Indien - Cora Lenz - E-Book

Indien E-Book

Cora Lenz

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Beschreibung

Erlebnisbericht. Geschichten über die Erfahrungen in Indien beim Aufbau eines Grundbildungsprojekts für die EU. Gepflogenheiten eines anderen Landes, Arm und Reich, Kastensystem und Kolonialerbe. Verständnis und Missverständnisse, Freundschaften und Intrigen, Widersprüche zwischen Anspruch und Realität in der Entwicklungszusammenarbeit.

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Die Autorin:

Cora Lenz, Studium der Volkswirtschaftslehre und Psychologie, war viele Jahre in der Entwicklungshilfe für Afrika und Asien tätig. Nach der Veröffentlichung ihrer autobiografischen Geschichten „Wie Abdrücke in feuchtem Sand“ und „Beziehungsschnitze“ erzählt sie jetzt von ihren Erfahrungen in Indien. Sie lebt heute mit ihrem Mann in Frankfurt am Main.

Für meine Kinder, die dabei waren, für meine Enkel, die davon erzählt bekommen, für Anne, die dieses Buch ausgelöst hat, für meinen Mann, der dieses Abenteuer ermöglichte, und für alle diejenigen, die sich für das Leben und die Arbeit in einem „Dritte-Welt“-Land interessieren.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das erste Jahr

Wie alles anfing

Der Vertrag

Hektik der Ausreise

Der Anfang in Delhi

Reise mit dem Staatssekretär

Das Büro

Susanne und Helena

Peter

Wiedersehen mit der Familie

Weihnachten in Goa

Das zweite Jahr

Das schöne Wohnhaus

Die andere Seite des schönen Hauses

Landlord und Landlady

Der Schicksalsort Shimla

Deutsche Schule in Delhi

Erster Besuch aus Brüssel und Supervisions-Missionen

Monsun in Manali

„National Expert“

Besuch beim Dalai Lama und einem Rajput

Elisabeth oder eine schwere Entscheidung

Ravi und Familie

Backwaters-Kerala und Rajasthan

Frauen in Indien

Das dritte Jahr

Zweiter Besuch aus Brüssel

Vertragsverlängerung

Das Taj Mahal und auf den Spuren von James Bond

Radeshs Blick

Inventur zur Abreise

Aus heutiger Sicht

Anhänge:

Pauls Bericht

Katjas Bericht

Andreas Highlights

Auszug aus Drèze und Sen: Indien und seine Widersprüche

Vorwort

Mitten in der Nacht haben sie mich überfallen: Erinnerungsbilder. Eins nach dem anderen. Wie ein Mosaik aus lange vergangenen Zeiten. Einzelne Teilchen waren gelegentlich aufgetaucht und beiläufig preisgegeben. Dann wieder in die Vergangenheits-Schublade zurückgelegt. Um 3:00 Uhr stand ich auf und füllte zwei Seiten mit Stichwörtern. Legte mich wieder hin. Ein neuer Schub kam. Um 4:30 Uhr füllte ich weitere anderthalb Seiten. Die Idee für dieses Buch war entstanden.

Am Abend vorher beim geselligen Abend des Schreibseminars in Würzburg hatte eine Kollegin von ihrem zweimonatigen Aufenthalt in Indien erzählt. Und gesagt:

- Aber Cora, du kennst dich doch aus in Indien, erzähl doch mal.

Ich hatte mich geweigert. Zu viel, zu vielfältig, zu schön und manchmal zwiespältig die Eindrücke und Empfindungen, um sie angemessen in Worten wieder zugeben. Und zu schmerzhaft durch das frühe Ende. Zwei Jahre Leben in einer anderen Kultur, die wir nicht verstanden, die uns berührte, teilweise entsetzte, die uns ohnmächtig fühlen ließ, nichts verändern zu können und uns die Erkenntnis vermittelte, wie gut wir es selbst hatten.

Am nächsten Morgen verkündete ich in der Seminarrunde, ich wolle jetzt Geschichten über meine Indienzeit schreiben.

Ein Damm war gebrochen. Mir wurde klar, dass ich 26 Jahre lang den unerwarteten Abbruch als Makel empfunden hatte, über den ich nicht sprechen wollte. Dass ich mir selbst immer noch nicht wirklich bewusst gemacht hatte, dass dieses Ende nichts mit mir und meiner Person zu tun hatte. Dass es jedem/jeder hätte passieren können und völlig unabhängig von meinen beruflichen Leistungen war.

Jetzt soll das Erlebte heraus. Die Schönheiten der Maharadscha-Paläste, der Landschaften im Süden und im Himalaya, die Klugheit und Intelligenz der hochgebildeten Arbeitskollegen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die unvorstellbar durchgängige Armut der Menschen auf den Straßen und auf dem Lande, die ethischen Vorstellungen vom Wert der Frauen und der hierarchischen Einordnung des Wertes eines Menschen nach seiner Zugehörigkeit zu einer Kaste. Eine gesellschaftliche Situation, die sich trotz der enormen wirtschaftlichen Entwicklung Indiens in den vergangenen Jahren nicht grundlegend geändert hat. Ein Spagat, der unsere Vorstellungskraft überfordert. Ein Spagat zwischen Verstand (so ist es nun einmal) und Gefühl (so darf es aber nicht sein), dessen Zusammenführung mir nicht gelingt. Er bleibt für mich unvereinbar. So kann ich mit diesen Geschichten nur beschreiben, was ich gesehen, erlebt und gefühlt habe. Einordnen kann ich mich nicht in diese andere Welt. Und doch war die Zeit dort wichtig für mich.

Die Namen der Personen in diesem Buch sind erfunden. Die erzählten Geschichten stammen aus meinen Erinnerungen, die nicht immer mit den tatsächlichen Geschehnissen übereinstimmen müssen.

Das erste Jahr

Wie alles anfing

Schön war es hier. Friedlich, fast so einsam wie damals in Botswana. Aber deutsch.

Seit Wochen hatte Andreas es immer wieder angesprochen. Ob er es wagen sollte? Heute war das Schlussdatum für eine Bewerbung in Indien. Er hatte erfahren, dass es nur wenige Interessenten gab. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Wir wollten wieder „Dritte-Welt“-Erfahrung auftanken. Die fünf Jahre in Botswana von 1973-1978 in den Planungsabteilungen verschiedener Ministerien hatten uns nachhaltig geprägt. Andreas hatte mitgeholfen, Billigtourismus im Okavango-Delta und in der Kalahari-Wüste zu vermeiden, ich war stolz auf meine Beteiligung an einem Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene und auf die Einrichtung eines Ausbildungszentrums in der Kalahari Region für die Basarwa, die Buschleute, die bisher keine schulischen Möglichkeiten gehabt hatten. Die fantastischen Reisen durch die einsamen Naturlandschaften und der Reichtum an wilden exotischen Tieren waren angenehme Begleiterscheinungen gewesen.

Jetzt waren wir dabei, in den Verwaltungs-Aufgaben der Zentralen unserer EZ1-Organisationen den mühsamen Alltag der Arbeit in einem Entwicklungsland aus den Augen zu verlieren.

Für unsere Kinder - Katja am Ende der siebten, Paul am Ende der vierten Klasse - wäre ein Schulwechsel nicht mehr zu verantworten, wenn sich das Abitur näherte. Ein paar Jahre im Ausland, mindestens zwei, besser drei oder vier sollten es schon sein, wenn wir noch einmal ins Ausland gingen.

Darüber sprachen wir auf unserem Spaziergang durch die Dünen von Juist.

Ich war dafür.

Irgendeine Beschäftigung als sogenannte „Ortskraft“ in einem der vielen Projekte, die die GTZ2 dort in Indien hatte, würde sich sicher für mich finden. Ich war optimistisch. Für mich wäre es leichter als für Andreas3.

Es würde ganz anders sein als in Botswana, dem ehemaligen englischen Protektorat in Afrika mit einer knappen Million Einwohnern auf einer Fläche von der Größe Frankreichs. Indien dagegen, der Subkontinent in Asien mit einer ausgeprägten Kolonialerfahrung und mit für uns unvorstellbar vielen Menschen, deren Zahl sich gerade der ersten Milliarde näherte! Es wäre eine echte Herausforderung und ein neues Abenteuer für uns.

Andreas griff zum Handy. Ja, seine Bewerbung könne auch erst einmal telefonisch erfolgen, die schriftliche könne er nachreichen. Andreas sprach den entscheidenden Satz. Danach gingen wir schweigend weiter. Eine zittrige Vorfreude stieg in mir hoch. Drei Wochen würde der Entscheidungsprozess etwa dauern, der Hauptabteilungseiter sei in Urlaub, hatte der Kollege von der Personalabteilung gesagt

Wieder zurück in der GTZ traf ich meinen früheren Kollegen Holger aus der Bildungsabteilung, in der ich gern gearbeitet hatte.4

Holger freute sich:

- Ich wollte dich gerade anrufen. Wir haben eine Anfrage der Europäischen Kommission in Brüssel, ob wir ihnen Personalvorschläge für die Besetzung der Position eines Programm-Koordinators für ein großes Bildungsvorhaben gemeinsam mit anderen Gebern machen könnten. Der Sitz ist in Neu-Delhi. Wir haben in der Abteilung gemeinsam überlegt und dabei an dich gedacht. Du hast zehn Jahren Erfahrung in der Grundbildung5 bei uns und wärst genau die richtige Kandidatin! Was meinst Du?

Ich war sprachlos. War da oben jemand, der Andreas und meine Arbeit in Zukunft auf Indien ausrichtete?

Holger interpretierte mein wortloses Staunen richtig. Er setzte hinzu:

- Es soll praktisch sofort losgehen. Die suchen schon ziemlich lange. Das Vorstellungsgespräch kann jederzeit sein.

Ich fand meine Sprache wieder:

- Kann ich mich wenigstens mit Andreas besprechen, bevor ich mich entscheide?

Holger lachte nur.

Zehn Tage später war ich auf dem Weg nach Brüssel. Ich erinnere mich genau an den kleinen unscheinbaren Mann in schwarzem Anzug, der aus dem Raum kam, in den ich jetzt zur Vorstellungsrunde gebeten wurde. Offenbar ein Konkurrent, ein Franzose, wie ich seinen Verabschiedungsworten in Französisch entnahm. – Irgendwie hatte ich den Eindruck, ich hätte gute Chancen.

Drei Personen interviewten mich etwa anderthalb Stunden lang. Der Auswahlprozess bei der GTZ war um ein Vielfaches intensiver. Offenbar verließen die EU-Kollegen sich auf die Empfehlung ihrer deutschen Kollegen. Eine Frage ist mir in Erinnerung geblieben, vielleicht weil sie sich als bedeutungsvoll erweisen sollte:

- Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie Schwierigkeiten mit den indischen Partnern bekommen würden?

Meine Antwort muss zufriedenstellend gewesen sein.

Ich war gut vorbereitet. Ein Ex-Kollege aus der GTZ hatte mir Hinweise zu dem Vergütungsspielraum gegeben. Der Personalreferent meinte, ich würde in den nächsten Tagen mit einer Entscheidung und im positiven Falle mit einem Vertragsangebot rechnen können.

Es war eine spannende Zeit. Den Kindern sagten wir nichts.

Vier Wochen später, ich saß im Büro, ein Anruf von Andreas:

- Die haben hier entschieden. Ich bin raus. Mein Chef hat bis zur letzten Sekunde gewartet, bevor er sich auch auf die Büroleiterstelle bewarb. Er wusste, dass nur ich ein ernst zu nehmender Kandidat bin. Er hat den Vorrang, auch wenn er die Projekte in Indien lange nicht so gut kennt wie ich!

Dann, ich hatte praktisch noch den Hörer in der Hand, trat Holger in mein Büro:

- Ich muss es Dir persönlich mitteilen, nicht am Telefon! Herzlichen Glückwunsch! Du hast die Stelle in Neu-Delhi!

Sollte ich mich freuen oder wütend sein auf Andreas Chef, der unsere Pläne durchkreuzt hatte? Meine Gedanken konzentrierten sich eher auf die Suche nach einem Ausweg.

Holger hatte Verständnis dafür, dass ich nicht sofort zusagen konnte.

So überlegten Andreas und ich am Abend, ob ich allein nach Delhi gehen sollte. Eine solches Angebot würde ich so bald nicht wieder bekommen.

Und die Kinder? Sollten sie dann bei mir sein oder bei ihm? Bei mir in Indien wäre es vielleicht einfacher, weil es sicher leicht wäre eine Haushaltshilfe zu finden. Bei ihm in Deutschland bräuchte er eine Haushälterin - kein verlockender Gedanke für ihn, abgesehen von den Kosten. Und dann die vielen gegenseitigen Besuche. Eine schreckliche Unruhe für die Kinder und uns. Wir kamen zu keiner Entscheidung.

Am Wochenende bei einem Fest trafen wir auf Andreas Hauptabteilungsleiter. Ich wusste, dass Andreas sich gut mit ihm verstand.

Er hörte uns geduldig an.

- Das ist ja wirklich eine blöde Situation. Vielleicht fällt mir da noch was ein!

Er klang nachdenklich.

Ein paar Tage später erhielt Andreas den Vorschlag, sich für eine Zeitdauer, die er selbst bestimmen könnte, von seiner derzeitigen Position beurlauben zu lassen und im Rahmen eines Retainer-Vertrags6 als Gutachter mit Sitz in Indien für die KfW zu arbeiten. Eine Rückkehr auf seine alte Position sei jederzeit möglich, seine derzeitigen Bezüge würden ihm garantiert.

Ein interessanter Vorschlag.

Blieb die Frage, für welchen Zeitraum dies sinnvoll wäre. Das Programm der Europäischen Kommission war auf vier Jahre ausgelegt war, und mir hatte man einen Consultingvertrag für ein Jahr angeboten, mit der Möglichkeit der Verlängerung für jeweils ein weiteres Jahr usw., wie bei der Kommission üblich. Würde sich das Ganze im Extremfall für ein Jahr lohnen?

Und was war mit den Kindern? Höchste Zeit, sie in die Überlegungen mit einzubeziehen.

Unsere dreizehnjährige Katja hörte sich das Ganze sehr interessiert an und meinte kurzentschlossen:

- Prima, ich komm mit!

Der zehnjährige Paul dachte bereits an den bevorstehenden Schulwechsel aufs Gymnasium nach den Sommerferien. Dieser Gedanke war für ihn aufregend genug.

- Nee, brauch ich nicht! Ich will hierbleiben!

Wir versuchten, ihm die Sache schmackhaft zu machen:

- Du kannst dann echte Maharadscha-Paläste sehen und Tiger soll es da auch geben. Wenn wir dann eine Hausangestellte haben, brauchst Du wahrscheinlich auch Deine Schuhe nicht mehr selbst zu putzen!

Wir konnten keine Begeisterung bei ihm entfachen. Dann:

- Wenn ihr unbedingt wollt! Aber höchstens für ein Jahr!

Wir spürten, dass es ihm ernst war mit dem einen Jahr. Aber vielleicht würde er es mit der Zeit anders sehen und seine Meinung ändern. Außerdem müsste es erst einmal zu einem weiteren Jahr kommen. So viele Unsicherheiten und Eventualitäten!

Die Entscheidung fiel uns richtig schwer. Ich machte eine Entscheidungstabelle mit gewichteten Pro- und Contra-Kriterien für jedes Familienmitglied. Für mich und Katja überwogen eindeutig die Pros. Für Andreas war das Ergebnis der Bewertung ausgeglichen, für Paul gab es mehr Contras. Insgesamt ein schwaches Übergewicht für die Pros.

1 EZ: Entwicklungszusammenarbeit

2 GTZ: Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, heute GIZ (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit)

3 Hauptteil des Arbeitsgebietes der GTZ war der Einsatz von deutschen, internationalen und einheimischen Fachkräften für Entwicklungsaufgaben in Ländern der Dritten Welt.

4 1989 war die GTZ reorganisiert und in Fach- und Regionalabteilungen aufgeteilt worden. Ich war damals in die Regionalabteilung Südliches Afrika gewechselt.

5 Die Bezeichnung Grundbildung umfasst bei der GTZ die ersten Jahre schulischer Bildung, sowie außerschulischer Bildung, bei denen die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens und der Gesellschaftlichen Teilhabe vermittelt werden sollen.

6 Retainer-Vertrag bedeutet, dass der Consultant eine mittellangfristige Zusicherung erhält, für seine beliebig abrufbaren Beratungsleistungen eine feste Vergütung zu erhalten.

Der Vertrag

Das Vertrags-Angebot enthielt neben den finanziellen Details und den Konditionen auch meine genaue Aufgaben-Beschreibung.

Das Primary Education Programm (DPEP) in Indien war das bislang größte Grundbildungsprogramm der EU. Das Ziel war, die jahrzehntelang vernachlässigte Primarschulschulbildung in Indien zu verbessern, die Alphabetisierungsraten zu erhöhen und insbesondere die bislang benachteiligten Mädchen stärker zu beteiligen. Insgesamt stellte die EU dafür 150 Millionen ECU7 bereit. Weitere Finanzierungen wurden von der Weltbank als stärkstem Geber, SIDA (Schweden), der UNESCO und ODA (Overseas Development Association) beigesteuert. Der Schwerpunkt des Programms lag auf Infrastrukturmaßnahmen mit dem Bau neuer oder der Sanierung renovierungsbedürftiger Primarschulen in sieben der heute 29 Bundesstaaten der Indischen Republik.

Die Baumaßnahmen sollten von indischer Seite durchgeführt und alle sechs Monate im Rahmen von jeweils vierzehntätigen Supervisionsmissionen (SVM) gemeinsam mit den beteiligten Gebern kontrolliert werden. Dazu sollten die Teams der gemeinsamen SVM in die betroffenen indischen Staaten reisen, den Durchführungsstand und eventuelle Engpässe erheben und Empfehlungen aussprechen, ob die nächsten Finanzierungstranchen der Geber freigegeben werden konnten bzw. zurückgestellt werden müssten, wenn der Baufortschritt nicht vertragsgemäß war.

Die Aufgabe vom „Education Programme Coordinator“ (EPC), also mir, war es, die SVM im Kontakt mit den anderen Gebern und der indischen Seite vorzubereiten, an den Missionen und den zu erstellenden Gutachten teilzunehmen, beziehungsweise die Missionen im Rotationsprinzip zu leiten. War das Votum nicht positiv, sollten Auflagen für die indische Seite formuliert werden, die diese erfüllen musste, bevor die Gelder fließen konnten.

Zusätzlich zu diesem Finanzierungs-Paket gab es Technical-Assistance8-Mittel in Höhe von 3,1 Mio. ECU für Lehrer-Fortbildung, die von dem EPC (also mir), zu konzipieren und auszugestalten wäre. Weitere 1,4 Mio. ECU waren für den Bereich „Monitoring und Evaluierung“ vorgesehen. Dazu insgesamt 2 Millionen für die Büro Ausstattung, das Personal und die laufenden Kosten des neu aufzubauenden Koordinationsbüros in Neu-Delhi, sowie für Kurzzeitverträge von Gutachtern mit Spezialaufgaben.

Das Programm startete von Null. Zunächst müsste ich abgesehen, von meiner eigenen Unterkunft, für Büroräumlichkeiten, deren Ausstattung und Personal sorgen, sowie eine Verwaltungsstruktur für das Büro entwickeln. Die Vertretung der Europäischen Kommission in Neu-Delhi, die „Delegation“9, wäre dabei am Anfang behilflich.

Das Gesamtpaket schien mir wohl durchdacht und gelungen. Alle drei Komponenten der Technical Assistance faszinierten mich. Der Bau-Finanzierungs-Teil war für mich inhaltlich weniger interessant, da er keinen Gestaltungsspielraum bot und ausschließlich in indischer Hand lag.10 Ein herausfordernder Aspekt dabei war jedoch die Kooperation mit den anderen Gebern und mit der Verwaltung der indischen Seite, eine Kooperationsform, mit der ich in dieser Art und Größenordnung noch keine Erfahrung hatte. Die genannten Summen schienen mir schwindelerregend. Ein gigantischer Betrag für ein gigantisches Land und ein gigantisches Vorhaben.

Wirklich ansprechend waren für mich die Lehrerfortbildung, und die Aufgaben „Monitoring und Evaluierung“. Ein klassisches Gebiet aus meiner Arbeit in der GTZ-Grundbildungsabteilung. Ich könnte ein Projekt in Abstimmung mit den indischen Partnern und meinen Vorstellungen entwerfen, stellte ich mir vor.

Der Aufbau einer Projekt-Verwaltung passte zu meiner Neigung zum Organisieren und schreckte mich nicht.

Das angebotene Gehalt entsprach meinen Vorschlägen. Kosten für die Reisen meiner Familie, Miete für meine Unterkunft, sowie ihrer Möblierung würden von Brüssel übernommen werden. Die Urlaubsbemessung wirkte angemessen.

Vertragslaufzeit war ein Jahr mit der Möglichkeit der Verlängerung jeweils um ein weiteres Jahr. Dies war bei der EU generell so üblich, wurde mir auf meine irritierte Nachfrage erläutert. Der Aufwand würde sich kaum für ein Jahr lohnen, meinte ich. Wenn alles normal liefe, könnte ich natürlich von einer Verlängerung meines Vertrages ausgehen. Da das Programm für eine Gesamtlaufzeit von vier Jahren angedacht war, stellte ich mich mit meiner Familie auf diese Dauer ein. Dieser Zeitraum wäre für die Kinder vertretbar.

Meine Freistellung von der GTZ war bereits bewilligt worden. Vertragsbeginn also sofort nach Zustimmung der indischen Seite. Dafür rechnete man mit maximal zwei Monaten, wie im Begleitschreiben zum Vertrag erläutert wurde.

Der Vertrag enthielt einen Passus, der besagte, dass „The Coordinator“ direkt haftbar wäre für alle dem Büro zur Verfügung gestellten Mittel. Es wurde empfohlen, eine entsprechende Haftpflichtversicherung abzuschließen. Auch zu diesem Punkt musste ich noch einmal rückfragen. Die Haftung erstreckte sich nicht auf die Finanzierungsbeiträge an die indische Regierung für die Baumaßnahmen, sondern nur auf die Technical-Assistance- und die Verwaltungskomponente. Und wieder der Verweis auf eine Versicherung. Dies bedeutete, dass ich im Falle von Unterschlagung oder Veruntreuung persönlich haftbar wäre. Ein erschreckender Gedanke. Aber dafür müsste ich eben die erwähnte Versicherung abschließen, sagte ich mir.

Ich unterschrieb.

Brüssel beantragte meine Akkreditierung bei der indischen Regierung.

Danach begann ich, nach einer Haftpflicht-Versicherung zu suchen. Ich kontaktierte verschiedene Versicherungs-Gesellschaften. Immer erhielt ich die gleiche Auskunft: Eine solche Versicherung würde nur für Firmen abgeschlossen, aber nicht für Privatpersonen. Nach vierzehn Tagen gab ich auf: Es würde schon gut gehen. Es musste einfach gut gehen!

Eine Lösung für die Haftungsfrage hätte darin bestehen können, selbst eine Consulting-Firma zu gründen. Doch dazu gab es weder einen Hinweis aus Brüssel noch die erforderliche Zeit vor der Ausreise. Im Gegenteil: Brüssel drängelte, da die Weltbank bereits in dem Programm aktiv war.

Ich würde eben besonderes Augenmerk auf die Buchhaltung und ihre Abwicklung legen müssen und bräuchte einen absolut zuverlässigen Buchhalter, dachte ich. Die Delegation würde mir helfen, hatte man mir gesagt!

Heute denke ich, dass ich mich auf ein unzumutbares Wagnis einließ. Es war eine Herausforderung an meinen Glücksstern. Erfreulicherweise war er mir in dieser Hinsicht wohlgesonnen.

7 ECU war die Währung, in der die Europäische Kommission 1994 rechnete, bevor im Jahre 2000 der wertmäßig identische Euro in den meisten Ländern der Europäischen Union eingeführt wurde.

8 Technical Assistance bedeutet in der Entwicklungszusammenarbeit alle Maßnahmen zur Förderung des Human Development, also Bildung, Training, Organisationsentwicklung, Bereitstellung technischer Expertise, Politikberatung usw.. Financial Assistance dagegen dient der Finanzierung von physischer Infrastruktur.

9 Die offizielle Bezeichnung für die entsandten Mitarbeiter der Europäischen Kommission mit Sitz in Neu-Delhi war „Delegation of the High Commission of the European Union in India“ deren Oberhaupt der High Commissioner im Range eines Botschafters war. Wir sprachen der Einfachheit halber nur von der “Delegation“.

10 Die Finanzielle Zusammenarbeit der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung wird von der KfW getätigt, während das Aufgabengebiet der Technical Assistance von der GTZ durchgeführt wird.

Hektik der Ausreise

Unvorstellbar, was es alles zu tun gab!

Wann sollte mein Ausreise-Datum sein? Wann sollten die Kinder kommen? Wann Andreas? Was würde mit unserm Haus passieren? Auslands-Krankenversicherung? Steuer? Wie könnte ich mit Andreas kommunizieren – damals dauerte der Postweg noch acht bis zehn Tage? Telefonieren ging mit acht Stunden Zeitunterschied. Wer würde sich um meinen Vater kümmern?

Als wir noch unentschieden waren, hatte ich meinen Vater in Oldenburg eingeweiht. Ihn gefragt, wie er sich fühlen würde, wenn ich so weit weg wäre. Er war damals immerhin 81 Jahre alt und alleinstehend. Ich solle die Chance wahrnehmen, er würde schon zurechtkommen, meinte er. Eine Beruhigung für mich. Ich erkannte darin meinen unternehmungslustigen Vater, der sich freute, wenn seine Tochter ihm nacheiferte. Ich war jetzt genauso alt wie er damals, als er mit 50 Jahren nach Latein-Amerika ging und meine Mutter und mich nachholte. Ich hatte damals gerade mein Abitur gemacht. Vielleicht dachte er an eine Art Familien-Tradition.

Andreas stand eine Meniskus-Operation bevor. Anschließend ungefähr sechs Wochen mit Krücken in unserem Haus mit den vielen Treppen. Ich konnte ihn in der ersten Zeit unmöglich allein lassen. Also bat ich Brüssel um vier Wochen Aufschub. Widerstrebend wurde zugestimmt. Ein weiterer Aufschub käme aber nicht in Frage.

Wir planten, dass Andreas erst nachkommen würde, wenn das zweite Vertragsjahr gesichert war. Die Kinder allerdings sollten ab der zweiten Schuljahreshälfte, also zum Jahresende nach Delhi kommen. Für die Zeit, die Andreas mit den Kindern allein war, wurde eine polnische Haushaltshilfe engagiert.

Eine interessante Erfahrung waren die Erkundungen für die Auslands-Krankenversicherung. Bei fast allen Unternehmen waren die Versicherungsprämien für einen kurzen Aufenthalt im Ausland nur unwesentlich teurer als der normale Tarif in Deutschland. Je länger die Versicherung gelten sollte, desto höher stieg die monatliche Prämie. Ab dem dritten Jahr gab es einen richtigen Sprung auf über das Doppelte des Tarifs in Deutschland. Daraus schloss ich, dass die Gesundheitsrisiken im tropischen Ausland nach über zwei Jahren erheblich zunehmen. Ich beschloss, dies bei meinen Vertragsverlängerungen zu berücksichtigen. Und vereinbarte zunächst eine Versicherung für ein Jahr.

Wir wollten unser Haus nicht regulär vermieten, aber auch nicht unbewohnt lassen, wenn alle nach Delhi übergesiedelt wären. Ein neuer Kollege von Andreas, dessen Familie noch in Saarbrücken lebte, suchte nach einer passenden Unterkunft. Mit ihm wurde vereinbart, dass er unser Haus nutzen könnte, bis wir wieder zurückkämen.

So weit war alles gut geplant.

Es blieb die Frage der Kommunikation. Im Jahr 1994 war das Internet noch weitgehend unbekannt. Ein Kollege von mir kam mit einer erstaunlichen Nachricht von einer Dienstreise aus den USA zurück: Bei der Weltbank würden sie kaum noch Papier-Akten mehr führen, sondern alles elektronisch speichern. Da würde man viel Platz im Büro sparen. Man bräuchte viel weniger Schränke! Ich konnte es kaum glauben. Und Briefe würde man per E-Mail schreiben. Dies war in der GTZ bis dato nur den oberen Etagen vorbehalten gewesen.

Für uns als Privatpersonen schien dies keine Lösung. Ich erinnere mich gut an den ersten gemeinsamen Einkaufs-Ausflug mit Andreas, nachdem er, Krücken bewehrt, aus dem Krankenhaus entlassen worden war. In einem Telekom-Laden, ließen wir uns zu Fax-Geräten beraten und nahmen kurzentschlossen eines mit. Das Einrichten zu Hause war mühsam. Aber das Gerät funktionierte als ich am 10. Oktober 1994 Deutschland verließ.

Der Anfang in Delhi

Ich hatte mir alles viel einfacher vorgestellt. Ich ging davon aus, dass die EU-Delegation in Neu-Delhi mir helfen würde, schließlich hatte sie das Projekt aus der Taufe gehoben und Interesse an seinem Erfolg. Dass von mir Initiative und Organisationstalent erwartet wurden, war mir klar, nicht aber, dass ich praktisch mehr oder weniger auf mich allein gestellt war.

Eine Hotel-Unterkunft wollte mir nicht einmal die Delegation zumuten. Sie hatte empfohlen, dass ich bei den herrschenden gesundheitlichen Verhältnissen in Delhi lieber meine GTZ-Kontakte nutzen und eine private Unterkunft wählen sollte.

Denn:

In Delhi herrschte die Pest.

Reinhold war ein Kollege aus der GTZ. Er war seit drei Jahren in Delhi, hatte dort die Inderin Amanda, eine junge Rechtsanwältin, kennengelernt und geheiratet. Sie erwarteten gerade ihr erstes Kind.

Ich wohnte in ihrem Gästezimmer. Und fühlte mich wie zur Familie gehörend.

Ohne Amanda und Reinhold hätte ich vielleicht aufgegeben!

Im August 94 waren die ersten Fälle der Pest im Bundesstaat Surat aufgetreten, die Seuche hatte sich schnell verbreitet und hatte auf fünf weitere indische Bundes-Staaten und Delhi übergegriffen. Flüge nach Indien waren abgesagt, Flugzeuge aus Indien bei der Ankunft begast worden. In den ersten zwei Tagen waren 300.000 Menschen aus Surat geflohen aus Angst vor der Seuche oder Quarantäne. In Bombay11 und Delhi hatte es Panikkäufe und teilweise von der Regierung angeordnete Schließungen gegeben.

In dieser Situation war ich eingereist. Es kam mir vor wie ein Himmelfahrtskommando. Auf meine Anfrage in Brüssel, ob man meine Ausreise nicht noch einmal verschieben könnte, war die nüchterne Rückmeldung gekommen, dass die Fallmeldungen rückläufig seien und Delhi auch nicht das Epizentrum.

Jeder Schritt vor die Haustür von Reinhold und Amanda war eine Mutprobe für mich. Wo war ich sicher, wo könnte ich mich anstecken? Welche Orte müsste ich meiden? Als ich den Vertrag unterschrieb, wusste ich nichts von der Pest in Indien. Ich hatte immer angenommen, sie sei weltweit ausgerottet.

Jetzt erfuhr ich, dass der Pesterreger nicht vollständig auszurotten ist und die Pest besonders in Ländern mit einer armen Bevölkerung und schlechten hygienischen Bedingungen immer eine reale Gefahr bleibt. Solange es Ratten oder Hunde oder Katzen gibt, können ihre Flöhe den Erreger auf Menschen übertragen.

Wie sah das nun mit den Ratten in Indien aus?

Eigentlich wollte ich nicht genau hinschauen, vielleicht wollte ich es auch nicht so genau wissen. Aber wenn ich gewollt hätte, hätte ich mir klar machen können, dass diese angehäuften Berge an einer unauffälligen Ecke einer öffentlichen Grünanlage nicht nur aufgehäuftes Laub und Grünschnitt enthielten, sondern Hausmüll, den die öffentliche Müllabfuhr nicht bewältigt hatte12. Diese Berge gehörten zum Stadtbild wie die streunenden, meist jämmerlich heruntergekommen Hunde, vor denen man auswich, weil sie Tollwut mit sich tragen konnten. Die Ratten sah ich nur manchmal, aber oft genug, um zu wissen, dass sie da waren. Vermutlich hatten sie mit ihrem Futter von den Müllbergen zu tun oder warteten mit ihrem Erscheinen auf die Dunkelheit, wenn ich höchstens in den sicheren Metallwänden eines Autos unterwegs war.

Bei jedem Verlassen der Wohnung von Reinhold und Amanda war ich dieser Situation ausgesetzt: Ich musste die Müllberge umrunden, räudigen Hunden ausweichen und rechtzeitig einer vielleicht vorbei huschenden Ratte aus dem Weg gehen. Und dann war da noch der beißende Geruch nach eingetrocknetem Urin. Dieser penetrant süßliche, alles durchsetzende Geruch hat sich in meiner Nase festgesetzt. Er ging mir nie mehr verloren und ließ mich nach unserer Rückkehr nach Deutschland weite Bögen um bestimmte Plätze oder auch Bahnhöfe machen. Bei unserer ersten gemeinsamen Bahnfahrt als Familie, als der Zug frühmorgens den Hauptbahnhof von Neu-Delhi verließ, bahnte er sich seinen Weg durch ein Spalier von nackten Hinterteilen. Der Bahndamm als Abtritt! Männlein wie Weiblein. Unfassbar für uns. Und das mitten in der Hauptstadt einer Atommacht! Noch 2014 hatten über 50 % der Haushalte keine Toiletten13. Wir hielten die Fenster fest geschlossen! Was dieses Hygiene-System für die Wasserversorgung bedeutet, ist vorstellbar14.

Das Erste, was Reinhold und Amanda mir beibrachten:

- Trinke nie Wasser, das nicht mindestens 10 Minuten abgekocht wurde. Und iss keine Salate oder Rohkost, deren Desinfektion du nicht persönlich überprüfen konntest.

In Ihrer Wohnung fühlte ich mich sicher, die Haushaltshilfe war gut eingearbeitet und Amanda kontrollierte genau, ob die Hygiene-Vorschriften eingehalten wurden. In Restaurants aß ich in den ersten Wochen nie. Dann ebbten die Pest-Nachrichten langsam ab, das Leben normalisierte sich.

Die beiden boten mir nicht nur eine hygienische Unterkunft, sondern darüber hinaus auch Rat und Hilfe bei den vielen Aufgaben, die auf mich warteten: Haussuche, Bürosuche, Personalsuche, Umgang mit der fremden Kultur und der Mentalität ihrer Menschen. Jeden Abend saßen wir zusammen, ich erzählte meine Erlebnisse des Tages und Reinhold kommentierte in seiner ruhigen gelassenen Art, während Amanda Insidertipps aus der Sicht der indischen Oberklasse gab. Z.B.:

- Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Inder sind sehr stolz und sehr darauf bedacht, ihr Gesicht wahren zu können.

Ein besseres Coaching hätte ich mir nicht wünschen können.

Da war zum Beispiel die Frage der Taxi-Nutzung. Ich war die Horror-Geschichten aus afrikanischen Ländern gewöhnt: entführte Taxi-Gäste, aufs Land gekarrt, ausgeraubt und nur mit dem Hemd bedeckt auf dem Feld liegen gelassen. Das würde mir in Neu-Delhi wohl nicht passieren, meinte Reinhold:

- Am Taxistand unten an der Ecke warten meist zwei oder drei Wagen. Die Fahrer werden dich bald kennen und bei einem guten Trinkgeld dann auch zuverlässig fahren. Sie sind an einer festen Kundschaft interessiert.

Reinhold hatte recht. Als mein eigener Wagen kam, hätte ich ihn fast nicht mehr gebraucht.

Die Suche nach einer Unterkunft für meine Familie und nach Büroräumen war äußerst schwierig. Es gab zu viele internationale Organisationen und Expatriates15, die suchten und sich gegenseitig überboten. Die EU-Delegation nannte mir Makler-Firmen und einen finanziellen Rahmen, der mir zunächst sehr großzügig schien, dann aber von der Realität eingeholt wurde. Die Suche und die Verhandlungen waren mir überlassen. In den ersten Wochen gab es nichts zu verhandeln. Es war einfach nichts dabei: zu groß, zu klein, in heruntergekommener Gegend, utopische Mietforderungen, usw.

Ich begann mich zu fragen, ob ich überzogene Erwartungen hatte. Unser Zuhause müsste nicht unbedingt schöner sein als in Deutschland. Aber etwa den gewohnten Komfort würden wir schon brauchen, um die tägliche Erfahrung von Elend und Schmutz ertragen und zumindest für die Nacht abstreifen zu können. Dies war mir bei Reinhold und Amanda deutlich geworden. Ohne eine Oase für die Familie würde die Umgebung uns infizieren und zumindest seelisch krank werden lassen.

Das Zuhause musste stimmen.

Eines Tages fand ich einen neuen Makler. Eigentlich meinte ich, schon alle zu kennen. Er überzeugte mich, ein wunderschönes Haus mit einem Riesen-Garten in einem Vorort – einer sehr guten Gegend, wie er sagte – anzusehen. Es sei zwar ein wenig außerhalb, aber wegen der Ruhe, der besseren Luft und vor allem dem zauberhaften Garten wäre es mit Sicherheit das Richtige für meine Familie und mich. Die Büroräumlichkeiten könnte ich mir dann passend in der Nähe suchen.

Wir fuhren und fuhren. Die Gegend begann ländlich zu werden. Ich fragte mich, wie meine Geber-Kollegen reagieren würden, wenn ich sie zu einer Besprechung mit einer zweistündigen Anfahrt einladen würde.

Ich sagte dem Makler, wir sollten umkehren, es hätte hier keinen Sinn.

- No, No Madam, just around the corner.

Es waren immer noch 15 Minuten. Der Garten war tatsächlich wunderschön, das Haus aber zu klein. Der Garten konnte nicht das Fehlen von einem Schlafzimmer wettmachen. Wir brauchten schließlich auch ein Gästezimmer für den Besuch der Freunde.

Sollte ich wütend sein auf den Makler? Ich hatte ihm genau gesagt, was ich suchte, mehrfach. Aber in typisch indischer Art hatte er gehofft, mich durch den Anblick der blühenden Bougainvillea für sein Objekt gewinnen zu können.

Ich war zu erschöpft, um meine Verärgerung zu zeigen. Zwei Stunden hatte ich geopfert und zwei waren es wieder zurück. Und wieder nichts. Verzweifelte, trübe Gedanken kamen.

Seit sechs Wochen war ich schon auf der Suche. Wieviel Zeit sollte ich dafür noch brauchen? Wir hatten uns vorgestellt, vier Jahre bleiben zu können. Aber wenn alles so langsam ging und ich nicht bald Erfolge vorweisen könnte, würde mein Vertrag wohl kaum über das erste Jahr hinaus verlängert werden. Nicht einmal eine Bürounterkunft hatte ich gefunden! Außerdem wollte ich meine kostbare Zeit nicht mit diesen – wie ich sie wertete – „administrativen Bagatellen“ verbringen. Ich wollte arbeiten. Ich wollte endlich anfangen über die Lehrerfortbildung nachzudenken. Deshalb war ich hier. Nicht um fruchtlos Immobilien zu besichtigen. Aber ohne Familie würde ich es nicht aushalten. Und die Familie brauchte ein annehmbares Heim.

Vielleicht müsste ich aufgeben, das ganze Vorhaben abblasen, meinen Lieben schreiben, dass sie zu Hause bleiben sollten. Ich würde keine Bleibe für sie finden. Als ich aus meinen düsteren Träumen aufschreckte, saß ich immer noch in diesem Auto hinter dem Makler. Er schwieg. Er machte sich nicht einmal die Mühe, etwas anderes vorzuschlagen. Er schien selbst enttäuscht. Dies schien mir der Höhepunkt meines Elends. Nichts bot er mir mehr an! Es gab offenbar nichts für mich in Delhi. Jetzt kamen die Tränen. Ich hockte im Auto und heulte. Und schämte mich. Ich, die Expertin, mit einem Sack voll Geld in der Hinterhand, saß in einem fremden Auto mit einem Makler und haderte mit meinem Schicksal, weil ich keine Wohnung für meine Familie fand: Ich war nicht die richtige Person für diesen Job!

Als ich die Wohnungstür zu Reinhold und Amanda öffnete, schlug mir der verführerische Duft von Chicken Tandoori entgegen. Amanda war eine vorzügliche Köchin. Ein kurzer Blick in mein Gesicht und sie sagte:

- Oh, wohl kein so guter Tag! Gleich gibt´s Essen, dann kannst Du erzählen.