In der Wälder tiefer Nacht - Kersten Hamilton - E-Book

In der Wälder tiefer Nacht E-Book

Kersten Hamilton

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Beschreibung

Wenn Legenden Wirklichkeit werden ... wird die Welt sich für immer verändern

Das Leben der 16-jährigen Teagan wird auf den Kopf gestellt, als eines Tages die Fürsorge mit dem geheimnisvollen, gut aussehenden Finn vor der Haustür steht – ihrem 17-jährigen Cousin, den sie nie zuvor gesehen hat. Auf einmal sieht Teagan unheimliche, katzenartige Wesen und all die Geschichten ihrer Mutter scheinen Wirklichkeit zu werden. Als Teagans Vater von Goblins entführt wird, muss Teagan herausfinden, was es mit Finn auf sich hat. Und so entdeckt sie nicht nur eine Welt voller bedrohlicher magischer Gestalten, sondern auch das Geheimnis ihrer wahren Herkunft. Und sie muss entscheiden, auf wessen Seite sie steht …

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Seitenzahl: 409

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© tba

Die Autorin

Kersten Hamilton ist Autorin mehrerer Bilderbücher und vieler Jugendromane. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie als Holzfällerin, als Farmhelferin, als Cowboy, als Steuereintreiberin und als archäologische Sachverständige. Wenn sie nicht gerade an einem Buch schreibt, ist sie den Dinosauriern in New Mexico auf den Spuren. »In der Wälder tiefer Nacht« ist ihr erster Jugendroman. Mehr über die Autorin unter www.kerstenhamilton.com

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Erstmals als cbj Taschenbuch Mai 2012

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2010 by Kersten Hamilton

Published by special arrangement with Clarion Books, an imprint of Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company.

Der Titel wurde 2010 unter dem Titel »Tyger Tyger. A Goblin Wars Book«

bei Clarion Books, New York veröffentlicht.

© 2012 cbj Verlag in der Verlagsgruppe

Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Elsbeth Ranke

Lektorat: Kerstin Kipker

Das Gedicht »Der Tiger« in Kapitel 20 wurde mit freundlicher Genehmigung aus: William Blake, Zwischen Feuer und Feuer: Poetische Werke, hrsg. von Thomas Eichhorn, München: dtv 1996 entnommen.

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

Illustration: zeichenpool

he ∙ Herstellung: CZ

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, BadAibling

ISBN: 978-3-641-07438-8V002

www.cbj-verlag.de

Natürlich für Mark!

Teil I: Finn

1

Bitte. Teagan Wylltsons Finger gestikulierten in der Gebärdensprache. Pulli gegen Banane tauschen? Sie lehnte sich über den Zaun am Schimpansengehege. Los, Cindy, lockte sie. Sei ein braves Mädchen. Tauschen wir.

Cindy bleckte grinsend die Zähne und ignorierte die reife Banane, die Teagan ihr hinhielt. Sie legte sich den rosa Kaschmirpulli um die Schultern und stolzierte wie ein Affenmodel ganz nach hinten zum Bambusgebüsch an der Rückwand. Dort drehte sie sich um und starrte Teagan in die Augen, bevor sie im grünen Blattwerk verschwand.

»Miss Wylltson scheint nichts zu erreichen, Dr. Max«, sagte Ms Hahn, die Betreuerin der Schülerpraktikanten.

»Tea schafft das schon.« Dr. Max wischte sich mit einem Taschentuch über die Glatze.

»Sie sollten versuchen, sie zu bewegen, den Pulli zurückzugeben, Dr. Max«, sagte Ms Hahn. »Auf Sie hört sie doch.«

»Ja, früher.« Dr. Max schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit wirft sie nur mit Sachen, sobald ich in Sicht komme.«

»Wie ist sie denn an deinen Pulli gekommen, junge Dame?« Ms Hahns Augen verengten sich. »Er könnte für das Tier gefährlich werden!«

»Ich habe ihn auf dem Geländer hängen lassen«, sagte Teagan. »Cindy hat ihn sich mit einem Stock in ihr Gehege geangelt.«

»Das Mädchen war ohne Aufsicht hier?« Ms Hahn sah Dr. Max an und schnaubte. »Das ist gegen die Vorschriften. Praktikanten arbeiten nie ohne Aufsicht mit den Tieren!«

»Teagan ist keine ehrenamtliche Schülerpraktikantin«, sagte Dr. Max. »Sie ist hier angestellt.«

»Angestellt mit 16 Jahren.« Ms Hahns Stimme wurde immer lauter. »In dieser Hinsicht gelten immer noch die Regeln für die Praktikanten.«

»Teagan ist sehr umsichtig, und sie war nie bei Cindy im Käfig«, sagte Dr. Max ruhig. »Wirklich, Darleen, das ist jetzt nicht hilfreich. Cindy ist einfach nur wie ein Kind. Wenn wir jetzt streiten, greift womöglich die Anspannung noch auf sie über.«

Teagan nieste. Sie wünschte, Ms Hahn würde einfach gehen. Sie wünschte, sie hätte in der Pause ihre Heuschnupfentabletten genommen. Und sie wünschte, Cindy würde einfach den Pulli zurückgeben, damit sie endlich rüber zur Tierklinik flitzen konnte.

Dort, wo Cindy verschwunden war, schaukelte noch der Bambus. Teagan hielt sich die Banane an die Nase und tat so, als würde sie daran schnuppern.

»Nam nam, riecht lecker.« Es klang freilich wie damb damb. Ihre Nase war so verstopft, dass sie nicht einmal das Primatenforschungsinstitut riechen konnte und schon gar nicht die reife Banane, die sie nun schälte.

Die Büsche hinten im Gehege schaukelten jetzt stärker.

»Cindy«, lockte Dr. Max. »Komm raus und sprich mit Teagan.«

Cindy kämpfte sich aus dem Gebüsch, den Pulli hatte sie zu einer Kugel zusammengeknüllt. Wie eine Trophäe hielt sie ihn über dem Kopf, dann legte sie ihn auf den Boden und begann wie wild, in Gebärdensprache zu gestikulieren.

»Böses Mädchen, böses Mädchen«, übersetzte Teagan.

»Cindy ist ein braves Mädchen«, sagte und gebärdete Dr. Max. »Gib Tea ihren Pulli zurück. Sag Entschuldigung.«

Teagan bemerkte Cindys eiskalten Blick. Die Schimpansendame sah kein bisschen reumütig aus. Eigentlich sah sie aus, als ob… Teagan schielte auf Ms Hahn. Das könnte sein. Oder?

Böser Junge, gebärdete Teagan.

Cindy legte die Zähne frei.

Hässlicher Junge, gebärdete Teagan, dann schubste sie Dr. Max an.

»Hey«, sagte Ms Hahn. »Was tust du da eigentlich?«

Cindy kreischte auf und warf Teagan den aufgerollten Pulli zu, den diese mit einer Hand auffing.

»Was… wie hast du das angestellt?«, fragte Ms Hahn.

»Cindy meinte nicht, dass sie selbst ein böses Mädchen ist.« Teagan stopfte den Pulli in ihren Rucksack. »Sie hat zu Dr. Max gesagt, ich wäre ein böses Mädchen.«

»Was?«

»Cindy ist in Dr. Max verknallt. Sie will, dass er die Finger von mir lässt.« Teagan konnte Ms Hahn nicht in die Augen sehen, während sie das sagte. Das Ganze war doch so offensichtlich. »Ganz gewöhnliches Verhalten bei Primaten.«

»Ziemlich gut beobachtet!«, sagte Dr. Max. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass sie gut beobachten kann, Darleen? Dieses Mädchen hat eine glänzende Zukunft als Tierärztin vor sich oder als Verhaltensforscherin bei Tieren. Nach ihrer Arbeit hier bekommt sie sicher reihenweise Stipendien angeboten. ›Ganz gewöhnliches Verhalten bei Primaten.‹ Klar, natürlich.« Er kicherte und lief hellrot an. »Das hätte ich wissen müssen. Ich dachte bloß nicht, dass sie ausgerechnet mich…«

»Das liegt an dem Laborkittel«, sagte Teagan. »Zu heiß.«

Ms Hahns eiskalter Blick ließ Cindy warm und freundlich zurückgrinsen.

»Ich muss die Käfige im Labor reinigen und die Tiddlywinks füttern«, erklärte Teagan, noch bevor Ms Hahn irgendetwas sagen konnte. »Hab’s eilig! Bis Samstag dann.«

Teagan atmete tief ein– durch den Mund, denn ihre Nase war viel zu verstopft–, sobald sie draußen war. Im Zoo fühlte sie sich einfach immer traurig. Die Tiere hier würden nie so leben, wie sie eigentlich leben sollten. Im Affenhaus war es am schlimmsten, weil die Affen den Menschen so ähnlich waren. Besonders Cindy, die sich sogar inzwischen mit ihr verständigen konnte.

Teagan hatte die Gebärdensprache in der Mittelstufe gelernt, eigentlich damit sie im Gemeindezentrum eine Vorschulklasse mit Taubstummen unterrichten konnte. Ein bisschen soziale Arbeit, fand sie, würde sich auf ihren College-Bewerbungen sicher gut machen, aber Dr. Max hatte ihr sogar etwas noch Besseres angeboten.

Er gehörte der Jury zur Wissenschaftsausstellung der Zehntklässler an. Er hatte gesehen, wie sie mit ihrem kleinen Bruder gebärdete, und hatte ihr einen Teilzeitjob bei seiner Affenforschungsstation angeboten, wo sie Cindy sozialisieren sollte.

Da ihr Projekt auf der Wissenschaftsausstellung sich mit der Rettung wilder Tiere in urbanem Umfeld befasst hatte, war Dr. Max einverstanden gewesen, dass sie auch einen Teil ihrer Zeit in der Klinik verbrachte. Wenn das Sprachprogramm für Schimpansen die Leute überzeugen konnte, dass Affen ein paar Grundrechte zustanden, wollte Teagan gerne dabei mithelfen. Ihre wirkliche Liebe aber galt der Klinik. Sie arbeitete jeden Donnerstag nach der Schule für Dr. Max, samstags den ganzen Tag und sonntags einen halben Tag. Sobald die Sommerferien anfingen, würde sie Vollzeit arbeiten und dürfte dann vier Stunden pro Tag in der Klinik verbringen.

Sie rannte durch das Zoogelände, tippte auf dem Display am Klinikeingang den Sicherheitscode ein und wartete, bis die Tür aufschwang.

»Hi.« Agnes, die Tierarztgehilfin, saß an ihrem Schreibtisch, als Teagan hereinkam. »Schau mal hier.«

Teagan beugte sich vor und blickte auf den Computerbildschirm. Wie immer ein kryptozoologisches Forum. Agnes entlarvte zum Zeitvertreib gerne Pseudowissenschaftler, die dachten, sie hätten Fotos von allem Möglichen, vom Yeti bis hin zum Ungeheuer von Loch Ness. Der Bildschirm zeigte ein flaches, mumifiziertes Geschöpf, das ein grinsendes Gesicht zu haben schien. Die Bildunterschrift lautete: »Entdeckung: Alienkörper in New Mexico?«

»Was ist das?«, fragte Teagan.

»Das ist ein toter Rochen. Was er mitten in der Wüste zu suchen hat, weiß ich nicht. Irgendwer muss ihn aus dem Urlaub mit nach Hause gebracht und in den Müll geworfen haben.«

»Und hast du sie aufgeklärt?«

»Natürlich. Pro Wissen, contra Ignoranz.«

Teagan überließ Agnes ihren Enthüllungen und ging nach nebenan, um ihre Patienten zu füttern. Sie legte Methusalem ein frisches Salatblatt in den Käfig und die Schildkröte blinzelte ihr mit ihrem roten Auge zu. Sie hatte jemandem als Haustier gehört, bis sie einmal auf die Straße spazierte. Teagan fuhr mit dem Finger über den geflickten Riss auf ihrem Panzer. Schildkrötenpanzer wuchsen natürlich nicht mehr zusammen, aber der Kraftkleber, mit dem sie ihn wieder zusammengeklebt hatte, dürfte wohl ihr Schildkrötenleben lang halten. Jetzt brauchte sie nur noch ein neues Zuhause– bei jemandem, der sie vom Verkehr fernhalten konnte.

Teagan machte in der Mikrowelle ein bisschen Ziegenmilch warm, vermischte sie in einer Schüssel mit Welpenfutter aus der Dose und klopfte dann auf die Nestkiste hinter Dr. Max’ Schreibtisch.

»Tiddlywinks, wacht auf«, flüsterte sie. Das Gewirr aus Stacheln und Pfoten in der Mitte des Nests begann, sich zu bewegen, und sortierte sich zu fünf Igelbabys. Dr. Max hatte nicht sehr viel Hoffnung gehabt, als sie mit nur zwei Tagen zu Waisen wurden; zu der Zeit waren sie noch so jung, dass ihre Stacheln noch weiß aussahen. Er hatte gewarnt, dass sich afrikanische Igel praktisch unmöglich mit der Hand aufziehen ließen, aber Teagan hatte alle fünf Babys durchgebracht. In den ersten zwei Wochen hatte sie sie Tag und Nacht in einem Korb mit sich herumgetragen und sie alle zwei Stunden gefüttert. Und das, obwohl Igel nachtaktiv waren und demnach nachts am besten fraßen.

Jetzt wo sie fast entwöhnt waren, brauchten sie nicht mehr so häufig gefüttert zu werden, und so konnten sie in der Klinik bleiben. Dr. Max und seine Helferinnen besorgten jetzt meistens die Fütterung, aber Teagan kümmerte sich noch immer liebend gern um sie, sobald sie konnte. Fats tapste auf das Essen zu, das sie für die Kleinen vorbereitet hatte, aber Arwin, der Abenteurer, überholte ihn noch. Tiny Tiddly, der Kleinste, saß blinzelnd in der Ecke, während Sonic und Speed Rycer hinter Fats aufschlossen.

Teagan füllte Ziegenmilch in eine Pipette und nahm vorsichtig Tiny Tiddly auf. Er war ihr Liebling und noch nicht ganz so weit wie seine Geschwister, die schon feste Nahrung fraßen. Er umklammerte mit seinen tollpatschigen rosa Händchen ihren Finger, während er Milch aus der Pipette saugte. Als alle fertig gefressen hatten, machte Teagan sie sauber und nahm die Schüssel aus ihrer Nestkiste.

»Macht Agnes keinen Ärger.« Sie sah auf die Uhr. Sie würde rennen müssen, um ihren Bus zu erwischen.

»Bis Samstag dann«, rief Agnes, als Teagan nach draußen schlüpfte.

»Ja, Samstag«, wiederholte Teagan.

Der frühe Maiwind, der vom Michigan-See herüberblies, war noch so kühl, dass sie erschauerte, und das, obwohl sie die Strecke zur Bushaltestelle gerannt war. Teagan holte ihren Pulli aus dem Rucksack und hielt ihn hoch. Cindy war sehr vorsichtig damit gewesen, wirklich. Nicht einmal die Laufmasche hatte sie vergrößert.

Zischend öffnete der Bus die Türen, und Teagan zog den Pulli über den Kopf, bevor sie die Stufen hinaufhüpfte. Der Fahrer sah sie missmutig an, als sie ihre Studentenkarte entwertete, und wies mit dem Kopf nach hinten.

Zwei omahafte Damen runzelten bei ihrem Anblick die Stirn. Eine sagte etwas auf Deutsch zu der anderen, dann schüttelten sie beide den Kopf.

Teagan nieste, als sie sich auf den freien Platz hinter ihnen setzte. Der alte Mann am Fenster funkelte sie durch eine dicke Brille an und versuchte, sich möglichst weit in die Ecke zu drücken.

Teagan lächelte entschuldigend. »Das ist nur eine Allergie«, sagte sie und fischte ihre Tabletten aus der Vordertasche ihres Rucksacks. »Nichts Ansteckendes.« Sie spülte sie mit einem Schluck aus ihrer Wasserflasche hinunter.

»Tea!« An der nächsten Haltestelle stieg Teagans Freundin Abby Gagliano in den Bus. Abby erzählte gerne, sie hätte einen Model-Job im Kosmetiksalon ihrer Cousine, genannt Smash Pad. Mit ihrer schief sitzenden lila Militärkappe, dem engen schwarzen T-Shirt, dem Minirock und den Cargo-Boots war sie eine wandelnde Werbung für Smash Fashions, und eine oder zwei Stunden lang posierte sie so im Ladenfenster. Meistens aber assistierte sie bei der Fußpflege und hatte sich auf kunstvolle Fußnägel für exzentrische Reiche spezialisiert.

Abby fuhr mindestens dreimal pro Woche mit dem Bus zu Teagan und übernachtete bei ihr. Ihre Schwester Clair war wieder zu ihnen gezogen, während ihr Mann mit seiner Truppe im Einsatz war. Die Gaglianos konnten sie nur in Abbys Zimmer unterbringen, und das war so klein, dass Abby und Clair sich die Zeit eingeteilt hatten. Sie waren nie am selben Wochentag zu Hause und Abby hatte die Hälfte ihrer Kleider in Teagans Schrank liegen.

Teagan sah sich nach einem freien Platz um, während Abby den Mittelgang herunterkam. Es war aber keiner frei.

»Gott sei Dank bist du hier!« Als der Bus losfuhr, griff Abby an die Lehne, um sich festzuhalten. »Ich habe dauernd versucht, dich anzurufen. Du bist total in Lebensgefahr.« Sie verzog das Gesicht. »Wonach riecht das hier?«

»Es riecht?«, fragte Teagan. »Ich rieche nichts.«

Die deutsche Oma drehte sich um.

»Du riechst nach Scheiße«, sagte sie freundlich.

»Ach du lieber Himmel. Abby, ist da was auf meinem Pulli?« Teagan drehte sich um, sodass Abby ihren Rücken sehen konnte.

»Ja«, sagte Abby.

»Hilf mir, es wegzumachen.«

»Ich fasse das nicht an.«

»Dann halt meine Bluse fest, während ich den Pulli ausziehe«, sagte Teagan.

Abby fasste nach ihrem Hemdzipfel, und Teagan zog sich vorsichtig den Pulli über die Schultern, ohne dass er sich auf links verdrehte. Egal was da drauf war, sie wollte es sich auf keinen Fall auf ihr Hemd oder in die Haare schmieren.

»Igitt«, sagte Abby und ließ los. Teagan spürte die kalte Luft an der Taille, als sie den Pulli über den Kopf zog. Sie schob ihn von den Armen, dann zerrte sie mit einer Hand ihre Bluse nach unten. Zwei Highschool-Jungs auf der anderen Gangseite grinsten sie albern an.

»Hübsches Hemdchen«, sagte einer.

»Hi.« Abby lächelte ihn an. »Du bist doch an unserer Schule, oder? Geoff Spikes, Footballmannschaft. Spielführer im Angriff.«

»Kennt mich deine Freundin auch?« Geoff beugte sich um Abby herum und grinste Teagan anzüglich an.

Teagan ignorierte ihn und drehte ihren Pulli um. Sie hätte auch auf den Rücken sehen sollen, bevor sie ihn anzog. Cindy hatte ihr ein Geschenk hinterlassen– eine dicke grün-braune Wurst genau zwischen den Schultern. Beim Zurücklehnen hatte sie sie platt gedrückt, sodass jetzt ein hübscher Schmierfleck auf dem Bussitz prangte.

»Sag deiner Freundin, sie soll mich anrufen, wenn sie Anschluss sucht«, sagte Geoff. »Ich könnte mit der Kleinen ein bisschen abhängen.«

»Sie steht auf Köpfchen, nicht auf Muckis«, sagte Abby. »Na ja, eine Chance bekommst du. Aber nur eine. Wie hoch ist dein IQ?«

»Hä?«

»Falsche Antwort. Du bist raus.« Abby drehte ihm den Rücken zu.

»Abby«, flüsterte Teagan, »wie konntest du nur meine Bluse hochrutschen lassen?«

»Ich musste loslassen«, flüsterte Abby zurück. »Das… Zeug hat mich fast berührt.«

»Hat man was gesehen?«

»Was denn…« Abby unterbrach sich. »Du hast doch einen BH an, oder?«

»Natürlich.«

»Gut«, sagte Abby. »Er hatte nämlich ein Handy.«

»Wie bitte?«

»Du kannst mich später umbringen. Wir müssen an der nächsten Haltestelle raus. Du schwebst in Lebensgefahr.«

»Wie bitte?«

»Ich habe gesagt, wir müssen hier aussteigen.«

»Ich meinte das andere. Von wegen Lebensgefahr.«

»Ich habe etwas geträumt«, sagte Abby.

»Geträumt.«

Abby nickte. »Ich bin ein totaler Psychopath. Das weißt du doch.«

Der alte Mann in seiner Ecke warf ihr einen besorgten Blick zu.

»Ein Telepath, meint sie«, beruhigte ihn Teagan und wischte mit ihrem Pulli den braun-klebrigen Fleck auf dem Sitz weg.

»Hab ich doch gesagt«, meinte Abby. »Ich sollte für die Psycho-Hotline arbeiten, ich schwöre es dir.« Sie packte Teagan am Arm und zog sie durch den Gang.

Mehrere Passagiere applaudierten, als sie die Stufen hinunterstiegen.

»Stimmt es wirklich, dass Affenkacke derart stinkt?«

»Mir tränen die Augen davon«, sagte Abby.

»Wohin gehen wir?«, fragte Teagan, als der Bus weiterfuhr.

»Nirgends.« Abby wies auf das Gebäude über ihnen. »Wir sind da. St. Drogo’s.«

»Nein, nein, nein.« Teagan blieb stehen. »Ich gehe nicht in die Kirche. Nicht mit diesem Pulli.«

»Dann wirf ihn weg.«

»Niemals«, erwiderte Teagan. »Das ist mein Lieblingspulli.«

»Seit wann bin ich deine beste Freundin?«

»Schon immer«, sagte Teagan.

»Verdammt richtig.« Abby machte sich daran, die Stufen zur Kirche hinaufzusteigen. »Ich habe mich in der ersten Klasse durchfallen lassen, damit du mich einholen kannst, stimmt’s? Ich habe ein Jahr meines Lebens für dich aufgegeben– ein ganzes Jahr! Und habe ich je von dir verlangt, dass du etwas für mich tust?«

»Ja«, sagte Teagan. »Ständig.«

»Das stimmt. Aber hier geht es um Tod oder Leben, Tea, ich schwör’s dir. Du passt immer auf die anderen auf. Jetzt werde einmal ich auf dich aufpassen. Ich zünde eine Kerze an und dann hält Drogo Fürbitte für dich.«

Abby wollte wirklich in die Kirche? Seit sie von der St. Joseph’s Academy auf die öffentliche Schule gewechselt hatten, war sie erst zweimal dort gewesen, und das in der neunten Klasse.

»Das ist doch verrückt«, sagte Teagan, aber sie folgte Abby die Stufen hinauf und an der lächelnden Statue des Heiligen Drogo vorbei, der sich auf den Stiel einer Hacke stützte. »Inwiefern schwebe ich in Lebensgefahr?«

»Das sage ich dir, wenn wir gebetet haben.« Abby blickte sich nervös um. »Ich will hier wieder raus sein, bevor Father Gordon mich sieht.«

Sie tunkten die Finger ins Weihwasserbecken und bekreuzigten sich, bevor sie in das alte, vertraute Kirchenschiff traten. Noch eine Drogo-Statue, diesmal düster dreinblickend und mit zum Gebet erhobenen Händen, stand neben dem Altar.

Teagan hatte eines Morgens, als sie sechs Jahre alt war, ihre Eltern gefragt, wer Drogo war.

»Der Vater von Frodo Beutlin aus Tolkiens Herr der Ringe«, hatte Mr Wylltson gesagt. »Ist es nicht wunderbar, dass sie ihm eine Kirche gebaut haben?«

»Pst! John!« Selbst wenn sie flüsterte, hörte man bei ihrer Mutter den irischen Akzent. »Denk dran, du bist in der Kirche, und führ das Kind nicht in die Irre. Saint Drogo ist ein Heiliger. Er war der Bilokation mächtig, das heißt, er konnte an zwei Orten gleichzeitig sein. Der Gottesmann konnte jeden Sonntag betend mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden vor dem Altar verbringen, während er gleichzeitig zum Ruhme des Herrn in seinem Garten arbeitete.«

»Ich glaube, er betete nicht, sondern er schlief«, hatte Mr Wylltson gesagt.

»John«, warnte ihn Mrs Wylltson. »Ich führe gerade unsere Tochter in Glaubensdinge ein.« Sie wandte sich wieder an Teagan. »Deshalb haben wir auch zwei Statuen… den Bittenden und den Gärtner. Wenn ich das nur auch könnte, überleg mal, wie viele Bilder ich dann schaffen würde.«

»Komm.« Abby versuchte, Teagan zum Altar zu ziehen, aber die schüttelte den Kopf. Die Heiligenstatuen an den Wänden blickten ungewöhnlich missmutig drein.

»Ich warte hier.« Teagan schlüpfte in die Bank zu Füßen des Heiligen Franziskus. Wenn irgendjemand verstehen konnte, weshalb man Affenkacke in die Kirche mitbrachte, dann musste das Franziskus sein.

Abby ging nach vorne, zündete eine Votivkerze an und kniete mit gesenktem Kopf nieder. Teagan rutschte auf der harten Kirchenbank hin und her.

»Abigail Gagliano.« Father Gordon war in den Kirchenraum getreten. »Ich habe dich schon ewig nicht…«

»Später, Father.« Abby sprang auf. »Ich hab’s eilig.« Teagan folgte ihr nach draußen.

»Und worin bestand jetzt dieser telepathische Traum?«, fragte Teagan. »Kamen darin Perverse mit Handy und ein Bus vor?«

»Nein.« Abby schauderte. »Saint Drogo kam vor. Er hat versucht, mir etwas zu sagen, aber sein Italienisch war völlig durcheinander. Also eigentlich gar kein Italienisch. Und ein paar Bilder, die deine Mutter gemalt hat– die bei euch im Keller–, wurden lebendig. Ich erinnere mich ganz bestimmt an die Goblins. Die Goblins kamen rauf und sie waren hinter dir her, Tea.«

»Du lässt mich sechs Blöcke weit zu Fuß nach Hause gehen, weil du einen verrückten Traum über die Bilder meiner Mutter hattest? Du hattest schon recht vorhin im Bus. Du bist ein Psychopath.«

»Egal«, sagte Abby. »Die Leute in diesem Bus fanden es heldenhaft von mir, dass ich dich mit deinem Affenkaka da rausgeholt habe.«

»Sehr witzig.« Teagan fand im Rinnstein eine Plastiktüte, schüttelte Zweige und Dreck ab und wickelte ihren Pulli darin ein. »Und überhaupt ist Cindy nicht irgendein Affe. Sie ist ein Menschenaffe.«

Als sie zu Hause ankamen, spielte Aiden in seiner Nische im Wohnzimmer Super Mario Galaxy. Über ihm ragte Lennie Santini auf und wedelte mit der Wii herum, um die Sterne aufzufangen, die auf der Leinwand aufleuchteten. Die Nische war Aidens Jungenhöhle, vollgestopft mit Videospielen, einer Legoburg und einem Heer von Legomännchen, die meist überall im Raum aufgestellt waren und jederzeit in den Krieg ziehen konnten.

»Ai-den ist der Su-per-held!«, sang Aiden zu der Synthesizer-Musik.

Teagan zuckte zusammen. Hätte sie gewusst, dass ihr Vater ihm zum fünften Geburtstag eine Wii schenken würde, hätte sie vorher im ganzen Haus jedes einzelne Lautsprechersystem zerhauen, auf dem sie lief. Das Problem war nämlich, dass Aiden lediglich die Tatsache, dass er keinen Chip enthielt, von einem hochwertigen Smartphone unterschied. Sein Gehirn verfügte über einen integrierten MP3-Player und ein Navi. Jede Melodie, die er je gehört hatte, war in seinen Hirnwindungen unwiderruflich abgespeichert. Wenn die Musik keinen Text hatte, erfand er eben selbst einen.

»Hi, Tea-gan«, erklang Lennies Stimme. »Hi, hi, Cousine Ab-by.«

»Hi, Lennie«, sagte Teagan. Lennie war ein goldiger Sechsjähriger, der in dem plumpen, pickligen Körper eines Achtzehnjährigen steckte, und er war Aidens allerbester Freund. »Weiß Mom, dass ihr zwei Mario spielt?«

»Dad hat gesagt, ich darf, wenn ich nicht zu laut singe.«

»Ist Dad schon da?«

»Hi, Chorknabe«, sagte Abby. »Hast du noch das Gotschi-gotschi, das ich dir gegeben habe?«

»Tamagotchi.« Aiden stellte Mario auf Pause und zog das elektronische Tierchen aus der Hosentasche. »Ich kümmere mich gut darum, siehst du?«

»Hi!« Mit zusammengekniffenen Augen las Lennie die Pixels auf dem winzigen Display. »Er wächst! Darf ich ihn füttern, ja?«

»Okay.« Aiden reichte Lennie das Tierchen. »Aber du musst flüstern. Dad hat gesagt, wir sollen still sein, weil wir Besuch haben. Sie sind in der Küche.«

»Besuch?«, fragte Teagan.

Abby folgte ihr in die Küche. Sie erstreckte sich über die gesamte Rückseite des Hauses. Die Hälfte davon benutzten sie zum Kochen und Essen. Die andere Hälfte war ein Atelier. Teagans Mutter stand mit einer Frau in einem lila Hosenanzug halb in diesem Maleratelier. Ein weiblicher Wassergoblin grinste aus dem noch feuchten Gemälde auf der Leinwand vor ihnen, Strähnen von dünnem Haar klebten der Gestalt am runden Gesicht.

»Sie illustrieren Kinderbücher?« Der Kopf der Frau wackelte missbilligend.

»Ich schreibe und illustriere.« Aileen Wylltson drehte sich um und musterte die Besucherin.

Die Frau trat einen Schritt zurück. »Sie ist… beängstigend.«

Teagan war nicht ganz sicher, ob die Frau das Bild meinte oder ihre Mutter. Sie hätte alles dafür gegeben, die intensiven bernsteinbraunen Augen mit dem zartgrünen Rand von ihrer Mutter geerbt zu haben, aber die Genlotterie hatte ihr stattdessen die dunkelbraunen Augen ihres Vaters zugewiesen.

»Natürlich ist sie beängstigend«, sagte Mrs Wylltson. »Schließlich ist das Ginny Greenteeth. Sie ertränkt Reisende im Moor.«

Teagans Vater stand gerade an der Spüle und füllte den Wasserkocher. Er lächelte den Mädchen zu. »Wie war’s bei der Arbeit, Rosebud?«

»In Ordnung.« Teagan bugsierte den verschmierten Pulli in den Wäscheschacht. Ihr Vater hatte vor einem halben Jahr die Türen des Schachts herausgenommen, um das alte Holzfurnier abzuschleifen und neu zu versiegeln. Jetzt klaffte die Öffnung wie das Maul eines Ungeheuers, hauchte Kellerluft nach oben und gelegentlich das Todesrattern ihrer alten Waschmaschine. Der Pulli war schon außer Sicht, als ihre Mutter und die Besucherin sich Teagan zuwandten.

»Tea, da bist du ja!«, sagte Mrs Wylltson. »Ms Skinner, das ist unsere Tochter Teagan und ihre Freundin Abigail. Tea, das ist Ms Skinner vom Jugendamt.«

Ms Skinners Blick hüpfte von Teagan zu Abby und ihre dünnen Lippen wurden zu einem Strich. Offenbar hielt sie nichts vom Smash-Pad-Modestatement.

»Sehr erfreut«, sagte Teagan.

»Eine pubertierende Tochter!« Ms Skinners gelbliche Augenbrauen zogen sich zusammen. »Sie sollten an ihre Sicherheit denken, wenn Sie darüber befinden, wen Sie bei sich zu Hause aufnehmen.«

»Wir bedenken immer die Sicherheit unserer Kinder«, versicherte ihr Mr Wylltson.

Ms Skinner ignorierte ihn und musterte Teagan. »Und was sagst du dazu, wenn dein Cousin Finn bei euch einzieht?«, fragte sie.

Teagan blinzelte. »Wer?«

2

Tea wird sich an Finn kaum erinnern«, sagte Mrs Wylltson schnell. »Seine Familie war nie bei uns, seit sie ein Baby war.«

»Möchten Sie eine Tasse Kaffee, Ms Skinner?«, fragte Mr Wylltson.

»Ich trinke nur Kräutertee.« Ms Skinner hielt ihr Klemmbrett hoch. »Wir sind noch nicht fertig mit dem Aufnahmegespräch, aber vor den Kindern möchte ich nicht so gerne weitermachen.«

»Vor welchen Kindern?« Abby sah sich um.

Mr Wylltson warf Abby einen verärgerten Blick zu und nickte zur Tür hin. Teagan zog ihre Freundin aus der Küche. Hinter sich machte sie die Tür zu, dann winkte sie Abby, ihr die Treppe hinaufzufolgen.

»Eine pubertierende Tochter!« Abbys Nachahmung von Ms Skinners Tonfall war perfekt. »Was soll das denn heißen?«

»Dass es ein Verbrechen ist, wenn die Hormone verrückt spielen?«, sagte Teagan. »Aber jetzt psst.«

»Was tun wir hier?«, flüsterte Abby, als Teagan sich vor die Öffnung des Wäscheschachts setzte.

»Psst«, sagte Teagan wieder.

»Sie hatten keine Ahnung, dass er in der Stadt ist?« Das war Ms Skinners Stimme. Abbys Mund formte sich zu einem kleinen O, und auch sie setzte sich, um zu lauschen.

»Die Familie meines Bruders ist oft umgezogen. Sie sind immer dahin gezogen, wo sie Arbeit gefunden haben, egal wohin.«

»Und was für Arbeit war das?«

»Irgendwelche Jobs«, sagte Mrs Wylltson. »Sie taten, was sie konnten, um über die Runden zu kommen.«

»Irische Traveller.« Ms Skinner formulierte die Worte, als wären sie schimmelig.

»Die Mac Cumhaills sind absolut in Ordnung«, sagte Teagans Mutter.

Man hörte ein Schnaufen. Teagan war nicht sicher, von wem es kam, aber sie ahnte es.

»Er kam also mit einem gebrochenen Arm ins Krankenhaus?« Das war Mr Wylltsons Stimme, er versuchte, das Thema zu wechseln. »Haben Sie ihn so… entdeckt?«

»Wir kannten ihn aus unseren Akten«, sagte Ms Skinner. »Ein Finn Mac Cumhaill lief mit zwölf Jahren aus einem Pflegeheim weg. Als Ihr Neffe jetzt im Krankenhaus auftauchte, hat man bei uns nachgefragt. Es ist derselbe Junge. Ein paar Monate später wäre er volljährig gewesen, dann müsste ich jetzt nicht…«

»Ich bin mir sicher, er hätte mit dem gebrochenen Arm abgewartet, wenn ihm bewusst gewesen wäre, welche Umstände er Ihnen macht«, sagte Mrs Wylltson sarkastisch. »Wahrscheinlich hat er dort meinen Namen angegeben? Als enge Verwandtschaft.«

»Er kannte weder Ihre Telefonnummer noch Ihre Adresse. Aufgespürt habe ich Sie. Und Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mit der Familie. Ich entnehme dem Vormundschaftsantrag, dass auch Sie eine Weile in der Klinik waren, Mrs Wylltson. Darf ich fragen, weshalb?«

»Ich hatte einen Nervenzusammenbruch«, sagte Teas Mutter. »Vor vier Jahren.«

»Was für eine Hexe«, flüsterte Abby. »Das geht sie überhaupt nichts an, und…«

Teagan legte Abby die Hand auf den Mund und starrte sie finster an, bis ihre Lippen sich zu bewegen aufhörten.

Ihre Mutter war damals auf dem Heimweg in der Chicagoer Hochbahn ausgerastet. Sie hatte angefangen zu schreien; sie brüllte in einer merkwürdigen Sprache herum; sie boxte und trat nach Dingen, die es gar nicht gab. Irgendwer hatte die Polizei gerufen.

Abbys Mutter hatte sich danach um den kleinen Aiden gekümmert, wenn Teagan und Abby zusammen lernten. Am Ende waren es drei Monate, die sie bei den Gaglianos verbrachten, während ihre Mutter im Lakeshore Hospital lag und ihr Vater jeden Tag nach der Arbeit die Abende an der Seite seiner Frau verbrachte. Psychotische Episode. Diesen Begriff hatte Teagan eines Abends aufgeschnappt, als ihr Vater mit Mrs Gagliano redete. Sie erzählte keinem, dass sie ihn im Wörterbuch nachgeschlagen hatte. Nicht einmal Abby wusste davon. Halluzinationen, Wahnvorstellungen. Totaler Realitätsverlust.

»Warum ist das wichtig?« Teagan vernahm die Frage ihres Vaters und konnte sich seinen Blick dabei genau vorstellen.

»Ich tue nur meine Arbeit.« Ms Skinner klang jetzt defensiv. »Finn hat in einem verlassenen Kaufhaus geschlafen, er ist in Abflussrohre geklettert, durch Fenster irgendwo eingestiegen, hat sich aus Mülltonnen ernährt. Er hat ohne fließendes Wasser und ohne Strom gelebt.« Sie klang, als hätte sie diese Litanei auf dem Herweg eingeübt. »Er ist praktisch verwildert. Ich bin nicht sicher, ob jemand, der emotional fragil ist, die nötige Kraft hat, um mit ihm fertigzuwerden.«

»Ich bin nicht fragil«, sagte Mrs Wylltson. »Sie können gerne meinen Psychiater dazu befragen. Ich habe emotionale Kraft ohne Ende, das kann ich Ihnen versichern.«

»Ich tue nur meine Arbeit«, wiederholte Ms Skinner. »Was um Gottes Willen stinkt hier eigentlich so?«

Teagan zuckte zusammen. Das Allergiemittel wirkte und jetzt bemerkte sogar sie den Gestank. Entweder war die alte Plastiktüte im Fallen aufgerissen oder die Affenkacke hatte sich bereits hindurchgefressen.

»Irgendetwas im Keller«, sagte Mrs Wylltson. »Vielleicht sind die Abflussrohre verstopft.«

»Ich sollte dann wohl gehen«, befand Ms Skinner.

»Dann holen wir ihn also morgen ab?«, fragte Mr Wylltson.

»Es widerstrebt mir zutiefst, Finn hierherzuschicken, aber ich habe nur begrenzte Möglichkeiten. Er hat schließlich keine nachweisbaren Straftaten begangen.«

»Dann holen wir ihn also ab«, triumphierte Mrs Wylltson.

»Ich fürchte ja.«

»Darf ich Sie zu Ihrem Auto begleiten«, entbot sich Mr Wylltson.

»Ich lasse morgen meine Nummer da. Wenn er irgendwelche Probleme macht…« Die Stimmen verklangen, während Mr Wylltson Ms Skinner zur Haustür begleitete.

Teagan zog die Tür zur Dienstbotentreppe auf. Das düstere Treppenhaus führte von dem winzigen Gästezimmer im Dachboden, einst die Mädchenkammer, bis hinunter in den Keller. Das Haus war zu Zeiten gebaut worden, als Dienstmädchen unsichtbar zu bleiben hatten. Von der Treppe führten durch die Holztäfelung Türen dahin, wo ein Dienstmädchen gebraucht wurde: auf den Treppenabsatz zwischen den Schlafzimmern, in die Küche und in den Keller.

»Wohin gehst du?«, fragte Abby.

»Meinen Pulli retten«, sagte Teagan. »Falls möglich.«

»Ich gehe nicht da runter.« Abby folgte ihr bis an die Küchentür. »Ich warte hier bei deiner Mutter.«

»Das sind doch nur Bilder«, sagte Teagan.

»Du hast ja nicht meinen Traum geträumt.«

»Aber du hast doch in der Kirche eine Kerze angezündet.«

»Ja, für dich, nicht für mich. Ich warte einfach hier.«

Teagan ging noch eine Etage tiefer. Der Keller war der größte Raum des Hauses und es roch dort überhaupt nicht wie in einem normalen Keller in Chicago. Es roch wie in einer Kunstgalerie. Ein Raumentfeuchter stand in der Ecke und saugte jeden Anflug von Feuchtigkeit aus der Luft.

Teagan hatte diesen Ort immer geliebt. Es war fast, als hätte sie hier ihr ganz privates Narnia, einen Zufluchtsort. Die Elfen, Spriggans, Púkas, Goblins und jungen Mädchen in mittelalterlichen Gewändern blickten von den Gemälden an den Wänden herab, daneben standen wunderschöne Bäume– knorrige, uralte Eichen, Eschen und Dornbüsche. Es waren alles Illustrationen aus den Büchern ihrer Mutter.

Teagan blieb vor dem Lieblingsbild ihrer Mutter stehen: Ein hübsches kleines Mädchen tanzte vor einem Haus aus Bäumen, im oberen Teil waren die Stämme über ihr gebogen wie die Finger einer schützenden Hand, während der Green Man, zugleich unheimlich und faszinierend, sie anlachte.

»Wollt ihr alle zum Abendessen mit raufkommen?«, fragte Teagan die hässliche Bande Goblins, die auf dem nächsten Bild um ein Feuer herumkauerte. »Nein? Dachte ich mir schon.«

Die Waschküche war vom übrigen Keller abgetrennt, ein winziger Raum, eben groß genug für Waschmaschine, Trockner, Spüle und den Korb unter dem Schacht. Teagan suchte ihren Pulli heraus, kratzte die grüne Masse in das Waschbecken und spülte sie in den Abfluss, dann legte sie den Kaschmir in Wollwaschmittel ein, bevor sie wieder nach oben flitzte.

Ihr Vater war noch nicht wieder zurück, nachdem er Ms Skinner zu ihrem Auto begleitet hatte, aber Abby hockte auf einem Küchenstuhl und sah Mrs Wylltson zu, wie sie ihre Palette vorbereitete.

»Diese fette Lady heute Nachmittag wollte die Heilige Muttergottes auf ihrem Zeh«, sagte Abby.

Mrs Wylltson hielt inne, den Pinsel in der Luft. »Auf ihrem Fußnagel?«

»Linker großer Zeh. Aber die Madonna da unten hinzusetzen, wo sie den ganzen Tag unter einen Rock sehen muss, kam mir irgendwie nicht in Ordnung vor.« Abby zuckte mit den Schultern. »Aber schließlich war es eine zahlende Kundin.«

»Und was hast du gemacht?«

»Habe Bette Midler mit Heiligenschein gemalt. Denke mal, ihr ist es egal, als Jungfrau einzuspringen, oder? Und die fette Lady konnte das gar nicht unterscheiden. Ihre Zehen sieht die schon seit Jahren nicht mehr.«

»Du solltest dich an einer Kunsthochschule bewerben.« Mrs Wylltson quetschte einen Tropfen Orange in eine Wurst gelbe Farbe und vermischte beides mit zwei schnellen Bewegungen. »Du bist viel zu begabt, um Zehennägel zu bemalen.«

»Irgendwie muss man die Kunsthochschule ja bezahlen«, sagte Abby. »Mama kann sich das Institut nicht leisten, nicht nach den Hochzeiten von allen meinen Schwestern.«

Mrs Wylltson blickte auf. »Was um Himmels willen hat da so gestunken, Tea?«

»Affenkacke«, sagte Teagan. »Cindy hatte meinen Pulli erwischt.«

»So, jetzt ist Tea wieder da. Können wir jetzt über Finn reden?« Abby hatte offenbar bereits versucht, ein paar Informationen aus Mrs Wylltson herauszukitzeln, war damit aber gescheitert.

»Also los mit dem Verhör«, sagte Mrs Wylltson.

»Was ist mit seinen Eltern passiert?«, fragte Teagan.

»Autounfall.« Mrs Wylltson ergänzte in Ginny Greenteeths Auge ein gelbes Glimmern. »Vor sieben Jahren. Ich verstehe nicht, warum Mamieo ihn nicht aufgenommen hat. Das sieht den Travellers nicht ähnlich, einen Buben allein herumlaufen zu lassen.«

»Ist Mamieo Teagans Oma?«, fragte Abby. »Warum bin ich ihr noch nie begegnet?«

»Weil sie die letzten fünfzehn Jahre nicht hier in der Gegend war«, antwortete Mrs Wylltson. »Die Familie meines Bruders, einschließlich Finn, war bei ihr, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Mir hat nach dem Unfall niemand Bescheid gesagt. Ich wusste die ganze Zeit nicht, dass mein Bruder tot ist, bis das Jugendamt jetzt anrief und fragte, ob wir Finn aufnehmen können.«

»Schreibt man in Ihrer Familie keine Briefe oder ruft an?«

»Sie kommen, wenn sie kommen«, sagte Mrs Wylltson. »So sind sie eben.«

»Und wie alt ist Finn?«, fragte Teagan.

»Siebzehn.« Mrs Wylltson wischte einen mit Farbe beschmierten Finger an ihrem Hemdzipfel ab, dann schob sie sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn. »Fast achtzehn.«

Mr Wylltson kam wieder in die Küche, er sah irgendwie genervt aus. »Ich habe Lennie heimgeschickt. Nach dieser Frau könnten wir hier ein bisschen Frieden gebrauchen. Und wie war eigentlich dein Tag, Rosebud?«

»Okay«, sagte Teagan. Wahrscheinlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf voyeuristische Handy-Perverse im Bus zu sprechen zu kommen.

»Prima. So, jetzt müssen deine Mom und ich ein bisschen reden. Aiden hat auf Lifetime eine Sendung über den King gefunden. Das sollte ihn eine Zeitlang ruhig stellen. Wollt ihr Mädchen das mit ihm anschauen?«

»Dad!«, sagte Teagan. »Aber nicht das mit den…«

Im Nachbarraum begann Aiden zu kreischen.

»…Elvis-Imitatoren.« Mr Wylltson zuckte zusammen. »Das hatte ich ganz vergessen. Wie kommt er nur so weit hoch? Ich wundere mich, dass wir überhaupt noch ein heiles Glas im Haus haben.«

Als sie ins Wohnzimmer kamen, stand Aiden vor dem Fernseher und hielt sich die Ohren zu, während eine Reihe falscher Elvis Presleys in ihren engen weißen Hosen herumhopsten und mit den Hüften kreisten. Aiden kreischte wieder. Mr Wylltson steckte sich die Finger in die Ohren.

Hastig griff Teagan nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

»Das ist… nicht… Elvis!«, sagte Aiden. »Er klingt ganz falsch!«

»Natürlich.« Mr Wylltson hatte die Finger aus den Ohren genommen. »Das sind bloß Imitatoren. Davor brauchst du keine Angst zu haben, Junge. Diese Leute tun bloß so. Ich habe dir das schon erklärt, weißt du noch?«

»Geh doch mal ein bisschen nach draußen, Aiden!«, sagte Mrs Wylltson. »Teagan und Abby begleiten dich.« Sogar Aiden wusste, dass es zwecklos war zu streiten, wenn Mom sie hinausschickte.

»Gehen wir«, sagte Teagan. »Ich zieh dich im Bollerwagen.«

»Zum Glück war Ms Skinner schon weg, als Aiden wegen dieser Elvis-Geschichte so ausgeflippt ist«, sagte Abby, während Teagan den Wagen die Straße hinunterzog.

Teagan seufzte.

»Was denn?«, fragte Abby. »Ich meine ja bloß. Das macht eure Familie schon ein bisschen komisch, weißt du? Ich meine, wer hat schon Angst vor Elvis-Imitatoren?«

»Ich«, sagte Aiden. »Und Lennie auch.«

Lennie war Aidens persönlicher Coach in der Frage, was gruselig war und was nicht. Teagan war überzeugt, dass sie eine geheime Liste führten. Zahnfee: gruselig, weil sie herumschleicht und Sachen stibitzt. Käfer: nicht gruselig, selbst wenn sie auf einem herumkrabbeln. Würmer: gruselig, weil sie keine Augen haben.

»Ich mochte diese Lady nicht«, sagte Aiden. »Warum war sie da?«

»Um uns zu sagen, dass unser Cousin Finn bei uns einzieht.«

»Ist Finn ein Junge?«

»Ja.«

»Ist er ein Kind?«

»Nein«, sagte Teagan. »Er ist fast erwachsen.«

»Kann er Legokrieg spielen?«

»Wahrscheinlich.«

»Okay«, sagte Aiden. »Dann kann er ruhig kommen.«

Nach dem Essen wusch Teagan das Geschirr ab, während Mr Wylltson laut aus Peter Pan vorlas.

Aidens Tamagotchi machte das besondere kleine Ping, das bedeutete, dass er einen Haufen gemacht hatte, und Aiden zeigte Abby, wie man es sauber machte. Als sein elektronisches Haustier schlafen gegangen war, drehte Aiden eine Lampe um, sodass er Schattenbilder auf die Wand werfen und die Rolle von Peters Schatten übernehmen konnte.

»John, ich habe einen Abgabetermin«, sagte Mrs Wylltson, als Aidens Schatten zum zweiten Mal über ihr Gemälde zog.

»Alles klar, Kamerad. Spielen wir Krieg.« Mr Wylltson legte das Buch weg und hob Aiden hoch.

»Du bist nicht gut im Kriegspielen«, sagte Aiden. »Mom ist besser. Ich will lieber mit ihr spielen.«

»Es stimmt«, Mr Wylltson schwang sich Aiden über die Schulter, »dass dein Vater eher ein Liebhaber ist als ein Kämpfer, deine Mutter dagegen eine blutrünstige Wilde. Aber deine Mutter muss ein Buch abgeben. Also stell deine Streitkräfte auf und ich strenge mich ordentlich an.« Er trug den kichernden Aiden zur Nische hinüber.

Teagan nickte in Richtung Wohnzimmer. Abby folgte ihr an den Computertisch und sah ihr über die Schulter.

»Du kannst ruhig erst einmal raufgehen, Dad«, sagte Aiden. »Ich habe meinen Hinterhalt noch nicht fertig. Die verlorenen Jungs aus diesem Buch haben mich auf ein paar Ideen gebracht.«

»Alles klar«, sagte Mr Wylltson. »Ruf mich, wenn du zur Schlacht bereit bist.«

»Der kommt heute nicht mehr runter, oder?«, fragte Abby.

»Auf keinen Fall. Aiden braucht jetzt Tage, um seine Armee für den Angriff aufzustellen. Wie, sagtest du, hieß noch mal der Typ?«

»Welcher Typ?«, fragte Abby.

»Der Perverse im Bus.«

»Geoff Spikes.«

Teagan brauchte weniger als eine Minute, bis sie ihn gefunden hatte. Er hatte einen Video-Link mit ihrem Foto darauf auf seinen Facebook-Account gestellt. Es hieß Shimmy, shimmy, ko-ko-bop.

»Was ist das denn?«, fragte Abby.

»Das ist ein Song von Little Anthony and the Imperials.«

»Ein Oldie aus den Fünfzigern!« Abby staunte. »Warum habt ihr Wylltsons sogar solches Zeug im Hirn?«

Teagan zuckte mit den Schultern und klickte auf Play.

Geoff hatte eine Endlosschleife eingestellt und mit einem Soundtrack hinterlegt. »Shimmy, shimmy, ko-ko-bop«– Teagans Bluse rutschte über den Nabel– »shimmy, shimmy«– ihre Rippen…

»Nein!«, rief Teagan. »Nein, nein, nein!« Etwas Blaugeflecktes kam ins Bild und füllte den gesamten Bildschirm aus.

»He! Das ist mein Hintern!« Abby ging näher an den Bildschirm. »Ich bin berühmt!«

Die Handykamera hüpfte, als Geoff offenbar einen besseren Winkel zu bekommen versuchte, aber als Teagan wieder auf dem Bildschirm erschien, hatte sie ihre Bluse bereits heruntergezogen.

»Entspann dich«, sagte Abby. »Das schaut sich keiner an.«

»Was redest du da? Er hat dreitausend Freunde. Wahrscheinlich hat es bald jeder, den ich kenne, gesehen. Du hast gerade selber gesagt, dass dein Hintern jetzt berühmt ist!«

»Schon, aber da schwirren doch viel schlimmere Sachen rum. Für deinen Bauch oder deinen BH interessiert sich doch keiner.«

»Hat man den BH gesehen?«

»Bloß ein Eckchen. Spiel es noch mal ab, dann zeig ich’s dir.«

»Ich spiele es nicht noch mal ab.«

»Du solltest dir einen hübschen Spitzen-BH anschaffen«, sagte Abby. »Der hier ist wirklich langweilig. Wir haben drüben im Laden auch wattierte, wenn dir das hilft, weißt schon.«

»Halt den Mund«, sagte Teagan.

»Shimmy, shimmy ko-ko-bop…« Der menschliche iPod in der Nische hatte die Melodie aufgeschnappt.

Teagan ließ ihren Kopf auf den Tisch sinken.

Abby tätschelte ihr die Schulter. »Ich wechsele jetzt den Sender. Dann können wir uns endlich ein bisschen unterhalten.« Sie fing an zu summen: »I kissed a girl, and I liked it…«

»Abby!« Teagan sprang auf. Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sich das hier in Aidens Kopf festsetzte. Abby schaltete auf irgendein Boygroup-Gedudel um, das Teagan nicht kannte, Aiden aber offenbar schon. Er begann, in seinem hellen Sopran weiterzuflöten.

»Und was machst du jetzt mit der ganzen Sache?«, fragte Abby, als sie Aiden erfolgreich abgelenkt hatte.

»Ich ignoriere es«, sagte Teagan. »Ich habe morgen meine letzte Klausur. Chemie. Ich muss lernen und du wirst mir helfen.«

»Du glänzt in jedem Test, auch wenn du nicht lernst.«

»Diesmal nicht.« Kurse auf College-Niveau machten sich auf College-Bewerbungen nur dann gut, wenn die Noten stimmten.

»Wie soll ich dir helfen? Ich habe Chemie nie belegt.«

»Ich habe Karteikarten gemacht.« Teagan zog den dicken Stapel A6-Karteikarten aus ihrem Rucksack. Das Gummi, das sie zusammenhielt, war bis zum Zerreißen gespannt.

»Selbstverständlich.«

»Du zeigst sie mir und kannst dann auf der Rückseite nachsehen, ob meine Antwort stimmt.«

»Alles klar.« Abby verschränkte die Arme. »Gleich, wenn wir mit Reden fertig sind.«

»Mit welchem Reden?«

»Na, mit dem Jungs-Reden. Ich denke die ganze Zeit über diese Sache mit Finn nach. Vielleicht kannst du Jungs in der Schule oder im Bus ignorieren, aber hier zieht einer bei dir ein. Du musst ein paar Dinge wissen, wenn ein Junge bei dir wohnt. Da kann schon was passieren.«

»Und was zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass die Chemie bei euch besonders gut funktioniert«, sagte Abby.

»Da bin ich immun, das weißt du«, sagte Teagan. »Keine Jungs, bis ich das Stipendium habe. Oder vielleicht bis zum Abschluss.«

Abby schnaubte. »Niemand ist immun. Du bist halt nur ein Spätentwickler.«

»Und was weißt du darüber, wie es ist, wenn ein Junge bei dir wohnt? Bei dir hat nie ein Junge gewohnt, höchstens wenn du Walter mitzählst. Du hast doch nur lauter Schwestern.«

»Walter war kein Junge«, sagte Abby. »Er war so erbärmlich, dass seine Eltern ihn zum Schüleraustausch geschickt haben, um ihn los zu sein. Aber ich habe schließlich die Turtles, oder?«

Leo, Angel, Donnie und Rafe waren Abbys Lieblingscousins. Sie waren auch wirklich nette Jungs, solange man sie nicht bei ihren vollen Namen rief– Leonardo, Michelangelo, Donatello und Raphael. Ihre Mutter war ein großer Fan des Films Turtles gewesen.

»Eigentlich«, Teagan fuhr den Computer herunter, »könnte ich wirklich gute Beziehungstipps gebrauchen.«

»Tipps in Jungensachen?« Abby sah schockiert aus. »Wirklich?«

»Nicht für mich. Für eine Freundin.«

»Klar«, sagte Abby. »Für eine Freundin.«

Teagan blickte ostentativ zu Aiden. »Ich würde aber lieber etwas privater darüber reden.«

»Es ist also eher was fürs stille Kämmerlein?«, fragte Abby.

Teagan nickte.

»Dann mal los.« Abby folgte Teagan in ihr Zimmer.

Teagan machte die Tür hinter ihnen zu, dann ging sie ans Fenster und schob es auf. Von hier war es nur ein Schritt hinunter auf das sacht abfallende Dach der Veranda.

Zum ersten Mal war sie hier gewesen, als sie zehn war. Wochenlang saß sie täglich da draußen, bis ihre Eltern sie eines Abends entdeckt hatten. Sie waren durch das Fenster gekrochen und hatten sich neben sie gesetzt, hatten zugesehen, wie die Leute auf dem Fußweg vorbeigingen und die Insekten unter der Straßenlaterne tanzten.

»Fast so gut wie ein Baumhaus, oder?«, hatte Mr Wylltson schließlich gesagt. »Vielleicht sollten wir Zimmer tauschen. Hierdran könnte ich mich gewöhnen.«

»Das gehört Teagan«, hatte ihre Mutter gesagt. »Ein Mädchen braucht einen Ort für sich ganz allein. Gute Nacht, Liebes.« Sie hatte Teagan auf die Stirn geküsst und dann waren sie zum Fenster zurückgekrochen. Seither war das hier Teagans stilles Nachdenk-Kämmerlein.

Abby war die Einzige, die Teagan sonst noch hierher mitgenommen hatte. Aiden hatte absolutes Zugangsverbot, obwohl er gerne vom Gehweg aus zu Teagan hinaufschrie.

Durch das Fenster fiel Licht und Teagan setzte sich in das helle Rechteck. Abby krabbelte unsicher über das Dach.

»Also sag schon.« Sie erschauerte, als sie sich setzte. »Ziemlich kühl hier draußen.«

Teagan umfasste ihre Knie. »Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Ich glaube, sie ist nicht der Typ Mädchen, dem du helfen kannst.«

»Aber weiblich, oder?« Abby winkte ab. »Dann kann ich helfen.«

»Selbst wenn sie verzweifelt in einen… älteren Mann verliebt ist?«

Abby runzelte die Stirn. »Von wie viel älter reden wir denn, Tea? Fünf Jahre?«

»Ungefähr… vierzig Jahre, glaube ich.«

»Tea!« Abby schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass irgendwann so etwas kommen würde. Das ist nur, weil du nicht mit Jungs in deinem eigenen Alter ausgehst.«

»Ich habe schon gesagt, dass es nicht um mich geht. Sondern um eine Freundin.«

»Um wen denn?«, fragte Abby. »Sag mir den Namen.«

»Cindy. Sie ist voll in Dr. Max verknallt.«

Abbys Mund klappte auf.

»Eiskalt erwischt!«, sagte Teagan.

»Und deshalb hast du mich hier raus aufs Dach gezerrt?«

»Du hast mich schließlich in St. Drogo’s gezerrt«, sagte Teagan, »mit Kacke auf dem Pulli, und außerdem musste ich noch sechs Blocks weit zu Fuß nach Hause gehen.«

»Damit habe ich dir das Leben gerettet.« Abby stapfte zum Fenster und kletterte hinein. Teagan konnte gerade noch verhindern, dass sie es zuschob und sie aussperrte.

»Ich kann nicht glauben, dass du mich angelogen hast!« Abby packte ein Kissen vom Bett und schwang es Richtung Teagan, als die hereinstieg.

»Hab ich nicht!« Teagan wich aus.

Abby ließ das Kissen sinken. »Ist das Affenmädchen wirklich ernsthaft in den Glatzkopf verknallt?«

»Ernsthaft.«

»Das ist ja widerlich. Er hat verrunzelte Lippen!«

»Und wie lautet nun dein Rat, Liebesdoktor?«

»Bring sie zum Smash Pad rüber. Wir machen ein kleines Relooking. Dieses Mädchen könnte voll heiß aussehen!«

»Super.« Teagan lachte. »Ich werde es ihr ausrichten. Jetzt hilf mir beim Lernen.«

»Ich ziehe mir erst den Schlafanzug an«, sagte Abby. »Vom Lernen werde ich immer so schläfrig.«

Sie hatten die Karteikarten zweimal durchgemacht, als Mrs Wylltson hereinkam.

»Betest du mit uns, Abigail?«

»Ich mache kein Abendgebet mehr«, sagte Abby.

»Wie du willst.« Mrs Wylltson kniete sich vor das Bett.

Teagan kniete sich neben ihre Mutter, nahm ihre Hand und atmete den Geruch von Farbe, Leinöl und Terpentin ein. Ihre Mutter roch immer nach Kreativität.

»Ich bitte nicht um einen Weg ohne Mühsal und Leid«, begann Mrs Wylltson. Teagan fiel in ihre Worte ein. »Ich bitte vielmehr um einen Freund, der jeden Weg mit mir geht.

Ich bitte nicht um ein Leben ohne Schmerz. Ich bitte vielmehr um Tapferkeit, selbst wenn die Hoffnung nichts ist als ein schwacher Schein.

Und noch um eines bitte ich: Dass in jeder Stunde der Freude oder des Leids ich den Schöpfer an meiner Seite spüre. Das ist mein aufrichtigstes Gebet für mich und für alle, die ich liebe, jetzt und in Ewigkeit. Amen.«

»Amen«, fiel Abby automatisch ein. Mrs Wylltson stand auf und verriegelte das Fenster, bevor sie die Vorhänge zuzog.

»Gute Nacht, Mädels«, sagte sie und schloss die Tür.

»Warum betet ihr nicht wie normale Menschen?«, fragte Abby. »Kein Leid bitte, Gott. Haufenweise Geld. Danke.«

»Weil wir Iren sind.« Teagan schob das Gummi wieder um die Karteikarten. »Mom sagt, für Iren geht niemals lange alles gut. Sie sagt, wir müssen realistisch bleiben.«

»Und warum hat sie das Fenster versperrt? Hat sie Angst, dein zotteliger Cousin könnte in den Hintergarten schleichen und an der Regenrinne hochklettern?«

»Mein zotteliger Cousin?«

»Ms Skinner sagte doch, Finn wäre fellig, oder? Vielleicht sollte er mit Cindy ausgehen.«

»Verwildert.« Teagan hob die Kissen auf, die Abby heruntergeschmissen hatte, und warf sie aufs Bett zurück. »Sie sagte, er ist verwildert. Abby, du musst echt ein bisschen besser zuhören, was die Leute so sagen.«

»Ich höre ja zu. Ist das hier mein Kissen?«

»Ist das nicht egal?«

»Du sabberst wie ein tollwütiger Hund.« Abby fuhr mit der Hand über den Kissenbezug. »Ich hasse verschmierte Kissen. Da wird ein völlig abgefahrener Typ bei dir einziehen, Tea. Das wird verrückt, selbst wenn ihr blutsverwandt seid.«

»Sind wir gar nicht«, sagte Teagan.

»Was seid ihr nicht?«

»Blutsverwandt. Mamieo hat Mom aufgenommen, als sie zwölf oder dreizehn war«, sagte Teagan. »