In einem Land nach unserer Zeit - Teil 2: Die Reisende - Anette Schaumlöffel - E-Book

In einem Land nach unserer Zeit - Teil 2: Die Reisende E-Book

Anette Schaumlöffel

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Beschreibung

Reise ins Innere einer neuen Welt Ragin ist nach fünfhundert Jahren Kälteschlaf erwacht und möchte vor allem in Ruhe eine Welt kennenzulernen, in der die Klimakatastrophe nur noch eine schwache Erinnerung ist. Da ruft sie ein anderer Überlebender aus ihrer Zeit um Hilfe. Widerwillig verlässt sie ihre sichere Station, um sein Problem zu lösen. Sie rechnet mit einem Ausflug von wenigen Tagen. Zum Glück hat sie die Katze Alice nicht zurückgelassen, denn es kommt natürlich anders. Statt die Wildnis zu überfliegen, tauchen die Gefährtinnen tief darin ein. Auf ihrem Weg lernt Ragin die Gemeinschaften der überlebenden Menschen kennen und entdeckt auch an sich selbst ganz neue Seiten. Doch kann sie nirgends bleiben, bis sie ihre Mission erfüllt hat. Auf ihrem Weg muss sie Gefahren trotzen, von denen die eigene Selbstüberschätzung nicht die geringste ist.

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Seitenzahl: 408

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Was wäre, wenn das Schlimmste bereits geschehen ist und sich danach das Leben erneut regt und entfaltet? Die Kälteschläferin Ragin ist in einer solchen Welt erwacht, an deren Entstehung sie entscheidend mitgewirkt hat. Nun, im zweiten Band der Trilogie, lernt sie die Menschen kennen, deren kleine Gemeinschaften blühen und gedeihen. Wir begleiten sie in die Kommunen, in denen sie am liebsten bleiben, lernen und lieben würde. Die Katze Alice – ganz Geschöpf der neuen Zeit – ist mit dabei auf dieser Entdeckungsreise. Doch ist Ragins letzter Auftrag noch nicht erfüllt und sie wird auf der anderen Seite einer unwirtlichen Wüste erwartet. Inzwischen müsste sie ja auch gelernt haben, dass man in der Natur nur überlebt, wenn man sie ernst nimmt.

Die Autorin

Anette Schaumlöffel hat als Jugendliche gerne Robinsonaden und Science-Fic-tion gelesen. Dem Motto gemäß, dass man die Bücher schreiben sollte, die man selber gerne lesen würde, hat sie diese Genres einfach miteinander vermischt und nimmt ihre Leserinnen mit auf die Reisen, die sie in ihrem eigenen Kopf unternimmt. Dabei geht es unter der Haube immer auch um wesentliche Fragen des Miteinander-Lebens.

Ragins welt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Traum vom Fliegen

Kapitel 2 Der Weg

Kapitel 3 Die Brücke

Kapitel 4 Weiterkommen oder auch nicht

Kapitel 5 In der Kommune

Kapitel 6 In der Bibliothek

Kapitel 7 Leben in der Stadt

Kapitel 8 Gute Gesellschaft

Kapitel 9 Zukunft und Vergangenheit

Kapitel 10 Schneller als gedacht

Kapitel 11 Das Waldvolk

Kapitel 12 Interspezies-Intermezzo

Kapitel 13 Über den Rand der Welt

Kapitel 14 Die Ödnis

Kapitel 15 Das letzte Stück

Kapitel 16 Enklave 5

Kapitel 1

Traum vom Fliegen

Die schwarze Katze mit dem Namen Alice putzte sich in aller Ruhe. Während sie mit ihrer rosafarbenen Zunge die Unterseite ihrer rechten Pfote bearbeitete – die einzelnen weiß behaarten Zehen weit auseinandergespreizt und die schwarzledrigen Ballen nach oben gekehrt – fluchte ihre menschliche Begleiterin leise vor sich hin.

Wie wichtig so eine einzelne, kleine Schraube sein konnte. Besonders, wenn sie nicht mehr ihren Dienst tat, weil sie einfach zerbrochen, genauer noch: in Stückchen zerkrümelt war.

Ragin konnte von Glück sagen, dass der finale Zusammenbruch dieser Schraube nicht in der Luft stattgefunden hatte. Anderthalb Tage waren sie mit dem Kopter über die Landschaft geflogen, immer in Richtung Süden. Die dichten Wälder nahe der Station, von wo sie aufgebrochen waren, hatten Graslandschaften abgelöst, diese wieder Wälder. Sie hatten die stillen Ruinen einer Stadt überflogen. Kilometerweit hatte sie unter sich die von Bauwerken und Asphalt versiegelten Böden gesehen, durch die sich unaufhaltsam das Leben der vielfältigen Pflanzen kämpfte. Aktuelle Spuren menschlichen Lebens hatte Ragin zumindest bei ihrem raschen Vorüberflug keine entdecken können. Die Katze hatte nicht nach unten geschaut.

An ihrem ersten Flugtag war Ragin überrascht gewesen, wie schnell Alice sich daran gewöhnt hatte, in einer Box auf der kleinen Ladefläche des Kopters hoch über der Erde dahinzurasen. Die Katze verschlief tatsächlich die meiste Zeit ihrer erzwungenen Untätigkeit. Was sich als weise Voraussicht erwies, denn sobald sie gelandet waren, verschwand das ausgeruhte Tier und erkundete seine Umgebung. Dabei blieb sie so lange weg, dass sich ihre menschliche Freundin sorgte, sie könne nicht zu ihr zurückfinden.

Ragin hatte sich nach kurzer Überlegung dagegen entschieden, ihre pelzige Gefährtin festzubinden. Die kleine Katze hatte vor ihrem Zusammentreffen allein gelebt und war bei der Menschenfrau geblieben, nachdem sie einander das Leben gerettet hatten. Eine Freundschaft zwischen zwei Warmblütern, die auf Freiwilligkeit beruhte, sollte nicht durch Zwang vergiftet werden. Also sah Ragin mit einem mulmigen Gefühl das schlanke Geschöpf im hohen Gras verschwinden und kümmerte sich um ihre eigenen Angelegenheiten.

Zwar hatte sie den Rucksack vor ungefähr fünfhundert Jahren selbst bestückt und gepackt, doch hatte sie die Ausrüstung darin noch nie ausprobiert. Das Zelt hatte sich als die erste Überraschung herausgestellt. An dem grünen, eng gewickelten Päckchen aus einem seidigen Kunststoffgewebe hatte eine rote Schnur darauf aufmerksam gemacht, hier bitte zu ziehen. Ein Hinweis, dass man das erst an dem Ort tun sollte, der sich zum Zeltplatz eignete, wäre hilfreich gewesen, dachte Ragin, als sie das wundersam aufgeploppte Zelt über dem Bach balancierte, an dessen Ufer sie sich nach einem guten Platz umgesehen hatte. Es gelang ihr zu verhindern, dass sie mehr als eine Ecke des Zeltes ins Wasser tunkte und sie bugsierte das luftige Gebilde in das hohe Gras hinter sich. Nachdem sie auf ähnliche Weise eine Matte und einen Schlafsack aus ihrer hochverdichteten Verpackung befreit hatte, fragte Ragin sich, ob sie die jemals wieder so klein zusammenpacken könnte.

Aber das war das Problem eines anderen Tages. Am ersten Abend ihrer Reise freute sie sich erst einmal über die schöne Lichtung, auf der sich ein kleiner Wasserlauf zwischen Eichen hindurchwand. Das klare, leicht bräunliche Wasser war nach einem kleinen Umweg durch ihren handlichen Reinigungsfilter köstlich und erfrischend. Ihr Körper war nach vier Stunden in der Luft steif und sie würde morgen Muskelkater haben. Sie fühlte sich überaus lebendig im Grün des allüberall wuchernden Bewuchses.

Bevor sie in den Kälteschlaf gegangen war, hatte sie Natur stets als etwas wahrgenommen, das draußen stattfand und nicht mehr funktionierte, weil es von den kurzsichtigen Handlungen des Menschen an den Rand des Abgrunds gedrängt worden war. Die unter der Hitze, den Stürmen, den Überflutungen leidenden Wälder und Wiesen waren schließlich abgelöst worden von einem in Eis und Schnee erstarrten Friedhof, in dem sich die große Zivilisation der Menschen selbst begraben hatte. Nun, fünfhundert Jahre später, war es eine Lust, den Bäumen, den Sträuchern und Gräsern dabei zuzusehen, wie sie die bebaute, zerlegte, ausgelaugte Erde wieder zurückeroberten.

Eine solche Idylle wie hier an diesem Bachlauf hatte Ragin noch nie erlebt. Sie bemühte sich, nur totes Holz zu sammeln und bald brannte ein kleines Feuerchen in einem Ring aus Steinen, die sie aus einer trockenen Stelle am ausgewaschenen Bachufer gebrochen hatte. Beim Sammeln hatte das eiskalte Wasser an ihren Füßen sie entzückt. Der silbrige Fisch, der plötzlich an ihren Waden vorbei in die Strömung gesprungen war, erschreckte sie, doch pochte ihr Herz danach laut vor Glück. Ein weiteres Lebewesen, das dem großen Artensterben entkommen war.

Auf einem aufgeklappten, feuerfesten Gitter stand nun ein Topf mit Wasser, in das sie nach dem Erhitzen ein Pulver einrührte. Das Ergebnis war ein Proteinbrei, den sie mit Alice zu teilen bereit war. Die jedoch ließ sich nicht blicken. Erst als Ragin im Zelt schon ein paar Mal eingeschlafen und wieder aufgeschreckt war – es war schon seltsam, nur durch eine dünne Plane geschützt, im Draußen zu schlafen – hörte sie endlich das Reiben einer Pfote an der Zeltplane. Die Katze, die durch den geöffneten Spalt hereinkam, bohrte sich schnurstracks in den Schlafsack ihrer Freundin und legte dieser sehr kalte Pfoten auf den warmen Bauch.

Der zweite Tag Fliegen hatte sie dann über die riesige Stadt geführt. Nach der üppigen Schönheit der Natur mit ihren weichen, abgerundeten Formen waren die eckigen Betonruinen eine Beleidigung für das Auge. Im Zentrum der Stadt, unweit des großen Flusses, der noch immer in seinem eingemauerten Bett gefangen war, ragten Hochhäuser in den Himmel, die Glasfassaden vielfach durchlöchert. Der Kopter wackelte in den Aufwinden, die sich zwischen den riesigen Gebäuden tummelten und Ragin war froh, als sie wieder ausreichend Abstand zu ihnen hatte. Doch die Häuser und Hallen und Straßen zogen sich noch weit unter ihr her und es war fast Mittag, bis sie endlich nur noch Wald unter und vor sich sah.

Nicht an allen Stellen hatte die Eroberung der Welt durch die Pflanzen so gut funktioniert. Woran es lag, dass manchmal nur trockene Wüste vom Tod des Lebens dort zeugte, wusste Ragin nicht. Sie würde sich später darum kümmern. In der Station, die sie bewohnte, lagerten noch Samen und eingefrorene Lebewesen vieler Arten, mit denen man vielleicht auch diesem ausgelaugten Boden wieder Leben einhauchen konnte. Doch zunächst hatte sie eine andere Aufgabe. Ein weiterer Kälteschläfer aus der Zeit des großen Vorher, der Zeit, in der die menschengemachten Katastrophen eine nach der anderen einschlugen, brauchte ihre Hilfe und so befand sie sich auf dem Weg zu ihm.

Die zweite Nacht war schon deutlich ruhiger als die erste, wieder hatte sie eine gute Stelle mit ausreichend Wasser gefunden, wieder kam die kätzische Herumtreiberin erst nach dem Zapfenstreich nach Hause, aber Ragins Schlaf war diesmal ruhiger. Beim Frühstück freute sie sich schon aufs Fliegen. Durch die Augments – in ihren Körper eingepflanzte Erweiterungen, die ihre Körperfunktionen unterstützten und verstärkten – waren ihre Muskeln schneller in der Lage, sich an neue Anforderungen zu gewöhnen. Und sie wurde es nicht müde, diese Welt ohne Menschen in ihrem Zustand der Genesung zu bewundern.

Doch brach am zweiten Morgen ihrer Reise beim Einsteigen in den Kopter eine Verbindung in zwei Teile, die die Sitzfläche der Fliegerin mit dem Rahmen verband, der die vier Propeller trug. Eine einzige Schraube. Sie war noch nicht mal so lang wie Ragins kleiner Finger. Bei der Wartung war sie ihr entgangen, sie hatte sich schlecht zugänglich unter einer festen Verblendung befunden. Diese musste jetzt Ragins verärgerter Untersuchung weichen. Der Bösewicht war gefunden, in orangefarbene Bröckchen zerkrümelt. Schlimmer noch war jedoch, dass die sieben anderen Schrauben, die an anderen Stellen die gleiche Funktion erfüllten, bei genauer Betrachtung preisgaben, dass auch sie nur noch ein Gebet und schiere Gewohnheit davon abhielten, ebenfalls zu Staub zu zerfallen.

Bei einer einzigen Schraube hätte sie vielleicht noch gewagt, diese durch ein hartes Hölzchen zu ersetzen. Alle Schrauben zu verlieren, kam jedoch einem sehr klaren Urteil gleich. Dieser Kopter konnte nicht mehr benutzt werden, bevor er nicht fachgerecht instandgesetzt worden war.

Ragins hochfliegendes Wohlbefinden fand ein jähes Ende. Alle Pläne, die sie geschmiedet hatte, waren zunichte gemacht und sie befand sich in einer Situation, aus der sie nicht so schnell wieder herauskam. Von wegen: schnell zu Roger, dem in Not geratenen Zeitgenossen, und dann rasch wieder zurück. Wenn sie ihren bisherigen Weg richtig auf das virtuelle Kartenmaterial übertragen hatte, befand sie sich genau in der Mitte zwischen den beiden Stationen. Grob überschlagen würde sie zu Fuß statt anderthalb Tagen zwischen zehn und zwanzig Wandertagen benötigen, je nachdem, ob sie begehbare Wege fände oder nicht. In ihrer Station gab es diese Schrauben sicher in ausreichender Anzahl, geschützt in dieser gelartigen Umhüllung, die die ganze Technik dort vor dem Oxidieren bewahrt hatte. Aber dann müsste sie den Weg zweimal gehen, bevor sie den Kopter wieder benutzen könnte. Und apropos Wege – sie schaute sich auf der Lichtung um – es war zu bezweifeln, ob sie diesen Platz überhaupt zu Fuß wiederfinden würde. Zwar verfügte die in ihren Schädel eingebaute Technik über ein Ortungssystem, das von Satelliten unabhängig war – die letzten dieser Orbiter waren bereits vor Jahrhunderten zur Erde zurückgetaumelt – doch wusste sie durch ihren Flug hierher sehr genau, dass es keinen Fußweg gab.

Und wie lange würde die in ihren Körper eingebaute Technik noch funktionieren?

Schon in der Station hatte das Team der Ökoterroristen, dem sie sich angeschlossen hatte, ihre b2is von den Providersystemen abgekoppelt. Ihre modifizierten Geräte funktionierten als Standalone-Systeme, die sich nach Bedarf mit vorhandenen Systemen in der Nähe verbinden konnten. Vor ihrem Aufbruch zu diesem kleinen Ausflug hatte sie sich vergewissert, dass die Geräte nicht auf Aufladungen von außen angewiesen waren. Die von ihnen benötigte Energie zogen sie direkt aus ihrem Körper. Ragin war jedoch skeptisch, ob das auch auf Dauer funktionieren würde.

Schließlich hatte sie immer in Umgebungen gelebt, in denen unauffällige Energieausstrahlungen dafür sorgten, dass sich kein Gerät je entlud. Seit dem Einbau ihrer Augments in ihrer Kindheit hatte sie nur in der sehr kurzen Zeit nach ihrem Erwachen aus dem Kälteschlaf ohne ihre Funktionen gelebt hatte. Daher wusste sie nicht genau, welche ihrer Erinnerungen und Fertigkeiten ihr ohne sie zur Verfügung standen. Die virtuellen Karten gehörten jedoch ebenso nicht zu ihrer biologischen Ausstattung wie der innere Kompass. Noch eine mögliche Komplikation. Ihre Laune sank von verdorben zu finster.

Die schwarze Katze hatte den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Statt sich schon mal im Vorgeschmack auf harte Märsche die zarten Pfoten zu lecken, hatte sie einen Schmetterling entdeckt, der vor ihrer Nase gaukelte. Ob durch Glück oder Geschick – es gelang dem bunten Flügeltierchen, sich den verspielten Tatzenschlägen ein ums andere Mal zu entziehen und so gab das Ensemble ein possierliches Bild ab. Als sich Alice dann noch an einer von weichem Gras bewachsenen Stelle in einen dort gelandeten Sonnenfleck legte, sich auf den Rücken wälzte und ihren Bauch vom Licht wärmen ließ, bekam Ragins miese Laune einen ersten Knacks. Statt neben dem Kopter zu hocken und böse Löcher in die Verkleidung zu starren, legte sie sich neben die Katze. Die Sonnenstrahlen, die goldstückweise durch das Laub zu Boden sanken, spielten in Ragins Gesicht, blendeten sie in einem freundlichen Aufblitzen und verloren sich wieder im Schatten.

Vielleicht – so dachte sie – war es an der Zeit, den Notfallmodus zu verlassen. Ja, sicher, Roger wollte ein Notfall sein. Doch hatte der schon vor Jahren versucht, sie zu erreichen und es durchgehalten, bis es ihm gelang. Aber ansonsten – die Welt, die sie und ihre Freunde hatten retten wollen, war untergegangen. Sie hatten hart daran gearbeitet, ihr einen besseren Neustart zu verpassen und waren alle elf in die Kälteschlafkapseln gestiegen, damit dann jeder allein sein oder ihr Leben damit verbrachte, ihre Aufgaben zu erfüllen. Sie, Ragin, war die Letzte und wenn sie sich hier umsah, war schon alles getan, was getan werden musste. Ihr Auftrag bestand darin, den Stand der Welt festzustellen, ein paar lose Fäden zusammenzuführen und vielleicht Kontakt mit den anderen aufzunehmen, falls es außer Roger noch jemanden gab.

Selbst ihr Fluggerät gehörte einer bereits lange vergangenen Welt an. Und wenn es sich nun in Auflösung befand, gab es nicht allzu viel, was sie dagegen tun konnte. Eigentlich war der Modus, in dem Ragin sich nun befinden sollte, nicht mehr Dauernotfall, sondern endlich: Freies Spiel. Ab jetzt war alles Bonus. Das galt sowohl für die schönen Dinge, die sie erlebte, als auch für das, was sie der Welt noch zu geben hatte. Es war ihre Aufgabe gewesen, die Station zu sichern, sodass alle Kühlschläfer ungestört ihrer Schicht entgegenschlummern konnten, ohne überfallen, ausgehungert oder sonst wie gestört zu werden. Und das war ja nun nachweislich gelungen.

Der Schmetterling gaukelte nun über ihr in der Luft. Alice war in der Sonne eingeschlafen und das gelbe Flattervieh tanzte nur für Ragin. Seine heitere Nutzlosigkeit ließ sie an Tamas denken. Der junge Mann, der aus einer Siedlung im Norden der Station stammte, hatte seine Heimreise bei ihr kurz unterbrochen. Von ihm hatte sie ein wenig über die aktuell lebenden Menschen der Region erfahren. Zum Eintritt in das Erwachsenenleben musste sich jeder junge Mensch auf Wanderschaft begeben und durfte erst wiederkommen, wenn er oder sie genügend Erfahrungen gesammelt hatte. Sein Reisetagebuch in Form eines handgebundenen und eng beschriebenen Büchleins und einer selbstgemalten Landkarte hatte Tamas mit Ragin geteilt.

Sie rief sich die Aufnahmen, die sie davon gemacht hatte, in ihrem b2i auf. Tatsächlich hatten Tamas’ Wanderungen ihn noch über ihren aktuellen Standpunkt hinaus in den Süden gebracht. Nur vierzig, vielleicht fünfzig Kilometer von hier lag die Ansiedlung, in die er nach seinem Heimatbesuch zurückkehren wollte, da er sich in ein dort lebendes Mädchen verliebt hatte. Das konnte doch schon mal ein nächstes Ziel sein und vielleicht gab es dort ja sogar acht Schrauben in der richtigen Größe – oder jemanden, der so etwas anfertigen konnte.

Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit, den Kopter zu verstecken. Sie brach belaubte Zweige von einem umgestürzten Baum ab und schleppte diese zu dem Lagerplatz, um das Fluggerät damit zu bedecken. Alice jagte das Laub, das Ragin über den Boden schleifte und machte sich nützlich, indem sie sie zum Lachen brachte.

Schließlich war alles geregelt. Die Ortungsbake im Kopter war aktiviert. Solange sie sendete, hatte Ragin gute Chancen, ihn wiederzufinden. Der Rucksack war gepackt – zum Glück hatten sich die Faltmechanismen ihrer Ausrüstung schon am ersten Morgen als ebenso genial entpuppt wie ihre Entfaltungstechnik. Das einzig persönliche Andenken in Form eines von ihrer Freundin Shree angefertigten Kissens nahm zu viel Platz ein, aber Ragin gefiel der Gedanke nicht, die Handarbeit einfach zurückzulassen. So zog sie den bunten Bezug ab und schob ihn gefaltet zwischen die anderen Dinge. Die Wasserschläuche hatte sie gefüllt und war bereit, loszugehen. Wenn sie doch nur Alice klar machen könnte, dass sich die Bedingungen ihrer Reise nun geändert hatten. Aber wie stets machte sie sich über die Katze zu viele Gedanken. Als sie losging, lief Alice einfach mit, als hätte sie nie etwas anderes getan.

In einer Ecke ihres Sichtfeldes hatte sie eine alte Geländekarte eingeblendet, in der sie den vermuteten Standort der Siedlung als Ziel markiert hatte. Von ihrer Position aus gab es keine vorgeschlagenen Wege, aber sie hatte die Richtung als permanenten Pfeil vor Augen und konnte sich ein grobes Bild von der Landschaft um sie herum machen. Zunächst schien es sinnvoll, dem Bachlauf zu folgen. Dieser würde irgendwann von einer alten Brücke überspannt werden, die – wenn sie Tamas’ Karte und ihre eigene richtig übereinandergelegt hatte – Teil eines noch immer benutzten Weges sein könnte.

Das wäre eine große Erleichterung. Am Bach entlangzulaufen war ein mühsames Unterfangen, denn sie musste über Baumwurzeln steigen, sich an Unterholz vorbei- oder hindurchschlängeln, was selten ohne Kratzer abging. Alice schaute mehr als einmal interessiert dabei zu, wie Ragin eine Ranke Dorne für Dorne aus dem Stoff ihrer Kleidung zupfen musste, um weitergehen zu können. Schließlich versuchte sie es damit, im Bachlauf selbst zu gehen. Doch hielt sie das nur eine Viertelstunde durch, da das erfrischende Nass ihre nackten Füße zu Eisklumpen gefror und das Verfolgen der zufälligen Windungen ihr zunehmend absurd erschien.

Als sie nach einer Stunde entnervt und erschöpft Pause machte, stellte sie mit Entsetzen fest, dass sie nicht einmal zwei Kilometer zurückgelegt hatte. Bei dem Tempo würde sie für zwanzig bis dreißig Kilometern mindestens zwei Tage benötigen, anstatt nur einem. Sie konnte nur hoffen, dass der Weg auf Tamas’ Karte hielt, was sie sich von ihm versprach. Immerhin begegnete sie keinem wilden Tier, was vermutlich daran lag, dass sie sich knackend, raschelnd und fluchend so unüberhörbar ankündigte, dass jedes Wesen auf ihrem Weg sich tiefer in seine Schlafkuhle duckte oder rechtzeitig Reißaus nahm.

Nach einer Weile spürte sie, dass ihr die Umgebung, durch die sie sich bewegte, zunehmend feindlich erschien. Die Enge, die Unübersichtlichkeit des Urwalds um sie herum, das Gefühl, nicht voranzukommen, vielleicht sogar die Richtung zu verlieren, verdichteten sich zu einem Knoten der Angst. Und so blieb sie immer wieder stehen, um die Miniaturschrittchen ihres Fortschritts am Plan zu überprüfen. Ein ums andere Mal erschien ihr eine weiter entfernt liegende Öffnung im Pflanzendickicht als lohnende Verheißung. Doch nachdem sie wiederholt festgestellt hatte, dass diese scheinbaren Lichtungen am Boden genauso dicht bewachsen waren wie das Gestrüpp, durch das sie sich dahin gekämpft hatte, gab sie es auf, sich dadurch von der direkten Richtung abbringen zu lassen. Immerhin hatte sie das: eine direkte Richtung. Ragin war sehr bewusst, dass sie ohne die Karte in ihrem Kopf und den eingebauten Richtungszeiger verloren wäre.

Ihre Vorstellungen von dem Weg wandelten sich in Wunschträume, doch als sie ihn schließlich erreichte, übersah sie ihn beinahe. Die Brücke in Tamas’ Zeichnung war in der echten Welt nur ein alter Baumstamm, der eines Tages über den Bach gestürzt war. Jemand hatte sich mit einer Axt und einem Hobel ausgetobt, um eine halbwegs ebene Oberfläche zu schaffen. Der Weg war nichts weiter als ein Pfad, den man nur sah, wenn man direkt darauf stand und feststellte, dass es in zwei Richtungen einen schmalen Streifen bloßer Erde im Laub gab, der sich um die Bäume und größeren Steine herumwand wie der Bach, den er kreuzte.

Auf der anderen Seite des Baches befand sich ein kleiner freier Platz. Zwei liegende Stämme umschlossen in dem Winkel zwischen sich eine aus Steinen gelegte Feuerstelle. Erleichtert wuchtete Ragin den Rucksack von der Schulter. Schnell war ein kleines Feuer gemacht und ein Brei angerührt, von dem sich auch Alice einen Teil schmecken ließ. Schließlich hatte die Katze ja auf Wanderschaft keine Zeit, sich um ihre eigene Wegzehrung zu kümmern.

Kapitel 2

Der Weg

Die ersten Schritte auf dem Weg waren eine Wohltat, ihr befreites Gehen ein Triumph. Sie staunte darüber, wie schnell sie sich im Gegensatz Mensch-Natur wiedergefunden hatte. Während sie im Dickicht gegen die Panik angekämpft hatte, von den wuchernden Pflanzen für immer festgehalten zu werden, jubilierte Ragin nun in ihrer aufrechten Zweifüßigkeit. Der meist nicht mehr als eine Handbreit messende Streifen nackten, glattgetretenen Bodens bot ihr müheloses Ausschreiten, eine verlässliche Führung und – hier wurde es nun ganz sonderbar – Gesellschaft. Schließlich hatte es vieler Füße bedurft, um diesen Pfad zu treten. Und nun waren es ihre, die dieses Gemeinschaftswerk fortführten. So wie die sichtbare schmale Schneise durch den Urwald ihr Vorankommen beschleunigte und vereinfachte, so fühlte sie sich durch die Anwesenheit anderer Menschen – vor ihr und nach ihr – nicht mehr allein. Außerdem hatte sie nun – wo sie aus dem direkten Gewirr der Pflanzen befreit war – endlich Muße, sich den Wald anzusehen, durch den sie sich bewegte.

Es waren hauptsächlich Eichen, die hier wuchsen, als Sprösslinge mussten sie gemeinsam in Konkurrenz um das Sonnenlicht in die Höhe geschossen sein. Die Stämme waren gleich hoch und dick, das Astwerk setzte erst weit oben an. Die Kronen schlossen sich zu einer dichten Decke zusammen, mit sonderbaren Lichträndern, so als vermieden es alle Bäume, einander im Himmel zu berühren. Zwischen den Eichen standen Ahornbäume und an einigen Stellen hatten sich Holunderbüsche in eine Pfütze aus Licht gedrängt, ihre weißen Dolden jetzt im warmen Nachmittagslicht umschwärmt von kleinen Insekten. In Kniehöhe neigten sich krautige Pflanzen in Ragins Weg. Brennnesseln, mit denen sie in der Nähe der Station bereits Bekanntschaft geschlossen hatte, mied sie. Doch es wuchsen auch Gewächse mit Doldenköpfen auf hohen, kräftigen Stängeln, die dunkelgrüne, gezackte Blätter trugen und die ein oder andere gelbe Blüte zur Krönung. Am Rand wogten rosafarbene, einfach gestaltete Blumen über niedrigem Kraut. In den Sonnenstrahlen, die kreuz und quer durch die Kronen herausgefiltert wurden, summten Insekten: eilig ihres Weges brummende Hummeln, Schwebfliegen, die mitten in der Luft innehielten, bevor sie zum nächsten Punkt ihres Weges sprangen.

Natur – so stellte Ragin fest – war viel schöner, wenn man nicht ausweglos mitten in ihr steckte.

Wer auch immer den Rucksack geplant hatte, hatte es versäumt, einen Sitz für eine fußwunde Katze zu konstruieren. Nach einer Stunde befreiten Gehens auf dem Pfad hatte Alice laut miaut. Ragin hatte sich umgedreht und die Katze angeschaut, die wiederum sie anblickte. Und dann hatte die Katze sich im Laub ausgestreckt.

Klar. Für solche Märsche war eine Katze nicht geschaffen und Alice fehlten auch die Augments, die Ragins körperliche Leistung unterstützten und steigerten. Mit ein paar Bröckchen getrockneten Proteinen belohnte Ragin die Katze und sich selbst, setzte sich mitten auf den Pfad und dachte nach. Sie öffnete den Rucksack in der Hoffnung auf eine Eingebung und sah unter dem Kochgeschirr und den Beuteln mit Nahrungsmitteln das Muster von Shrees Kissenbezug hervorblitzen. Die vielfältigen Befestigungsmöglichkeiten am Rucksack unterstützten ihre Idee und schließlich baumelte an der Außenseite eine farbenfrohe Katzenhängematte.

Alice schien wirklich müde zu sein. Als Ragin sie hochhob, sah sie auch, dass eine der Pfoten blutete und bei einer anderen Pfote die samtige Haut aufgeraut war. Die Katze wand sich zwar kurz, als Ragin sie in den Kissenbezug hineinsinken ließ, aber dann akzeptierte sie ihren neuen Passagiersitz. Vorsichtig hob Ragin den Rucksack hoch und schwang ihn auf ihren Rücken. Die drei oder vier zusätzlichen Kilo machten sich deutlicher bemerkbar als gedacht, aber immerhin konnte sie Alice so weiterhin mitnehmen und das war das Wichtigste.

Als das Tageslicht schwand, war Ragin froh, dass sie aufhören durfte zu gehen. Ihr Nacken und ihre Schultern schmerzten, der Rücken unter dem Rucksack war klebrig vor Schweiß und ihre Fußgewölbe beklagten sich darüber, dass die Schuhe ihnen nicht die richtige Unterstützung gaben. Es war höchste Zeit, einen Rastplatz für die Nacht zu finden.

Wasser hatte sie genug, also suchte sie nur nach einem ebenen Plätzchen mit wenig Bewuchs, weit genug vom Pfad entfernt, dass sie andere Wanderer hören würde, bevor diese mitten im Zelt standen. Bei einem geeigneten Platz hievte sie den Rucksack vom Rücken. Alice wartete kaum, bis der Kissenbezug den Boden berührte, bevor sie heraussprang, frisch wie der junge Morgen. Sie schaute die müde Menschenfrau an und strich ihr um die Beine, bevor sie sich auf Erkundungstour begab. Kein Brei für Alice, die hatte Appetit auf etwas anderes. Das hatte Ragin auch, wie sie feststellte, als sie vor ihrem kleinen Lagerfeuer saß und das Wasser heiß zu werden begann. Sie kramte die Vorräte im Rucksack durch, die natürlich mehr den Anforderungen an Effizienz als denen verwöhnter Gaumen genügten. Es gab noch einen Beutel mit Streifen getrockneten Obstes, aber die anderen Behälter enthielten Pulver in unterschiedlichen Pastelltönen. Schon nach der Hälfte ihrer Portion blieb der Brei Ragin im Gaumen stecken und sie brauchte viel Wasser zur Unterstützung, um sich halbwegs satt zu essen. Vielleicht würde es helfen, wenn sie mit der Zubereitung variierte. Morgen zum Frühstück könnte es dann Brei Pfannkuchen mit Obststreifen geben.

Ragin war so müde, sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so erledigt gefühlt zu haben. Während ihre Muskeln sich schwer anfühlten und nach Ruhe schrien, war ihr Geist noch im Dauerlauf, ohne jedoch wirklich etwas Bedenkenswertes dabei zu verarbeiten. Es war als ob ihre Wahrnehmung, die nun stundenlang von einer Seite des Pfads zur anderen, zu ihren Füßen, zu den Wipfeln über ihr und wieder von der einen Seite zur anderen gependelt war, einfach nicht damit aufhören konnte, auch wenn die Szenerie nicht mehr wechselte.

Sie saß einfach nur da, ohne etwas zu tun, ohne zu denken, bis das Feuerchen ausgebrannt war und sie ins Zelt kriechen konnte. Ihr Schlaf kam rasch und war tief und traumlos, tiefer noch, als endlich kalte Katzentatzen sich an ihrer Haut wärmten.

Der Morgen begann, noch ehe es richtig hell war, mit einem Vogelkonzert. Rund um sie herum gaben sehr viele Kehlen sehr kleiner Tiere ihr Bestes und die Lautstärke dieser Kakophonie war erstaunlich. Ragin war noch nicht so weit, drehte sich auf die andere Seite und versuchte, den Lärm zu ignorieren und einfach weiterzuschlafen. Alice jedoch schabte mit der Pfote an dem Reißverschluss und wollte rausgelassen werden.

»Es wird Zeit, dass du mal selber lernst, wie das geht«, brummelte Ragin, als sie sich aufsetzte, um die Katze rauszulassen. Diese erste Bewegung enthüllte eine unangenehme Überraschung. Ihr ganzer Körper war steif und sträubte sich dagegen, seine Stellung zu verändern. Stöhnend ließ sich Ragin zurücksinken, nachdem sie die Öffnung hinter der durchschlüpfenden Katzenschwanzspitze wieder verschlossen hatte. Offenbar war es ihr trotz vieler Trainingsstunden in ihrem früheren Leben bisher nie gelungen, sich wirklich anzustrengen, denn eine derartige Nachwirkung einer sportlichen Herausforderung hatte sie noch nie gespürt. Dabei war sie doch einfach nur ein paar Stunden gegangen. Und heute würden es noch ein paar mehr Stunden werden, schließlich hatte sie den ganzen Tag vor sich und mit ihm so viel Strecke, wie sie nur machen konnte. Am Ende des nächsten Tages wollte sie die Siedlung von Tamas’ Auserwählter erreichen. Im Moment vermutete sie, dass sie dabei mindestens ein bisschen humpeln würde.

Das mit dem Humpeln hatte sie schon am Abend erreicht. Die Schuhe, die sie vor dem Aufbruch aus ihrem Spind in der Station genommen hatte, waren fast ungetragen gewesen. Inzwischen wusste sie auch wieder, warum. Sie hatte sie bei einem ihrer Erkundungszüge in einer entvölkerten Stadt gefunden und mitgenommen. Nach dem ersten Gang mit ihnen – damals durch den zugefrorenen Wald um die Station – hatte sie festgestellt, dass die Schuhe an mehreren Stellen nicht ganz mit der Form ihrer Füße einverstanden waren.

Diesen Konflikt hatten nun nach intensivem Wandern eindeutig die Schuhe für sich entschieden. Ihre Füße schmerzten an den Stellen, an denen die Haut unter dem dauernden Scheuern Blasen gebildet hatte und Ragin war verwundert darüber, wie stur sie trotz der Schmerzen einen Schritt vor den anderen setzte.

In ihrem Med-Kit, das eine riesige Auswahl von Hilfsmitteln für alle möglichen medizinischen Bedarfe auswies, hatte nur eine lächerlich kleine Anzahl an Pflastern Platz gefunden. Die hob sie sich lieber für ernstere Verletzungen auf und so bluteten die geschundenen Stellen das eine ihrer beiden Paar Socken durch.

Sie hoffte sehr, dass Roger für diesen Einsatz die angemessene Dankbarkeit zeigen würde. Auch wenn sie bezweifelte, dass er insgesamt zur wertschätzenden Art gehörte. Aber inzwischen reichte allein die Hoffnung aus, in seiner Station würden noch die Kombinatoren funktionieren, um sich bereits in der Fantasie entlohnt zu fühlen. Die Idee mit den Obstpfannkuchen hatte eine minimale Verbesserung im Geschmack mit einer maximalen Erhöhung des Aufwands verbunden. Die Eintönigkeit der Nahrung könnte zu einem Problem werden.

Keines, mit dem Alice sich befassen würde. Der schmeckte der Brei als Ergänzung zu dem, was sie bei ihrem nächtlichen Ausflug gefunden hatte, ganz ausgezeichnet. Neidisch blickte Ragin auf die rosafarbene Zunge, mit der die Katze sich die Mundwinkel ausleckte, bevor sie den Zustand ihrer Pfoten checkte. Alice war nicht sehr scharf darauf, sich den aufgerissenen Ballen mit Alkohol betupfen zu lassen, also beließ Ragin es dabei, das Desinfektionsmittel aufzusprühen und das Beste zu hoffen. Immerhin hatte die Katze die verletzten Pfoten heute Morgen mit Hingabe gereinigt, während Ragin ihre Zeit mit kulinarischen Experimenten vergeudet hatte.

Die drei Kilo Katzengewicht waren am Morgen durch die aufgebrauchten Wasservorräte ausgeglichen und doch war Ragin sehr froh, als sie am Nachmittag wieder einem Bach begegnete, dessen Wasser sie in ihre Flaschen filterte. Es war warm geworden und Ragin schwitzte – nicht einmal der Wald bot noch eine ausreichende Kühle. Die Luft staute sich darin zu einem schweren Gemisch, durch das selbst die Insekten träge hindurchbrummten. Den Tiefpunkt des Tages erreichte Ragin, als der Nadelwald durch einen Bruchwald abgelöst wurde. Die zwischen den Stämmen glitzernden Wasserflächen waren eine Brutstätte von Mücken, die sich in Scharen auf die Wanderin stürzten. Schwitzend und klebrig versuchte sie zunächst einfach, die Zähne zusammenzubeißen und das verseuchte Gebiet möglichst schnell hinter sich zu lassen. Das erwies sich jedoch als ausgedehnt und schließlich durchkramte Ragin ihren Rucksack mit der einen Hand, während sie mit der anderen auf landende Blutsauger klatschte. In einer versteckten Innentasche fand sie ein kleines Sprühfläschchen, auf dem vielsagend eine Stechmücke abgebildet war und Ragin besprühte sich großzügig damit. Mit recht gutem Erfolg. Statt der vorher hundert Mücken, die gleichzeitig auf Ragin landen wollten, reduzierte sich die Zahl auf drei oder vier. Sich auf jede Stelle schlagend, an der sie eine Mücke zum Stich ansetzen sah, ging sie schließlich doch einfach weiter.

Alles in allem hatte sie verbissen dem Pfad fünfundzwanzig Kilometer abgerungen und war kurz davor, einfach bei der nächsten freien Stelle am Wegesrand niederzusinken, als sie Stimmen hörte.

Wie vom Schlag getroffen blieb sie stehen. Während sie die Ohren spitzte, um mehr über die Sprechenden zu erfahren, stellte sie fest, dass sie am liebsten umkehren würde. Irgendwie hatte sie es versäumt, sich auf die Begegnung mit anderen Menschen vorzubereiten. Und auch wenn sie sich generell für Sozialkontakte gewappnet fühlte – jetzt war sie einfach viel zu müde dazu, um allein in eine Gruppe starrender, urteilender Personen zu treten, deren Ehrlichkeit sie nicht abschätzen konnte. Ein Nachtlager in unbekannter Gesellschaft aufzuschlagen, kam nicht in Frage. Also drehte sie sich um und machte sich daran, den Weg wieder so weit zurückzugehen, bis sie außer Hörweite war und ungestört in ihr Zelt kriechen konnte.

Doch wurde ihr Plan vereitelt. Mit langen Schritten kam ihr aus der Richtung, aus der sie gekommen war, ein Mann entgegen. Seine Haut war dunkler als nur sonnengebräunt, er hatte schwarze Haare und einen schwarzen Bart von ein paar Tagen. Auch seine Kleidung war dunkel, Jacke und Hose in gedeckten Braun- und Grautönen. Als er sie erblickte, brach er in ein gewinnendes Lächeln aus und näherkommend streckte er ihr seine Hände entgegen.

Ragin blieb nichts übrig, als ihre Schultern zu straffen, obwohl sie am liebsten weinend zusammengesunken wäre. Um sich ihre Schwäche nicht anmerken zu lassen, strengte sie sich an, ebenfalls ein Lächeln auf ihr Gesicht zu packen und mit freundlichem Blick die entgegengestreckten Hände in ihre zu nehmen. Sie waren Arbeit gewöhnt, diese Hände, harte Schwielen in den Handflächen kratzten an Ragins weicher Haut. Der Griff war der eines Nussknackers, jene unbewusste Stärke, die man in Herzlichkeit übersetzen konnte, wenn man nicht direkt in die Knie ging.

Aber etwas aus der ansteckenden Energie seines Lächelns sprang auf Ragin über und sie hielt seinem Griff stand. Er strahlte weiter und sagte:

»Mein Name ist Ergon. Ich hatte schon befürchtet, heute allein am Lagerfeuer zu sitzen, aber es sieht so aus, als gäbe es etwas zu erzählen an diesem Abend.«

Damit ließ er ihre Hand los, nicht jedoch den erwartungsvollen Blick.

»Ich bin Ragin und auf der Suche nach einem ruhigen Nachtlager.« Sie hatte es sich nicht verkneifen können und wunderte sich, was er aus der Tatsache machte, dass sie ihm entgegengekommen war, anstatt zu der bevölkerten Stelle zu gehen, auf die er bald stoßen würde. Doch schienen ihn ganz andere Gedanken zu beschäftigen. Bei der Nennung ihres Namens hörten seine Augen auf, über ihre industriell hergestellte Kleidung und Ausrüstung zu gleiten und verharrten kurz an der Stelle, hinter der ihr b2i lag. Ragin fragte sich, ob unter den kurzen Haaren noch die feinen Narben zu sehen waren, die vom Einsetzen dieser Technik von vor fünfhundert Jahren geblieben waren.

Doch er sagte nichts weiter. Stattdessen ging er einen Schritt in die Richtung, aus der sie ihm entgegengekommen war.

»Ich weiß zufällig, dass in wenigen hundert Metern ein Rastplatz auf müde Wanderinnen wartet. Wenn ich mich nicht irre, könnte es dort angenehme Gesellschaft geben und lohnenswerten Tausch. Wobei es in dieser Richtung«, er wies mit dem Kopf hinter sich, »wenig mehr als Mücken zum Austausch von Gute- Nacht-Geschichten gibt.«

Die Erwähnung der Mücken gab den Ausschlag. Ragin war bewusst, wie widersinnig es wirken würde, wenn sie sich der Gesellschaft verweigerte. Also schob sie ihre Müdigkeit zur Seite, zapfte in ihrem Inneren die eiserne Ration an Zusatzenergie an und versuchte sich an einem gut gelaunten Lachen.

»Das klingt nach einer einfachen Wahl«, sagte sie und ließ sich von dem Schwung ihres neuen Bekannten in die alte Richtung tragen. Bevor zwischen ihnen ein Gespräch in Gang kommen konnte, hörten sie die fernen Ausläufer von Gelächter. Ergons Augenbrauen hoben sich erfreut.

»Das verspricht, ein wirklich interessanter Abend zu werden.« Damit beschleunigte er sein Tempo und zwang Ragin, aus ihren wehen Füßen das Letzte herauszuholen. Dennoch war sie ein paar Schritte hinter ihm, als er vom Weg abbog und auf die Lichtung trat, die schon von dem würzigen Rauch eines Holzfeuers erfüllt war – und auch von anderen Düften, die in Ragins Mund das Wasser zusammenlaufen ließen.

Einem Augenblick des Schweigens folgte ein großes Hallo. Ragin ließ Ergon den großen Auftritt und erfasste die Szenerie aus seinem Schatten heraus. Hinter und neben dem Feuer hatten sich vier Personen erhoben und reckten sich zum Handschlag mit dem Neuankömmling. Zwei Frauen, eine davon groß und mollig mit einer grauen Mähne, die sehr gut mit ihrer hellgrauen Tunika harmonierte. Die andere klein, mit einem feinen, spitzen Gesichtchen, das aus einer farbenprächtigen Bluse hervorschaute. Dann noch zwei junge Männer, die Ragin an Tamas erinnerten. Beide überragten Ergon um eine halbe Kopflänge, der eine mit rotem Gesicht und weizenblondem Schopf, der andere braun mit glänzend schwarzen Haaren. Sie trugen sandfarbene Hemden mit weiten Halsöffnungen, die einen Teil der tätowierten Signets sehen ließen, die Haut um die jüngsten noch gerötet und leicht angeschwollen.

Nachdem Ergon die Runde gemacht hatte, blickte er hinter sich, trat einen Schritt zur Seite und winkte Ragin in den Kreis herein.

»Und das hier ist Ragin«, sagte er einfach. Das Lächeln, das in die Gesichter hatte klettern wollen, machte einem Ausdruck von Erstaunen Platz.

»Ragin?«, kam es von den Lippen eines der jungen Männer. »Doch nicht etwa, ›die‹ …«

Ragin atmete tief ein, um das Unbehagen loszuwerden, das durch die ehrfürchtige Stille entstanden war. Dann sagte sie mit einer betont leichtherzigen Stimme:

»Ich kenne nur eine. Kann sein, dass ich ein bisschen länger geschlafen habe, als ihr alle zusammen …«

Die verwunderte Anspannung löste sich in leisem Lachen auf und dann sah Ragin sich von lächelnden Gesichtern umringt. Sie schüttelte die entgegengereckten Hände, hörte die Namen ihrer neuen Bekannten und vergaß sie sofort wieder. Dankbar ließ sie sich danach auf einem der liegenden Baumstämme nieder, während die anderen nun Ergon nach seinem Woher und Wohin ausfragten und ihr nur kurze interessierte Seitenblicke zuwarfen. Schließlich setzte sich auch Ergon, öffnete seinen riesigen Rucksack – ein handgefertigtes Modell im Gegensatz zu Ragins Überbleibsel aus einer hochtechnisierten Zeit – und kramte einen Beutel und einen einfachen Holzteller hervor. Aus dem Beutel schüttelte er ein paar braune Plätzchen auf den Teller und stellte diesen auf den Boden. Ragin bemerkte, dass jeder in der kleinen Gruppe eine Speise vor sich stehen hatte. Sah so aus, als würde man sich bei der Begegnung gegenseitig Mitgebrachtes anbieten.

Sie suchte ihre Schale aus dem Rucksack, füllte sie mit Wasser und stellte sie auf das bereits aufgelegte Gitter, auf dem ein paar Pilze und irgendetwas Undefinierbares schmorten. Während das Wasser sich erwärmte, wählte sie einen der Proteinpulverbeutel aus – den, dessen Aroma in ihrer Erinnerung die geringste Abscheu hervorrief. Als Dampf aus der Schale hervorstieg, nahm sie diese vom Feuer, maß ein paar Löffel Pulver hinein und rührte um. Dann schüttelte sie aus dem Beutel mit dem getrockneten Obst eine kleine Portion in ihren Becher und stellte diesen neben die Schale.

Während sie ihren Beitrag zubereitet hatte, war es still geworden und als sie aufschaute, blickte sie in ehrfürchtige und neugierige Gesichter. Das erste entspannte Lächeln bahnte sich den Weg in ihr Gesicht. Doch dann bewegte sich etwas im Schatten hinter der zarten Frau. Ragins Herz blieb fast stehen, als sich aus dem Hintergrund ein Monster erhob, die Karikatur eines Menschen mit lang-zotteligem roten Fell, in das farbige Bänder eingewoben waren, einem monströs breiten Gesicht und überlangen Armen. Ein Arm streckte sich ihr nun entgegen und zeigte eine grotesk geformte Hand mit riesigen Fingern, jeder länger als ihre ganze Hand – bis auf den Daumen, der absurd kurz wirkte, obwohl er in etwa so lang war wie Ragins. Tiefliegende dunkle Augen blickten sie auffordernd an.

Die zarte Frau sah Ragins erschrockene Miene und sagte:

»Ich glaube, Horst ist an dem Obst in deinem Becher interessiert. Ob du ihm ein Stückchen davon geben könntest?«

Ragin nahm den Becher und hielt ihn dem Monster entgegen. Die langen Finger umschlossen das kleine Gefäß, als Horst es ergriff und es nah an sein Gesicht führte. Doch statt sich den Inhalt einfach in den lippenlosen Mund zu kippen, fischte das Geschöpf ein paar der Obstbröckchen mit den Spitzen von Zeigefinger und Mittelfinger heraus und reichte das Töpfchen an seine Fürsprecherin weiter. Ragin beobachtete gebannt, wie eines der Obststückchen erst berochen und dann in den Mund gesteckt wurde, während der Becher in der Runde wanderte, bei jeder Person um ein bescheidenes Stückchen erleichtert. Als der Becher einmal die Runde gemacht hatte, streckte das Monster erneut seine Hand danach aus. Dieses Mal schüttete das Wesen den Rest des Inhalts in seine schwarz-ledrige Handfläche, bevor es den Behälter schließlich an Ragin zurückgab. Mit der leeren Hand vollführte es eine Reihe feiner Gesten und seine Sprecherin übersetzte:

»Horst möchte wissen, ob das Obst aus dem großen Vorher ist und wie es heißt.«

»Äh.« Die Komplexität der Situation überforderte Ragin. Sie kramte den Obstbehälter aus dem Rucksack und las von dem Schild ab: »Mango, getrocknet«. Dann ließ sie die Tüte wieder im Rucksack versinken und schaute ratlos.

»Was ist Horst für ein Wesen?«, fragte sie und wurde sich im selben Moment bewusst, wie unhöflich sie war.

Horst hatte gerade ein weiteres Stückchen Obst zwischen den Lippen und ließ Ragin nicht aus den Augen, während seine Sprecherin lachte.

»Horst ist ein Orang-Utan. Ein Menschenaffe, ein Cousin sozusagen.«

Ragin kramte in ihrem Gedächtnis. Stimmt, es hatte diese Wesen gegeben, sie erinnerte sich, dass sie darüber von ihrer Lehrerin erfahren hatte. Einmal hatten sie auch einen Zoo besucht, in dem solche menschenähnlichen Tiere gefangen gewesen waren. Es gab noch andere, aber die Namen fielen ihr nicht ein. Doch etwas stimmte nicht.

»Lebten Orang-Utans nicht ganz woanders? Im Dschungel?«

Wieder lachte die Sprecherin und Horst machte eine kringelnde Geste mit seinem Zeigefinger.

»Ja, das stimmt. Aber Horst ist ein Nachkomme aus einem Forschungsprojekt.«

»Und er kann nicht sprechen?« Ragin kam sich sehr dumm vor, weil sie nicht wusste, wie sie sich dem Wesen gegenüber verhalten sollte, das so tierische Züge hatte, jedoch so kluge Augen.

»Nein, er kann keine menschlichen Laute bilden. Daher verständigt er sich in einer Finger- und Gestensprache, die für stumme Menschen entwickelt wurde. Ich begleite ihn auf seinen Reisen, um für ihn zu übersetzen. Was hast du denn da in deinem Topf?«

Ragin beschloss, nicht weiter zu bohren. Sie verstand, dass dies in dieser Runde unhöflich war. Schließlich war sie auch froh, nicht weiter über ihre Herkunft gelöchert zu werden. Sie hoffte, sie würde noch eine Gelegenheit finden, mehr über dieses sonderbare Wesen zu erfahren.

»Das ist ein Brei mit allen notwendigen Nährstoffen, vor allem Proteine. Möchtest du probieren?«

Die zierliche Frau nickte enthusiastisch und nachdem sie Ragins Topf entgegengenommen hatte, machten auch die anderen Behälter ihre Runde und bald hatte jeder einen Teller oder ein Brettchen vollgehäuft mit den Kostproben, die sie zusammengetragen hatten. Als sie etwas von den schmorenden Pilzen nahm, gestikulierte Horst aus dem Hintergrund. Ragin begegnete seinem Blick und fragte:

»Sind die von dir?«

Der Orang-Utan knüllte seine riesigen Finger zu einer Faust zusammen, die er in der Luft hielt und dreimal absenkte, als klopfe er an eine unsichtbare Tür.

»Das heißt ›ja‹«, sagte die Übersetzerin.

Dann holte Horst mit der flachen Hand etwas aus und führte die Hand, Handfläche nach oben, in einem leichten Bogen zu seinem immensen Brustkorb.

»Gern geschehen.«

Ragin lachte.

»Ich habe noch nicht probiert.«

Eine Faust, mit der Innenfläche nach oben, der Daumen abgespreizt, Zeige- und Mittelfinger streckten und beugten sich dreimal, als würde Horst Ragin zu sich locken.

»Er lacht«, sagte die zierliche Frau.

Die anderen hatten – ebenfalls mit ihren vollen Tellern – höflich gewartet, bis diese Konversation beendet war. Schließlich sagte Ergon:

»Ein Segen liegt auf guter Gemeinschaft. Glück liegt im Teilen. Lasst uns einander stärken.«

Die anderen murmelten etwas wie »So möge es sein, heute und für immer« und dann gab es kein Halten mehr. Jeder konzentrierte sich auf seinen Teller und bald war die Lichtung erfüllt mit den Lauten, die Menschen und ein Orang-Utan bei Wohlgeschmack von sich geben.

Ragin war selig, der Eintönigkeit bei der Nahrungsaufnahme entkommen zu sein. Die Bissen und Bröckchen auf ihrem Teller konnten unterschiedlicher nicht sein und ohne sicher bestimmen zu können, welche Substanzen sie sich gerade einverleibte, versank sie in der Vielfalt und der Abwechslung. Jeder hatte nur ein bisschen beigetragen und doch schien es so, als würden alle mühelos davon gesättigt werden. Nur an eine war noch nicht gedacht worden.

»Miau!« Alice beherrschte den großen Auftritt. Mit weit geöffneten grünen Augen erschien sie lautlos im Licht des Lagerfeuers und erschreckte erst einmal alle.

Einer von den jungen Männern ließ sogar seinen Teller klappernd fallen. Ragin streckte ihre Hand aus und kraulte die Stelle zwischen den Ohren der Katze, bis ihr lautes Schnurren in der gespannten Stille dröhnte.

»Das ist Alice«, sagte Ragin. »Eine Katze. Sie begleitet mich.« »Miau!«

»Und ich glaube, sie hätte auch gern etwas zu essen«, sagte Ragin und allgemeines Gelächter brach den Bann. Es fanden sich noch ein paar Bröckchen getrocknetes Fleisch, die Alice aus Ragins leerer Schale aß. Dann spazierte die Katze in aller Ruhe an den Sitzenden vorbei, schnupperte hier an einem Knie, dort an einem Rucksack, bis sie schließlich bei dem Orang-Utan angekommen war. Der hielt ihr seine Hand hin, die Innenfläche nach oben. Alice schnupperte aufmerksam daran und rieb dann die Seite ihres Kopfes daran. Schließlich ließ sie sich nieder, an das untergeschlagene Bein mit dem rotbraunen Fell gelegt und fing an, sich zu putzen.

Der Orang-Utan blickte seine Begleiterin an und machte zweimal mit der Hand neben seinem Mund eine Geste, als würde er zwischen Daumen und Zeigefinger ein Schnurrhaar gerade ziehen.

»Genau«, lachte die Frau. »Eine Katze.«

»Ja, ja, sehr interessant.« Ergon nickte in die Runde. »Aber ich habe eine Information für euch, die vielleicht noch interessanter ist. Seid ihr alle in Richtung Süden unterwegs?«

Alle Köpfe nickten.

»Die Brücke über den Main ist wohl kurz davor, auseinanderzufallen. Darum wollte ich euch fragen, was eure Kenntnisse sind. Vielleicht können wir sie zusammen reparieren. Ich bin Erbauer und mit Horst und den beiden jungen Stieren hier, hätten wir schon mal jede Menge Körperkraft zusammen. Nichts für ungut.« Er nickte in Richtung der Frauen. Ragin winkte ebenso ab wie die zierliche Begleiterin des Affen; der mollige Grauschopf lachte nur.

»Ich arbeite ohnehin lieber mit dem Kopf.«

»Entschuldige Anka, du hast natürlich recht.« Ergon lachte. »Wir brauchen auf jeden Fall mehr als Muskeln. Ich war schon lange nicht mehr hier und habe vergessen, welche Materialien in der Brücke verbaut sind. Wir müssten uns morgen vor Ort ein Bild machen. Ich hatte nur das Gefühl, dass wir unter uns eine interessante Kombination von Fähigkeiten haben könnten. Seid ihr dabei oder habt ihr es eilig?«

Die jungen Männer zuckten mit den Schultern, sahen einander an und blickten dann in die Runde.

»Wir haben Zeit.«

»Ich bin auch dabei«, sagte die große Frau. »Mein letzter Beitrag für den Weg ist schon ein Weilchen her.«

»Sehr gut!« Ergon nickte. »Wie sieht es mit euch aus?«

Er blickte an Ragin vorbei, wo Horst und seine Begleiterin die Finger flattern ließen.

»Könnte interessant werden«, sagte die zierliche Frau und Horst pochte wieder mit der Faust an eine unsichtbare Tür.

Ragin fühlte sich unsicher. In der kurzen Zeit, die sie in dieser zusammengewürfelten Runde verbracht hatte, war ihr Eindruck gestiegen, dass es so viele Dinge gab, die sie nicht verstand, nicht kannte und sie fühlte sich so ahnungslos wie zu dem Zeitpunkt, als sie gerade erwacht war. Aber sie wollte auch nicht die Einzige sein, die unbekümmert über eine Brücke spazierte, die eigentlich dringend ein paar helfende Hände brauchte.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, ob ich was beitragen kann, aber klar, ich bin dabei.« Auf diesen Tag oder zwei käme es nun auch nicht mehr an, bei der gigantischen Verspätung, mit der sie bei Roger antanzen würde. Außerdem könnten ihre Füße eine kleine Pause vom Marschieren gebrauchen.

»Dann ist das geklärt«, sagte Ergon und strahlte. »Und jetzt möchte ich eine schöne Geschichte hören, bevor ich mich schlafen lege. Wer hat was zu bieten?«

Auch wenn alle Augenpaare verstohlen zu Ragin wanderten, beschäftigte die sich damit, voller Konzentration ihre Schuhe aufzuschnüren, als hätte sie nichts gehört und schließlich nickte die große Frau und begann zu erzählen.

Kapitel 3

Die Brücke

Als die Dämmerung sich in den Wald stahl, gab Ragin ihr Ringen um Schlaf auf. Gefühlt war sie alle zwei Minuten wieder wach geworden. Einer der jungen Männer sprach im Schlaf, Ergon schnarchte mit enervierender Regellosigkeit und irgendjemandes Atem pfiff ganz leise, aber leider laut genug, um hörbar zu sein, wenn sonst alles still war.

Weil die anderen sicher gewesen waren, es würde in der Nacht nicht regnen, hatte Ragin darauf verzichtet, als einzige ein Zelt aufzustellen. Vielleicht hätte sie dann mehr Ruhe bekommen, besonders, wenn sie sich dazu ein paar Schritte vom Feuer entfernt hätte. Aber es wäre ihr unhöflich vorgekommen, sich zu separieren, wenn alle anderen sich in Sicht- und Hörweite voneinander ausstreckten. Wie hatte sie das nur damals in der Station ausgehalten? Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, in den Schlafräumen so unruhig geschlafen zu haben. Entweder hatte sie es verdrängt, oder sie war einfach daran gewöhnt gewesen. Einen Moment lang erinnerte sie sich an das Gefühl, eng umschlungen mit Shree einzuschlummern. Da war jedes Erwachen in der Nacht ein Geschenk der Liebe gewesen, ein Bewusstwerden des Glücks, von dem sie wussten, dass es nicht von Dauer sein würde.