Ingenio (Band 2) - Fanny Remus - E-Book

Ingenio (Band 2) E-Book

Fanny Remus

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Beschreibung

WAS UNTERSCHEIDET DICH VON DEM BÖSEN, GEGEN DAS DU KÄMPFST?

Melody Vitex aka Vi hat die Macht, den menschlichen Geist zu manipulieren. Sie ist wie One, der Sohn des Präsidenten, ein Ergebnis skrupelloser Experimente der Zentralregierung. Um die Rebellen bei ihrem Kampf gegen das diktatorische System zu unterstützen, willigt Vi ein, sich von One unterrichten zu lassen. Doch sie wird entdeckt und zur Regierung verschleppt, wo sie sich Präsident Karn und den anderen Vollkommenen stellen muss.

Als sich die Lage zuspitzt, muss sie sich entscheiden: Ist sie bereit ihre Kräfte im Kampf für die Sache der Rebellen einzusetzen? Doch was unterscheidet sie dann noch vom den Diktator, den sie zu besiegen versucht?

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Band 2 Fanny Remus

Impressum

Copyright © 2024 by

WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]

Ingenio (Band 2)Text © Fanny Remus, 2024 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat 1: Mary Stormhouse (www.instagram.com/mary.stormhouse) Lektorat 2: Federstaub Lektorat, Julia M. Weimer Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke Satz & Layout: Vianchia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-021-2 Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltshinweise

Rebellen gegen Regierung, Wissenschaftlich erklärte Magie, Found Family, Casual Queerness, keine explizite Erotik

In dieser Geschichte gibt es außerdem Szenen, mit

Expliziter Darstellung und Erwähnung körperlicher und seelischer Gewalt (auch gegen Kinder und Jugendliche), Blut, Trisomie 21, Erwähnung von Suizid, Mord und dem Tod Angehöriger, Erwähnung wissenschaftlicher Experimente an Menschen und Drogenkonsum.

Konfrontation

Grelle Holos und Straßen voller Menschen zogen am Autofenster vorbei, zwischen den Häusern tauchte immer wieder der dunkle Regierungstower auf – jedes Mal ein Stückchen näher. Vi war also tatsächlich unterwegs, um Präsident Karn gegenüberzutreten. Sie konnte ein leichtes Zittern ihrer Arme nicht unterdrücken. Hätte Four doch nur die Energiefesseln nicht gelöst, dann würde ihr das Stillsitzen leichter fallen.

Nachdem One und sie in der Lagerhalle von den anderen Vollkommenen entdeckt worden waren, war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich zu einem wuchtigen Auto führen zu lassen. Jetzt lümmelten die Zwillinge ihr gegenüber auf den Rücksitzen. Five und Six; doch Vi war unklar, wer von beiden, welche Nummer trug. Four hatte vorn neben One, der den Wagen steuerte, platzgenommen und beäugte sie immer wieder durch den Rückspiegel.

Und doch … So aussichtslos Vis Lage auch gerade war: Sie saß in einem echten Auto! Die Gründer von Bakkai hatten ein aufwendiges und platzsparendes, öffentliches Schienennetz installiert, das alle Quartiere der Stadt miteinander verband. Autos dienten nur dem Gütertransport und der Medizin – mit Ausnahme der regierenden Gruppe.

»Na, machst du große Augen, Mäuschen?« Four seufzte theatralisch. »Was hast du da nur aufgesammelt, Honey?«

»Du hast die Markierung gesehen«, entgegnete One schlicht.

Four redete schon den ganzen Weg trällernd auf One ein, der nur einsilbig antwortete. Merkwürdig, dass irgendjemand One Honey nannte. Warum er das wohl zuließ? Bestimmt nicht, weil er es gut fand. Sein steifes Verhalten Four gegenüber sprach da Bände.

Nach der Stille und Dunkelheit in den Geistervierteln kamen die Eindrücke der inneren Quartiere Vi fremd vor. Die meisten Holos zeigten gerade einen Mann im blauen Anzug. Fairman weiß Bescheid, schaltet ein! Izzy würde sich sowas bestimmt liebend gern tagtäglich anschauen, aber im SubNet funktionierte das nicht.

Spam, das SubNet! Vis Verbindung stand noch immer. Die musste sie schnellstmöglich löschen! Sollte sie riskieren, den anderen vorher eine Nachricht zu schicken? Sie konnten ihren BioLink zwar orten, aber sie würden nur sehen, dass sie bei der Regierung war. Ob sie freiwillig mitgegangen war, konnten sie nicht erkennen. Würde Tim sie für eine Verräterin halten? Die Holos verschwammen vor ihren Augen. Tim, ihr bester Freund, dem sie ihr Leben anvertrauen würde. So gern wollte Vi ihm eine Nachricht schicken. Aber sie würde ihren Link nur ein einziges Mal in Anwesenheit der Vollkommenen aktivieren können. Eine Nachricht zu formulieren, dauerte viel zu lange. Im Moment war es sowieso dringender ihre Verbindung zum geheimen SubNet zu löschen, bevor sie im Regierungstower ankamen. Alles andere wäre zu riskant.

Die Zwillinge spielten gerade eifrig eine Partie Daumencatchen und schienen sie völlig vergessen zu haben.

Vi tippte den BioLink an, trennte die Verbindung und löschte den Zugangspunkt. Das CityNet-Interface blinkte sofort wieder auf. Geschafft!

»Und was glaubst du, was du da machst?«, fragte Four schneidend und fror Vis Arm mit Energie ein.

»Ich wollte nur wissen, wie lange es noch dauert.« Betont gelangweilt schaute Vi aus dem Fenster.

Hoffentlich überzeugte Four diese Ausrede. Aber egal was Four dachte, Vi hatte es geschafft und würde die Freien Magi nicht unabsichtlich verraten.

Four schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an, löste die Fessel dann aber wieder. »Geduld, Mäuschen. Du bekommst unseren Präsidenten Karn noch früh genug zu Gesicht.« Abrupt drehte sie sich noch weiter in ihrem Sitz zu Vi um. »Okay, Small Talk. Ich platze vor Neugier. Was haben sie bei dir gemacht?«

Allein der Gedanke an die Fähigkeiten, die in ihr schlummern sollten, bereitete ihr Bauchschmerzen. One hatte ihr bestätigt, dass sie ein Experiment war, ein Experiment der Regierung. Vielleicht sogar eine Vollkommene. Nur deshalb waren ihre Eltern ermordet worden und sie befand sich in dieser ausweglosen Situation. Aber ihre Übelkeit wegen Fours Plauderton würde sie sich auf keinen Fall anmerken lassen.

Vi biss die Zähne zusammen und zwang sich, ruhig zu atmen. Fours gekünstelte Art, das unschuldige Mädchen zu spielen, ging ihr mächtig auf die Nerven. Spam, sie wollte Fours Arroganz einen Dämpfer verpassen, egal, was für Konsequenzen das hatte. »Geduld. Das wirst du noch früh genug erfahren.« Um noch eins draufzusetzen, schaute Vi danach wieder demonstrativ Richtung Fenster. Vielleicht hatte sie es sich eingebildet, aber sie glaubte, dass Ones Mundwinkel amüsiert zuckten.

Fours bohrender Blick ruhte noch eine Weile auf ihr, bevor sich die Vollkommene wieder wortlos umdrehte. Ein kleiner Sieg für Vi. Hoffentlich würde sie später nicht dafür bezahlen müssen. Aber wer wusste schon, was ihr bevorstand. Da fiel ein Schlagabtausch mit der Vollkommenen vermutlich nicht ins Gewicht. Ohnehin erstaunlich, dass sie noch klar denken konnte, obwohl sie in kurzer Zeit Präsident Karn gegenüberstehen würde. Karn, der erste Vollkommene und die Ursache dafür, dass die Magi von Bakkai um ihr Leben fürchten mussten. Seine verkommene Vision hatte zu grausamen Experimenten an Erwachsenen, Kindern und sogar Embryonen geführt. Die Stadt, die sie so lange für ein Paradies gehalten hatte, diente als ein Labor für eine kleine Elite. Und zu genau diesem Mann fuhr One das Auto, in dem sie saß.

Ein Gutes hatte das alles. Mit etwas Glück konnte sie herausfinden, was mit Martha geschehen war. Inzwischen war die Wissenschaftlerin schon über vierundzwanzig Stunden verschwunden. Ob die anderen schon mehr wussten? Unwahrscheinlich. Hoffentlich ging es ihr gut.

Was hatte Four in der alten Lagerhalle gesagt? Vi wäre eine potenzielle Vollkommene. Es bestand also eine Chance, dass sie nicht mit aufgesägtem Kopf auf einem Labortisch endete. Sie hielt sich stur an diesem sicheren Gedanken fest, um weiterhin Ruhe zu bewahren.

Zur Ablenkung betrachtete Vi ihre vier Begleiter. Five und Six hieben immer noch gegenseitig mit ihren Daumen aufeinander ein, was sie ab und zu murmelnd kommentierten. Sie hatten ihre Jacken ausgezogen und so die bunten Linien entblößt, die sich passend zu den lila Strähnchen über ihre Haut zogen. Natürlich ebenso gleich wie alles andere an ihnen.

Four sah selbst durch den Rückspiegel betrachtet wunderschön aus. Auch auf den zweiten Blick war ihr Gesicht glatt und ebenmäßig. Das wellige Haar umgab es wie ein Rahmen. Vermutlich war das eher modifiziert als natürlichen Ursprungs.

Nur One zeigte keine Anzeichen dafür, dass er sein Äußeres künstlich optimiert hatte. Im Vergleich zu den anderen Vollkommenen fiel Vi zum ersten Mal bewusst auf, dass er gar nicht aussah wie ein Innenstädter. Er trug schwarze, schlichte Kleidung, wenn auch von hoher Qualität. Auch bei ihren vorherigen Begegnungen hatte er keine knalligen Farben getragen. Sein Haar fiel ihm ungestylt in die Stirn und das Gesicht im Spiegel wirkte angespannt, aber natürlich. Wenn sie ihn auf der Straße getroffen hätte, wäre er ihr außer durch seine Körpergröße nicht aufgefallen. Erst bei genauerem Hinsehen nahm sie den scharfen Blick und die aufrechte Haltung wahr. Er strahlte eine wachsame Ruhe aus und trat genauso selbstbewusst auf wie Alex, wenn auch auf eine gänzlich andere Art und Weise. Wenn sich sein Gesicht nicht gerade vor Zorn verdunkelte, könnte Vi ihn als gutaussehend bezeichnen.

Four schien es in diesem Punkt ähnlich zu gehen, sie himmelte ihn die ganze Fahrt über von der Seite an. Ständig warf sie ihm Blicke zu, legte ihm die Hand auf die Schulter oder das Bein. Selbst die Worte, die sie an ihn richtete, klangen melodischer, als wenn sie mit den anderen Passagieren sprach. One blieb davon gänzlich unbeeindruckt und konzentrierte sich auf die Straße in der Dunkelheit vor ihm. Diese Details speicherte Vi in ihrem Gedächtnis. Alles, was sie über die Vollkommenen und ihre Schwächen wusste, könnte hilfreich sein. Vor allem, wenn sie einen Platz unter ihnen einnehmen sollte.

»Ha, Six, du bist so ein Bugbrain«, johlte der weibliche Zwilling auf. Also handelte es sich bei ihr um Five. Four warf einen missbilligenden Blick nach hinten, der an den Zwillingen aber ohne Reaktion abprallte. Hatten sie ihn nicht bemerkt oder ignorierten sie ihn bewusst? Liv, die Anführerin der Freien und Martha, die Doktorin, hatten die Rivalität zwischen den Vollkommenen betont. Wenn die beiden wirklich so unaufmerksam waren, wie es gerade schien, würden sie nicht mehr am Leben sein. Vi durfte sich keine Sekunde sicher fühlen.

»Halte dich an das, was ich erzähle, und du kommst mit dem Leben davon«, flüsterte One ihr zu, als sie an ihm vorbei aus dem Auto stieg. Die Haut über seinen Fingerknöcheln, mit denen er den Türrahmen umklammerte, stach weiß hervor. Er schien genauso angespannt zu sein wie Vi.

Erst als sie kaum merklich nickte, führte er sie durch die graue, schnörkellose Tiefgarage.

Four hatte direkt nach ihrer Abfahrt Kontakt zum Tower aufgenommen, um ihr Kommen anzukündigen. Sie hatten den Präsidenten wegen Vi aus dem Bett geholt! Mehr als alles bisher Geschehene jagte ihr das einen Schauer über den Rücken.

Nach einer Fahrt in das hundertste Stockwerk – im schicksten Aufzug, den Vi je gesehen hatte – standen sie in einer weitläufigen Halle. Schwarze Sessel, elegante Glastischchen und ein weicher Teppich hießen Gäste willkommen. Das zusammen mit den holzverkleideten Wänden sollte wohl einen wohnlichen Eindruck erwecken, doch die schwarze, hohe Tür direkt gegenüber den Aufzügen schluckte alle Wärme.

»Dahinter liegt das Empfangsbüro des Präsidenten«, raunte One ihr zu.

Hinter dieser Tür wartete Karn auf sie.

Sie öffnete sich und ein Mann mittleren Alters trat heraus, der so ausdruckslos dreinblickte und mit dem Hintergrund geradezu verschmolz, dass Vi sein Gesicht sofort wieder vergaß. Die Gruppe betrat einen großzügigen Raum, und Vi stockte der Atem. Die gesamte Rückwand von Karns Büro bestand aus einer einzigen großen Glasscheibe, die einen atemberaubenden Panoramablick auf Bakkai offenbarte. Die Stadt lag funkelnd und leuchtend zu ihren Füßen. Oder eher: zu den Füßen Karns.

Der Präsident stand in einem tadellosen schwarzen Anzug am Fenster und betrachtete die Lichter und Gebäude unter ihm. Das zurückgekämmte Haar glänzte in demselben Braunton wie das von One und er war genauso groß wie sein Sohn. Aber das war auch alles, in dem Vater und Sohn sich auf den ersten Blick ähnelten. Karn besaß eine breitere Statur als One und sein markantes Profil erinnerte Vi an einen Raubvogel, der Beute im Visier hatte. Konnte so ein Mann aussehen, der gerade aus dem Bett gekommen war? Beim Präsidenten war wohl alles möglich.

Four trat mit geröteten Wangen einen Schritt nach vorn. »Präsident Karn, wir haben ein …« Sie stockte.

Karns Kopf ruckte zu ihr herum und er bedachte sie mit einem stechenden Blick. Raubvogel! Seine bloße Präsenz reichte aus, um den Raum zu kontrollieren. Langsam sah er von einem zum anderen. Ganz zum Schluss erst fixierten die grauen Augen Vi. Mit großen Schritten kam er auf sie zu und blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn weiter anzusehen.

Sein Blick galt nicht ihrem Gesicht, sondern dem Schlüsselbein. Sachte zog er mit einem Finger den Kragen herunter und in seinen Augen erschien ein ähnlicher Ausdruck wie bei One, als der vor ein paar Tagen die Markierung freigelegt hatte. Zweifelsfrei Triumph, aber auch etwas anderes, etwas Lauerndes.

»Melody Vitex«, murmelte er. Seine Stimme klang ganz anders, als das harte Aussehen vermuten ließ. Sie war tief und volltönend, fast schon väterlich. »Die verlorene Tochter ist zurückgekehrt.« Er machte eine Pause, ließ ihren Kragen los und schaute sie direkt an. »So lange hast du dich vor mir versteckt.«

One regte sich unruhig neben ihnen. »Sie hat sich nicht versteckt. Sie hatte keine Ahnung, wer sie ist. Die Rebellen haben ganze Arbeit geleistet.«

Vi unterdrückte ein Zucken, als er so über die Freien Magi sprach. Am liebsten hätte sie ihre Familie verteidigt, aber das musste zu seiner Taktik gehören. Also schluckte sie den Protest herunter, der ihr schon auf der Zunge gelegen hatte.

»Und wie hast du sie gefunden?«, fragte Karn, ohne auch nur einen Moment den Blick von Vi zu nehmen.

»Sie hatten eine Krankheit ihrer Großmutter vorgetäuscht, wegen der sie sich isolieren musste. Ihre Großmutter ist verstorben, woraufhin sie die Isolation aufgab. In einer Menschenmenge auf dem Plaza sind ihre Kräfte ausgebrochen. Das konnte ich spüren.«

Der Präsident wandte endlich den Blick von Vi ab, ging zu seinem Schreibtisch, der mittig vor der großen Glaswand stand und setzte sich. Er winkte ihnen näherzukommen, und schaute One über seine aneinandergelegten Fingerspitzen an.

»Gut gemacht, Sohn.«

»Er wollte sie nicht herbringen!«, platzte Four heraus. Wenn es ihr einen Vorteil brachte, vergaß sie wohl schnell, dass sie ihn gerade noch angehimmelt hatte.

»Natürlich wollte er das nicht. Warum einen Vorteil aufgeben, wenn keine Notwendigkeit besteht? Ich wäre enttäuscht von ihm gewesen, hätte er sie sofort zu mir gebracht.« Karn schüttelte traurig den Kopf. »Du vergisst so schnell meine Lektionen, Four. All unsere Taten dienen einem Zweck, zwecklose Taten sind leere Taten.«

Four schlug die Augen nieder. »Und leere Taten dienen keinem Ziel, nur der Eitelkeit.«

Karn nickte, als hätte sie eine Aufgabe im Unterricht richtig beantwortet. »Und was ist unser Ziel, Four?«

»Das Wohl aller«, sagte sie leise. »Das Wohl der Bewohner Bakkais und der ganzen Welt«, konkretisierte sie hastig, nachdem Karn eine Augenbraue hochgezogen hatte.

Die Holos vorm Fenster schienen auf einmal greller zu leuchten. Die hohe Lehne von Karns Stuhl zeichnete sich dunkel vor der farbenfrohen Kulisse ab. Das Wohl aller. Es rechtfertigte für sie die abscheulichen Verbrechen, die im Namen der Regierung begangen wurden. Vor Vis innerem Auge entrollte sich die Liste der Namen, die unter Karns Machenschaften gelitten hatten. Ihre Eltern, Tim, Tanos Sohn, die kleine Daria und so viele mehr.

Karn wandte sich wieder an One. »Hat sie deine Fähigkeiten?«

Die Köpfe der anderen Vollkommenen schnellten zu One herum. Diese Frage überraschte sie offensichtlich. Wussten sie, worin Ones Fähigkeiten bestanden?

One nickte. »Ja, aber sie beherrscht sie nicht. Noch nicht.«

Erstaunlich, jedes Wort, das One sagte, entsprach der Wahrheit. Er log Karn nicht an, aber er ließ aus, was er nicht zu wissen brauchte. Das sollte sich Vi für ihre Gespräche mit dem Präsidenten einprägen.

Gier zeigte sich jetzt unverhohlen in Karns Gesicht. »Sie wird es lernen.« Seine grauen Augen fanden ihren Blick. »Melody, bist du bereit, dich der größeren Sache anzuschließen? Dich für das Wohl unserer Stadt deinen Fähigkeiten zu stellen und eine Vollkommene zu werden?«

Vi schluckte trocken. Sie spürte deutlich die Anspannung, die von One ausging. Es gab nur eine Antwort auf diese Frage, die ihr Überleben garantieren würde.

»Ja, ich bin bereit.«

Dass sie richtig geantwortet hatte, sah sie an dem breiten Lächeln, das sich auf Karns Gesicht ausbreitete. Es berührte seine Augen nicht.

»Wunderbar! Dann sollten wir keine Zeit verschwenden und bald mit deinem Training anfangen. Natürlich müssen wir vorher noch einige Untersuchungen machen. Wir haben Jahre aufzuholen.«

One räusperte sich. »Vater?«

Karn hob überrascht die Augenbrauen. »Ja?« Offenbar nannte One ihn nicht oft Vater.

»Ich denke, ich sollte die Verantwortung für sie übernehmen.«

»Und warum denkst du das?«

»Bei mir dauerte es Jahre, bis ich die Fähigkeit beherrschte. Wenn ich es ihr beibringe, sollte es viel schneller gehen. Wir könnten uns viele …«, er zögerte, »… Umwege ersparen.«

Karn legte die Hände übereinander vor sich auf der Tischplatte ab. »Du könntest recht haben. Ich kann euch drei Monate für die Untersuchung dieser These geben. Wenn sie bis dahin keine Fortschritte gemacht hat, wenden wir die erprobten Methoden an.«

Karn war durch und durch Wissenschaftler. Er sah die Welt als großes Experiment, das es zu verstehen galt, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Und im Moment war Vi eine unvorhergesehene Variable, die er einordnen musste. Doch jetzt musterte er nicht sie wie die Auswertung einer Datenanalyse, sondern One. Was wollte er wirklich testen in den nächsten drei Monaten: Vis Fähigkeiten oder die Motive seines Sohnes? Letzteres interessierte nicht nur ihn.

Dann kehrte Karns Aufmerksamkeit zu ihr zurück. »Melody, du bist ab jetzt mein Gast. Du kannst dich im Regierungstower beinahe uneingeschränkt bewegen. Es gibt Areale, zu denen du keinen Zutritt hast. Eine weitere Tür, die für dich tabu ist, ist der Ausgang. Jetzt, wo du endlich zu uns gefunden hast, können wir nicht riskieren, dass du wieder verloren gehst«, sagte er sanft.

Plötzlich erschien ihr das gigantische Büro bedrückend eng. Vi war kein Gast, sondern Karns Gefangene. Aber es musste einen Weg geben, wie sie den Tower wieder verlassen konnte. Oder?

Für Karn schien damit alles gesagt. Er widmete sich einem Monitor auf dem Schreibtisch und der aalglatte Mann von vorhin geleitete sie aus dem Büro hinaus. Gerade als Vi aus der Tür treten wollte, schnitt die Stimme des Präsidenten durch die Luft.

»Enttäusche mich nicht, Melody Vitex.«

Vi drehte sich zu ihm um.

Diesmal lächelte nicht mal sein Mund. »Mich zu enttäuschen, hieße Bakkai zu enttäuschen. Und das kann ich nicht zulassen. Verstehst du?«

Sie schluckte schwer und nickte kurz. Die Drohung hätte kaum deutlicher sein können. Als er den Blick abwandte, huschte sie aus der Tür in die Halle.

Four stand sofort vor ihr. »Du sollst eine Geist-Magi sein? Dass ich nicht lache. So ein Mäuschen soll sich in die Köpfe anderer Leute schmuggeln können?«

Nach Karns Drohung wirkten Fours Sticheleien fast albern. Vi gähnte. Sie hatte beinahe vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen.

Four schob ihr Gesicht ganz nah vor Vis. »Nur dass du es weißt, One gehört zu mir. Auch wenn er jetzt den Babysitter für dich spielen muss, heißt das gar nichts.«

Was bildete Four sich ein? Vi hätte nicht gedacht, dass sie nochmal jemand so nerven könnte wie Maria. Vi musste so schnell wie möglich anfangen, sich zu behaupten, wenn sie eine Vollkommene werden wollte. »Ich bin hier, weil du mich hergeschleppt hast. Lebe mit den Konsequenzen, Mäuschen!«

Six kicherte. Fours Gesichtsfarbe wechselte von blass zu rot, sie kreischte und wollte sich auf Vi werfen. Doch dann erstarrte sie plötzlich mitten in der Bewegung, die Hände rechts und links neben Vis Schultern, ohne sie zu berühren. One trat hinter sie und zog sie mit einem Arm um ihren Oberkörper von Vi weg.

»Lass dich nicht reizen«, war alles, was er sagte.

So von ihm angesprochen, wandelte sich ihre Stimmung schlagartig. Four wurde weich und schmiegte sich an Ones Brust.

Mit großen Augen, in denen Tränen glitzerten, schaute sie zu ihm auf. »Aber wenn sie so gemeine Sachen sagt …«

Mit unbewegtem Gesicht schaute er Fours Schauspiel zu. Es schien ihn ähnlich zu beeindrucken wie Vi. Dennoch beugte er sich schließlich zu ihr hinunter und küsste sie. Vielleicht empfand er doch etwas für Four. Wieder ein Eintrag für die Liste der Rätsel, die sie im Moment nicht lösen konnte.

Um ihnen nicht beim Küssen zugucken zu müssen, wandte sie sich an Five, die die beiden unverhohlen spöttisch anschaute. »Ich bin müde. Gibt’s hier ein Zimmer für mich?«

Five schaute sie abfällig an. »Bin ich dein Babysitter oder One? Mir doch egal, wo du schläfst. Du kannst ja bei denen auf der Bettkante sitzen.«

Die Zwillinge lachten böse. Four hatte sich inzwischen an Ones Brust geklammert und lächelte zufrieden mit geschlossenen Augen.

One drückte sie von sich und wandte sich an Vi. »Es gibt Gästezimmer in diesem Stockwerk.«

Der unscheinbare Mann stand plötzlich neben One. Vi hatte ihn völlig vergessen.

»Vince, gib ihr ein Zimmer und sorg dafür, dass sie alles bekommt, was sie braucht.« An Vi gerichtet fuhr One fort: »Vince wird sich um alles kümmern. Leg dich schlafen. Morgen früh beginnen wir mit dem Training.«

Vince deutete eine Verbeugung One gegenüber an und tippte sich an seine Schläfe. »Bitte folge mir, Melody.«

Mit einem letzten Blick auf One, der schon wieder von Four belagert wurde, setzte sie sich in Bewegung.

Selbst Vinces Stimme war so eintönig, dass sie ihren Klang unter mehreren kaum wiedererkannt hätte. »In diesem Flur liegt dein Zimmer. Es ist eine große Ehre, hier zu logieren. Die halbe Etage ist für den Empfang offizieller Gäste der Stadt reserviert.«

Von wegen Ehre … Vis Gefängnis mochte groß und luxuriös sein, aber es blieb trotzdem ein Gefängnis.

Das Zimmer, in das Vince sie führte, war so groß wie ihr gesamtes altes Appartement. Auch hier hatte sie Ausblick auf ein wunderschönes Panorama. Das Bett stand so an einer halbhohen Wand, dass sie aus dem Fenster schauen konnte, wenn sie sich darin aufsetzte. Es gab einen großen Bildschirm in der Wand und ein Badezimmer voller Marmor und Chrom. Es war elegant, aber das Badezimmer in Alex‘ Baumhaus hatte sie mehr beeindruckt. Alex! Unter dem Vorwand, sich das Panorama anzuschauen, drehte sie Vince den Rücken zu. Niemand von der Regierung sollte ihre Schwäche sehen.

»Morgen früh bekommst du ein Frühstück. Du kannst es über deinen BioLink auswählen.«

Frühstück, daran konnte sie sich festhalten. »Wie kann ich das?«

»Über den BioLink hast du Zugriff auf RoomKI, unseren Gästeservice, solange du als Gästin hier registriert bist. Wenn du wünschst, können wir auch …«, er musterte sie von oben bis unten, »… angemessenere Kleidung zur Verfügung stellen.«

Vi blickte an sich herab und fühlte sich plötzlich schäbig. Die graue Hose hatte ein Loch am Knie und die Jacke kam ihr staubig vor zwischen all dem Glanz in diesem Zimmer. Um hier bestehen zu können, sollte sie sich äußerlich anpassen.

»Ja, gern«, sagte sie nickend.

»Benötigst du sonst noch etwas?«

Nur, dass du mich endlich in Ruhe lässt. »Nein, vielen Dank.«

Die Tür fiel hinter ihm dumpf ins Schloss und sie blieb allein zurück.

Doch auch ohne ihn im Zimmer würde sie hier nicht unbeobachtet sein. Nicht mal unter der … Dusche! Selbst wenn sie so weit gingen, sie auch dort zu filmen, würde man wenigstens ihre Tränen nicht sehen.

Das Wasser floss weich und warm über ihre Haut. Diese Nacht war so anders verlaufen als Vi erwartet hatte. Ones Überraschung über Fours Auftauchen konnte nicht gespielt gewesen sein, oder? Was sollte es ihm auch nützen, dass er sie jetzt hierher verfrachtet hatte? Allerdings blieb er völlig undurchschaubar für sie, also musste sie sich auf alles gefasst machen.

Mit nassen Haaren und nur dem flauschigen Bademantel bekleidet, ließ Vi sich auf das große Bett fallen. Der Himmel über der leuchtenden Stadt war pechschwarz, kein einziger Stern funkelte am Firmament.

Irgendwo da draußen waren ihre Freunde. Sie wussten wahrscheinlich schon, dass etwas schiefgelaufen war. Tim würde verrückt werden vor Sorge. Wenn sie ihnen doch nur eine Nachricht schicken könnte! Aber mit Sicherheit überwachte die Regierung seit dem Moment, in dem sie den Aufzug betreten hatte, alle Aktivitäten ihres BioLinks.

Wie sollte sie das nur überstehen? Würde sie Tim, Jo und Izzy jemals wiedersehen? Sie rollte sich auf dem Bett zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sollen sie doch sehen, dass sie nicht aus Stein war.

Was würde sie jetzt darum geben, auf einer harten Matratze im Einkaufszentrum zu liegen oder sich ein enges Bett mit Alex zu teilen, während er sie im Schlaf an sich zog. All das wäre so viel besser, als allein in diesem riesigen weichen Bett zu liegen und von Feinden umgeben zu sein. Was, wenn die Zeit bei den Freien nur eine kurze und vergängliche Phase des Glücks gewesen war? Sie würde vielleicht den Rest ihres Lebens von Menschen umgeben sein, die sich ihren Tod wünschten.

Die RoomKI schien ihre Erschöpfung zu registrieren, denn das Licht wurde schummrig und ging dann ganz aus. Nur von den flackernden Lichtern der Stadt beschienen, weinte Vi sich in den Schlaf.

Die Vollkommenen

Vi hielt eine Tunika mit grünroten Spiralen vor sich und verzog das Gesicht. Die meisten Stücke der neuen Kleidung, die ihr am Morgen gebracht worden waren, hatten die für Innenstädter typischen wilden Muster. Anpassung schön und gut, aber das konnte sie ihren Augen dann doch nicht antun.

Am Ende entschied sie sich für die unauffälligsten Stücke, die sie finden konnte: eine graue Stoffhose und einen schlichten Rollkragen-Pullover in Lila, der wunderbar weich war. Außerdem würde der hohe Kragen sie vor weiteren neugierigen Blicken auf ihre Markierung bewahren. Selbst neue Schuhe hatten sie ihr gebracht. Sie passten wie alle anderen Sachen perfekt. Vermutlich hatte der BioLink ihre Daten an RoomKI übermittelt.

Da sie gestern mit nassen Haaren eingeschlafen war, fielen sie in leicht krausen Wellen auf ihre Schultern. Kurz drückte sie sie mit den Fingern platt, ohne Ergebnis. Ach, die neue Kleidung musste reichen. Ihr Spiegelbild wirkte bereits fremd genug auf sie.

Vi seufzte. So wie es aussah, konnte sie Karns Fängen nicht entkommen. Sie hatte keine Möglichkeit, die Freien zu benachrichtigen, ohne sie in Gefahr zu bringen, und es gab im Moment keinen Weg hier raus. Der Schlüssel zu ihrer Freiheit lag in ihren Fähigkeiten. Nur wenn sie die vollständig meisterte, hatte sie eine Chance, einen Ausweg zu finden. Also würde sie erst einmal mitspielen und versuchen, so viel wie möglich herauszufinden. Außerdem musste Martha hier irgendwo sein. Vi würde sie finden. Um ihre Sache gut zu machen, sollte sie den Eindruck erwecken, als wäre sie mit allem einverstanden, was hier passierte.

Ihre Überlegungen wurden von dem vertrauten Kribbeln in ihrem Hinterkopf unterbrochen. Sie öffnete die Tür, um One hereinzulassen.

Sein Blick wanderte ziellos durchs Zimmer und er rieb sich den Nacken. »Gut geschlafen?«

Vi musste ein bissiges Lachen unterdrücken, das diese unbeholfene Frage in ihrer Kehle aufsteigen ließ. Aber was hätte er auch sagen sollen? ›Tut mir leid, dass du wegen mir eine Geisel der Regierung bist‹ wäre wohl noch merkwürdiger gewesen.

»Wie man eben so schläft, wenn man entführt worden ist«, antwortete sie schulterzuckend.

Ones Blick heftete sich an ihr Gesicht und seine Miene nahm einen finsteren Ausdruck an. »Du solltest hier jederzeit und überall darauf achten, was du sagst.«

Damit bestätigte er ihre Befürchtungen, dass die Augen und Ohren der Regierung überall waren.

»Das Frühstück war gut«, sagte sie betont freundlich, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte.

Er nickte. »Gut, dann können wir gleich weitermachen, wo wir gestern unterbrochen worden sind. Aber nicht hier.«

Sie fuhren mit dem Aufzug runter in den neunundfünfzigsten Stock. Durch einen kleinen Vorraum gelangten sie in eine riesige Etage, die auf den ersten Blick komplett offen wirkte. Bei genauerem Hinsehen erkannte Vi aber, dass Glaswände die gesamte Etage durchzogen und sie so in viele Räume unterteilten. Es wirkte wie eine sehr große Holo-Spielhalle. Einige Kabinen waren besetzt.

Vi war schon nach kurzer Zeit verwirrt, aber One fand sicher seinen Weg durch die gläsernen Flure. Sie bemühte sich, One dicht auf den Fersen zu bleiben, damit sie nicht gegen eine der durchsichtigen Wände knallte.

»Das hier ist die Trainingsetage für Magi«, erklärte er über die Schulter. »Das Glas ist doppelwandig. Im Inneren sind Energiebarrieren gespeichert. So können die Magi ungehemmt trainieren, ohne Rücksicht nehmen zu müssen. Jeder, der für die Regierung arbeitet, kann die Räume reservieren.«

Er blieb stehen und tippte sich an die Schläfe. Neben ihnen öffnete sich eine Tür und sie traten in einen Raum an der Außenwand der Etage, dessen hohe Fenster den Blick auf die anderen Gebäude im Umkreis freigaben.

Zwar waren sie hier nicht so weit oben wie im hundertsten Stock, aber jetzt war es Tag und Vi konnte mehr Details der Fassaden vor dem Fenster erkennen. Unten auf den Straßen wuselten dutzende Menschen herum, die aus der Entfernung winzig wirkten. Komisch, für die da unten war es ein ganz normaler Tag, während sich für sie alles so fremd anfühlte. Dieses Bakkai kannte sie nicht. Es hätte genauso gut eine völlig andere Stadt sein können.

»Wo sind wir gestern stehen geblieben?«, fragte One.

Vi riss sich von dem Panorama los und tippte sich in gespielter Überlegung ans Kinn. »Meinst du den Teil, wo wir auf dem Hallenboden saßen oder den, als deine Freundin mich entführt hat?«

Er verzog das Gesicht. »Nenn sie nicht so.«

»Ist sie etwa nicht deine Freundin?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist halt Four und sie hat nichts hiermit zu tun.«

»Ach nein? Ohne sie wäre ich wohl kaum hier«, sagte Vi wütend.

Sie bereute die Worte sofort, als sich sein Gesicht verfinsterte. Ein plötzlicher Druck legte sich um ihren gesamten Körper und sie konnte sich keinen Zentimeter mehr rühren.

Ones Stimme nahm wieder diesen kalten Ton an. »Wir sind nicht hier, um zu plaudern. Willst du es jetzt lernen oder nicht? Und bevor du antwortest: Karn hat die Drohung gestern bitterernst gemeint. Enttäusche ihn und du bist tot.«

Seine Stimme klang so hart wie die seines Vaters. Aber während Karns Worte ihr Herz wie Stahlhämmer zerquetscht hatten, schnitt Ones Kälte wie Eis.

»Ich will es lernen«, sagte sie ernst.

Er ließ die Energiefessel um sie herum verschwinden und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Trotz dieses Angriffs hatte sie keine Angst vor ihm. Er war nicht bösartig. Es war, wie er damals im Wald gesagt hatte. Er versuchte nur, zu überleben. Allerdings ergab es wenig Sinn, dass er sich nun Vi als Bürde ans Bein gebunden hatte.

Sie setzten sich einander gegenüber auf den Boden, wie schon letzte Nacht in der Lagerhalle. War das wirklich nicht mal vierundzwanzig Stunden her?

»Wir sprachen von Meditation«, sagte Vi versöhnlich.

Er atmete lang aus und nickte. »Früher war es eher eine religiöse Praxis, etwa um Erleuchtung zu erlangen. Aber dann erforschte die Wissenschaft diese Techniken und fand heraus, dass man damit tatsächlich Körper und Geist beeinflussen kann. Heute ist es einfach ein weiteres Werkzeug für die endlose Selbstfixierung der Innenstädter. Aber wenn du es richtig machst, wird es dir helfen, deinen Geist zu leeren. Du lenkst deine Aufmerksamkeit zuerst auf Dinge im Außen – also außerhalb deiner Gedanken. Das kann in deiner Umgebung sein oder in deinem Körper. Da gibt es verschiedene Ansätze. Wir finden heraus, was für dich am besten passt.«

»Nutzt du es auch?«

»Ja. Mir hilft es, mich auf ein kleines Detail meiner Umgebung zu konzentrieren und ganz in dessen Wahrnehmung aufzugehen. Probiere es auch mal. Such dir etwas, was deine Aufmerksamkeit auf sich zieht.«

Vi ließ ihren Blick schweifen. Zwei verschwitzte Magi in einer nahen Kabine hatten ihre Übungen unterbrochen und starrten sie an. Auch die restlichen Menschen, die in Vis Sichtfeld waren, hatten ihre Aufmerksamkeit auf sie und One gerichtet und tuschelten mit zusammengesteckten Köpfen. Sie fühlte sich klein unter ihrem Starren. So viel zum Thema Konzentration …

One folgte ihrem Blick. Er seufzte, beugte sich zur Seite und legte die Fingerspitzen an das Glas. Es wurde milchig und versperrte ihrem Publikum die Sicht.

Vi atmete erleichtert auf. Und weiter. Gerade als sie eine Unregelmäßigkeit im Muster auf dem Fußboden entdeckte, die ihr für ihre Übung geeignet schien, öffnete sich die Tür.

Eine blonde Frau trat ein. »Sieh an.«

»Was willst du hier?« Ones Stimme klang sehr ungeduldig.

»Ich muss mich doch vorstellen. Wir wollen das kleine Reh ja nicht ganz dir überlassen. Am Ende gewöhnt sie sich noch zu sehr an dich.« Ihre Stimme klang sanft, aber es lauerte etwas Gefährliches darin. Das Haar an ihren Schädelseiten war kurz abrasiert. Den Rest ihres Schopfes trug sie in einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der ihr locker auf den Rücken fiel. Einzelne hineingeflochtene Zöpfe verliehen ihr etwas unpassend Verspieltes. Ihr schmales Gesicht wirkte hart, ihr Blick verkniffen und wachsam. Sie war nicht groß und eher stämmig, durch und durch eine Kriegerin. »Ich bin Two und du musst Melody sein.«

Bevor sie nachdenken konnte, war sie schon aufgesprungen. Giftiger Hass wallte in ihr auf. Vor ihr stand die Mörderin ihrer Eltern. Aber was sollte sie schon tun? Sie hatte Two, der zweitstärksten Vollkommenen, nichts entgegenzusetzen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte sie grimmig an.

Twos Augen leuchteten amüsiert. »Und? Hast du was drauf? Muss ich mir Sorgen um meine Stellung machen?«

»Noch nicht«, presste Vi hervor.

Two lachte auf. »Selbstbewusst, das gefällt mir.« Ihr Blick wurde böse. »Dann macht es mehr Spaß, dich zu brechen. Übrigens: Genauso wie du jetzt, hat deine Mutter auch geguckt, als sie mit anschauen musste, wie ich dich deinem Vater entriss.« Sie schaute betont gelangweilt auf ihre Nägel. »Schwache Menschen.«

Die Glaswände schienen zu kippen. Ihre Mutter! Diese Frau hatte sie aus Vis Leben geschnitten. Hass ätzte durch ihre Gedanken, bis nur noch brennender Schmerz übrig war. Alles, was sie tun konnte, war, Two weiter anzustarren.

»Das reicht jetzt.« One war aufgestanden und trat zwischen sie und Two. »Verschwinde, du störst das Training.«

»Und genau das ist mein Ziel«, antwortete sie zufrieden.

Bevor One etwas entgegnen konnte, ging die Tür erneut auf. Ein Mann in einem quietschgrünen Anzug betrat den Raum. Sein langes, schwarzes Haar hatte er im Nacken zusammengebunden.

Ones Kiefer verkrampfte sich. »Nicht du auch noch.«

Der Neuankömmling grinste und sah mit dem Anzug aus wie ein Showmaster. »Lange nicht gesehen, One. Ich habe gehört, du hast ein neues Spielzeug?«

Er trat auf Vi zu, nahm ihre Hand und hauchte einen Handkuss darauf. »Darf ich mich vorstellen: Three. Aber das hast du vielleicht schon erraten.«

Vi entzog sich seinem Griff und trat zittrig einen Schritt zurück. Sie befand sich mit drei der vier gefährlichsten Menschen Bakkais in einem Raum. Und allein die letzten Minuten bewiesen, dass sie auf keinen Fall in ihre Intrigen geraten durfte.

Three schaute gespielt besorgt zu den anderen beiden. »Ist sie verbuggt, oder so?«

»Verschwindet hier, alle beide«, sagte One schneidend zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Aber sie machten keine Anstalten, dieser Aufforderung zu folgen. Stattdessen ging die Tür ein drittes Mal auf und Four kam mit Five und Six herein.

»Schon wieder eine Party, zu der ich nicht eingeladen bin, Honey?«

One massierte sich mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel. Er sah aus, als wollte er seinen Kopf gegen eine der Glaswände donnern. Oder vielleicht eher den Kopf einer der anderen anwesenden Personen. Das könnte Vi ihm kaum verdenken.

Four schien das nicht zu bemerken. »Lila ist nicht deine Farbe, Mäuschen. Du solltest bei deinem Dreck bleiben, das stand dir besser.«

Nach Twos harten Tiefschlägen und Threes Schmierigkeit waren ihre oberflächlichen Sticheleien merkwürdig tröstlich. Vi war Four fast dankbar, weil ihr das die Fassung zurückbrachte. Sie würde sich nicht herumschubsen lassen, von keinem von ihnen.

»Wie schmeichelhaft, dass ihr so viel Interesse an mir habt. Danke für das herzliche Willkommen. Was für eine Ehre, gleich von allen Vollkommenen auf einmal aufgesucht zu werden. Aber ihr müsst mir schon die Chance geben, mein Training aufzuholen. Oder soll man denken, ihr hättet Angst vor einem jungen Ding, das seine Kräfte nicht im Griff hat?«

Sie hatte keine Ahnung, wo sie den Mut hernahm, so mit ihnen zu reden. Doch die Worte schienen Eindruck zu hinterlassen, wenn auch nicht den gewünschten. Two, die sich gegen die Glaswand gelehnt hatte, schnellte vor, hob den Arm und drückte Vi mit einem Energiesturm so fest an das Fenster, dass sie kaum atmen konnte. Aber der Druck auf ihrer Brust schwand so schnell, wie er gekommen war. Two hob eine Hand an die Stirn, während sie One finster musterte. Er hatte sich nicht bewegt, aber er musste mit Geist zugeschlagen haben.

»Ich kann euch nicht ertragen«, sagte er leise. Er ging auf Vi zu und packte sie am Handgelenk. »Komm mit. Wenn sie nicht gehen, verschwinden wir halt.«

»Honey! Hau nicht ab. Vor allem nicht mit ihr«, flehte Four und stellte sich ihm in den Weg.

Vi konnte Ones Gesicht nicht sehen, aber Four wurde blass und trat beiseite, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Dann stieß er die Tür auf und zog Vi hinter sich her.

Im Aufzug drückte er den Knopf zur hundertzehnten Etage und atmete tief durch, als sie sich in Bewegung setzten. »Wir gehen in meine Wohnung.«

»Folgen sie uns dahin nicht auch?«

»Nein, auf die ganze Etage kommt niemand, den ich da nicht haben will. Keiner kann mithören und keiner der Vollkommenen außer mir war jemals dort.«

Vi staunte. »Nicht mal Four?«

»Ich hab dir gesagt, dass sie nicht meine Freundin ist.«

»Sie scheint das anders zu sehen.«

Zusammen verließen sie den Aufzug und standen in einem Flur, von dem in regelmäßigen Abständen Türen abgingen. Das mussten alles Wohnungen sein. Er verfügte über viel Einfluss, wenn er eine ganze Etage voller Wohnungen für sich beanspruchen konnte. Aber das war wohl keine Überraschung, wenn sie bedachte, wer er war.

»Ich lasse Four in dem Glauben, weil sie die Einzige ist, die ihre Anwesenheit vor mir verstecken kann.«

Bevor Vi fragen konnte, was er damit meinte, öffnete One eine Tür und bat sie mit einer Armbewegung herein.

Sie betrat ein Wohnzimmer. Die Aussicht durch die riesige Fensterfront war überwältigender als jede, die Vi bisher gesehen hatte. Sie befanden sich jetzt höher als alle anderen Gebäude auf dieser Seite der Stadt und zwischen den Hochhäusern konnte sie bis zum Horizont schauen.

Die Mitte des Zimmers nahm ein riesiges Ecksofa ein, das zum Fenster und zu einem großen Screen an der rechten Wand ausgerichtet war. Ein Couchtisch stand daneben und die übrigen Wände säumten Regale, auf denen allerhand Kuriositäten Platz fanden: Teile alter Computer, Kristalle und sogar Bücher. Ein seltener Anblick in Bakkai. War er ein Sammler? Das passte nicht zu ihrem Bild von ihm.

One musste ihrem Blick gefolgt sein, denn er sagte: »Das war alles schon so. Die Wohnungen hier werden vorher eingerichtet, um die fehlende Persönlichkeit ihrer Bewohner zu überdecken. Ich hab die mit dem wenigsten Kram genommen.«

Aha! Aber auch wenn das alles nicht von ihm ausgesucht worden war, wirkte die Wohnung gemütlich. Ein Teppich lag unter dem Couchtisch, über einem Stuhl hing eine Jacke und ein Buch ruhte aufgeschlagen auf einem Tisch in der Ecke. Der Raum sah bewohnt aus und nicht, als hätte er ihn nur für die Follower im Net eingerichtet.

One setzte sich auf die Couch und rieb sich das Gesicht. »Jetzt hast du sie alle kennengelernt.«

Vi fiel neben ihn auf die Polster und ließ ihren Blick über die Dächer der Stadt schweifen. »Sie sind doch alle ganz reizend. Ich hab sie schon in mein Herz geschlossen.«

One machte ein Geräusch unter den Händen und seine Schultern zuckten. Er lachte! Aber die Regung verflog schnell wieder.

Er schaute sie ernst an. »Sie sind vor allem gefährlich. Wir müssen dich schnell auf ihr Level bekommen.«