Insane - David McGerran - E-Book

Insane E-Book

David McGerran

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Beschreibung

Ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt ... Als Leas beste Freundin verschwindet und ihre Mutter einen tödlichen Unfall erleidet, gerät ihr Leben aus der Bahn. Sie ist sich absolut sicher, dass ihr unheimlicher Psychiater, Dr. Kellermann, dahinter steckt, um sie nach und nach unter seine Kontrolle zu bringen. Niemand glaubt ihr, und so nimmt sie allein den ungleichen Kampf gegen diesen zwielichtigen und unberechenbaren Gegner auf, um sich aus den Fängen des Wahnsinns zu befreien.

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 1

Lea erwachte. Gleich einer Kuppel aus blau gefärbtem Glas breitete sich der Himmel über ihr aus. Träge schob der leichte Wind die grauweißen Wolken vor sich her und ließ dabei immer wieder neue Figuren und Formen entstehen.

Ein Vogelschwarm stieg in die Höhe und huschte wie ein abstraktes Gebilde durch das Blau, um sich von dem Aufwind davontreiben zu lassen. Lea beobachtete dieses Szenario so lange, bis sich die Konturen der Vögel nach und nach vor dem Hintergrund der Glaskuppel auflösten.

Sie schloss die Augen und genoss den Geruch des frischen Grases, der sich mit dem der unzähligen Blumen vermischte und ihre Seele auf wundersame Weise beruhigte. Sie öffnete die Hände und spürte das Kribbeln der Grashalme an den Innenflächen. Es war genau diese Berührung, die sie mehr und mehr in die Realität zurückholte.

Sie richtete sich auf und streckte die Arme gähnend von sich. Beim Blick auf die Uhr erschrak sie. Sie hatte schon lang genug herumgetrödelt und sollte sich langsam auf den Weg machen. Ihre Mutter wäre alles andere als begeistert, wenn sie zu spät käme.

Lea verzog das Gesicht. Jede Woche, stets am selben Tag und zur selben Uhrzeit musste sie eine Stunde lang diesen Alptraum durchleben. Immer und immer wieder musste sie Herrn Dr. Kellermann aufs Neue von ihren früheren Erlebnissen erzählen und jedes Mal biss er sich, wie ein tollwütiger Kampfhund, an dem Erzählten fest, um auch noch das kleinste Detail aus ihr herauszuquetschen.

Dr. Kellermann war ihr Psychiater.

Ihre Mutter kannte und schätzte ihn schon lange und war der Meinung, dass Lea ihre Erinnerungen mit professioneller Hilfe verarbeiten sollte.

Geholfen hatte es bisher nicht. Oft hatte sie das Gefühl, sie würde als ein bedeutungsloser Komparse in einem drittklassigen Film mitwirken. Sie leierte ihre Geschichte herunter, woraufhin der Psychiater sie mit seinen Ratschlägen traktierte und dabei mit seinem umfassenden Wissen auftrumpfte.

Vor jeder Sitzung hoffte Lea innigst, dass Dr. Kellermann endlich das Ende der Behandlung ankündigte, aber das passierte nie.

„Wir sehen uns dann nächste Woche“, lautete jener Satz, der wahre Abscheu in ihr hervorrief. Sie wusste nicht, wie lange sie dieses ständige Durchleiden ihrer Vergangenheit noch ertragen konnte.

Sie stand auf und ging los. Nach einer Viertelstunde erreichte sie ein großes, abgelegenes Anwesen, das mitten im Wald lag und an ein altes Herrenhaus erinnerte. Viele kleine Fenster bildeten mit ihrer abblätternden Farbe einen starken Kontrast zu der schneeweißen Fassade. Das Gemäuer erstreckte sich über zwei Etagen und aus dem dunkelgrauen Dach stachen zwei Türme, wie kleine Raketen, in den Himmel.

Auf der anderen Straßenseite stand ein zusammengezimmertes Holzhäuschen, das eine Bushaltestelle darstellen sollte. Hier draußen war es die einzige Verbindung zur Außenwelt. Wie oft hatte sie schon dort gesessen und auf den Bus gewartet, der sie endlich aus diesem Alptraum wegbrachte.

Als Lea die Hand auf den gusseisernen Knauf legte und das Tor zum Anwesen aufzog, zerriss das grelle Quietschen der Angeln die Stille. Das Geräusch, des hinter ihr zufallenden Tores, ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie durchschritt den Vorgarten so langsam, als könne sie die nächste Stunde weiter vor sich herschieben.

Der mit weißem Kies ausgelegte Weg wand sich, wie eine riesige Schlange, durch das Grün des Grases. Immer wuchtiger baute sich das Anwesen vor ihr auf. Es strahlte eine düstere Atmosphäre aus, die in jedem einzelnen Stein dieses Gemäuers innezuwohnen schien. Eine bedrückende Stille lag über diesem Ort und legte sich schwer auf Lea nieder.

Als sie die massiven Steintreppen überwunden hatte und vor dem Eingang stand, hob sie den schweren Türklopfer an, um ihn gegen das Holz fallen zu lassen. Es erklang ein dumpfer Donnerschlag, der durch den Hall der Eingangshalle vervielfältigt wurde.

Kurz darauf hörte Lea, wie sich jemand mit schleppenden Schritten näherte und mit einem Ächzen die Tür öffnete. Sofort stieg Lea dieser muffige, mit billigem Rasierwasser vermischte Geruch in die Nase. Dann sah sie in das hagere, blasse Gesicht von Paul, dem Diener des Hauses.

Lea mochte diesen Kerl nicht. Noch nie hatte sie es erlebt, dass er lächelte und auch jetzt schaute er sie an, als würde sie ihm kostbare Zeit stehlen.

„Ich habe einen Termin“, sagte Lea in einem leicht gereizten Tonfall und gab sich Mühe, eine ebenso unfreundliche Miene aufzusetzen.

Der Mann schaute sie so unbewegt an, als hätte er kein Wort verstanden. Sein spärliches Haar hing in störrischen Strähnen nach allen Seiten herunter und verlieh ihm etwas Wirres. Er fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen, als suche er nach den richtigen Worten. Ein unaufhörliches Schmatzen drang zwischen seinen schmalen, blutleeren Lippen hervor und verursachte bei Lea einen Ekelschauer. Seine Gesichtsfarbe war so weiß, wie die Bodenfliesen der Eingangshalle. Seine Augen dagegen waren unnatürlich dunkel und lagen tief versteckt in den Höhlen. Seine Haut war knittrig und eingefallen und spannte sich, wie dünnes Pergamentpapier, über die hart hervorstechenden Wangenknochen. Ohne ein Wort trat er beiseite und ließ sie eintreten.

Lea schritt in die große Vorhalle und schlang unwillkürlich ihre Arme um den Oberkörper. In diesem Gemäuer herrschte eine unnatürliche Kälte. Eine Kälte, die sich wie ein leises Gift in den Körper schlich und ihm von innen die Wärme stahl. Das ein ums andere Mal musste Lea feststellen, dass sie dieses Haus nicht mochte. Sie mochte auch den Doktor nicht, sie mochte eigentlich überhaupt nichts an diesem Ort.

Warum kann dieses Gemäuer nicht einfach abbrennen oder in sich zusammenstürzen? Jedes Mal habe ich das Gefühl, als würden mich tausende Augen beobachten und bei jeden meiner Schritte begleiten, das ist doch nicht normal. Dieser Ort ist unheimlich.

Den Blick starr auf den Boden gerichtet, ging sie zielstrebig auf das Wartezimmer zu. Sie drückte die Tür auf und betrat das Zimmer, das an eine kleine Bibliothek erinnerte. Buchrücken pressten sich an Buchrücken und bildeten miteinander viele bunte Reihen, die sich bis fast unter die Decke stapelten. Alte und unangenehm faulig riechende Möbel gaben diesem Raum den düsteren Flair eines verlassenen Antiquitätengeschäfts.

Zum Glück dauerte es nicht lange, bis sie dieses Zimmer wieder verlassen durfte. Der Diener erschien an der Tür, nickte ihr kurz zu und verschwand, gewohnt wortlos, im Gang. Lea verzog das Gesicht und schickte ihm leise Verwünschungen hinterher.

Doch dann folgte sie ihm durch den Saal zu einer dicken Eichentür. Der Diener klopfte kurz an.

„Ja, bitte?“, fragte die wohlbekannte Stimme durch die Tür.

Paul öffnete sie.

„Lea Wagner ist da.“

Er verbeugte sich kurz und verschwand.

Als Lea den Raum betrat, sprang der Doktor von seinem Stuhl auf, um ihr einen enthusiastischen Empfang zu bereiten.

„Lea, mein Kind, wie schön dich zu sehen“, rief er und

streckte ihr die Hand freudig entgegen. Als seine nasse, verschwitzte Hand die ihre berührte, zuckte Lea innerlich zusammen. Er deutete mit dem Finger auf eine Couch, auf der sie folgsam Platz nahm. Er setzte sich ihr gegenüber und schaute ihr tief in die Augen. Schon lange hegte sie den Verdacht, dass er dem selbstgefälligen Glauben verfallen war, Gott selbst habe ihm diese übermenschliche Gabe verliehen, mit der er in das Innerste einer Seele schauen konnte.

Aber Lea hatte schon oft genug hier gesessen, so oft, dass sie wusste, was er hören wollte. Als sie von sich sprach, versuchte sie ihren Zustand so harmlos wie möglich erscheinen zu lassen und richtete den Blick dabei fest auf das Blümchenmuster der Tapete. Keine in den Augen lesbare Emotion, keine Unsicherheit im Mienenspiel und kein Stocken beim Reden sollten sie verraten.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er stellenweise mit dem Kopf nickte und Notizen auf seinen Block schrieb. Dann waren da noch diese anderen Blicke, die taxierend über ihr Gesicht wanderten und sie beim Reden aus dem Konzept brachten. Das waren genau diese Momente, in denen in ihr eine ungute Ahnung aufkam. Es war eine Warnung aus ihrem Inneren, die ihr sagte, dass ihm nicht zu trauen sei und sie auf der Hut sein müsse, da diesem Menschen etwas abgrundtief Böses innewohnte.

Äußerlich ruhig fuhr sie fort und versuchte, so gut es ging, seine Blicke zu ignorieren.

Nachdem sie für diese Woche genug erzählt hatte, drehte sie ihren Kopf und schaute Dr. Kellermann an. Er war immer noch in ihrem Anblick versunken und als sie ihn direkt ansprach, schreckte er aus seinen Tagträumen auf.

Er schüttelte kurz den Kopf, als müsse er sich sammeln.

„Ich finde“, sagte er gedehnt, „du machst wirklich gute Fortschritte. Du hast viel erlitten. Du wurdest von deinem eigenen Vater fast totgeschlagen. Es bedarf einer langen Zeit, so etwas zu verarbeiten.“

Er machte eine kurze Pause und kritzelte wieder etwas auf seinen Block.

„Aber du darfst nicht vergessen“, ergänzte er, „dass er zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde und dir nun nichts mehr anhaben kann.“

Er rutschte so nah an sie heran, wie es sein Therapeutensessel zuließ und legte die Hand auf ihren Arm.

„Aber wir beide kriegen das hin, nicht wahr, Lea?“, fragte er in einem Ton, der fröhlich klingen sollte, aber seine Augen verengten sich dabei zu schmalen Schlitzen. In diesem Moment glich er einer hinterlistigen Schlange, die nur auf eine passende Gelegenheit wartete, um vorzuschnellen und den Giftzahn in ihr Opfer zu versenken.

Angewidert zog Lea den Arm weg. Er blickte etwas irritiert auf, schlug sich auf die Oberschenkel und erhob sich.

„Gut, dann war es das. Bis nächste Woche.“

Obwohl sie noch vor ihm stand, drehte er sich auf der Achse um und verschwand wieder hinter seinem Schreibtisch, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Lea strich sich über das Gesicht, dabei merkte sie, wie sehr sie zitterte.

Sie verließ das Zimmer und erst als die Tür hinter ihr zufiel, konnte sie wieder durchatmen. Um so schnell wie möglich zum Ausgang zu gelangen, durchquerte sie die Eingangshalle und passierte das Wartezimmer. Als sie daran vorbeigegangen war, stoppte sie jedoch und ging wieder ein paar Schritte zurück. Sie schaute durch den Türspalt und erblickte ein junges Mädchen, das etwa in ihrem Alter war. Sie saß auf einem der muffigen Polstermöbel und blätterte unruhig in einer Zeitschrift herum. Lea hatte sie bisher noch nie hier gesehen. Wenn sie an diesem Ort überhaupt einmal anderen Patienten begegnet war, hatte es sich immer um alte Menschen gehandelt. Im nächsten Moment vergaß sie das Mädchen wieder und verließ das Anwesen. Kurz darauf saß sie in dem kleinen Holzhäuschen und wartete auf den Bus.

Nach und nach fiel die Anspannung von ihr ab. Wieder einmal hatte sie es geschafft, die Sitzung hinter sich zu bringen. Für eine ganze Woche konnte sie diesem unheimlichen Ort fernbleiben.

Nach einer guten Stunde erreichte sie ihr Zuhause. Ihre Mutter war, wie eigentlich fast immer, noch nicht da. Seitdem ihr Vater im Gefängnis war, arbeitete sie noch mehr als früher und kam meistens erst mitten in der Nacht nach Hause. Das Einzige, was sie von ihrer Mutter in dieser Zeit mitbekam, waren die üblichen Geräusche, die diese machte, wenn sie an den arbeitsfreien Tagen den Haushalt erledigte. Lea saß dann in ihrem Zimmer und lauschte. Es war seltsam, aber genau das Klappern des Geschirrs oder das monotone Brummen des Staubsaugers vermittelten ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, mehr als jeder direkte Kontakt.

Sie war mit ihren achtzehn Jahren eigentlich alt genug, um ihre Lebenssituation zu begreifen, aber dennoch fand sie es ungerecht so leben zu müssen und sie hasste es. Während ihre Freundinnen ein normales Leben führen durften und mit ihren Eltern schöne Dinge unternahmen, saß sie mutterseelenallein zuhause und erledigte die Hausaufgaben.

Das war nicht immer so. Auch sie hatte ein normales Leben geführt, aber dann änderte sich plötzlich alles. Ihre Eltern stritten sich immer öfter und das Resultat war jedes Mal dasselbe, tagelang, manchmal sogar über Wochen ignorierten sie sich und sprachen kein Wort miteinander. In jener Zeit fühlte sich Lea wie eine Fremde, die von ihren Eltern nur als unerwünschter Gast akzeptiert wurde. Niemand sprach mit ihr oder fragte, wie es ihr ging. Man schaute einfach durch sie hindurch und strafte sie mit Missachtung, der schlimmsten Strafe, die man einem Kind antun kann.

Eines Nachts wachte Lea durch lautes Geschrei auf. Sie warf die Bettdecke beiseite, schlich zur Tür und öffnete sie ganz langsam. Wieder einmal stritten sich ihre Eltern und wie so oft ging es um das gleiche Thema.

„Du hast mich hintergangen und bist bewusst schwanger geworden, gib es endlich zu!“, schleuderte ihr Vater seiner Frau ins Gesicht.

„Das würde ich niemals tun, es war ein Unfall, ich schwöre es dir“, verteidigte sich ihre Mutter.

„Ich wollte nie ein Kind haben, das musst du mir glauben.“

„Marie, ich soll dir etwas glauben?“, fragte der Vater sarkastisch.

„Du lügst doch, wenn du den Mund aufmachst. Du hast das absichtlich gemacht, nur um mich an dich zu binden. Mit dieser verdammten Göre hast du mein Leben versaut. Ich sollte euch beide davonjagen.“

„Dann tu es doch. Alles ist besser, als hier bei dir zu bleiben“, entgegnete Marie und funkelte ihn böse an.

Die beiden wurden immer lauter. Drohend baute sich ihr Vater vor seiner Frau auf und als diese an ihm vorbeigehen wollte, passierte es. Er schlug hinterrücks zu und sie sank bewusstlos zu Boden.

Lea presste erschrocken die Hände vor den Mund. Sie wollte gerade vorsichtig die Tür schließen, da blickte ihr Vater plötzlich auf und entdeckte sie. Er starrte sie an.

Lea hatte ihn schon öfter in verschiedenen Phasen des Zorns erlebt, aber diesmal war es anders. Er wirkte wie ein Wahnsinniger. Seine Pupillen waren kaum noch zu erkennen und sein ganzer Körper zitterte wie unter Stromschlägen. Er öffnete den Mund und verzog das Gesicht zu einer böse lächelnden Fratze. Er hob seine blutverschmierte Hand und zeigte mit dem Finger auf sie.

„Du bist die nächste“, zischte er.

Dann drehte er sich um und verschwand.

Lea schlich zu ihrer Mutter und kniete sich hin. Sie atmete schwer, aber außer einer dicken Prellung und einer blutenden Nase schien sie unverletzt. Nach einigen Minuten wachte sie wieder auf und blickte sich orientierungslos um. Als sie Lea erkannte, griff sie nach der Hand ihrer Tochter, zog sie an sich und fing an zu weinen.

Lea entzog ihr die Hand und schaute kalt an ihr vorbei. Sie hatte schon oft genug mitbekommen, wie ihre Mutter über sie dachte. Zu oft, als dass sie jetzt Mitleid zeigen konnte. Dort lag ihre Mutter, ihr eigen Fleisch und Blut, aber sie fühlte sich jedem fremden Menschen verbundener als dieser Frau, die sich wünschte, dass Lea nie geboren worden wäre.

Sie ging zurück in ihr Zimmer und verkroch sich unter die Bettdecke, als könnte sie sich dieser Welt dadurch entziehen. Irgendwann schlief sie wieder ein, aber sie konnte den Traum, der ihr für ein paar wenige Stunden Trost spenden würde, einfach nicht finden.

In der folgenden Zeit wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Nicht selten wurde auch sie Opfer der Gewaltausbrüche ihres Vaters. Sie mied kurze Kleidung, niemand sollte ihre Wunden und Blutergüsse sehen, aber alle konnte sie nicht verbergen. Immer öfter erntete sie fragende Blicke der Lehrer, wenn sie zum wiederholten Male mit Verletzungen zur Schule kam. Der beginnende Verdacht, dass sie zuhause Prügel bekam, wurde leise hinter vorgehaltener Hand geäußert. Wenn Lea den Schulgang entlanglief, hatte sie das Gefühl, als wären alle Augen auf sie gerichtet und jeder Einzelne wüsste Bescheid.

Hin und wieder wurde sie von ihren Lehrern zur Direktorin geschickt, der sie dann so überzeugend wie möglich beteuerte, dass all ihre Verletzungen nur auf ihre ungeschickte Art zurückzuführen seien.

Trotzdem wurde irgendwann das Jugendamt benachrichtigt, dessen Vertreter einige Male bei ihr zu Hause auftauchten und ihre Eltern eingehend verhörten. Sie machten ihre Arbeit wirklich gut und versuchten auf jedes Indiz zu achten, aber ihre Eltern konnten sich ziemlich gut verstellen und auf diese Weise eine Mauer zwischen ihren Familienproblemen und der eingedrungenen Außenwelt errichten.

Auch Lea wurde mehrere Male in Vier-Augen-Gesprächen befragt, ob sie misshandelt würde, doch sie konnte sich ebenso gut verstellen und beschützte ihren Vater, indem sie log. Warum sie das tat, wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht schlummerte tief in ihr doch noch die leise Hoffnung, dass sie irgendwann wieder eine richtige Familie würden. Sich zu offenbaren, hieße diese Hoffnung aufzugeben und das wollte sie um keinen Preis. Dagegen war das Jugendamt machtlos. Schließlich gaben sie irgendwann auf und ließen ihre Familie in Ruhe.

So blieb Lea ihrem Schicksal ausgeliefert und im Laufe der Zeit merkte sie, dass selbst ihre engsten Freundinnen sie immer stärker mieden. In diesem Alter wollten sie sich nicht mit den Problemen ihrer Mitmenschen auseinandersetzen und schon gar nicht, wenn es sich dabei um solch gravierende handelte. Alles, was ihnen derzeit erstrebenswert erschien, war feiern und Spaß haben, da waren Schicksalsschläge anderer nur störend.

Von nun an nahm das Unheil mehr und mehr Besitz über ihr Leben. Die schwarzen Schatten der Hoffnungslosigkeit wurden ihre ständigen Begleiter, mit ihnen teilte sie jede Sekunde ihres traurigen Alltags. Sie wusste nicht mehr weiter. Sie lebte nur noch für Träume, die niemals wahr werden würden und lebte in einer Welt, die für sie zu einem Alptraum wurde.

Sie dachte öfter daran abzuhauen, einfach nur weg von diesem Leben, diesen furchtbaren Menschen. Aber wohin sollte sie gehen?

Dann kam der Tag, der ihrem Leben einen erneuten Tiefschlag verpasste. Wieder war der Auslöser ein Streit zwischen ihren Eltern und wieder musste sich Lea anhören, sie sei schuld an allem und dass es das Beste wäre, wenn sie einfach verschwände.

Als sie weinend wegrennen wollte, packte der Vater sie an den Haaren und schlug zu. Immer wieder drosch er mit Faustschlägen und Tritten auf sie ein. In diesem Moment war Lea sich sicher, dass sie das nicht überleben würde.

Sie hob flehend die Arme, weinte und bettelte sogar, dass er endlich aufhören solle, aber sie bewirkte damit nur das Gegenteil.

Als wäre ihre Wehrlosigkeit neuer Zündstoff für seine Wut, schlug er immer härter zu. Er benahm sich wie ein tollwütiges Tier, das erst aufhören konnte, wenn sein Opfer tot am Boden lag.

Seltsamerweise spürte Lea ab einem bestimmten Punkt keine Schmerzen mehr. Sie spürte zwar die Erschütterungen, wenn seine Fäuste und Tritte auf sie niederprasselten, aber der Schmerz war wie ausgeschaltet. Dem folgte irgendwann auch ihr Bewusstsein. War dies schon der gnadenvolle Tod, der auf sie wartete?

Sie lag blutend auf dem Boden und hob flehend den Kopf, da trat ihr Vater ein letztes Mal zu. Die Ohnmacht erlöste sie von ihrer Qual.

Als sie wieder zu Bewusstsein kam, sah sie verschwommen, wie ihr Vater von der Polizei weggeführt wurde. Fremde Menschen umringten sie und ihre mitfühlenden Blicke ließen das Schlimmste erahnen.

„Hallo, können Sie mich hören?“

Die Worte hallten so laut in ihren Ohren, als würde sie in einem Tunnel stehen.

„Wo haben Sie Schmerzen?“

Das grelle Licht einer kleinen Taschenlampe fraß sich wie Säure in ihre Augen.

„Sie hat vermutlich innere Verletzungen. Legt sie auf die Bahre, sie muss schnellstens ...“

Die letzten Worte hörte Lea nicht mehr, sie wurde wieder ohnmächtig.

Die nächsten Wochen verbrachte Lea im Krankenhaus. Die Ärzte kümmerten sich um ihre körperlichen Verletzungen, aber die schlimmsten saßen tief in ihrer Seele.

Oft ertappte sie sich dabei, wie sie sich selbst die Schuld an dem Unglück gab. Hatte sie vielleicht zu viel falsch gemacht? War sie vielleicht der wahre Grund für diese Katastrophe? Sie wusste es nicht.

Die Zeit schlich heuchlerisch voran und versuchte, den Schleier des Vergessens über das Geschehene auszubreiten, aber die seelischen Narben blieben.

Tagsüber lenkte sich Lea mit allem Möglichen ab, aber spät in der Nacht war sie den Erinnerungen ausgeliefert, die sie wachhielten und nicht zur Ruhe kommen ließen.

Es kam zum Prozess gegen ihren Vater. Das Gericht verurteilte ihn wegen des versuchten Totschlags und weiteren Vergehen in seiner Vergangenheit zu einer langen Haftstrafe.

Zu Hause kehrte endlich Ruhe ein. Ihre Mutter suchte sich einen zweiten Job und bemühte sich um einen besseren Umgang mit ihrer Tochter. Aber Lea wich vor jeder Berührung und jedem liebevollen Blick zurück. Sie war nicht dazu in der Lage, jemanden an sich heranzulassen.

In Absprache mit dem Jugendamt entschied ihre Mutter, dass Lea sich in psychiatrische Behandlung begeben sollte. Man versprach ihr, dass es nur für ein paar Sitzungen wäre, schließlich sei sie eine starke Persönlichkeit und könne das Geschehene schnell verarbeiten. Aber aus den paar anberaumten Sitzungen wurde eine dauerhafte Einrichtung, die sich über Wochen und schließlich Monate erstreckte.

Lea beschlich das Gefühl, dass Dr. Kellermann immer wieder neue Argumente fand, um sie weiterhin zu seinen Sitzungen kommen zu lassen. Aber vielleicht war es auch nur ihr tiefes Misstrauen. Nach den schlimmen Erlebnissen tat sie sich schwer, wieder Vertrauen in Menschen zu fassen.

Kapitel 2

„Adora quod incendisti, quod adorasti“

Bete an, was du verbrannt hast, verbrenne, was du angebetet hast …

Zärtlich, fast schon liebevoll, so, als würde er über die Wange einer Geliebten streichen, glitten seine Fingerkuppen über diese Stelle in seinem Buch. Er liebte die lateinische Sprache. Sie war die Ausdrucksweise der Gelehrten, der Dichter und Denker und zweifelsohne war er einer von ihnen. Jedes einzelne Wort strahlte etwas Würdevolles und Mächtiges aus, als wären in diesen Sätzen unzählige Geheimnisse verborgen.

Natürlich ließ er keinen Anlass aus, mit der Kenntnis dieser Sprache zu glänzen. Seine Gesprächspartner waren jedes Mal überfordert, wenn er alles bis ins kleinste Detail beschrieb und dabei mit den Fachbegriffen um sich warf. Die beeindruckten, ja schon fast eingeschüchterten Blicke seiner Zuhörer waren für ihn der schönste Lohn. Mit weit ausholenden und verschnörkelten Sätzen schmückte er seine Ausführungen aus und genoss es, wenn sein Gegenüber nicht verstand, was er meinte. Denn dann fühlte er sich wieder einmal in seiner Berufung bestätigt, die minderbegabte Menschheit mit seiner außerordentlichen Klugheit zu erleuchten.

Dr. Kellermann schloss die Augen und lauschte der leisen Musik, die ihn mit himmlischen Klängen erfüllte. Er liebte die gregorianischen Gesänge. Er hatte das Gefühl, dass diese geistlichen, in Kirchenlatein vorgetragenen Choräle direkt aus dem Himmel kamen und ihn vollkommen in ihren Bann zogen.

Bedächtig hob er beide Arme und bewegte sie wie ein Dirigent. Er stellte sich vor, er würde vor einem fasziniert lauschenden Millionenpublikum stehen. Wenn er eine Passage ganz besonders virtuos dirigierte, huschte ein verzücktes Lächeln über sein Gesicht. Als das Lied dann verstummte, wurde sein Blick wieder klarer. Er schaute sich um und sah die vielen begeisterten Menschen, die von ihren Sitzen aufsprangen und frenetisch applaudierten. Galant deutete er eine Verbeugung an und versuchte, die jubelnde Menge zu beruhigen, indem er ihr lächelnd zuwinkte. Sie verehrten ihn wie einen Heiligen und er kostete dieses Szenario mit jeder Faser seines Körpers aus.

Doch dann presste er seine Hände so fest zusammen, dass die Knochen knackten. Die Bühne seiner traumhaften Vorstellung zu verlassen, kostete ihn Überwindung. Ein überlegenes Lächeln umspielte seine Gesichtszüge. Würde einer seiner Patienten mit solch ausgeprägten und ständig wiederholenden Tagträumen zu ihm kommen, würde seine Diagnose vermutlich „schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit einem unheilbaren Gottmensch-Komplex“ lauten. Aber in seinem Fall war das natürlich völlig harmlos und einfach nur das Ausleben seines wahren Ichs. Im Grunde gehörte er auf die große Bühne vor ein Millionenpublikum und nicht in dieses alte Gemäuer. Aber vielleicht würde sich dieser Wunsch schon bald erfüllen.

Sein Blick glitt über die vielen Auszeichnungen, die in recht schmucklosen Rahmen an der Wand hingen. Es waren bewusst schlicht gewählte Rahmen, um seine Auszeichnungen besonders hervorzuheben. Keine Schnörkel oder Zierleisten sollten von seinen außerordentlichen Lebensleistungen ablenken. Er nickte sich selbst anerkennend zu, während er die lange Reihe an der Wand betrachtete. Er hatte es weit gebracht.

Ansonsten befanden sich in seinem Büro weder Bilder noch Fotos. Er verzichtete bewusst auf so etwas. Erinnerungen an frühere Zeiten waren für ihn nur störender Ballast und zielten einzig und allein darauf ab, das Hier und Jetzt komplizierter zu machen. Diese alten Gedanken glichen einem lästigen Rucksack, den man mit sich herumschleppte, der von Tag zu Tag schwerer wurde und jeden Schritt zur Qual werden ließ.

Er hatte es oft genug mit Menschen zu tun, die sich mit solch einer Last herumschlugen. So hatte er im Laufe der Zeit alle Bilder entfernt, schließlich wollte er seinen Patienten als leuchtendes Beispiel vorangehen.

Als er an seine Patienten dachte, schoss ihm sofort der Gedanke an Lea in den Kopf. Genau wegen solchen Menschen übte er diesen Beruf überhaupt noch aus, anstatt sich seiner eigentlichen Bestimmung hinzugeben. Besonders dieses Mädchen hatte es ihm angetan. Während er die meisten Patienten an einen seiner Kollegen überwies, war es für ihn ein besonderes Vergnügen, sich mit ihr zu beschäftigen.

Obwohl sie stets Distanz wahrte und ihm eine gewisse Kälte entgegenbrachte, fühlte er sich stark von ihr angezogen. Er war der festen Überzeugung, dass sie eigentlich nur seine Aufmerksamkeit erregen wollte und sich deshalb so abweisend verhielt - und das war ihr allemal gelungen. Wenn sie sein Büro betrat, bekam er immer das Gefühl, die Sonne würde am Firmament aufgehen. Sie strahlte etwas ganz Besonderes aus und der gesamte Raum wurde mit ihrer einzigartigen Aura durchflutet.

Es war aber eine rein väterliche Zuneigung, die ihn zu ihr hinzog. Natürlich hatte er ihre Schönheit bemerkt, aber solch primitiven Neigungen würde er sich niemals hingeben. Das zwischen ihnen war etwas Besonderes, etwas Höheres.

Leicht wehmütig blickte er auf seinen digitalen Kalender, der ihm gleichgültig mitteilte, dass er sich noch einige Tage gedulden musste, bis er sie wiedersehen würde. Er konnte es kaum erwarten, wieder mit ihr zu reden und ihr kompliziertes Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Nur er hatte das Wissen und vor allem den richtigen Zugang zu ihr, um das zu bewerkstelligen. Aber es war noch ein weiter Weg.

Und wieder machte sich dieses überlegene Lächeln auf seinem Gesicht breit … und manchmal ist der Weg endlos.

Kapitel 3

Die nächsten Tage strichen dahin, geprägt von dem Alltagsleben eines Teenagers. Lea ging zur Schule, hing danach mit Bekannten ab oder erledigte zuhause diverse Arbeiten. Viel zu schnell kam jedoch wieder der Tag, an dem sie in dem Bus saß, der sie zum Anwesen des Doktors brachte. Lea stieg aus und als sich die Türen hinter ihr zischend schlossen, der Motor ansprang und grauweißer Qualm aus dem Auspuff stieg, wirkte dies wie ein endgültiger Abschied aus der normalen Welt.

Wenige Minuten später saß sie im Wartezimmer. Es graute ihr schon jetzt davor, gleich wieder in das unheimliche Antlitz des Doktors zu sehen. Sie bemerkte einen Schatten an der Türöffnung und blickte auf. Das junge Mädchen von letzter Woche kam ins Zimmer und lächelte sie herzlich an.

„Hey, na, alles klar?“, fragte sie so selbstverständlich, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Lea bemühte sich ein Lächeln hervorzubringen, erwiderte aber nichts, sondern nickte ihr nur kurz zu.

Das Mädchen stellte sich vor, Gina war ihr Name. Sie hatte lange, braune Haare, die zu zwei frechen Zöpfen gebunden waren. Ihre lebhaften und neugierigen Augen strahlten und schienen unentwegt auf der Suche nach neuen Abenteuern zu sein. Ganz selbstverständlich nahm sie neben Lea Platz.

„Na, zwingt man dich auch zu Doktor Ekel zu gehen?“

Lea schaute sie fragend an.

„Doktor Ekel?“

Gina lachte herzlich.

„Ja, der Typ ist absolut eklig. Der hat so eine unheimliche Art und dann noch seine seltsamen Blicke.“

Gina schüttelte sich.

„Das kenne ich nur zu gut“, gab Lea zurück.

„Ja, ich muss auch zu dem. Mein Vater hat mich früher verprügelt und nun soll ich das mit ihm verarbeiten.“

„Bei mir ist es genau das Gleiche“, erwiderte Gina und winkte lässig ab, als wären solche Geschichten das Normalste der Welt.

„Aber dann bin ich abgehauen und lebe nun in einem Heim. Wollen wir uns nach der Sitzung noch treffen und ein wenig abhängen?“, änderte Gina so unverhofft das Thema, dass Lea lachen musste.

„Klar gerne, ich warte dann draußen auf dich“, sagte sie spontan zu.

Dann erschien der Diener an der Tür und forderte Lea mit einer Armbewegung auf, ihm zu folgen.

In Dr. Kellermanns Zimmer begann der gewohnte Ablauf und wieder beteuerte Lea, dass alles durch die Gespräche besser würde. Doch zu ihrem Glück hatte es Dr. Kellermann heute etwas eilig und nach nur etwa einer knappen Stunde stand Lea wieder vor dem Anwesen und wartete auf ihre neue Freundin.

Als diese die Treppe herunterkam, war von ihrer lebhaften Art nichts mehr zu spüren. Gina klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Lea fiel auf, wie sehr ihre Hand dabei zitterte. Während Gina den blauen Rauch so gierig einsog, als wäre es ihr allerletzter Atemzug, deutete sie mit einer hektischen Armbewegung in eine bestimmte Richtung.

„Komm, lass uns schnell von hier verschwinden. Wir gehen zu der kleinen Lichtung.“

Sie führte Lea zu einem kleinen Trampelpfad hinter dem Haus.

„Wieso kennst du dich hier so gut aus?“, fragte Lea.

Gina schaute sich zu ihr um, legte den Kopf schräg und bedachte sie mit einem fragenden Blick.

„Geht Doktor Ekel nie mit dir zu der Lichtung?“

Lea war ein wenig überrascht und schüttelte den Kopf.

„Hm, komisch. Mit mir geht er sehr oft dorthin. Der Doktor sagt dann immer, dass man in dieser einzigartigen Natur viel freier reden und sich komplett gehen lassen kann … von wegen Natur, der will nur mit mir alleine sein.“

Unmittelbar hinter dem Haus begann der Wald, in den der Trampelpfad direkt hineinführte. Schon nach wenigen Minuten erreichten sie die Lichtung. Lea spürte sofort, dass dieser Ort eine eigenartige Ausstrahlung besaß. Um sie herum wuchsen die Bäume nahe beieinander, ragten viele Meter in die Höhe und bildeten miteinander ein dichtes Blätterdach. Aber auf der Stelle, auf der sie standen, wuchs kein einziger Baum, noch nicht einmal ein kleiner Schössling. Das Sonnenlicht fiel ungehindert auf Moosflechten und Gras. Es wirkte fast so, als ob sie diesen Platz mieden.

Die beiden setzten sich und während sich Gina erneut eine Zigarette anzündete, musterte sie ihre Freundin.

„Was hältst du von unserem tollen Psychiater, Lea?“

Die verzog das Gesicht und hob verächtlich die Augenbrauen.

„Ich traue diesem Typen nicht. Irgendetwas stimmt mit dem nicht. Ich kann es schlecht beschreiben, es ist so ...“

Gina unterbrach sie mitten im Satz.

„So, als wäre in ihm noch eine ganze andere Person versteckt? Eine Person, die hinterlistig und böse ist, während er den fürsorglichen Menschen spielt?“

„Genau das Gefühl habe ich“, rief Lea aufgeregt und war heilfroh jemanden gefunden zu haben, der den gleichen Eindruck hatte.

Die beiden sprachen noch eine ganze Weile miteinander und erst als sich der frühe Abend ankündigte, verließen sie die Lichtung, um zur Bushaltestelle zu gehen. Als sie dort warteten, erkannte Lea, dass sich die Gardine am Fenster von Dr. Kellermanns Büro bewegte.

„Der beobachtet uns“, flüsterte Gina ihr zu, die die Bewegung ebenfalls gesehen hatte.

„Der sollte mal besser in Behandlung gehen und nicht wir“, flüsterte Lea zurück.

Da Ginas Zuhause in der entgegengesetzten Richtung lag, nahm sie einen anderen Bus und fuhr davon. Zehn Minuten später kam auch Leas Bus und sie stieg ein. Sie setzte sich auf einen Platz und dachte über ihr Gespräch mit Gina nach. Sie war glücklich jemanden kennengelernt zu haben, mit dem sie nun all ihre Gedanken und Gefühle besprechen konnte. In ihrem derzeitigen Freundeskreis hatte sie niemanden, der sie hätte verstehen können. Zum ersten Mal freute sie sich sogar auf den nächsten Termin bei Dr. Ekel.

Die Tage bis dahin flogen schnell vorbei. Als sie wieder auf der Couch saß und den bohrenden Blick des Psychiaters ertragen musste, drehte sich das Gespräch plötzlich in eine völlig unerwartete Richtung.

„Hast du Gina kennengelernt?“, fragte Dr. Kellermann und tat so, als hätte er sie nicht durch das Fenster beobachtet.

Lea nickte nur kurz.

„Ach, sie ist so ein liebes Mädchen und etwas ganz Besonderes. Aber ...“, er machte eine kleine Pause und sog die Luft scharf in die Nase, „sie hat auch eine blühende Fantasie und man sollte nicht jedes Wort für wahr nehmen. Sie hat, wie du, Schlimmes erlebt und muss hart an sich arbeiten, um das Erlebte zu bewältigen.“

Er beugte sich zu ihr herüber und kam so nah, dass Lea seinen Atem im Gesicht spürte. Er legte seine Hand auf ihre und seine Fingerkuppen gruben sich in ihren Handrücken.

„Hat sie irgendetwas über mich erzählt?“, fragte er leise und verstärkte dabei den Druck seiner Finger.

Leas Instinkt befahl wegzurennen und sämtliche Muskeln ihres Körpers spannten sich an. Sofort war ihr klar, dass sie ihre nächsten Worte ganz genau überdenken musste. Sie durfte Gina nicht in Gefahr bringen. Sie ließ sich ihre Angst nicht anmerken und antwortete so ruhig und gelassen wie nur möglich.

„Nein, wir haben nur über Musik und die Schule geredet und sie hat mir erzählt, wie schlecht ihre Noten sind. Das Übliche halt.“

Lea blickte gelangweilt an ihm vorbei und versuchte seinen schmerzenden Griff zu ignorieren, sie durfte sich jetzt nicht verraten.

„Na dann ist es ja gut.“

Beruhigend strich er über ihren Handrücken und erhob sich.

„Wie gesagt, sie ist ein wenig verwirrt und ich glaube nicht, dass es gut für sie ist, wenn sie mit jemanden zu tun hat, der Ähnliches erlebt hat. Das könnte den Therapieerfolg gefährden. Deswegen bitte ich dich, solche Treffen zu unterlassen.“

„Also, mit wem ich mich treffe, müssen Sie schon mir überlassen“, entgegnete Lea leicht aufgebracht. Lange genug hatte sie seine überhebliche Art und seine Bevormundung hingenommen. Dass er ihr jetzt auch noch vorschreiben wollte, mit wem sie sich traf, das ging eindeutig zu weit.

Der Doktor setzte sich an seinen Schreibtisch und gab vor, Leas Einwand nicht gehört zu haben.

„Ich wiederhole mich nicht noch einmal“, zischte er so leise, dass Lea es gerade noch verstehen konnte.

„Dann bis nächste Woche“, warf er ihr zum Abschied noch hinterher und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, hinter einem dicken Buch.

Lea wollte die Tür zuziehen, als sie innehielt, weil er unvermittelt wieder zu sprechen begann.

„Ich habe eben an deiner aggressiven Art erkannt, dass du das Trauma noch lange nicht verarbeitet hast. Ach, und noch etwas, Gina hat keine miserablen Noten, sie ist die Jahrgangsbeste und hat einen Notendurchschnitt von 1,3.“

Lea erschrak zutiefst und drehte sich zu Dr. Kellermann um. Das gelbliche Licht seiner Schreibtischlampe warf kleine Schattenmuster auf sein Gesicht, was ihm ein dämonisches Aussehen gab. Sein eiskalter Blick fixierte sie scharf und schnitt wie ein Dolch durch ihren Verstand. Er hatte sie bei einer Lüge ertappt. Dann senkte er den Blick wieder in sein Buch. Lea schloss die Tür und verließ das Haus.

Ungeachtet des Verbots traf sie sich mit Gina an der kleinen Lichtung. Sie erzählten sich von ihren Sitzungen, dabei verschwieg Lea jedoch den unangenehmen Zwischenfall. Sie kannte Gina gut genug, sie würde ihn früher oder später darauf ansprechen. So hielt sie es für ratsamer, es erst einmal für sich zu behalten.

So ging es Woche um Woche und immer, wenn der unangenehme Teil vorbei war, genossen die beiden ihre gemeinsamen Stunden und vergaßen alles um sich herum. Schon längst verband sie eine enge Freundschaft, eine Freundschaft, die weit über der einer normalen hinausging. Vielleicht waren es gerade die schlimmen Ereignisse, die sie beide durchlitten hatten, die solch ein starkes Band knüpften.

Dann kam eine Zeit, in der Gina auffallend ruhiger wurde. Als Lea sie an der Lichtung darauf ansprach, entgegnete ihre Freundin, dass sich Dr. Kellermann immer seltsamer verhielte. Besonders in den letzten Wochen bestände er regelrecht darauf, bestimmte Themen immer und immer wieder durchzukauen. Wenn sie Einwand erhob, sagte er, dass dies ein Teil seiner Behandlung sei und falls sie weiter gegen seine Maßnahmen rebellieren sollte, müsse er die Therapie verlängern. Während des Redens blickte Gina angewidert vor sich hin.

„Ich habe schreckliche Angst vor ihm“, schluchzte sie und Tränen liefen an ihrem Gesicht herunter.

„Von Mal zu Mal benimmt er sich immer merkwürdiger. Oft schaut er mich so lange an, als würde er sich genau ausmalen, auf welche Weise er mir das Leben so schwer wie möglich machen könnte. Ich habe schon versucht mit meiner Betreuerin zu reden, aber jedes Mal wurde es als nicht ernst zu nehmendes Gerede einer pubertierenden Jugendlichen abgetan.

Ich kann es schlecht beschreiben, aber alles in mir warnt mich davor, weiter zu den Sitzungen zu gehen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Mensch nur auf den richtigen Moment wartet, um ...“

„Um was zu tun?“, unterbrach sie eine tiefe Stimme. Es war Dr. Kellermann.

Er stand zwischen zwei, sehr nah beieinanderstehenden Bäumen und schaute sie böse an. Sein Gesicht war rot vor Zorn und dicke, aufgepumpte Adern zogen sich über seine gesamte Stirn. Seine riesigen Hände öffneten und schlossen sich, als könne er seine Wut kaum noch unter Kontrolle halten.

Gina und Lea zuckten erschrocken zusammen und schauten sich entgeistert an.

Hatte er alles gehört?

Noch immer war sein stierender Blick auf sie gerichtet und in seinen Augen loderte schwer kontrollierte Raserei.

Als beide kein Wort über die Lippen brachten und nur stocksteif dasaßen, trat er aus dem Schatten der Bäume zu ihnen auf die Lichtung und wiederholte seine Frage, aber wieder erhielt er keine Antwort.

Mit einem Mal verschwand der zornige Ausdruck und ein hinterhältiges Grinsen vertrieb den irren Blick.

„Bis nächste Woche, ich freue mich schon auf euch.“

Er drehte sich um und ging wieder in den Wald. Ein paar Äste, die ihm unglücklicherweise den Weg versperrten, wurden mit aggressiven Schlägen so hart bearbeitete, als wären sie der Grund für seine Wut. Erst als das Rascheln seiner Schritte nicht mehr zu hören war, atmeten die beiden erleichtert auf.

„Verdammt, wir müssen vorsichtiger sein, das wäre jetzt beinah ins Auge gegangen“, flüsterte Gina und man sah noch immer den Schrecken in ihrem Gesicht.

„Aber zum Glück hat er wohl nicht alles mitbekommen“ sagte Lea ebenso leise.

Sie traten den Heimweg an und liefen zur Haltestelle.

Die gesamte folgende Woche über hatte Lea ein mulmiges Gefühl, wenn sie an ihre nächste Sitzung dachte. Wie würde sich Dr. Kellermann ihr gegenüber verhalten? Hatte er doch mehr mitbekommen, als sie vermutet hatte? Diese Gedanken machten ihr regelrecht Bauchschmerzen.

Auch Gina schien es nicht anders zu ergehen. Jeden Tag sprachen sie am Telefon über ihre Gefühle und Lea hörte die wachsende Angst in der Stimme ihrer Freundin. Sie ahnte, dass Gina ihr etwas verschwieg. Aber wenn sie ihre Freundin direkt darauf ansprach, wechselte Gina sofort geschickt das Thema.

Die nächsten Tage schlichen so träge dahin, als wolle die Zeit ihre Nerven zusätzlich strapazieren. Aber selbst die Zeit musste sich irgendwann dem Fortlauf der Dinge beugen und so kam der Tag, an dem sie zusammen zu Dr. Kellermann gingen und Lea, wie immer, als Erste hereingerufen wurde.

Zu ihrer Überraschung war der Doktor guter Dinge und erwähnte die Situation auf der Lichtung mit keinem Wort.

Was ist denn mit dem los? Der benimmt sich heute ja ganz normal, so kenne ich ihn gar nicht. Der macht unentwegt Späße und ist so offen und freundlich. Auffällig freundlich, vielleicht steckt etwas anderes dahinter.

Ach Quatsch, jetzt spinne ich mir wieder etwas zurecht. Ich lasse aber auch wirklich kein gutes Haar an ihm. Vielleicht sollte ich ihm gegenüber nicht immer so verbohrt sein.

Als sie nach der Sitzung an dem Wartezimmer vorbeilief, deutete sie mit einem hochgestreckten Daumen an, dass alles reibungslos gelaufen war. Das Gesicht ihrer Freundin zeigte keine Reaktion, es blieb völlig ausdruckslos. Was war in der letzten Zeit bloß mit ihr los?

Solange Gina in der Sitzung war, wartete Lea auf dem Vorplatz des Herrenhauses. Sie lehnte sich an die uralte Natursteinmauer, die einen Teil des Anwesens umgab. Auf einmal öffnete sich das Fenster des Büros und Dr. Kellermann schaute nach draußen.

„Lea“, rief er ihr zu, dabei klang seine Stimme sehr herzlich, aber auch ein wenig aufgeregt, „du brauchst heute nicht zu warten. Gina und ich brauchen etwas länger, du kannst ruhig schon nach Hause fahren.“

Lea wollte gerade etwas entgegnen, da winkte ihr der Doktor noch einmal zu und schloss das Fenster.

Lea beschlich ein ungutes Gefühl. Bestimmt bekam Gina jetzt eine ordentliche Standpauke. Sie hatte wohl nicht so ein Glück.

Sie kramte ihr Handy heraus und schrieb ihrer Freundin eine Nachricht. Kurz darauf bekam sie eine Antwort, alles sei in Ordnung und sie solle ruhig fahren. Sie würde sich melden, sobald sie wieder zuhause sei.

Lea fuhr nach Hause und setzte sich auf die Couch. Verdammt nochmal, warum war sie nur so beunruhigt? Wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre, hätte Gina ihr das bestimmt getextet. Sie legte ihr Handy neben sich und wandte den Blick nicht mehr davon ab. Immer wieder rechnete sie im Kopf nach, wie lange die Sitzung und der Rückweg dauern könnten. Lea fluchte, es könnte natürlich auch sein, dass Gina länger auf den Bus warten musste, was ihre gesamte Rechnung wieder durcheinanderwarf.

Nach über zwei Stunden hielt sie es nicht mehr aus. Es wurde schon dunkel und noch immer hatte sich Gina nicht gemeldet. Mit klopfendem Herzen wählte sie die Nummer ihrer Freundin. Es erklang eine monotone, weibliche Stimme, die ihr freundlich, aber kalt erklärte, dass diese Person im Moment nicht erreichbar sei.

Jetzt bekam Lea langsam aber sicher Panik. Es wäre schon ein komischer Zufall, wenn gerade jetzt Ginas Akku leer wäre. Immer und immer wieder huschten ihre Finger über das leuchtende Display, aber auch der zehnte Versuch blieb erfolglos, das Handy war aus.

Diese totale Stille um sie herum wurde plötzlich entsetzlich laut. Irgendetwas stimmte nicht, dessen war sie sich absolut sicher. In ihrem Kopf spielten sich die schlimmsten Szenarien ab.

Sie wollte sich gerade die Jacke anziehen, als ihre Mutter die Tür aufschloss. Marie bemerkte sofort, dass ihre Tochter sehr aufgebracht war und schaute fragend.

Aufgeregt erzählte Lea, was geschehen war. Doch sie hatte kaum zu Ende erzählt, als ihre Mutter sie unterbrach und am Arm schüttelte.

„Bist du des Wahnsinns? Schau mal nach draußen. Es ist stockdunkel, du gehst mit Sicherheit nirgendwo hin. Außerdem fährt auch kein Bus mehr, willst du etwa zu Fuß dorthin gehen?“

Lea stand ratlos da und schaute ihre Mutter an. Das hatte sie in ihrer Aufregung nicht bedacht. Aber das war jetzt auch nicht wichtig, besann sie sich, vielleicht nahm sie einfach das Fahrrad.

Marie legte beruhigend einen Arm um sie und redete beschwichtigend auf sie ein.

„Du warst doch auch schon öfter unterwegs und dein Akku war leer. Das eine Mal hattest du es sogar verloren, also beruhige dich wieder.“

„Aber Dr. Kellermann ist - er ist immer seltsamer geworden und wer weiß ...“, stammelte Lea.

„Lea, ich bitte dich“, fuhr die Mutter ärgerlich dazwischen.

„Ich kenne Henry, also Dr. Kellermann schon eine lange Zeit, zieh ihn jetzt bitte nicht in den Dreck. Und dass er sich an dem Tag komisch verhalten hat ist doch normal, nachdem was ihr euch geleistet habt. Ich habe genug von dir und deinen ewigen Geschichten. Jetzt geh in dein Zimmer, ich will nichts mehr von dir hören.“

Lea warf verärgert ihre Jacke in die Ecke und rannte ins Zimmer. Sie schmiss sich auf das Bett und presste ihr Gesicht in das Kopfkissen. Hatte sie wirklich darauf gehofft, dass die Mutter ihr glauben würde?

Den ganzen Abend versuchte sie weiterhin ihre Freundin zu erreichen, hatte jedoch keinen Erfolg.

Am nächsten Tag schwänzte Lea die Schule und fuhr stattdessen zum Anwesen. Vorsichtig schlich sie durch den Wald, niemand sollte sie sehen. Als sie an der Lichtung ankam, suchte sie alles genau ab, vielleicht hatte Gina das Handy hier verloren. Nach einiger Zeit gab sie resigniert auf. Nicht das kleinste Indiz bewies, dass ihre Freundin hier war. Die Sorge machte sie wahnsinnig. Obwohl sich alles in ihr dagegen wehrte, ging sie zum Haus und fragte beim Diener nach, wann Gina gestern gegangen sei. Sie erfuhr, dass sie eine halbe Stunde nach ihr das Haus verließ. Von da an habe man nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Die schwere Eingangstür fiel wieder ins Schloss und ließ Lea mit ihren schlimmsten Vorahnungen und Ängsten allein. Apathisch stand sie da und starrte auf das dunkle Holz. Was sollte sie nun machen? Sie reflektierte den Ablauf der gestrigen Geschehnisse und zog jede noch so winzige Kleinigkeit in Betracht.

„Wo bist du nach der Sitzung nur hin?“, flüsterte sie und hoffte auf eine Eingebung.

Als Lea hörte, wie sich der Bus näherte, rannte sie über den Schotterweg und stieg ein. In diesem Moment war es ihr vollkommen gleich, ob sie überreagierte, sie musste etwas unternehmen. Als der Bus die Stadt erreichte und an einer Haltestelle stehen blieb, sprang sie auf den Gehweg und rannte die Straße herunter. Ihr Ziel war die kleine Polizeiwache, die etwas versteckt in einer schmalen Seitenstraße lag. Als sie vor der Leuchttafel mit der Aufschrift „Polizei“ stand, wurde ihr klar, wie extrem ihre Angst um Gina geworden war.

Ein hagerer Polizist saß hinter dem Schreibtisch und blickte konzentriert auf den Monitor. Sein glattgebügeltes, blaues Hemd und die präzise gewickelte Krawatte erweckten den Anschein, dass er alles was er machte sehr genau nahm.

Er nippte gerade an seinem Kaffee, als Lea die Tür aufriss. Er zuckte erschrocken zusammen und der Kaffee schwappte über die Tastatur seines Computers. Ungehalten über diese unerwartete Störung wischte er mit einem Taschentuch über die Tastatur.

„Guten Tag, ich möchte eine vermisste Person melden. Es ist meine Freundin Gina und sie ist seit gestern Abend verschwunden.“

Lea versuchte ihren Sätzen so viel Dramatik wie möglich zu verleihen, der Mann sollte sofort merken, wie ernst die Lage war. Er aber blickte nur kurz zu ihr auf und wischte weiterhin über die Tastatur. Dann endlich schmiss er das Taschentuch in den Papierkorb und schaute sie an.

„Guten Tag. Nun setzen Sie sich erst einmal und fangen am besten von vorne an. Wo haben sie ihre Freundin das letzte Mal gesehen und seit wann genau ist sie verschwunden?“

„Wir haben uns bei unserem Therapeuten getroffen, aber sie brauchte etwas länger und da bin ich schon nach Hause gefahren. Seitdem ist ihr Telefon aus. Das ist doch nicht normal. Da muss etwas passiert sein.“

„Also, wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie erst seit gestern Abend nicht mehr erreichbar. Das sind etwa“, er blickte auf die riesige Uhr über der Eingangstür,

„gerade einmal fünfzehn Stunden. Vielleicht ist sie zu einer anderen Freundin oder zu Verwandten gegangen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber bei achtundneunzig von hundert Fällen verhält es sich genauso und die Person taucht dann einfach wieder auf. An Ihrer Stelle würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen.“

„Aber Gina ist nicht so, es muss etwas passiert sein. Ich ...“, sie wusste, dass sie sich mit dem nächsten Satz lächerlich machte, aber das war ihr in diesem Moment herzlich egal.

„Ich spüre, dass etwas nicht stimmt.“

„Glauben Sie mir, so geht es auch den anderen Menschen, die hier ihre Vermisstenanzeigen aufgeben.“

Der Mann deutete ein Lächeln an.

„Aber trotzdem nehme ich das alles auf und werde mich darum kümmern. Ich melde mich sofort, falls ich etwas in Erfahrung bringen sollte.“

Lea schaute ihn fassungslos an. War das jetzt wirklich alles? Sie wusste, dass er sonst nichts mehr tun konnte, dennoch wollte sie es nicht verstehen. Sekundenlang saß sie da und hoffte darauf, dass der Polizist ihr einen besseren Plan offenbaren würde. Als das nicht passierte, stand sie auf und verließ die Wache.

Sie lief betrübt die Gasse entlang. Die eisernen Laternen blickten, mit ihren tief nach unten gebogenen Armen, wie traurige Gestalten auf sie hinab. Sie fühlte sich wie in eine fremde und beängstigende Welt hinausgeschleudert, in der die Verzweiflung mit mächtigen Hieben auf sie einschlug. Sie war hilflos, so verdammt hilflos.

Kapitel 4

Im Schneckentempo zogen die Tage an Lea vorbei. Sekunden um Sekunden quälten sich träge voran, als versuchten sie mit allen Mitteln, sich der nächsten Minute entgegenzustemmen. Lea glich einer unruhigen und rastlosen Scheingestalt, deren einziger Sinn es war, das Handy im Blick zu behalten. Aber auch in den nächsten Tagen kam kein Lebenszeichen von Gina und etliche erneute Anrufe bei der Polizei, die mittlerweile eine Suchfahndung gestartet hatte, blieben ergebnislos. Gina blieb verschwunden.

Zu der nächsten Sitzung mit Dr. Kellermann erschien Lea nicht. Sie hatte in ihrer derzeitigen Verfassung keine Lust und vor allem keine Kraft, wieder und wieder über ihre Vergangenheit zu sprechen. Die Sorge um Gina machte ihr genug zu schaffen. Ihre beste Freundin war weg, verstand das denn niemand?

Ihre Vorahnungen und Befürchtungen überfluteten sie wie eine tosende Welle und zerfetzten jeden Hoffnungsschimmer. Jeder Augenblick wurde für sie zu einer einzigen Qual.

Als sie am darauffolgenden Tag nach Hause kam, brannte Licht in der Wohnung. Sie wunderte sich, sonst war ihre Mutter um diese Uhrzeit nie daheim.

Sie schloss die Tür auf, schob ihren Kopf durch den Spalt und horchte. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter, die angeregt mit jemandem sprach. Lea wunderte sich, normalerweise brachte sie nie jemanden mit. Sie betrat die Küche, um sie zu begrüßen. Als sie erkannte, wer der Gast war, erstarrte sie schlagartig. Am Tisch saß jemand, den sie als Letzten erwartet hätte. Mit einem breiten Lächeln blickte Dr. Kellermann ihr entgegen.

„Wie schön, dich zu sehen, Lea. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht zu unserer letzten Sitzung gekommen bist. Und da ich Marie schon lange nicht mehr gesehen habe, dachte ich mir, ich hole sie einfach von der Arbeit ab und wir unterhalten uns etwas.“

Lea stand wie vom Blitz getroffen da und spürte eiskalte Finger, die ihr über den Rücken krochen. Ihr Blick wanderte zu dem strengen Gesicht ihrer Mutter, das ohne Zweifel Ärger ankündigte. Doch als sie dann sprach, wurden ihre Züge weicher.

„Henry hat mich überrascht und ich muss zugeben, es war eine sehr schöne Überraschung“, sagte sie und ihre Wangen nahmen eine rosa Färbung an. Verlegen strich sie sich ein paar Haarsträhnen hinter das Ohr. Dann wandte sie sich an ihn.

„Ich wusste nicht, dass Lea die Sitzungen schwänzt, sonst hätte ich ihr etwas dazu gesagt.“

Sie bedachte ihre Tochter mit einem vernichtenden Blick.

„Halb so wild, in dem Alter ist das doch normal“, sagte Henry beschwichtigend.

„Aber ich habe auch schon eine Idee, wie wir das aus der Welt schaffen können. Wenn du mit mir essen gehst, vergesse ich alles. Lea hat in der letzten Zeit genug mitgemacht. Die Polizei war bei mir und hat mir berichtet, dass Gina verschwunden ist und die Chance, dass man sie lebend findet, ist wohl inzwischen sehr gering. Schade, sie war solch ein liebes Mädchen.“

„Sie lebt noch“, stieß Lea trotzig hervor.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, als wäre dies nur wieder einer von Leas ständigen albernen Wutausbrüchen. Verlegen lächelnd schaute sie zu Henry.

„Ich nehme die Einladung sehr gerne an und freue mich schon auf den Abend.“

Lea konnte es nicht fassen, die beiden taten so, als gäbe es nichts Wichtigeres als diese verdammte Verabredung. War es ihnen eigentlich egal, dass ihre beste Freundin seit Tagen verschwunden war?

Ohne ein weiteres Wort verschwand sie in ihrem Zimmer. Sie legte sich auf das Bett und drehte die Musik auf. Sie konnte die Stimmen und das ständige Lachen der beiden einfach nicht ertragen.

Die darauffolgenden Tage verbrachte Lea die meiste Zeit zuhause. Noch immer gab es kein Lebenszeichen von Gina und auch die Suchaktion der Polizei blieb erfolglos.

Zu allem Überdruss besuchte Henry ihre Mutter immer öfter. Zum Glück verschwanden die beiden recht schnell und blieben die ganze Nacht weg. Aber dann gab es noch die Tage, die Lea an einen kitschigen Groschenroman erinnerten. Ihre Mutter und Henry blieben zuhause, spielten etwas, kochten oder schauten Fernsehen. Sie taten so, als wären sie eine kleine glückliche Familie. Eine Familie, in der Lea aber nur eine Statistenrolle zukam. Sie saß zwar öfter bei ihnen und machte gute Miene zum bösen Spiel, aber trotzdem war sie nur eine unscheinbare Figur ohne wirkliche Bedeutung.

Wenn Henry sich angeregt mit ihrer Mutter unterhielt, beobachtete Lea ihn ganz genau. Sie versuchte, aus seinem Verhalten etwas zu deuten und seine Mimik zu lesen. Könnte dieser Mensch etwas mit dem Verschwinden ihrer Freundin zu tun haben oder sie sogar umgebracht haben? Sie erschrak selbst bei diesem Gedanken, das ging wohl eindeutig zu weit.

Sie war sich zwar sicher, dass er mehr wusste als er zugab, aber sie hatte keinerlei Beweise. Aber je länger sie ihn beobachtete, verhärtete sich ihr Verdacht, dass etwas mit diesem Menschen nicht stimmte.

Lea wusste, dass sie vorsichtig sein musste, sie war ganz allein. Die Einzige, die ihr noch nahestand war ihre Mutter. Sie wartete eine günstige Gelegenheit ab und warf alles auf eine Waagschale. Sie erzählte von ihrem Verdacht, Henry könnte etwas mit dem Verschwinden von Gina zu tun haben. Aber wie sie es schon erwartet hatte, glaubte Marie ihr nicht. Sie ließ sie nicht einmal ausreden und fing direkt an, auf Gegenangriff zu gehen. Sie warf Lea vor, dass sie es ihr nicht gönnen würde, auch mal glücklich zu sein. Am Ende drohte sie sogar damit, Henry alles zu erzählen. Lea fühlte sich verraten, nicht einmal ihre eigene Mutter glaubte ihr.

Seitdem Gina verschwunden war, ging sie fast jeden Tag zu der Lichtung. Sie wusste, dass es verrückt war, aber insgeheim hoffte sie noch immer darauf, dass ihre Freundin irgendwann dort einfach erscheinen würde.

Jeder Baum, jeder Strauch, einfach alles rief in ihr die Erinnerungen zurück. Manchmal wenn sie dort saß, meinte sie sogar, das heitere Lachen ihrer Freundin zu hören, was sich am Ende aber nur als Hirngespinst herausstellte. Trotzdem tat es ihr unheimlich gut dort zu sein, denn es ließ die Vergangenheit für einen winzigen Moment zur Gegenwart werden.

Auch dieses Mal war nichts von ihrer Freundin zu sehen. Sie wollte gerade wieder gehen, als ihr plötzlich etwas auffiel. Unter einer breiten Tanne, die ihre fächerartigen Zweige in die Lichtung streckte, war der Boden frisch aufgewühlt. Lea kniete sich hin und betrachtete die Stelle genauer. Natürlich gab es Tiere, die den Boden aufwühlten, aber diese Erde war so locker, als hätte hier jemand vor Kurzem gegraben.