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Die bekannte Psychologin Ulrike Scheuermann geht der Frage nach, warum wir das Schlechte verdrängen, das Unschöne ablehnen und dafür das Makellose anstreben. Und dabei gründlich irren. Auf Basis neuester wissenschaftlicher Studien weist sie hier den Weg, wie wir innerlich frei werden, indem wir unsere unvollkommenen Seiten annehmen. Ein Anwenderbuch mit Tiefgang, Fallbeispielen und lebensverändernder Kraft.
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Seitenzahl: 298
Ulrike Scheuermann
Innerlich frei
Was wir gewinnen,wenn wir unsereungeliebten Seiten annehmen
Knaur e-books
Die bekannte Psychologin Ulrike Scheuermann geht der Frage nach, warum wir das Schlechte verdrängen, das Unschöne ablehnen und dafür das Makellose anstreben. Und dabei gründlich irren. Auf Basis neuester wissenschaftlicher Studien weist sie hier den Weg, wie wir innerlich frei werden, indem wir unsere unvollkommenen Seiten annehmen. Ein Anwenderbuch mit Tiefgang, Fallbeispielen und lebensverändernder Kraft.
»Innerlich frei« fordert Sie immer wieder auf, das Gelesene mit Impulsen für den Alltag direkt für sich anzuwenden. Wenn dieses Symbol auftaucht, sollten Sie ein Notizbuch zur Hand nehmen und aufschreiben, was Ihnen zu der Frage einfällt.
Die Salbe roch wie frischer Bitumenbelag beim Straßenbau. »Halt still!«, rief meine Mutter morgens, noch zu Hause, und lachte, weil ich ihr voller Vorfreude auf den Wandertag ständig davonhopste. Ich mochte das Toben mit den Kindern aus meiner Klasse in den Berliner Wäldern, an Seen und Flussläufen entlang. Millimeterdick trug meine Mutter jetzt die entzündungshemmende schwarze Ichthyolsalbe auf die kaputte Haut meiner Beine auf und umwickelte sie mit Mullbinden.
Später rannte ich mit ein paar Jungs querfeldein, und da rutschte nach und nach der dicke Verband unter meiner Jeans tiefer, bis er sich über den Schuhen stapelte. David, den ich ziemlich nett fand, lief neben mir und sagte: »Es riecht hier nach Teer, was ist das bloß?« – »Ja«, sagte ich und runzelte die Stirn. »Wirklich komisch, ich rieche es auch.« Ich war so gut im Verbergen, dass ich mir fast selbst glaubte.
Dass mein Leben, dass mein Körper nicht so ist, wie ich ihn gern hätte, habe ich gründlich in den ersten 25 Jahren meines Lebens erfahren müssen. Heute, zwanzig Jahre später, kann ich erkennen, wie ich von dieser Lernerfahrung profitiert habe: Ich bin von klein auf vertraut mit dem unausweichlichen Wechsel zwischen Positivem und Negativem, in diesem Fall zwischen Gesund- und Kranksein. Eine immer noch rätselhafte chronische Hautkrankheit hat nämlich mein Kinderleben bestimmt: Neurodermitis. Die Symptome brechen oft ohne erkennbaren Grund aus und klingen wieder ab, bis zur nächsten Runde. Ich war ein »schwerer Fall«, wurde mit Antibiotika, Antiallergika und reichlich Cortison von oben bis unten behandelt. Und ich selbst suchte immer neue, kreative Lösungen für ein Problem, das in meiner Kindheit nicht lösbar war.
Ich bastelte mir zum Beispiel Gipsröhren, die ich vor dem Schlafengehen über meine Arme streifte. Über die Hände und die unteren Röhrenenden zog ich Frotteesocken, so dass das Ganze hielt. Ich legte mich auf den Rücken, biss die Zähne zusammen und hoffte, die Nacht über Ruhe vor mir selbst zu haben. Wenn ich Pech hatte, riss ich mir im Schlaf alles ab. Aber selbst bei glücklich überstandener Nacht holte ich morgens nach, was ich zuvor verhindert hatte. Der Juckreiz war stärker. Ich konnte den Kampf gegen die Krankheit nicht gewinnen.
Ich bin ohne die Illusion aufgewachsen, es gäbe gute ohne schlechte Zeiten. Alle paar Wochen oder Monate neu fand ich notgedrungen nach einigen Tagen Hadern immer wieder zu der Gewissheit: »Es ist, wie es ist.« Rückblickend betrachtet war diese Krankheit aber nicht nur das Leid meiner Kindheit, sondern auch das Lerngeschenk, das mir bis heute hilft, in anderen Lebensbereichen ebenfalls bereitwilliger alle Seiten anzunehmen.
Und noch etwas aus dieser Zeit ist wertvoll für mein heutiges Leben und meine Arbeit mit anderen Menschen: Ich kann bei ihnen sehr gut nachempfinden, wie es ist, aus Scham und aus Angst vor Ablehnung einen Teil seiner selbst zu verstecken. Gegenüber David tat ich damals so, als käme der Salbengeruch nicht von mir. Für den Schwimmunterricht fand ich immer kühnere Ausreden. Und in der Klasse klappte ich meinen Kragen über die zerfurchte Nackenhaut hoch als Sichtschutz gegen die Blicke der Mitschüler. Ich tat als Kind alles, um das vermeintlich Abstoßende an mir zu verstecken. Ich weiß also, wie das geht, wie man sich dabei fühlt – und wie massiv es schwächt, wenn man sich versteckt. Und ich weiß mittlerweile, wie sehr es stärkt, wenn man sich mit seinen ungeliebten Seiten annimmt.
Mein Entschluss, dieses Buch zu schreiben, entstand aus meiner Arbeit mit Klienten. Eine Frau Mitte fünfzig saß mir gegenüber und schaute stur auf das zerknüllte Taschentuch zwischen ihren Fingern. »Mein Mann ist seit anderthalb Jahren tot, und ich jammere hier immer noch rum. Ich schäme mich dafür. Die anderen können es auch schon nicht mehr hören.« Und dann fragte sie mich allen Ernstes, ob ich überhaupt noch mit ihr arbeiten wolle bei so viel »Klagerei«.
Immer wieder verurteilen sich Menschen selbst, weil sie nicht wirklich glücklich seien, weil sie immer noch Zeiten erlebten, in denen sie traurig oder wütend seien und an sich selbst zweifelten. Weil sie immer noch keine Traumbeziehung führten wie das Paar von nebenan, keine so coole Familie hätten wie etwa Brad Pitt und Angelina Jolie, nicht so lässig und selbstsicher Karriere machten wie diese Superkollegin – oder weil sie einfach nicht an diesen tollen Til Schweiger im Fernsehen herankämen …
Ein solches Streben nach Großartigkeit ist unrealistisch. Wir werden dadurch nicht größer, sondern machen uns klein, weil wir einen wesentlichen Teil von uns ablehnen – ebenso wie wir bei den vermeintlichen Vorbildern ja auch einen wesentlichen Teil von deren Realität erst gar nicht wahrnehmen. Aber den meisten ist nicht klar, wie sie sich anders ausrichten können. Nur vordergründig zu sagen: »Ich sch … auf den hohen Anspruch«, oder: »Ich bleib, wie ich bin«, bremst uns in unserer Entwicklung und hält außerdem nur höchstens bis zum nächsten Mal, wenn wir wieder Neid empfinden oder an unserem Selbstwert zweifeln. Gehen wir stattdessen tiefer: bis hin zu unseren eigenen Abgründen und ins Unbewusste, wo wir die Wurzeln unserer Ängste, Blockierungen und Unfreiheiten finden und dann im Idealfall auflösen können.
Und blicken wir auch über uns hinaus: Nicht alle Ansprüche unserer Gesellschaft und Kultur sind Werte an sich. Vor allem die teilweise unrealistischen Vorstellungen, die uns das einseitige Dauerglück versprechen, sind in der Regel interessengesteuert. Perfekt sollte das eigene Leben sein? In der Realität ist es das nie. Manche Menschen zerbrechen fast an dieser Diskrepanz.
Ich möchte Ihnen mit diesem Buch Impulse geben. Damit Sie nicht mehr glauben, immer weiterrennen zu müssen, damit Sie nichts mehr verstecken – weder vor sich selbst noch vor anderen – und so mehr »Ganzheit« im Sinne von »Vollständigkeit« entwickeln. Ich möchte Ihnen zeigen, dass Sie Ihr Wesentliches mit alldem leben können, was Sie ausmacht, ganz und gar statt nur mit dem makellosen, leicht vorzeigbaren Teil Ihrer selbst. Sie müssen nicht all Ihre Unzulänglichkeiten aus der Welt geschafft oder überwunden haben, um wertvoll und wichtig zu sein oder um sich weiterzuentwickeln. Im Gegenteil. Nur gemeinsam mit Ihren bisher ungeliebten Seiten geht Ihre Entwicklung wirklich weiter, Sie werden vollständiger und verstehen mehr. Sie nehmen Ihr Selbst liebevoller an. Und das gilt ebenso für uns als Gesellschaft und als Teil einer zusammengerückten Welt.
Wie wäre es also, wenn wir das vermeintlich Negative nicht mehr verdrängten, sondern es in unser Leben einließen? Wie wäre es, nicht kategorisch zu bewerten, bis Perfekt und Unperfekt, Gut und Schlecht, Hell und Dunkel – jedes an seinem Platz und im angemessenen Rahmen beachtet – »gleichwertig« nebeneinander bestehen könnten? Bei uns selbst, unseren Mitmenschen und in der ganzen Welt? Wie wäre es, beides zugleich zu sehen, zu leben und zu sein? Und dann auch andere und die Welt so sehen zu können? (Der Grafiker M. C. Escher hat seine Kunst dieser Sichtweise gewidmet. Blättern Sie mal ein Buch mit seinen Bildern durch:[1] Sie finden eine sichtbar gemachte Einheit unserer dualen Welt.)
So weit sind die meisten Menschen noch nicht. Stattdessen beherrscht vielfach das Ideal von ungetrübtem Glück und Perfektion ihre Vorstellung vom Leben. Wer die Formel für Glück, Erfolg, Liebe oder Reichtum kenne und genug an sich arbeite, könne dort ankommen – dieser Irrtum vom Glück ohne Unglück wird uns wie gesagt vielfach vorgegaukelt. Obwohl wir täglich sehen, dass es immer weiter Ungerechtigkeit, Armut, Gewalt und Leid in der Welt gibt. Und dieses Leid der Welt wird wohl weiterbestehen. Wir jedoch meinen, alles sogenannte Negative im Leben hindere uns nur am Glück, und bekämpfen es, anstatt das Leben mit diesem Negativen anzunehmen und es als sinnhaften Lernanlass für unsere Entwicklung zu erkennen.
Deshalb möchte ich Ihnen im ersten Teil dieses Buches – »Gefangen« – zeigen, welchem Irrtum wir mit einem einseitigen Glücksverständnis aufsitzen und wie es uns gefangen und im inneren Stillstand hält. Sie durchschauen die Mechanismen. Im zweiten Teil – »Frei« – erzähle ich, wie ein Weg zur inneren Freiheit aussehen kann. Wenn Sie innehalten, können Sie sich entspannen, auch im Miteinander. Und wenn das Vermeiden von Schmerzen kein alleiniges Kriterium für Ihre Lebensentscheidungen mehr ist, müssen Sie auch vor nichts mehr weglaufen. Im dritten Teil – »Erfüllt« – beschreibe ich, wie ein Leben sein kann, das Sie mit allen Seiten annehmen, in dem Sie andere Menschen in Liebe sein lassen und in dem Sie sinnerfüllt leben. Erst jenseits eines einseitigen Strebens nach Glück finden Sie zu Ihrem wahren Selbst und leben Ihr »Wozu« – zur zweiten Art von Glück.
Ein paar Sätze noch zu meinem Buchkonzept: Ich möchte Ihnen in erster Linie Denkanstöße für Ihre Haltung sich selbst und dem Leben gegenüber geben. Wenn wir uns intensiv mit etwas beschäftigen, verändern neue Gedanken und Ideen etwas in uns, sie wirken bis ins Unbewusste. Zugleich sind die Wege, um sich weiterzuentwickeln, sehr verschieden, auch beim Lesen.
Manche wünschen sich konkrete Anregungen für die Umsetzung im Alltag. Dafür finden Sie Impulse am Ende jedes Kapitels unter der Überschrift »Für den Alltag«. Meist sind es Fragen zum Bewusstmachen und zur Reflexion über sich selbst, auch mal ein Spiel oder eine Übung zu Veränderungen im Alltag. Ich gebe jedoch keine allgemeingültigen Tipps und Ratschläge, sie passen nicht zu meiner psychologischen Arbeit und wären Zufallstreffer, weil ich Sie ja nicht kenne. Die Menschen, mit denen ich arbeite, übernehmen selbst die Verantwortung für ihre Entwicklung.
Für dieses Buch habe ich viele Gespräche über innere Freiheit und ein erfülltes Leben geführt. Die Gespräche sind kostbar. Vier davon habe ich ausgewählt und erzähle von ihnen und den Menschen am Ende dieses Buches. Die dazugehörigen Videoaufzeichnungen der Gespräche sowie weitere Inspirationen finden Sie auf der Buch-Website www.innerlich-frei.de.
Wenn ich von Klienten, Seminarteilnehmenden oder anderen Menschen in diesem Buch erzähle, habe ich sie aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen so anonymisiert, dass sie nicht mehr erkennbar sind. Die Fakten und die daraus abzuleitenden Reflexionen sind natürlich authentisch. Andere Gesprächspartner haben einer vollständigen Namensnennung zugestimmt.
Liebe Leserin, lieber Leser: Nur wenn wir unsere ungeliebten Seiten und die schwierigen Zeiten unseres Lebens annehmen, können wir uns ganzheitlich weiterentwickeln und innerlich frei, sinnvoll und erfüllt leben. Beide Seiten zusammen ergeben das schreckliche und schöne, das wilde und sanfte, das verrückte und herrliche Leben. Für dieses Leben, für Ihr Leben, habe ich das Buch geschrieben.
Ich wünsche Ihnen Freude beim Lesen.
Ihre Ulrike Scheuermann
Auch jetzt, genau in diesem Moment, fragen sich Millionen von Menschen: »Wie kann ich endlich glücklich werden?«
Präziser gesagt, je nach Vorliebe:
»Wie kann ich schön, jung, gesund, charismatisch und berühmt werden?«
»Wie kann ich mächtig und reich werden?«
»Wie kann ich endlich so erfolgreich werden wie die anderen?«
Wir wollen glücklich sein und glücklich leben.
Natürlich.
Spricht was dagegen?
Ja.
Etwas Kantiges drängt von innen gegen die Lippen der Mittvierzigerin. Sie hält gegen, indem sie die Muskulatur anspannt und die Lippen zu einem U formt. Dann lässt sie locker, und der Mund formt wieder ein E. U, E, U. Schließlich ist es nur mehr ein Lippenkräuseln. Ich starre auf das körnige Bild. Die Kamera fährt von ihrem Mund fort. Die Frau pflückt etwas zwischen Lippen und Zähnen hervor. In Großaufnahme sehe ich ein verzweigtes Gebilde aus starkem Draht, und während die Bestelldaten über den Bildschirm laufen, höre ich die mal unheilschwangere, mal triumphierende Stimme des Sprechers: »Ihre Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln werden sich mit zunehmendem Alter immer mehr vertiefen. Die Folge von Lachen oder Gähnen sind Nasolabialfalten und absackende Wangen. Doch dem können Sie jetzt aktiv entgegenwirken. Mit dem Nasolabialfaltentrainer glätten Sie Ihre Falten wie von Zauberhand. Sie erhalten Ihr jugendliches Aussehen zurück und können wieder unbesorgt lachen.«
Vor 25 Jahren saß ich in meiner WG mit anderen Medizinstudentinnen auf dem Sofa und starrte auf den flimmernden Röhrenbildschirm. Wir waren bester Laune und hatten uns durch die Fernsehprogramme gezappt, bis wir bei jenem amerikanischen Werbesender hängengeblieben waren, in dem für Superstaubsauger und Supersilberohrringe geworben wurde. Nach dem Nasolabialfaltenfilm war uns das Lachen allerdings vergangen. »Was war denn das?«, fragte eine meiner Kommilitoninnen und strich sich über ihre Mundwinkel.
Es war nur ein Werbeclip. Aber er ist geeignet, um an einem leicht nachvollziehbaren Beispiel einmal zu demonstrieren, wie die Verlockung in immer ähnlicher Weise entstehen kann. Wir müssen sie erkennen, um aus dem Prozess aussteigen zu können. Dieser Ablauf sieht vereinfacht dargestellt etwa so aus:
Dinge, die für uns selbstverständlich sind, werden plötzlich zu Defiziten erklärt. Zum Beispiel erfahre ich, dass Nasolabialfalten ein Schönheitsproblem sein sollen.
Es gibt etwas zu optimieren. Ich höre etwa von dem Sprecher, dass geglättete Nasolabialfalten ein anzustrebendes Ziel für die Frau sind.
Es besteht Hoffnung: Mit der passenden Maßnahme lässt sich dieses Ziel erreichen, ich kann es schaffen. Im Werbespot preist der Sprecher das Nasolabialfaltentrainingsgerät an.
So funktioniert die Verlockung beispielsweise in der Werbung: Ständig sind wir mit diesem Dreischritt konfrontiert – und werden verunsichert. Damals haben wir befremdet gekichert, doch zugleich tastete eine meiner Kommilitoninnen ihre Mundregion ab. Der Same der Verunsicherung war gesät.
Und es gibt unzählige weitere Beispiele, wo wir von anderen erfahren, dass an uns angeblich etwas nicht stimmt. Der Fitnessstudio-Werbeaufsteller auf dem Bürgersteig will mir weismachen, dass ich zu dick bin, aber mein Fett abtrainieren kann. Jede zweite Frauenzeitschrift legt mir nahe, ich könnte mehr in mir ruhen, und stellt mir die neuesten »Meditationsquickies« in Aussicht. Und bei einem Workshop erklärte uns der Leiter eine unserer vielen problematischen Körperhaltungen – hängende Schultern – und machte uns das Ziel schmackhaft, während er seinen Brustkorb herausdrückte: »Mit der richtigen Körperhaltung strahlen Sie mehr Führungsstärke aus.«
Auch hier wieder der Dreischritt: Ich fühlte mich defizitär, weil ich auch manchmal die Schultern hängen lasse. Ich hörte, dass ich erfolgreicher führen würde, wenn ich die Schultern nach hinten zöge. Ich ließ mir versprechen, dass ich es schaffen könnte. Also drückte ich ein paar Wochen lang den Brustkorb raus, bis das Ganze irgendwann im Alltag wieder in Vergessenheit geriet. Zuvor hatte ich nämlich ohne Siegerkörpersprache auch schon ziemlich gut geführt. Es gab gar kein echtes Defizit, und es war auch kein wirklich wichtiges Ziel, das ich da verfolgt habe.
Diese und ähnliche Ansätze zur Selbstoptimierung sind keineswegs nur aus der Motivation entstanden, dass wir uns weiterentwickeln und etwas dazulernen. Wenn es nur darum ginge – wunderbar. Nein. Angebote zur Selbstoptimierung sind überwiegend interessengesteuert (meist wird ein Produkt oder eine entsprechende Dienstleistung angeboten): Firmen, die ihre Produkte an den Mann oder die Frau bringen wollten, Zeitungen, die ihre Auflage stärken möchten, oder Trainer, die um Teilnehmer werben, und so weiter. Sie suggerieren uns, dass wir Defizite haben, die es zu optimieren gilt. So sorgen sie auch dafür, dass wir uns vorerst einmal mehr oder weniger »defizitär« fühlen, also Probleme mit unserem Selbstwertgefühl bekommen.
Ohne es recht zu bemerken, lassen sich viele Menschen so steuern und eifern Zielen nach, die für sie unerreichbar sind oder gar nicht zu ihnen passen. Dann streben sie ein utopisches Körpergewicht an, einen Job, der sie nicht erfüllt, oder eine unnötige Anhäufung von immer mehr Geld, was sie von sinnvollen Lebensaufgaben fernhält, oder ohne das Geld zu nutzen, um etwas zu bewirken. Vielleicht verausgaben sie sich dabei sogar völlig. Das passiert nämlich gerade dann, wenn etwas nicht das wirklich Eigene ist.
Doch all das zu erkennen ist nicht so leicht. Ich merke es ja an mir selbst, während ich mich beim Schreiben an diesen Nasolabialfaltenfilm erinnere. Die Sache geht mir durch den Kopf. Also betrachte auch ich mich reflexhaft mal kurz im Spiegel. Eigentlich habe ich nichts gegen Nasolabialfalten. Eigentlich. Wenn da nicht vor 25 Jahren dieser Film … Ich öffne das Badezimmerschränkchen und suche die Antifaltencreme mit Hyaluronsäure. Im nächsten Moment habe ich mich selbst ertappt und schraube den Behälter wieder zu. Ich bin fast empört über mich: Muss ich denn auf das hören, was mir da erzählt wird?
Als ich anfing, mehr auf solche Impulse zu achten, wurde ich nach und nach misstrauischer. Ich habe dann viel darüber gelesen und mich selbst beobachtet. Dabei wurde mir immer klarer, wie es mit unserer Willenskraft im Alltag aussieht, nämlich nicht so toll. Und das ist wichtig zu wissen, auch wenn es auf den ersten Blick ernüchternd sein mag. Erst wenn uns das bewusst ist, können wir umso genauer darauf achten, wo wir uns von fremden Einflüssen einfangen lassen und unsere Energie mit einer Selbstoptimierung verschwenden, die wir anders viel besser für unser wirklich Eigenes einsetzen könnten. Für Impulse, die aus unserem Inneren kommen. Für einen Eigensinn, der weder aus Trotz noch aus Anpassung erwachsen ist. Also, sehen wir mal genauer hin: Wie selbst- oder fremdbestimmt entscheiden wir eigentlich darüber, welche Richtung wir in unserem Leben verfolgen wollen?
Weil wir uns nicht ununterbrochen den Verlockungen widersetzen können, die uns jeden Tag aufs Neue regelrecht anspringen, handeln wir häufig fremdbestimmt. Sich zu widersetzen ist nämlich anstrengend: den Schokoriegel jetzt nicht kaufen, während der Arbeit nicht zwischendurch immer wieder mal in Social-Media-Plattformen herumklicken, das Kind nicht schon wieder daddeln lassen und so weiter. Unsere Willenskraft ist begrenzt. Sie ermüdet wie ein Muskel im Laufe des Tages, bis wir womöglich sogar ganz aufgeben, so etwa bei Entscheidungen: Kurz vor der Mittagspause oder am Ende eines arbeitsreichen Tages lassen viele die Dinge eher einfach laufen, als sie dies zu Tagesbeginn getan hätten. So mancher Richter zum Beispiel wägt gegen Dienstschluss weniger sorgfältig ab und tendiert zu gedanklich einfacheren Lösungen, die auch ein härteres Urteil bedeuten können.[2]
Wir laufen aber nicht nur diesen Verlockungen nach, weil unsere Willenskraft infolge der Entscheidungsmüdigkeit bröckelt. Sondern auch, weil wir uns anstecken lassen. Von einem Tempo, einer Stimmung, einem Hype, die gar nicht zu uns passen. Wenn wir zum Beispiel von einem Aufenthalt auf dem Land in die Stadt zurückkehren, beschleunigen wir nach ein paar Stunden, spätestens Tagen unseren Rhythmus wie von selbst, weil das Leben in der Stadt einfach schneller abläuft. Und erst recht lassen wir uns im direkten Kontakt mit anderen Menschen anstecken. Wer kann sich dem entziehen? Niemand ist eine Insel, und niemand will eine Insel sein. Wenn jemand scheinbar grundlos lacht, kann ich auch nicht bierernst bleiben. Und wenn jemand total aufgedreht ist, spüre ich auch eine innere Unruhe.
Wie bei dem Treffen vor einiger Zeit mit einem Freund aus England. Ich hatte John zwei Jahre nicht gesehen. Nun sitzen wir im Freien auf gepolsterten Cafésesseln mit Decken um die Beine und halten die Gesichter in die frühe Aprilsonne. Ich zumindest. John wippt nervös mit seinem übergeschlagenen Bein und checkt beim Erzählen ständig nebenbei E-Mails. Er erzählt fünf Ideen in drei Minuten und hat beinah aufgegessen, bevor ich meine Tortellini mit Parmesan bestreut habe. Ich merke, wie ich selbst immer nervöser in meinem Sessel herumrutsche und meine innere Agenda dessen durchgehe, was ich heute Nachmittag noch erledigen muss. Und schon halte ich im Gespräch mit, spule die wichtigsten Fakten zu meinen beruflichen Erfolgen ab, nenne stakkatoartig die herausragenden Ereignisse meines Familienlebens und habe quasi unbemerkt meine Pasta verschlungen. Ich bin im selben Takt wie John angekommen. Und mir fehlt inzwischen fast alles, was für mich zu einem echten Gespräch gehört: Gedanken in Ruhe weiterverfolgen, Hinwendung zum anderen, gegenseitige Inspiration. Bald rufen wir den Kellner. Nach der Verabschiedung rennt er los. Ich auch.
Mehr oder weniger funktioniert die Ansteckung in ähnlicher Weise immer im Zusammensein mit anderen Menschen. Wenn wir empfänglicher sind, lassen wir uns mehr anstecken; wenn wir weniger offen sind, dann verspüren wir eine schwächere Resonanz.
Doch die Ursachen dafür, dass wir auf Verlockungen so stark reagieren, liegen nicht nur in der Psyche des Einzelnen. Die Ursachen finden sich auch in der Entwicklung unserer Gesellschaft. Und für diese größere Perspektive möchte ich Ihnen die Allegorie der Rolltreppenfahrt vorstellen.
Ein Mann um die fünfzig befindet sich auf einer Rolltreppe. Doch was ist da los? Er bewegt sich in die falsche Richtung: Er schaut nach oben, steht aber auf der Abwärtstreppe, die ihn rückwärts nach unten trägt. Beinah ist er jetzt am Fuß der Rolltreppe angekommen. Da schreckt er auf, strafft die Schultern, rennt treppauf. Endlich ist er oben angekommen, reißt die Arme hoch, jubelt stumm. Im nächsten Moment schon verschwindet sein Lachen, denn die Rolltreppe trägt ihn wieder ein Stück abwärts. Er steigt nun mit schwerfälligeren Schritten treppauf, so dass er ungefähr auf derselben Höhe bleibt (er muss also auch die Gegenläufigkeit überwinden, um seine Position zu halten). Dann visiert er wieder das obere Ende der Rolltreppe an, beschleunigt seine Schritte, und der Ausstieg oben rückt näher.
Dieses Bild soll die Grundaussage der Beschleunigungstheorie[3] von Hartmut Rosa verdeutlichen, Professor für Soziologie an der Universität Jena. Und dabei geht es um nichts Geringeres als die Beschleunigung der Welt. In seinen Büchern schreibt er, wir unterlägen einem gesamtgesellschaftlichen Wachstumszwang, der dem eigenen Tempo entgegenstehe. Dieser Wachstumszwang übe seit Beginn der industriellen Revolution vor zweihundert Jahren Druck auf alle in unserer Gesellschaft aus. Das Problem sei weniger das Wachstum an sich als vielmehr die Steigerungslogik: Die Wachstumsraten lägen immer über den Beschleunigungsraten. Das klingt kompliziert. Wie meint er das? Ich nehme mal das Alltagsbeispiel »Briefeschreiben«, da sind Wachstums- und Beschleunigungsrate leicht zu erkennen.
Mal angenommen, jemand will etwas von Ihnen wissen. Er fragt schriftlich an. Vor zwanzig Jahren hätten Sie diese Anfrage wahrscheinlich mit einem Brief beantwortet und zur Post gebracht. Der Postweg dauerte mindestens einen ganzen Tag. Heute brauchen Sie für dieselbe Antwort per E-Mail nur wenige Minuten. Eine schöne, hohe Beschleunigungsrate. Nun kommt aber die Wachstumsrate dazu: Heute müssen Sie statt nur einer vielleicht dreißig Anfragen beantworten. Also beschleunigen Sie nochmals. Sie tippen rasend schnell, und ein paar E-Mails beantworten Sie beim Warten am Bahnhof. Sie schaffen die dreißig Antworten sogar, doch inzwischen ist die Anzahl der eingegangenen E-Mails noch gestiegen: Nun sind es schon 43 Anfragen.
Eigentlich eine dramatische Erkenntnis: Wir müssen immer schneller und besser werden, um mit den immer höheren Wachstumsraten mitzuhalten. Sorgt diese Beschleunigung zum Beispiel auch dafür, dass wir immer länger wach bleiben und immer früher aufwachen? Die durchschnittliche Schlafdauer der Deutschen hat sich in den letzten zwanzig Jahren um eine Dreiviertelstunde verkürzt: von acht auf nur noch sieben Stunden und vierzehn Minuten, den verlängerten Wochenend- und Urlaubsschlaf eingerechnet.[4] Wer pausiert, indem er schläft, fährt Richtung Rolltreppenfuß? Und jetzt kommt das wirklich Interessante, um das es hier ja vor allem geht: Was hat diese Beschleunigung mit dem Wachstum unser selbst zu tun?
Früher waren es Kühe und Grundbesitz, die sich vermehren sollten. Dann Fabriken und Maschinen. Danach waren es die Wirtschaft und der Wohlstand. Heute verlagert sich das Interesse am Wachstum hin zur eigenen Person. Das sagt Hartmut Rosa in einem Interview für das Philosophie Magazin.[5] Die Moderne, so erzählt er weiter, zwinge uns zum immer schnelleren Wachstum des Selbst, um als Berufstätiger, als Liebespartner, als Elternteil mithalten zu können. Das Selbst soll besser werden: fit, schön, jung. Wir sollen und wollen das Leben umfassend auskosten und möglichst viele Optionen aus der unendlichen Palette der Möglichkeiten realisieren, die uns die Welt eröffnet, auch wenn wir damit längst über das eigene Tempo hinweggingen.
Und wenn wir uns nicht ständig selbst verbessern? Dann fahren wir automatisch nach unten. Ins Defizit. Unten am Fuße der Rolltreppe meinen wir, verloren zu haben. Denn nur oben, am Kopf der Rolltreppe, wartet das perfekte Leben. Wir könnten es erreichen, wenn wir uns nur genügend selbst optimierten. Doch sobald wir diese Verlockung erreicht haben, ist sie schon von gestern. Die Rolltreppe trägt uns wieder abwärts, und wir müssen neu und weiter optimieren. »Tyrannei des Gelingens« nennt es der Freiburger Professor für Medizinethik Giovanni Maio in Psychologie Heute.[6] Und dann sagt er noch, das Paradoxe sei, dass viele Menschen diese Tyrannei durchaus wahrnehmen, zugleich aber immer noch glauben, sie könnten ihr Leben und ihr Glück selbstbestimmt managen.
Durch das Beispiel mit der Rolltreppe ist mir klargeworden, dass wir den Verlockungen eben nicht nur aus einer persönlichen »Ansteckung« oder Entscheidungsmüdigkeit nachrennen, sondern aufgrund einer gesellschaftlichen Entwicklung, der sich niemand einfach so entziehen kann. Wir sind weniger selbstbestimmt, als wir meinen. Aber ich frage mich dennoch: Könnten wir nicht trotz alldem, was uns antreibt, die Arme vor der Brust verschränken und gelassen auf der Rolltreppe nach unten fahren? Und vor allem: einfach unten bleiben?
Ja, aber je länger ich dazu nachforsche, desto deutlicher sehe ich, dass es wirklich nicht so einfach geht. Denn wenn wir am Fuß der Rolltreppe stehen, fühlen wir uns nicht am richtigen Platz. Vor allem mit unserer Psyche, die in den letzten Jahrzehnten mit ihrem Wachstumspotenzial in den Fokus gerückt ist. Denn auch der Anspruch an die »psychische Attraktivität« wächst.
Bei der Selbstoptimierung geht es neben der körperlichen Perfektionierung in erster Linie um die psychische Attraktivität. Wir alle wollen – je nach Wertesystem – gelassen, ausgeglichen, lebensfroh, reif, achtsam, charismatisch, fokussiert, humorvoll und selbstbewusst sein. Und wir hoffen, dies durch Arbeit an uns selbst zu erreichen.[7] Das funktioniert bei der psychischen Optimierung genauso wie beim Antinasolabialfaltentraining. Eine Seminarteilnehmerin hatte zum Beispiel eine Fernsehsendung über »Aufschieberitis« gesehen und meinte nun, dass dieses »Prokrastination« genannte Verhalten ihr psychisches Problem sei. Doch Katharina wirkt in meinem Seminar wie eine gestandene Macherin. Dennoch grübelt sie: »Warum schiebe ich immer noch manche To-dos auf? Warum kriege gerade ich das nicht hin?« Die anderen Seminarteilnehmer schauen sie groß an.
Es ist schon erstaunlich: Diese mit beiden Beinen auf dem Boden stehende berufstätige Frau und Mutter dreier Kinder findet sich durch die Fernsehsendung mit einem Mal im »Noch nicht«-Stadium wieder. Gegen dieses Empfinden ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Wir alle fühlen uns immer wieder wie Anfänger, wenn wir am Beginn einer neuen Entwicklungsaufgabe stehen. Doch war es wirklich Katharinas eigenes Ziel, noch weniger aufzuschieben? Wie sich herausstellte, wohl eher nicht, denn im weiteren Seminarverlauf war es ihr egal geworden.
War Katharina zunächst der Verlockung psychischer Optimierung erlegen? Ich glaube, ja. Lassen wir an ihrem Beispiel einmal Revue passieren, wie so etwas genau abläuft:
Wir erleben ein Gefühl der psychischen Unzulänglichkeit, bei Katharina: »Ich schiebe zu viel auf.«
Es entsteht ein Wunsch: »Ich will die Sachen schneller anpacken.«
Wir finden irgendwo ein Versprechen: »Du kannst es schaffen, nicht mehr aufzuschieben.«
Wir probieren eine Selbstoptimierungsmethode aus.
Doch dann merken wir: »Ich erreiche das Ziel nicht.«
Es entsteht ein »Kater«, eine Ernüchterung: »Es funktioniert nicht bei mir.«
Nun entwickeln sich – je nach Charakter – Ärger: »Was für eine blöde Methode.« Oder Schuldgefühle: »Ich bin unfähig, es zu schaffen.«
Dabei kommt heraus, dass wir uns weiter optimieren sollten. Und damit sind wir schon wieder bei der ersten Stufe.
Sicher kommt Ihnen dieser Ablauf der psychischen Optimierung bekannt vor. Er ist eine der Grundlagen unseres Wirtschaftssystems, wie ich sie auch schon am Anfang dieses Buches angedeutet habe. Um wirtschaftliches Wachstum und immer mehr Umsatz zu erreichen, werden immer neue Wünsche erzeugt, die uns zum Kauf verlocken. Um uns diese Wünsche zu erfüllen, kaufen wir etwas, sind jedoch nach einer kurzen Belohnungsphase enttäuscht, wenn der Reiz des Neuen nachlässt. Der einsetzende Konsumkater führt zu neuen Wünschen aufgrund weiterer Verlockungen. Und so weiter.
Na toll, denke ich mir. Wie soll man da rauskommen? Konsum ist doch die Grundlage unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass wir umso leichter aussteigen können, je mehr wir von den Mechanismen verstehen. Deshalb erzähle ich in diesem Kapitel und eigentlich im gesamten ersten Teil des Buches auch so beharrlich von diesen Mechanismen. Wir können die Verlockungen für uns entkräften. Nicht mit einem einzigen Befreiungsschlag oder der neuesten Superdenkstrategie. Aber mit einer Nachdenklichkeit und einem Nachspüren, die uns dabei helfen, immer mehr von dem zu erkennen, was uns verlockt.
Mal angenommen, die Nasolabialfalten sind weg, ich drücke meinen Brustkorb ständig raus für eine optimierte Körperhaltung, und Katharina schiebt nicht mehr auf. Würden die Verlockungen abflauen? Nein, denn auch die Einschätzung dessen, was als normal gilt, verändert sich.
Allen Frances zählt zu den einflussreichsten Psychiatern weltweit. Heute ist der amerikanische Professor pensioniert, und er wollte sich eigentlich um seine Enkel kümmern, antike Philosophen lesen und am Strand liegen. Daraus ist nichts geworden, denn er musste ein Buch als Antwort auf ein anderes Buch schreiben: 2013 ist nämlich in den USA das DSM-5[8] erschienen, die fünfte Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen. Das DSM-5 gilt als die Diagnosebibel der Psychiatrie und beeinflusst weltweit die psychiatrische Diagnostik und Therapiepraxis sowie die Entscheidungen von Krankenkassen, Versicherungen und Gerichten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit einer früheren Ausgabe des Wälzers für meine Diplomprüfung in Psychologie gebüffelt habe, der in der aktuellen Auflage nun doppelt so dick ist.
Allen Frances war selbst Mitautor der früheren DSM-Ausgaben. Heute ist er entsetzt über die Auswirkungen: Nach Erscheinen des DSM-4 liege die Zahl der Diagnosen in den USA nun zwanzigmal höher als davor. 83 Prozent der Kinder hätten eine oder mehrere psychiatrische Diagnosen. In seinem Buch kritisiert er deren Inflation: Alltägliche und bisher als zum Leben gehörend akzeptierte Seelenzustände können inzwischen als »milde« Störung eingestuft werden,[9] häufige Wutausbrüche von Kindern etwa als »Stimmungsregulationsstörung«, die Tage vor den Tagen als »prämenstruelle dysphorische Störung«. Und das meines Erachtens schockierendste Beispiel für die Neudefinition des Normalen: Wenn der geliebte Partner stirbt, kann bereits nach zwei Wochen Verlusttrauer eine behandlungsbedürftige Depression diagnostiziert werden. Und das, obwohl die Trauerforschung einen ganz anderen Schluss nahelegt: Es gibt keinen normalen Verlauf von Trauer. Die Bandbreite der Reaktionen ist enorm, und die vielfältigen Trauersymptome überschneiden sich nur zu einem geringen Teil mit denen der Depression.[10]
Es ist offensichtlich eine Definitionsfrage, ob jemand als normal oder krank gilt. Und zurzeit gibt es eine Entwicklung, bei der immer mehr Menschen sich fragen müssen, inwieweit sie betroffen sind. Eine der Folgen ist, dass man überall in den Medien erfährt, die Zahl psychischer Störungen sei gestiegen und nähme weiter zu. Doch ist es wohl eher so, dass das Bewusstsein für psychische Probleme zugenommen und sich das Diagnoseverhalten verändert hat. Die Zahl der psychiatrischen Störungen hingegen liegt beispielsweise in Deutschland – bis auf einige Wellen und die Einwirkung demografischer Faktoren etwa bei Demenz – konstant bei 15 Prozent.[11]
Hier greift das gleiche Prinzip wie oben beschrieben: Diese Diagnosen verunsichern. Und dadurch werden wir anfälliger für Verlockungen: So kann es geschehen, dass die Witwe drei Monate nach dem Tod ihres Mannes lieber Antidepressiva schluckt, statt – wie es durchaus »normal« sein kann – ein, zwei Jahre um ihn zu trauern.
Nach einem Vortrag kam einmal ein alter Mann zu mir und erzählte von seiner acht Jahre zuvor verstorbenen Frau. Er würde in Gedanken immer mit ihr sprechen, und es wären schöne Gespräche, die ihn beglückten und zugleich traurig stimmten. Ist dieser »dauertrauernde« Mann nun bewunderns- oder bemitleidenswert? Ist er in Liebe mit seiner verstorbenen Frau verbunden oder depressiv? Ist er gesund oder krank? Vermutlich wird auch er wohl eher zu den Gesunden und »Normalen« gehören wollen. So wie wir alle. Und so wie Sabine.