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Der promovierte Physiker und Bestsellerautor Paolo Giordano beschreibt seine Erfahrungen in Italien, aber was er sagt, gilt für alle: Die Normalität ist ausgesetzt, und wir wissen nicht, wie unsere Gesellschaft in nächster Zukunft aussehen wird. Nutzen wir den Ausnahmezustand, um über unseren Lebensstil nachzudenken. Jetzt ist die Zeit der Anomalie. Und aus ihr erwächst die Chance für Veränderung. "Ich habe keine Angst davor, zu erkranken. Wovor dann? Vor all dem, was die Ansteckung ändern kann. Davor, zu entdecken, dass das Gerüst der Zivilisation, so wie ich sie kenne, ein Kartenhaus ist." Paolo Giordano
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Seitenzahl: 44
Paolo Giordano
In Zeiten der Ansteckung
Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Der promovierte Physiker und Bestsellerautor Paolo Giordano beschreibt das Dilemma der Corona-Epidemie in Italien, aber was er sagt, gilt auch für Deutschland, Österreich, die Schweiz und alle Länder, in denen sich das neue Virus verbreitet.
Wir gehören einer Generation an, die wie keine andere an Wechsel und Reisen gewöhnt ist. Doch wenn es um Ansteckung geht, ist unsere Effizienz auch ein Fluch. Denn die Viren sind schneller als wir.
Wie gestalten wir den neuen Alltag? Die Normalität ist ausgesetzt, und wir wissen nicht, wie lange. Nutzen wir die Zeit des Ausnahmezustandes, um über unseren Lebensstil nachzudenken. Vieles, was gewiss war, ist jetzt ungewiss, aber eines ist klar: Diese Pandemie wird uns und unser Leben verändern.
«Dies ist ein unerwartetes Buch in unerwarteten Zeiten. Seit die Ansteckung begann, hatte ich das Bedürfnis zu schreiben. Wir Autoren schreiben nicht, um Dinge zu lösen, aber wir helfen den Menschen dabei nachzudenken. Und in Zeiten der Ansteckung ist es Teil der Lösung, klar zu denken.»
Paolo Giordano
Paolo Giordano wurde 1982 in Turin geboren, wo er Physik studierte und mit einer Promotion in Theoretischer Physik abschloss. Danach arbeitete er als profilierter Journalist. Sein erster Roman «Die Einsamkeit der Primzahlen» war ein internationaler Bestseller. Er wurde in über vierzig Sprachen übersetzt und verfilmt. Zuletzt erschien sein vielbeachteter Roman «Den Himmel stürmen». Giordano erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den angesehensten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. «In Zeiten der Ansteckung» erscheint in zwanzig Ländern. Paolo Giordano lebt in Rom.
Barbara Kleiner, geboren 1952. Übersetzerin u.a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Davide Longo; ausgezeichnet 2007 mit dem Übersetzerpreis der Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen und mit dem Deutsch–Italienischen Übersetzerpreis 2011.
Die Coronavirus-Epidemie zeichnet sich als die bedeutendste medizinische Notfallsituation unserer Zeit ab. Nicht die erste, nicht die letzte und vielleicht nicht einmal die grauenerregendste. Wahrscheinlich wird sie am Ende nicht mehr Opfer gefordert haben als viele andere Epidemien, aber in den drei Monaten seit ihrem Auftreten hat sie sich schon einen Primat gesichert: Sars-Cov-2 ist das erste neuartige Virus, das so rasant globale Verbreitung findet. Ähnliche Viren wie sein Vorläufer Sars-Cov konnten sehr schnell ausgeschaltet werden. Andere wiederum, wie das HI-Virus, wirkten jahrelang im Verborgenen. Sars-Cov-2 war da verwegener. Sein dreistes Auftreten enthüllt uns etwas, was wir wohl wussten, aber nur schwer ermessen konnten: die vielfältige Weise, in der wir miteinander verbunden sind, überall, sowie die Komplexität der Welt, in der wir leben, ihre sozialen, politischen und ökonomischen, aber auch interpersonellen und psychischen Gesetzmäßigkeiten.
Ich schreibe an einem der seltenen 29. Februare, einem Samstag in diesem Schaltjahr. Die Zahl der Ansteckungen hat weltweit 85000 überschritten, 80000 allein in China, die Zahl der Toten nähert sich 3000. Seit mindestens einem Monat begleitet diese merkwürdige Buchführung im Hintergrund meine Tage. Auch jetzt habe ich die interaktive Karte der Johns Hopkins University offen vor mir. Die Verbreitungsgebiete sind durch rote Kreise gekennzeichnet, die sich vor einem grauen Hintergrund abheben: Signalfarben, die mit mehr Bedacht hätten ausgewählt werden können. Aber man weiß, Viren sind rot, Notfallsituationen sind rot. China und Südostasien verschwinden unter einem einzigen roten Kreis, aber die ganze Welt ist pockennarbig, und der Ausschlag kann nur schlimmer werden.
Zur Überraschung vieler findet sich Italien in diesem beängstigenden Wettbewerb auf dem Siegerpodest. Doch das ist Zufall. Binnen weniger Tage, sogar von einem Moment auf den anderen könnten andere Länder schlimmer dastehen als wir. In dieser Krise verblasst der Ausdruck «in Italien», es gibt keine Grenzen mehr, keine Regionen und keine Viertel. Was wir durchleben, geht über Identität und kulturelle Bestimmungen hinaus. Die Ausbreitung des Virus ist ein Indikator dafür, wie global unsere Welt geworden ist, wie unentwirrbar vernetzt.
All das ist mir bewusst, und doch, wenn ich auf den roten Kreis über Italien schaue, kann ich nicht anders, ich bin beeindruckt, wie alle. Als Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie sind meine Termine für die nächsten Tage abgesagt worden, einige habe ich selbst verschoben. Ich habe mich in einem unerwarteten leeren Raum wiedergefunden. Diese Realität ist vielen gemeinsam: Wir durchleben eine Zeit der Suspendierung des Alltags, eine Unterbrechung des Rhythmus, wie manchmal in Songs, wenn das Schlagzeug verstummt und es wirkt, als würde die Musik angehalten. Schulen und Universitäten geschlossen, wenige Flugzeuge am Himmel, einsam hallende Schritte in den Museen, überall mehr Stille als normal.
Ich habe beschlossen, diese Leere mit Schreiben auszufüllen. Um die Vorahnungen in Schach zu halten und um einen Weg zu finden, über all dies genauer nachzudenken. Bisweilen kann Schreiben