Bosheiten immer im Gedächtnis haften und meldeten sich hartnäckig, sobald sie ihre Freunde das nächste Mal traf, so dass Leo sich regelrecht anstrengen musste, Jeffs Urteil zu verdrängen. Sein Kommentar über Isabel war ein Musterbeispiel dafür, obwohl Isabel anfangs auch mit ihm befreundet gewesen war.
»Lasagne oder Hühnchen, Ma’am?« Eine freundliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Ah … Hühnchen, bitte.« Leo erwiderte das höfliche Lächeln der Stewardess und nahm das Tablett entgegen. Sie löste die Silberfolie von einem Ende des kleinen Plastiktellers. Der feuchte Geruch einer künstlich gewürzten Soße stieg ihr in die Nase. Eilig schloss sie den Deckel wieder und begnügte sich statt dessen mit einem Brötchen.
In der Wolkendecke tauchte eine Lücke auf. Der indigoblaue Ozean mit seinen von Gischt gekrönten Wogen war mehr zu ahnen als zu sehen. Leos Stimmung hob sich ein wenig.
Das war das Wesen der Liebe, überlegte sie. Man stellte sich Superman vor, doch in Wirklichkeit war da nur ein ganz gewöhnlicher Ehemann. Man sah nur das Gute, bewertete es über und ignorierte den Rest. Sie hatte Jeff geliebt, von jenem ersten Moment an, als sie in der Warteschlange der Bibliothek ungeschickt ihren Stapel Bücher fallen ließ und er ihr beim Aufsammeln half. Er hatte so gut ausgesehen mit seinen dunklen Locken und den klaren Augen, als wäre er einem Gemälde Caravaggios entstiegen. Als er sie ansah und fragte: »Bist du aus England?« und dann aufmerksam zuhörte, wie sie sich ein schüchternes »Nicht ganz« abrang, hatte es sie hoffnungslos erwischt.
Es war wichtig, das nicht zu vergessen und sich daran zu erinnern, wie glücklich sie in den Jahren nach Beccas Geburt gewesen waren und wie sanft Jeff mit dem Baby umgegangen war. Ihre Liebe war ungetrübt gewesen. Leo durfte nicht zulassen, dass diese Erinnerungen durch die Ereignisse der letzten Jahre verschüttet wurden. Andernfalls würde sie sich in eine jener verbitterten alten Frauen verwandeln, deren Lebensgeschichte aus einer nicht enden wollenden Klage bestand.
»Nicht gerade ein Drei-Sterne-Menü, nicht wahr?« sagte plötzlich der Mann auf dem Platz neben ihr.
»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Leo. »Aber ich schätze, der Flug wäre sonst doppelt so teuer.«
Er lachte einnehmend. »Wie wahr.«
Sie sah den Mann an. Er hatte ein breites, leicht pockennarbiges Gesicht mit freundlich glänzenden Knopfaugen und kurzen braunen Haaren. Sein Akzent klang altmodisch, obwohl er zweifellos jünger war als Leo. Vermutlich kam er aus Oxford oder Cambridge.
»Sind Sie geschäftlich oder zum Vergnügen unterwegs?«
Leo zuckte mit den Achseln. Sie wusste keine Antwort auf diese Frage. »Und Sie?«
»Ich bin auf dem Rückflug von einer Geschäftsreise.«
»Sie Glücklicher«, sagte Leo ein wenig zu sehnsüchtig.
»Ich war auf einer Konferenz. Leider haben Konferenzen den bedauerlichen Nebeneffekt, dass man geschwätzig wird.« Er lächelte entschuldigend.
»Worum ging es bei dieser Konferenz?«
»Erinnerungen, Traumata, solche Dinge.«
Leo wurde misstrauisch. »Sind Sie Therapeut?«
»Nein, aber ein Süchtiger. Ich würde jetzt gern eine Zigarette rauchen. Verbote erhöhen das Verlangen.«
Sie lächelte unbehaglich und drehte sich zum Fenster. Kurz darauf nahm sie ihren Laptop und legte ihn auf den Tisch.
»Nur um Sie zu beruhigen, ich bin Historiker. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit.«
Leo schaltete ihren Computer ein, um das Gespräch zu beenden.
Der Mann holte ebenfalls einen Laptop hervor und konzentrierte sich auf den Bildschirm.
Die starre Beharrlichkeit seiner Pose verdeutlichte Leo ein weiteres Mal, wie schwer es ihr seit einigen Jahren fiel, ganz normale Begegnungen zu bewältigen. Sie war viel zu unbeherrscht und argwöhnisch. Es war, als könne sie niemandem einfach glauben und würde ganz automatisch Ablehnung hervorrufen, auch wenn sie sich dessen gar nicht bewusst war. Wahrscheinlich war sie in letzter Zeit zuviel allein gewesen.
Plötzlich wurde ihr klar, während sie in einer Höhe von zehntausend Metern über dem Atlantik schwebte, dass die einst vertrauten Beziehungen zu ihren New Yorker Freundinnen eine nach der anderen immer oberflächlicher geworden waren. Leo war sich nicht ganz sicher, woran das lag. Vielleicht lehnte sie einfach zu häufig Einladungen ab und sprach selbst keine mehr aus. Womöglich wollte sie keine Leute mehr sehen, die Teil eines Vorlebens waren, das sie am liebsten begraben würde, Leute, die sie daran erinnerten, dass sie als Ehefrau versagt hatte. Oder vielleicht war sie einfach zu langweilig geworden. Nur Isabel stand ihr noch nahe, sogar weitaus näher als zum Zeitpunkt der Trennung von Jeff. Damals hatte die Bindung zwischen ihnen sich erst wirklich verfestigt.
Nachdem Jeff sie verlassen hatte, war Isabel aus London herübergeflogen und hatte sich wie eine fürsorgliche Schwester um Leo und Becca gekümmert. Feinfühlig spürte sie den Schmerz, der sich hinter Leos starrer, sarkastischer Maske verbarg, und stellte es ihr frei, ob sie schweigen, reden oder wehklagen wollte. Leo hatte das Gefühl, Isabel alles mögliche anvertrauen zu können, ohne auf Ablehnung oder zu große Neugier zu stoßen. Außerdem brachte Isabel sie zum Lachen, als sie Leo im Klub der alleinstehenden Frauen willkommen hieß.
Während jener Wochen erfuhren sie übereinander mehr als je zuvor. Zum ersten Mal unterhielten sie sich über ihre Kindheit. Sie stellten fest, dass zwischen ihnen ungeachtet der offensichtlichen Gegensätze einige seltsame Gemeinsamkeiten bestanden. Sie waren beide Einzelkinder, die viele Jahre ihrer Kindheit in Schulen fernab der häufig wechselnden Heimatorte verbracht hatten. Keine von beiden empfand sonderlich viel für die eigene Mutter. Als Isabels Vater starb, war sie kaum vier Jahre alt gewesen, und sie stellten Vermutungen darüber an, welche von beiden wohl den größeren Verlust erlitten haben mochte: Leo, die noch viel von ihrem Vater wusste, oder Isabel, die keinerlei deutliche Erinnerungen mehr besaß. »Für dich ist es schlimmer«, sagte Isabel. »Ich habe nie das Bedürfnis verspürt, eine Lücke ausfüllen zu müssen. Kein Verlust, kein Frust.«
Seit jenen Wochen und den zahlreichen Gesprächen empfand Leo eine gewisse Abhängigkeit. Sie brauchte ihre regelmäßige Dosis Isabel, um bei Laune zu bleiben. Sie brauchte die Aufarbeitung. Die radikal andere Perspektive ihrer Freundin, ihre unerwarteten Reaktionen, die feinen Nuancen, die Isabel den Dingen verlieh, die schiere Freude, mit jemandem zusammenzusein, dessen Tatkraft und Lebenslust keine Grenzen kannten, waren für Leo eine genauso regelmäßige Notwendigkeit geworden wie ihre Arbeit.
Die Reise quer durch die Vereinigten Staaten hatten sie sich gemeinsam ausgedacht, als Leo zu Weihnachten in London gewesen war. Bei englischer Kälte und Dunkelheit träumten sie von Sonne und dem endlosen freien Himmel. Erst als die Reise plötzlich zu scheitern drohte, war Leo klargeworden, wie sehr sie sich auf den Trip gefreut hatte.
Mit einigem Widerwillen ergründete sie die Panik, die seit Isabels Ausbleiben von ihr Besitz ergriffen hatte. Ihre Motive, nach London zu fliegen, hatten unbestreitbar selbstsüchtige Züge. Dennoch wusste sie, dass Isabel sie nicht gleichgültig versetzt oder ohne Entschuldigung im Stich gelassen hätte. Und falls Isabel in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, musste sie ihr unbedingt beistehen.
Leo konzentrierte sich auf die gespeicherten E-Mails in ihrem Computer, um dort vielleicht doch noch einen Hinweis auf Isabels Verbleib zu finden. Die Briefe ihrer Freundin waren alle nach dem Eingangsdatum aufgelistet, so dass die jüngste E-Mail an oberster Stelle stand. Leo öffnete die Datei, die inzwischen mehr als zwei Wochen alt war, und las ein weiteres Mal die Ankunftszeit des Fluges sowie die hastig angefügte Nachricht:
»Ein schneller Gruß zwischendurch, meine Hübsche. Habe momentan sehr viel zu tun. Sehe dich bald. Muss jetzt aufbrechen, um Nachforschungen anzustellen.«
Welche Art von Nachforschungen? Isabel war stets unerschrocken. Zu Beginn ihrer Freundschaft, als Isabel noch für den Verbraucherverband gearbeitet hatte, musste sie Nachforschungen über alles mögliche anstellen, von Waschpulver über Autos bis zur Preispolitik von Supermärkten. Sobald sie angefangen hatte, eine Kolumne unter der Überschrift »Ein Tag im Leben eines …« zu verfassen, gewannen die Nachforschungen einen anderen Charakter. Irgendwie überredete Isabel Firmenvorstände, Bankiers und Finanzexperten, Sozialarbeiter und Krankenhausärzte, Ölarbeiter und Fernlastfahrer dazu, sie einige Tage lang als unsichtbare Begleiterin zu akzeptieren. Aus diesen Beobachtungen entstanden Artikel, die irgendwo zwischen Reportagen und Klatschberichten anzusiedeln waren.
Hatte irgendein geschmähtes Opfer beschlossen, sich an ihr zu rächen? War Isabel bei ihren Recherchen zu irgendwelchen gefährlichen Erkenntnissen gelangt?
Leo hatte plötzlich ein Bild vor Augen. Sie sah eine feuchte Hütte auf einer entlegenen Hebrideninsel im strömenden Regen. Isabel hüpfte mit gefesselten Händen und Füßen auf eine verschlossene Tür zu, hämmerte dagegen und kratzte an dem splittrigen Holz …
Das Grauen schnürte Leo die Kehle zu. Sie hustete. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu husten.
Der Mann neben ihr musterte sie besorgt und goss etwas Wein in ihr Glas. »Trinken Sie einen Schluck.«
Leo trank, nickte dankbar in seine Richtung und widmete sich verlegen wieder ihrem Computer.
Isabels frühere E-Mails lieferten keine besonderen Anhaltspunkte. Datum und Uhrzeit der Ankunft in New York waren zweimal wiederholt worden, stets verbunden mit einem Ausdruck der Vorfreude auf die Reise. Jetzt, da Leo die Nachrichten unter einem ganz neuen Aspekt betrachtete, wunderte sie sich über die lakonischen Briefe. In ihrer Erinnerung schienen die Gespräche mit Isabel immer endlos zu dauern. Sie überprüfte die digitalen Kopien der von ihr selbst verfassten E-Mails. Tatsächlich – sie waren deutlich weitschweifiger als die Schreiben ihrer Freundin.
Hastig scrollte Leo zur ersten E-Mail ihrer Korrespondenz mit Isabel, datiert vom 4. Januar 1996. Sie war damals online gegangen, als hätte es Jeffs Weggang bedurft, um sich der modernen Welt zu öffnen. Isabels erste Nachricht war eine Liste mit guten Vorsätzen zum neuen Jahr.
Ich werde:
1. Meinen neuen Therapeuten verführen, einen gewissen Daniel Lukas, sobald er sich einen anständigen Haarschnitt verpassen lässt.
2. Meinen gegenwärtigen Liebhaber in die Wüste schicken, weil er sich viel zu sehr an mich klammert.
3. Nur den allerbesten Wein trinken.
4. Fünf Kilo abnehmen.
5. Alle Einladungen zu Buchpräsentationen und VIP-Parties ablehnen – es sei denn, ich gewinne so sehr an Einfluss und Bedeutung, dass kein aufgeblasener Medienvertreter es sich mehr erlauben kann, verstohlene Blicke über meine Schulter zu werfen, weil er Ausschau nach einem noch einflussreicheren eitlen Wichtigtuer hält.
6. Meine verrückte Mutter mindestens einmal pro Monat anrufen.
7. Ernsthaft versuchen, in eine neue Wohnung zu ziehen, bevor die chaotische Unordnung hier mich noch um den letzten Rest meines Verstandes bringt.
8. Geduld mit meinen Nachbarn haben, trotz ihrer undichten Waschmaschinen und abstoßenden Gewohnheiten.
9. Den Stress der wöchentlichen Kolumne aufgeben und mich auf mein Buch konzentrieren.
10. Meine Freundin Leo öfter treffen, da sie inzwischen zur Vernunft gekommen ist und ihren launischen Ehemann ausrangiert hat.
Leo musste unwillkürlich lächeln, während sie die Liste las. Was auch immer aus Isabels anderen guten Vorsätzen geworden sein mochte, diesen letzten hatte sie in die Tat umgesetzt. Die Flüge über den Atlantik waren zu einer regelmäßigen Einrichtung geworden; sie hatten sich im Abstand von höchstens vier Monaten manchmal in London, manchmal in New York getroffen und einmal sogar in Paris.
Noch einen anderen Vorsatz hatte Isabel in die Tat umgesetzt. Mitte 1997 erschien ihr Buch über die Kindheit, was auf den ersten Blick ein überraschendes Thema für jemanden darstellte, der keine Kinder hatte. Das Buch war eine Provokation. Isabel kam darin zu dem Schluss, die Kindheit sei lediglich eine Idee, ein imaginäres Terrain, definiert durch die Hoffnungen, Ängste und verklärten Erinnerungen der Erwachsenen. Längst sei diese Idee zum Tummelplatz von Schriftstellern, Psychotherapeuten, Politikern und Sozialarbeitern verkommen und habe nur noch wenig mit dem wirklichen Leben der Kinder zu tun.
Während der Recherchen hatte Isabel ein paar Monate als Kindermädchen in zwei grundlegend verschiedenen Familien gearbeitet, danach einige Zeit in einem Kinderheim sowie in einer Schule. Schließlich hatte sie eine Reihe von Prozessen vor dem Jugendgericht verfolgt. Bei seinem Erscheinen rief das Buch aufgeregte Kontroversen hervor. Als Leo sich ungefähr einen Monat später mit Isabel traf, diskutierten sie einen Abend lang über ihre gewagten Theorien zur Kindheit, dann wollte Isabel nicht mehr darüber sprechen. Es war, als hätte das Buch für sie aufgehört zu existieren. »Ich arbeite schon am nächsten Manuskript«, hatte sie mit unergründlichem Lächeln erklärt.
Leo überflog eilig die E-Mails, die auf jenes Treffen gefolgt waren. Es musste sich darin doch irgendein Hinweis auf Isabels neues Projekt finden. Sie las den unterhaltsamen Klatsch über Liebhaber, Katzen, das Leben in London und die »Schlagzeilen von der Couch«, wie Isabel die Berichte über ihre Therapie zu nennen pflegte.
»Seine Stimme lässt mir keine Ruhe mehr. Sie begleitet mich überallhin, wie eine Allergie, die ich nicht loswerden kann. Er hat sich auch noch immer nicht die Haare geschnitten.«
»Lass die Therapie einfach sausen«, hatte Leo damals zu ihr gesagt. »Ich begreife nicht, wieso du dir deswegen so viele Gedanken machst.«
»Ich begreife es ja selbst nicht«, hatte Isabel gestöhnt. »Es ist die Hölle.«
Dann, im Herbst, kam die Nachricht, dass Isabel die Therapie tatsächlich abgebrochen hatte. Leo öffnete die entsprechende E-Mail.
»Das war’s. Ich bin fertig. Ich hasse ihn. Ich gehe. Er ist ein Ungeheuer, hochmütig und manipulierend. Näheres bei unserem nächsten Treffen. Ich werde all die skrupellosen Psychotricks publik machen. Verlass dich drauf.«
Leo starrte auf die Worte »publik machen«. Lag darin das Ziel von Isabels Nachforschungen? Bei ihrem Treffen im Dezember hatte sie allerdings kein Wort mehr über den Therapeuten verloren. Vielleicht wegen Becca: Ihr heißgeliebter Großvater, der sie regelmäßig mit maßlos teuren Geschenken überhäufte, war ebenfalls Therapeut.
Hastig ging Leo die nächsten paar Nachrichten durch und hielt dann inne, um eine der längeren E-Mails etwas sorgfältiger zu lesen. Es handelte sich um eine von Isabels Hetztiraden, diesmal gegen die klammheimliche Verwendung von gentechnisch erzeugten Stoffen in gängigen Lebensmitteln, die Politik der multinationalen Erzeuger, ihre riesigen Gewinnspannen und die Schwierigkeiten der kleinen Ökobauern. »Ich habe ziemliche Lust, selbst ein wenig Unterwanderung zu betreiben. Der Monsanto-Konzern ist ungefähr genauso heilig wie mein Arsch!« lautete das drastische Fazit.
Leo musste abermals husten, ohne sich dagegen wehren zu können. Sie trank den letzten Schluck Wein.
»Alles in Ordnung? Ich hole Ihnen etwas Wasser.« Ihr Nachbar stand auf und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Pappbecher zurück.
Leo nippte daran. »Ich schätze, ich habe mich erkältet. Immer diese Temperaturschwankungen. In einem Moment erfriert man beinahe, und im nächsten möchte man sich am liebsten an den Strand legen.«
»Verrückt, nicht wahr? Man könnte fast geneigt sein, tatsächlich an die geheimnisvollen Kräfte dieses El Niño aus Kalifornien zu glauben.« Er lachte.
»Sie haben in England von diesem Phänomen gehört?«
»Oh, durchaus. Uns plagen seit dem Jahrtausendwechsel doch überall die gleichen Sorgen – die globale Erwärmung, die Umweltzerstörung, das hemmungslose Klonen, die grassierende Wirtschaftsflaute, die steigenden Selbstmordraten. Da möchte man doch am liebsten das Dezimalsystem verfluchen.«
Leo spürte, wie sich ein Lächeln auf ihre Lippen schlich. »Sie meinen, die Nullen sind daran schuld?«
Er zuckte die Achseln. »Es scheint so, zumindest aus der Perspektive eines Historikers. Der letzte Jahrtausendwechsel hat eine Vielzahl apokalyptischer Befürchtungen hervorgerufen, und auch jeder Jahrhundertwechsel war durch entsprechende Begleiterscheinungen geprägt. Der globale Zusammenbruch steht wieder einmal bevor.« Sein Lächeln stand eindeutig im Widerspruch zu seinen Worten. »Ich heiße übrigens Tim Hoffman.«
»Leo Holland. Sie kennen in London nicht zufällig eine Frau, die Isabel Morgan heißt?«
Seine Stirn legte sich in Falten. »Isabel Morgan ist eine Journalistin, nicht wahr? Sie hat eine Kolumne im … Independent, wenn ich mich nicht irre. Allerdings habe ich schon länger nichts mehr von ihr gelesen.«
»Ja, das ist sie.«
»Ich kann nicht behaupten, ich würde sie kennen, obwohl ich erst kürzlich etwas über sie in der Zeitung entdeckt habe. Ich glaube, es war im Guardian. Das Foto ist mir aufgefallen.« Er wurde ein wenig rot und lachte entschuldigend. »Die Meldung stand in einer dieser Klatschspalten. Es hieß, sie würde als Moderatorin einer Fernsehreihe in Betracht gezogen. Ist sie eine Freundin von Ihnen?«
Leo nickte, aber sie hörte bereits nicht mehr richtig zu. Konnte die Erklärung für Isabels Fernbleiben ganz einfach darin bestehen, dass plötzliche Dreharbeiten sie so sehr in Anspruch nahmen, dass sie sogar vergessen hatte, Leo Bescheid zu geben? Das war zwar nicht allzu wahrscheinlich, aber durchaus möglich.
Die Straße nach London schimmerte in den letzten Strahlen der Frühlingssonne. Als das Taxi etwas später im Stau vor King’s Cross zum Stillstand kam, war es draußen bereits dunkel.
Vor ungefähr acht Monaten hatte Isabel Notting Hill verlassen und war in einen Teil Londons gezogen, den Leo kaum kannte; er lag jenseits von Clerkenwell, auf der anderen Seite des Bankenviertels. Einzig bemerkenswert war ein düsterer kleiner Friedhof in der Nähe, auf dem unter feuchten, weder von Efeu noch Blumen bedeckten Steinen William Blake begraben lag. Die Gegend wurde von alten Fabrikgebäuden und Mietshäusern bestimmt. Außerdem gab es ein paar Wohntürme aus den sechziger Jahren, die so heruntergekommen waren, dass sie schräg zu stehen schienen, als wollten sie sich jeden Augenblick auf die umliegenden öden Parkplätze stürzen.
Bei Leos letztem Besuch hatte Isabel sie mit ihrer Begeisterung für die Vorzüge dieses Viertels anstecken können – der geschäftige Blumenmarkt an der Columbia Road, die Menschenmassen auf der Brick Lane oder dem Markt Spitalfields, wo sich die junge Schickeria auf die Jagd nach billigen Kleidungsstücken machte; eine hübsche Methodistenkirche versteckt zwischen baufälligen Bürogebäuden; Restaurants in kühlen Farben, auf deren Speisekarten mit Lammhachse medium, Wachteln oder Plumpudding als Wiederentdeckung der englischen Küche standen.
Als das Taxi den futuristisch geschwungenen Old Street-Kreisel hinter sich ließ und in eine trostlose Straße einbog, kehrten Leos Vorbehalte gegen diese Gegend schlagartig zurück. Fröstelnd stieg sie unter einer einsamen Laterne aus, deren trübes gelbes Licht auf einen Parkplatz fiel, der von schmutzigen alten Fabrikbauten umgeben war. In dem Gebäude rechter Hand lag Isabels neuer Loft. Eilig bezahlte Leo den Taxifahrer, der ihr ein schiefes Lächeln schenkte und auf das Obergeschoss des Hauses deutete. »Anscheinend werden Sie bereits erwartet.«
Mit klopfendem Herzen drehte Leo sich um. Isabel war in ihrem Loft. In der linken Hauswand, die zum Parkplatz wies, konnte man hinter einer hochgezogenen Jalousie ein erleuchtetes Rechteck sehen. Am Sims stand eine schattenhafte Gestalt und hob grüßend den Arm. Leo zögerte kurz und erwiderte dann den Gruß. Im selben Moment wurde ihr klar, dass Isabel nicht in der obersten Etage, sondern im dritten Stock wohnte. Leo warf sich die große Reisetasche auf die Schulter und ging langsam zur Tür. Sie stieg vier Betonstufen empor, bis vor den schmucklosen Eingang. Einer plötzlichen Regung folgend, klingelte sie bei Isabel und wartete eine Weile, drückte dann noch einmal auf den Knopf und rechnete fast damit, gleich die vertraute Stimme aus der Gegensprechanlage zu hören. Doch sie vernahm lediglich das leise Motorengeräusch des sich entfernenden Taxis.
Leo atmete tief durch und griff nach dem Schlüssel in ihrer Tasche. Er ließ sich nur schwer im Schloss drehen; sie war daher erleichtert, als die Tür sich endlich öffnete. Leo schaltete das Licht ein. Rechts vom Treppenaufgang stand ein metallgrauer Tisch, an den sie sich nicht erinnern konnte. Neben einer großen Topfpflanze lag darauf ein Stapel Post. Sie blätterte die Umschläge durch und kam sich dabei wie ein Eindringling vor. Alle Briefe trugen Isabels Namen. Leo stopfte sie in ihre Tasche.
Auf dem Weg nach oben bemerkte sie, dass an der Wand des Treppenhauses inzwischen einige silbern gerahmte Fotografien hingen, ausnahmslos surreale Farbbilder von Frauen vor hoch aufragenden Stadtsilhouetten. Erst auf Isabels Etage wurde ihr klar, weshalb die Fotos so unheimlich aussahen: Die Frauen waren in Wirklichkeit Schaufensterpuppen und die Gebäude nur verzerrte Spiegelbilder in den Scheiben der Geschäfte.
Leise und vorsichtig schloss Leo die Wohnungstür auf und tastete sofort nach dem Lichtschalter. Sie fühlte sich unbehaglich. Als sie den weiträumigen Eingangsbereich durchquerte, hallte das Geräusch ihrer Absätze von dem polierten Holzboden wider. Nervös schaute sie sich um. Es war kalt und für Isabels Verhältnisse ungewöhnlich ordentlich hier, als hätte sie vor ihrem Weggang noch gründlich geputzt und aufgeräumt.
Als Isabel dieses Apartment kaufte, handelte es sich noch um einen riesigen, hohen Loft ohne jegliche Unterteilung und mit zahlreichen Fenstern auf drei Seiten. Sie ließ Wände einziehen, um drei relativ kleine Räume, ein Badezimmer und eine große Küche abzuteilen, so dass noch immer ein Wohn- und Essbereich von beträchtlichen Ausmaßen übrigblieb, der auf einer Seite von raumhohen Bücherregalen begrenzt wurde. Am einen Ende standen zwei helle Sofas und einige Sessel zu einem Rechteck angeordnet, am anderen ein langer, ultramoderner Esstisch mit einer reich verzierten Zinnschale. Keine Spur mehr von Isabels alter Sammlung viktorianischer Nippsachen, den Briefbeschwerern, den hölzernen Statuen vom Flohmarkt und den Wänden voller Tierbilder. Hier hing bloß ein einzelnes großes abstraktes Gemälde an der Wand, das in kraftvollen Gelb-, Rot- und Rosatönen gehalten war. Es schien, als hätte Isabel beschlossen, von London nach Los Angeles zu ziehen, ohne dabei physisch den Ort zu wechseln.
Leo stellte ihr Gepäck in einer Ecke des Raums ab und trug dann die Post in Isabels Arbeitszimmer, ein zweckmäßig eingerichtetes Refugium hinter den Regalen. Der Schreibtisch war erschreckend leer. Weder Papiere noch Bücher, Zeitschriften oder vergessene Kaffeetassen standen oder lagen verstreut in der Gegend herum. Am entlegenen Ende des L-förmigen Tisches befand sich ein Ablagekorb aus Aluminium, der anscheinend einen Stapel Rechnungen enthielt. Daneben stand das Telefon, dessen rote Signallampe nicht blinkte. Das alles entsprach so gar nicht jener Isabel, die Leo zu kennen glaubte.
Das Gefühl des Ungewohnten hielt auch in Wohnzimmer und Küche noch an, die beide dermaßen makellos wirkten, dass Leo sich fast wie in einem Möbelhaus vorkam. Nur um sich zu vergewissern, dass Isabel nicht plötzlich beschlossen hatte, hier auszuziehen und mit der spärlichen Resteinrichtung potentielle Käufer zu beeindrucken, öffnete Leo einen türkisfarbenen Küchenschrank nach dem anderen. Das Geschirr war da, sogar eine Reihe von Tees, Gewürzen und Konserven … und ein Glas Instantkaffee. Genau das richtige, um die Nerven zu beruhigen. Leo setzte den Wasserkessel auf. Der Kühlschrank enthielt ein Fertiggericht, einen Becher Margarine und etwas Marmelade. Sonst nichts. Das alles war zutiefst verwirrend.
Mit dem Kaffee in der Hand setzte Leo ihren Rundgang fort. Die Rouleaus vor den Wohnzimmerfenstern waren aufgerollt. Sie erinnerte sich daran, wie Isabel damals vor Weihnachten bei Einbruch der Dunkelheit stets eine Art Ritual abgehalten hatte: Jedes einzelne Rouleau wurde heruntergezogen, und zwischendurch schaltete Isabel nach und nach die diversen Lampen im Raum ein. »Ich hasse es, die Nacht eindringen zu sehen … und hier gibt es so viel mehr davon«, hatte sie gesagt. Mochte auch sonst alles im ungewissen bleiben, Leo wusste nun immerhin, dass Isabel ihre Wohnung bei Tage verlassen haben musste.
Das Schlafzimmer sah aus, als hätte noch nie jemand darin übernachtet. Das gestreifte Federbett und die dazu passenden Kissen waren sorgfältig aufgeschüttelt. Kein vergessenes Kleid, kein T-Shirt und kein einsamer Schuh störte die Ordnung, nicht einmal ein Buch beeinträchtigte die Symmetrie der Säulenplatte des Nachttisches. Das Fernsehgerät stand auf einem schmucklosen Gestell am Fußende des Betts. Leo schob die Tür des Kleiderschranks auf. Isabels Garderobe hing dicht an dicht nebeneinander und verströmte einen Hauch Zedernduft. Leo musterte das Innere des Schrankes. Falls Isabel für eine längere Reise gepackt hatte, wären mit Sicherheit einige Lücken zwischen den vielen Kleidern, Kostümen, Hosen und Schuhen entstanden. Nichts ergab auch nur den geringsten Sinn.
Wütend schlug sie die Schranktür zu und wandte sich ab. Etwas knackte und zerbrach unter ihrem Fuß. Eine Glasscherbe. Sie beugte sich hinab und entdeckte eine zersplitterte Vase, deren Scherben an der Zimmerwand lagen, als habe jemand sie wütend zu Boden geworfen. Eigentlich hatte das Gefäß auf einem kleinen Tisch unterhalb des Fensters gestanden. Zumindest hatte Isabel es dort hingestellt, als Leo ihr die Vase zum Einzug überreicht hatte.
Die zerbrochene Vase war das einzige, was die Harmonie des Apartments störte. Leos Blick schweifte durch den Raum und richtete sich auf das einzige Fenster. Das Rouleau war heruntergelassen, es zitterte jedoch leicht. Hastig zog sie daran und ließ es dann flatternd nach oben schnellen. Das Schiebefenster stand unten einen Spalt offen. Leo presste ihr Gesicht an die Scheibe und schaute hinaus auf die funkelnde nächtliche Stadt. Unter ihr erstreckte sich eine schmale und ruhige Querstraße mit ein paar geparkten Wagen und einigen dunklen Gebäuden. Erneut fragte sie sich, was Isabel bewogen haben mochte, in diese Gegend zu ziehen, als sie plötzlich die alte, gewundene Feuertreppe bemerkte, die direkt neben dem Fenster verlief.
Ein Bild überfiel sie mit Macht: Isabel, reisefertig für New York, die Koffer gepackt, das Apartment vollständig aufgeräumt. Der Eindringling kommt über die Feuertreppe nach oben, schleicht sich durch das Fenster hinein und wirft dabei die Vase vom Tisch. Isabel hört das Geräusch, eilt herbei und sieht sich von einem Mann mit Messer oder Pistole bedroht.
Und dann? Leo wollte gar nicht darüber nachdenken. Aus welchem Grund auch immer – man hatte Isabel entführt. Noch während sie ins Arbeitszimmer lief, um per Telefon die Polizei zu verständigen, musste Leo wieder an die Schmähschrift gegen Monsanto denken, die sie im Flugzeug in ihrem Laptop gelesen hatte.
Eine halbe Stunde später waren die Beamten da, ein hochgewachsener, rotwangiger junger Mann und eine stämmige, reserviert wirkende Frau. Sie trug die gleiche Hose wie ihr Begleiter, hingegen einen breit gerippten marineblauen Pullover anstelle einer Jacke. Zunächst stellte vor allem sie die Fragen und machte sich Notizen. Leo spürte das Misstrauen des Mannes, sobald sie erwähnte, dass sie soeben erst aus New York eingetroffen sei.
Mit großer Geduld schilderte Leo, dass Isabel Morgan nicht am vereinbarten Tag in New York angekommen sei, woraufhin sie aus Sorge um das Wohlergehen ihrer Freundin beschlossen habe, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Und ja, sie hatte einen Schlüssel zu der Wohnung; schließlich seien sie und Isabel eng befreundet.
»Und jetzt möchten Sie eine Vermisstenanzeige erstatten?« fragte der Mann skeptisch.
»Ja, das auch. Aber wie ich bereits am Telefon gesagt habe, ist jemand hier eingebrochen.«
Leo führte die beiden ins Schlafzimmer. Ihre Stimme musste reichlich hysterisch geklungen haben, was ihr jedoch erst bewusst wurde, als die Beamtin ihr über die Schulter strich und beruhigend flüsterte: »Keine Aufregung. Es wird alles wieder gut.«
»Wurde etwas gestohlen?« fragte der Mann und sah sich im Raum um.
»Ich … ich weiß nicht genau. Ich bin gerade erst angekommen, und es ist ja nicht meine eigene Wohnung. Aber darum geht es gar nicht. Jemand ist durch dieses Fenster eingestiegen und muss meine Freundin angegriffen haben. Miss Morgan ist recht kräftig, also hat der Eindringling vermutlich irgendeine Waffe gehabt. Hier liegt überall Glas.«
Der Beamte stieg sorgfältig zwischen den Scherben hindurch, blickte nach draußen und untersuchte das Fenster. Dann winkte er seine Partnerin zu sich heran und deutete auf etwas. Leo konnte nicht verstehen, was er sagte.
Die Polizistin drehte sich um und ging zurück zu Leo. Der besorgte Gesichtsausdruck der Beamtin gefiel ihr gar nicht. Die Frau räusperte sich. »Mrs. Holland, ein Einbruch ist mehr als unwahrscheinlich. Kommen Sie, und überzeugen Sie sich selbst.«
Sie begleitete Leo zum Fenster. »Sehen Sie?« Sie wies auf zwei Messingbolzen, die seitlich im Rahmen befestigt waren.
Ihr Kollege trug inzwischen Handschuhe. Vorsichtig schob er das Fenster nach oben. Nach etwa zehn Zentimetern wurde es durch die Bolzen blockiert. »Da passt niemand durch, höchstens eine Katze.«
»Der Eindringling hat die Bolzen hinterher vielleicht wieder arretiert.«
»Das erscheint nicht besonders plausibel, wenn er gleichzeitig eine Waffe in der Hand hatte. Außerdem bestünde dadurch für ihn eine zusätzliche Gefahr, Fingerabdrücke zu hinterlassen.«
Der Mann wirkte dermaßen zufrieden mit sich, dass Leo ihn am liebsten angeschrien hätte. »Sie werden doch hoffentlich die Spuren sichern«, sagte sie in eisigem Tonfall.
Der Polizist zuckte mit den Achseln.
»Aber …«
»Besitzt Ihre Freundin eine Katze, Mrs. Holland?« fragte die Polizistin hinter ihr. Sie hielt ein Stück der Vase gegen das Licht.