OBSESSED - Die Erleuchteten - David McGerran - E-Book

OBSESSED - Die Erleuchteten E-Book

David McGerran

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Beschreibung

Umgeben von steilen Klippen, gefährlichen Brandungen und dem tosenden Meer liegt Eilean Nam Marbh, die Insel der Toten. Seit Jahrhunderten ranken sich düstere Geschichten und Flüche um dieses Eiland. Trotz der unheimlichen Vorkommnisse gründet die geheimnisvolle Sekte der Erleuchteten dort ihren Hauptsitz. Sechs neue Anwärter, darunter die verschlossene Grace, ihre chaotische Freundin Samy und die verwöhnte Ely, werden in die Reihen der Erleuchteten aufgenommen. Zunächst scheint alles perfekt, doch bald geschehen Ereignisse, die sie an den friedlichen Absichten des Ordens zweifeln lassen. Die Gruppe beginnt, eigenständig zu recherchieren und dringt dabei immer tiefer in die internen Kreise der Sekte vor. Sie decken unheimliche Pläne auf und werden Zeugen von bizarren Ritualen und psychischen Manipulationen. Aus Freunden werden erbitterte Feinde, und nicht nur einmal stößt die Gruppe an die Grenzen des Ertragbaren. Eine gnadenlose Hetzjagd auf der Insel der Toten beginnt. Hat sich der Wahn der Erleuchteten noch weitere Opfer gesucht?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26

David McGerran

 

OBSESSED

Die Erleuchteten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

OBSESSED – Die Erleuchteten

 

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

 

Lektorat: Lara Gathmann

Korrektorat: Lara Späth

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH,

unter Verwendung von 123rf

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

Kapitel 1

An diesem grauen Morgen, an dem die Regentropfen wie kleine Faustschläge gegen die Scheibe trommelten, hatte Grace nur ein Verlangen, sie wollte töten. Dabei war es ihr egal, ob es ihr schmieriger Vermieter war, der ihr mit seinem selbstgefälligen Grinsen die nächste Mietrechnung unter die Nase hielt, der Nachbar über ihr, der ihr mit seiner lauten Musik die ganze Nacht den Schlaf geraubt hatte oder irgendein anderer Normalo, der ihr schmerzhaft vor Augen hielt, dass sie völlig anders war. Solche Menschen hasste Grace ganz besonders. Während ihr Leben von Hindernissen, Schicksalsschlägen und Enttäuschungen geradezu überschattet wurde, schienen sie vom Glück gesegnet zu sein. Nein, das war nicht fair.

Gedankenverloren beobachtete sie die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos, die grelle Fantasiefiguren an die Wand malten. Aber vielleicht könnte ihr Leben ja heute, genau an diesem unscheinbaren Montagmorgen, eine völlig neue Wendung nehmen. Die Ausbildung in einer nahegelegenen Gärtnerei sollte ihrem Leben von nun an eine neue Richtung geben. Zeit wurde es langsam, denn mit ihren vierundzwanzig Jahren gehörte sie, zumindest in ihren Augen, schon zum alten Eisen.

Wochenlang, Nacht für Nacht, hatte sie mit ihrer Freundin Samantha, die alle nur Samy nannten, diverse Stellenausschreibungen durchforstet. Die dürftigen Schulnoten der beiden, gepaart mit ihrer eigenwilligen Art, die manche fälschlicherweise als arrogant wahrnahmen, machten es ihnen nicht gerade einfach, etwas zu finden. Aber dann, trotz aller Widrigkeiten, erbarmte sich jemand und bot den beiden einen Ausbildungsplatz an.

Als Grace an ihre Freundin dachte, verzog sie das Gesicht. Gestern Nacht hatten sie wieder so viel getrunken, dass es ihr ein Rätsel war, wie sie heute überhaupt hatte aufstehen können. Eins musste man Samy lassen, sie wusste, zu überzeugen. Während sie am gestrigen Abend ihre Nase in dicke Bücher gesteckt hatte, um an ihrem ersten Arbeitstag nicht ganz unvorbereitet zu sein, war Samy mit zwei Flaschen Vodka erschienen, deren knallgrünes Totenkopflogo sie schon von weitem angegrinst hatte.

»Komm du Streberin, lass es dir schmecken, auf unsere Ausbildung«, prostete Samy ihr zu und hielt ihr ein Glas hin.

Grace zögerte. Wie aus dem Nichts tauchte ihr schlechtes Gewissen auf und riet ihr, wenigstens heute vernünftig zu sein und das Glas vor ihrer Nase zu ignorieren. Aber wie so oft verlor ihr Gewissen den Kampf gegen das hochprozentige Getränk und machte sich schließlich resigniert von dannen.

»Prost, darauf, dass wir eine Menge Spaß haben werden und endlich zu Geld kommen«, fügte Grace noch hinzu und setzte das Glas an. Sie presste die Lippen zusammen und verzog das Gesicht. Der erste Schluck war immer der schlimmste.

»Ach ja, diese verdammte Kohle. Mein Plan, einen alten, reichen Sack zu heiraten, ging ja bisher nicht auf«, murmelte Samy und ihre Mundwinkel bogen sich nach unten.

»Der müsste aber schon scheintot sein, um dich zu ertragen«, konterte Grace und zwinkerte ihr zu.

»Bitch«, zischte ihre Freundin.

Die zweite Flasche wurde geöffnet und katapultierte die Laune der beiden auf den Höhepunkt. So war es immer, wenn sie tranken und um ehrlich zu sein, taten sie das jeden Tag.

 

Obwohl Grace Samy erst seit ein paar Jahren kannte, fühlte es sich an, als würden sie sich schon ewig kennen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht erinnerte sie sich an den Tag zurück, als ihre Freundin das erste Mal das Jugendzentrum betreten hatte.

Schon von der ersten Minute an hatte Samy jedem klargemacht, dass von nun an eine hochexplosive Sprengladung mit ihnen die Zeit totschlug. Ohne Zweifel hatte man mit ihr lachen können und sie war auch für jeden Blödsinn zu haben, aber trotz allem war sie unberechenbar gewesen. Wenn man es bei ihr übertrieben hatte oder sie einfach nur einen schlechten Tag hatte, waren ganz normale Späße zu einem Tanz auf einem Vulkan geworden. Mit bösen Blicken, die einen förmlich verbrannt hatten oder Sätzen, die einem die Schamesröte ins Gesicht getrieben hatten, hatte Samy deutlich gezeigt, dass von nun an die Grenze überschritten worden war und man lieber das Weite suchen sollte. Die anderen hatten das recht schnell begriffen und hatten sie gemieden, nur Grace hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Nach ein paar anfänglichen Reibereien, die einmal sogar mit einer blutigen Nase geendet hatte, waren die beiden unzertrennlich geworden. Sie waren wie Tag und Nacht, aber vielleicht war genau das das Rezept dafür, dass sie fest zusammengehalten hatten und es nie langweilig geworden war. Während sie grübelnd dagesessen hatte und sich ihre nächsten Schritte genaustens überlegt hatte, war Samy immer wild drauf losgerannt. Manchmal hatte Grace das Gefühl gehabt, dass ihre Freundin den Reiz geliebt hatte, überall anzuecken und von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten. Oh ja, Samy war völlig anders gewesen, aber trotz allem hatte Grace sie wie eine Schwester geliebt.

Kurz nach ihrem Kennenlernen hatten sich noch zwei weitere Freundinnen hinzugesellt, der Alkohol und die Drogen, deren magischer Anziehung die beiden jungen Frauen nichts entgegenzusetzen hatten. Mit ihrer Macht, Sachen zu verdrängen, Traurigkeit in Heiterkeit zu verwandeln und aus jeder noch so verworrenen Situation das Beste zu machen, hatten sie in kürzester Zeit einen festen Platz im Leben von Grace und Samy eingenommen. Viele Nächte hatten die vier zusammengesessen und hatten für einige Stunden das Leben um sich herum vergessen.

 

Wie eine uralte Frau, deren Gang ins Badezimmer einer Tagesaufgabe glich, kämpfte Grace sich durch die Wohnung. Dass sie dabei einen Hausschuh verlor und eine leere Packung Zigaretten unter die Couch beförderte, interessierte sie nicht. Sie rümpfte die Nase und verzog angewidert das Gesicht, ihre ganze Wohnung stank bestialisch. Der kalte Rauch von Zigaretten und Joints, gepaart mit dem beißenden Geruch des abgestandenen Alkohols ergaben ein Gemisch, das ihr den Magen umdrehte.

Sie stoppte an einer uralten Kommode, auf deren zerkratzter Oberfläche eine plumpe, recht unscheinbare Lampe stand und ihr gelbliches Licht auf die Wand warf. Ihr Blick fiel auf die unzähligen Fotos, die auf der dreckigen Tapete ein buntes Mosaik ergaben. Fein säuberlich, Reihe für Reihe, hing dort das Einzige, was ihr geblieben war, der klägliche Rest ihrer Erinnerungen. Auf den meisten Bildern war sie allein. Mal spielte sie im Sandkasten, sauste mit einem Ball durch den Park oder saß auf der Schaukel und lachte. Es gab nur zwei Bilder, auf denen sie mit ihren Eltern zu sehen war.

War das vielleicht schon damals ein Omen gewesen, ein Wink des Schicksals, dass unsere Familie keine Zukunft hatte? Hatte ich diese Hinweise nur nie sehen wollen? Aber wie auch, ich war doch noch viel zu klein gewesen. Ich darf mir keine Schuld geben.

Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen war. Selbst jetzt noch, nach so vielen Jahren, wachte sie manchmal schweißgebadet auf und hörte das laute Geschrei der beiden, das tief in die Nacht hinausgeschallt war. Dann sah sie sich selbst, wie sie mit ihren kleinen Händen das große Kissen auf der Couch umklammert, ihr Gesicht in den weichen Stoff gepresst und gebetet hatte, dass dieser Alptraum endlich endet. Erhört wurde dieser Wunsch nie. Dabei waren diese Streitereien nicht das Schlimmste gewesen, unerträglich waren die Tage und Wochen des Schweigens gewesen, die jedes Mal nach den Wutausbrüchen gefolgt waren.

Dann war der Tag gekommen, der sich wie ein Brandmal in ihre Seele gefressen hatte, ihr Vater hatte mit gepackten Koffern die Wohnung verlassen. Er hatte sich nicht einmal mehr umgeschaut. Er hatte seine Frau und sein Kind einfach zurückgelassen, als wären sie Gegenstände, lästiger Ballast ohne jeglichen Wert oder Nutzen gewesen. Das war das letzte Mal gewesen, dass Grace etwas von ihm gesehen oder gehört hatte. Jeden Geburtstag, jedes Weihnachten und selbst zu Ostern hatte sie vor dem Telefon gesessen und auf seinen Anruf gewartet, der in diesem Moment das schönste Geschenk gewesen wäre, aber er war nie gekommen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben.

Auch die Beziehung zu ihrer Mutter war von Tag zu Tag schlechter geworden. Wenn sie sich nicht wegen belanglosen Sachen gestritten hatten, hatten sie sich gemieden. Die einzigen Kontakte hatten sich eher zufällig ergeben und hatten einer peinlichen Situation geglichen. Sie hatten kaum noch miteinander gesprochen und Grace hatte immer mehr das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter nur auf den Moment hin gefiebert hatte, auch endlich verschwinden zu können. So war es dann auch gewesen. Genau an ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie mit gepackter Tasche dagestanden, ihre Tochter noch einmal lieblos an sich gedrückt und war dann verschwunden.

Noch Stunden danach hatte Grace dagestanden, fassungslos zur Tür gestarrt und auf einen üblen Scherz gehofft. Das alles war Teil einer makabren Geburtstagsüberraschung. Aber es war kein Scherz gewesen. Irgendwann, ohne dass sie es mitbekommen hatte, war die Kraft aus ihrem Körper gewichen und sie war zu Boden gesunken. Was sollte sie jetzt tun? Sie war allein, ganz allein.

 

Ein paar Wochen später bekam sie vom Amt ein kleines Apartment in Easterhouse, einer der verwahrlosten Vororte von Glasgow, zugewiesen. Die Dachgeschosswohnung war winzig und Menschen mit einer klaustrophobischen Neigung hätten vermutlich sofort das Weite gesucht. Wenn sie durch die verschmierten Fenster zum Hinterhof herunterblickte, sah sie die Ratten in dem verdreckten Sandkasten herumstreunen. Besonders nachts hörte man das Knistern und Knacken, wenn sich das Ungeziefer an den unzähligen Tüten und Verpackungen zu schaffen machte, die wahllos herumlagen. Es war ein Drecksloch, in dem sie wohnte, aber es war billig.

Neben den typischen Reihenhäusern, die sich mit ihren verdreckten Fassaden dicht an dicht drängten, befand sich auch ein Park. Grace hasste diese Grünanlage, die von Drogendealern und Gangs geradezu überflutet wurde. Wie eine Seuche hatten sie sich ausgebreitet und machten hier selbst am helllichten Tag ihre dreckigen Geschäfte.

 

Graces Blick glitt zu den anderen Fotos an der Wand. Sie schüttelte den Kopf und ignorierte die Bilder, die einzig und allein dafür sorgten, dass weitere traurige Erinnerungen in ihr hochkamen. Sie betrat das Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zusammenzucken. Wer war diese Frau, die sie unentwegt anstarrte und jede ihrer Bewegungen nachäffte? Die dunklen Ringe, die sich wie breite Balken unter ihren Augen abzeichneten, waren gestern noch nicht da gewesen, dessen war sie sich absolut sicher. Ihre Haut war kalkweiß, dadurch stachen ihre Sommersprossen besonders hervor und wirkten auf ihrem Gesicht wie willkürliche Farbkleckse. Ihre Lippen waren stark aufgedunsen und passten überhaupt nicht zu ihren ansonsten feinen Zügen. Ihre Haare, die sie am Abend zuvor eine geschlagene Stunde frisiert hatte, hingen jetzt wie ein struppiger Wischmopp an ihrem Kopf herunter. Diese Frau im Spiegel konnte niemals sie sein, nein, das war unmöglich.

Nach einer ausgiebigen Dusche, unzähligen Griffen zu ihren Schminkutensilien und doppelt so viel benötigter Zeit wie gewohnt, blickte ihr eine frisch ausgeruhte Frau entgegen und sollte ihren ersten Arbeitstag richtig einleiten. Sie zog sich ihre Lederjacke über und sah auf die Uhr.

Verdammt, wo bleibt Samy? Sie sollte doch schon längst hier sein. Ich hoffe, sie hat nicht verpennt, sonst können wir das direkt vergessen.

Wie eine Löwin, eingepfercht in einem winzigen Käfig, lief Grace nervös auf und ab. Ihre Laune sank von Sekunde zu Sekunde. Sie bereute es, sich auf das Trinkgelage ihrer Freundin eingelassen zu haben. Mit einem wütenden Fluch auf den Lippen schnappte sie sich ihr Handy und wählte Samys Nummer. Zweimal, dreimal ertönte der Klingelton, dann meldete sich ihre Freundin mit einem heiteren Lachen.

»Hey, chill mal ein bisschen, ich steh schon unten vor der Tür.«

»Okay, ich komme«, gab Grace genervt zurück, konnte sich aber dennoch ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Das war mal wieder typisch. Unten angekommen öffnete sie die Wagentür und stieg ein.

»Na, haste einen dicken Kopf?«, fragte sie und konnte sich ein zynisches Grinsen nicht verkneifen. Schließlich war Samy ja selbst schuld, dass dieser Abend so geendet war. »Hör bloß auf.«

Samy presste sich die Hände gegen die Schläfen. »Ich fühle mich, als würde irgendein Idiot unentwegt mit einem Hammer auf einen Amboss hauen. Nur, dass der Amboss mein Kopf ist. Shit, ich hoffe, das wird gleich besser.«

»Nach ein paar Stunden harter Arbeit an der frischen Luft bestimmt«, mutmaßte Grace und lachte laut.

»Ich glaube, ich setze mich heute nur in die Kantine und gönne mir einen Kaffee nach dem anderen.«

»Das ist bestimmt der perfekte Start in den neuen Job. Macht einen super ersten Eindruck«, erwiderte Grace und schnallte sich an. »Hättest du mal auf mich gehört, aber du weißt es ja ständig besser.«

Während der gesamten Fahrt blieben beide recht still und hofften insgeheim darauf, dass die Strecke nie enden würde. Viel zu schnell erreichten sie die kleine Gärtnerei, die sich versteckt in einem Wäldchen befand und für die nächsten drei Jahre ihr zweites Zuhause werden sollte.

Der Senior-Chef, der aussah, als lebte er seit Anbeginn der Zeitrechnung, begrüßte sie kurz und knapp und wies sie in die Arbeit ein. Lustlos, sogar ein wenig genervt, als würden Grace und Samy ihm seine wertvolle Zeit stehlen, ratterte er die Anweisungen ohne Punkt und Komma herunter. Als die beiden jungen Frauen dann in die schlabbrigen, viel zu groß geratenen, grünen Arbeitshosen schlüpften, man ihnen eine kleine Schaufel in die Hand drückte und zu den Pflanzenkästen führte, sank ihre Laune noch schneller als erwartet. Hunderte kleine Pflänzchen, die den Eindruck machten, als würden sie bald auseinanderfallen, warteten auf einen geeigneten Platz in der Erde.

»Scheiße, damit werden wir locker ein paar Stunden beschäftigt sein«, zischte Samy ihrer Freundin zu.

»Irgendwie habe ich schon geahnt, dass so etwas kommen wird.« Samy schaute sich verstohlen um, als plante sie einen Fluchtversuch aus einem Hochsicherheitsgefängnis. »Sollen wir einfach abhauen? Ich habe jetzt schon keine Lust mehr.«

Grace drehte sich um und blickte ihre Freundin fassungslos an.

»Jetzt hör endlich auf, zu meckern und fang an. Wenn wir damit fertig sind, bekommen wir bestimmt etwas Interessanteres zu tun. Wir sind ja noch ganz am Anfang. Wir müssen uns da jetzt durchbeißen.«

»Dein scheiß Wort in Gottes Ohr.«

Zu Graces Verwunderung blieb Samy tatsächlich ruhig, nur das böse Zischen aus ihrem Mund verriet, dass ihre Freundin innerlich kochte.

Gerade, als endlich das letzte Pflänzchen ein neues Zuhause bekam, rauschte der Senior-Chef um die Ecke. Seine buschigen Brauen, die wie eine graue, verwilderte Hecke über seinen Augen wucherten, hoben sich verärgert.

»Ihr müsst mehr auf die Abstände achten und wie lange habt ihr dafür gebraucht? Da wäre selbst meine Oma schneller.«

Er deutete auf ein paar Kästen am Ende der Halle. »Da sind noch ein paar Hundert und jetzt beeilt euch mal, das kann doch nicht euer Ernst sein.« Er schüttelte fassungslos den Kopf, drehte sich um und verschwand. »Nach seinem Alter zu urteilen, könnte seine Oma eine Sklaventreiberin beim Bau der Pyramiden gewesen sein. So eine scheiß Arbeit, das habe ich mir echt anders vorgestellt«, grummelte Samy und unterschätzte dabei das ausgeprägte Hörvermögen des alten Mannes. Abrupt blieb er stehen.

»Was hast du gesagt?«

Ganz langsam, als wollte er ihr noch eine letzte Chance geben, ihren Satz zu überdenken, kam er auf sie zu und baute sich vor ihr auf. Mit seinen knapp ein Meter sechzig, seinem ausgemergelten Körper und den zittrigen Händen, die sich wutentbrannt zu Fäusten ballten, wirkte er wie ein lustiger Tattergreis aus einer uralten Komödie.

Samy verzog das Gesicht und schaute ihn verächtlich an. Grace wusste, dass das der Zeitpunkt war, an dem sie schleunigst eingreifen musste. Aber wie so oft, reagierte sie einen kleinen Tick zu spät.

»Ich sagte, das ist eine scheiß Arbeit. Wie blöd muss man sein, um diesen Quatsch Tage, Wochen oder sogar Jahre zu machen?«

Der Alte, der sich sichtlich Mühe gab, die Fassung zu behalten, mutierte plötzlich zu einer streitsüchtigen Furie. Man spürte sofort, dass diese Arbeit für ihn etwas Heiliges, eine einzigartige Berufung war und sich niemand darüber lustig machen durfte.

»Raus hier, verschwindet zurück in eure Gosse«, schrie er und fuchtelte dabei drohend mit den Fäusten. Nach einem weiteren Wortgefecht, bei dem weder Samy noch der alte Mann mit Beleidigungen geizte, saßen die beiden Frauen wieder im Auto und fuhren nach Hause.

»Warum musst du auch immer deine Klappe aufreißen?«

Samy sah ihre Freundin entgeistert an.

»Der Idiot hat doch angefangen. Holy Shit, will der mir allen Ernstes erzählen, dass es irgendjemand gut findet, so eine dumme Arbeit zu machen?«

»Wir haben nicht einmal einen halben Tag überstanden und schon sind wir den Job wieder los, kein guter Anfang.«

Grace ignorierte den stechenden Blick ihrer Freundin, in deren Augen noch immer die Wut der Auseinandersetzung tobte. Sie wusste genau, in solch einem Moment war es besser, das Thema zu wechseln. In ihrer Wut war Samy oft nicht zu bremsen und noch weniger zu überzeugen.

»Und die drei Stunden haben wir nicht einmal bezahlt gekriegt, geiziger Kauz.«

»Du bist echt bescheuert.«

Grace schüttelte fassungslos den Kopf.

»Na komm schon«, Samy trommelte mit den Händen auf die Armatur, »wir machen jetzt eine Flasche auf, genehmigen uns ein Tütchen und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

»Aber nur, wenn du dich beim nächsten Job zusammenreißt.«

»Großes Ehrenwort.«

 

 

 

Kapitel 2

Die nächsten Tage zogen sich träge dahin. Das Thema Ausbildung hatte sich erst einmal erledigt und so saßen die beiden wieder im nahegelegenen Park und schlugen die Zeit tot. Besonders in den frühen Abendstunden war es hier geradezu überlaufen. Hektisch, als wären sie auf der Flucht, hetzten die Menschen durch die Grünanlage. Grace hasste jeden einzelnen von ihnen. Sie vermittelten das Bild, als hätten sie ihr Leben voll im Griff. Von früh morgens bis in die späte Nacht war bei ihnen alles klar strukturiert. Wenn das Leben bei jemandem anders ablief, war er wohl selbst schuld. Eigentlich hatte das noch nie jemand zu ihr gesagt, aber Grace war sich sicher, dass sie genau so dachten. Sie sah ihre Blicke, die sie abfällig musterten, wenn sie mit Samy auf der Parkbank saß und einen Joint rauchte.

Ja genau, rennt weiter eurem Trott und eurer heilen Welt hinterher und tut so, als wärt ihr etwas Besseres. Hättet ihr meine Kindheit gehabt und wärt so aufgewachsen wie ich, würdet ihr auch hier sitzen und alles daransetzen, die Vergangenheit für ein paar Stunden zu vergessen.

Grace blickte sich um. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen und Dunkelheit legte sich über die Stadt. Das war der Startschuss für zwielichtige Gestalten, die wie Ratten aus ihren Nestern krochen und durch den Park huschten. Sie positionierten sich an Gebüschen oder in unübersichtlichen Ecken und boten ihre verbotenen Waren hinter vorgehaltener Hand an. Die Stadt hatte versucht, dieser Plage Herr zu werden, es war aber vergeblich gewesen. Nach jedem ausgestellten Platzverweis erschienen drei neue Hehler in einer anderen Ecke. Mittlerweile waren diese Leute bestens organisiert und hatten den Park fest in ihrer Hand. Immer öfter hatte man das Gefühl, dass sich selbst die Polizei abends nicht mehr hierher traute und wer sollte ihnen das auch verübeln? Die Politiker sorgten mit ihren Gesetzen dafür, dass die Guten zu Geächteten und die Bösen zu harmlosen Opfern wurden. So verkam dieser prächtige Park mehr und mehr und wurde zu einem Sammelplatz für Kriminelle und Drogenabhängige.

Es verging kein Abend, an dem Grace und Samy nicht dumm angemacht wurden. Meist half konsequentes Ignorieren und die Leute zogen ab, aber es gab auch die anderen Gestalten, die hartnäckiger waren und sie sogar penetrant verfolgten. So auch dieses Mal. Sie brachen gerade auf, um nach Hause gehen, als sich einer von ihnen an ihre Fersen heftete. Sie versuchten, ihn abzuhängen, änderten sogar die Richtung, aber vergeblich, er ließ sich einfach nicht abschütteln. Dann kam er plötzlich angerannt und versperrte ihnen den Weg.

»Hey ihr zwei, bleibt stehen. Wollt ihr etwas kaufen? Ich habe alles, was man sich nur vorstellen kann«, dabei grinste er so unschuldig, als würde er ihnen Süßigkeiten anbieten.

»Nein, danke, wir brauchen nichts. Es wäre nett, wenn du uns einfach nur –«

»Du verdammtes Schwein, lass uns endlich in Ruhe und verschwinde. Solch einen Dreck wie dich sollte man in den Knast stecken«, unterbrach Samy ihre Freundin.

Der Mund des Drogendealers klappte auf. Er war es wohl nicht gewohnt, dass jemand so mit ihm sprach und erst recht nicht eine Frau. Seine angebliche Ehre und sein Stolz lagen zertreten und bespuckt am Boden. Das ließ er nicht auf sich sitzen. Wütend baute er sich vor den beiden Frauen auf. Seine Augen glühten vor Hass und dicke Adern pulsierten auf seiner Stirn. Wie ein tollwütiger Hund fletschte er die Zähne und Speichel tropfte aus seinem Mund. Grace wusste, sie musste jetzt etwas tun, sonst würde es eskalieren.

»Beruhige dich, meine Freundin meint es nicht so. Lass uns bitte gehen, dann sind wir sofort weg.«

»Ihr bewegt euch keinen Millimeter, sonst schlage ich euch tot«, zischte der Mann mit einem schwerfälligen Akzent und kam drohend einen Schritt näher. Die Luft schien mit einem Mal wie elektrisiert und man konnte das hochgekochte Adrenalin förmlich spüren.

Grace schaute sich hektisch um. Noch vor einer Stunde hatte es von Menschen hier nur so gewimmelt, aber jetzt glich diese Grünanlage einem Geisterpark. Es war makaber. Die hochmodernen Laternen, die man extra angebracht hatte, um jede düstere Ecke des Parks zu erleuchten, beleuchteten nun perfekt diese lebensgefährliche Situation.

Blitzschnell, als hätte er es schon unzählige Male geübt, zog er ein Messer hervor, dessen schmale Klinge im fahlen Licht aufblitzte.

»Ihr gebt mir jetzt sofort euer Geld und eure Handys, sonst schlitze ich euch auf. Das nächste Mal werdet ihr es nicht mehr wagen, so mit mir zu reden.«

Grace wich erschrocken zurück und hob beschwichtigend die Hände.

»Ist in Ordnung, du bekommst alles, was du willst.«

Samy hingegen blieb weiter stur stehen. Sie sah den Mann wutentbrannt an. Immer wieder hob sie den Finger und deutete hektisch auf ihn. Das Szenario erinnerte unweigerlich an eine Mutter, die ihrem unartigen Kind eine Standpauke hielt.

»Einen Scheiß kriegst du«, schrie sie ihn an. Ihre Stimme war unnatürlich dunkel an und vibrierte vor Wut.

»Mir reicht es langsam. Steck das verfluchte Messer weg und verschwinde, sonst –« Das war zu viel. Der Dealer verlor die Nerven. Er sprang vor und stach zu. Mit einem Mal spielte sich alles wie in Zeitlupe ab. Grace sah das Messer nach vorne zucken. Die Klinge wurde länger und länger und näherte sich bedrohlich Samys Brust. Kurz bevor die Spitze ihr Ziel erreichte, duckte sich ihre Freundin seitlich weg. Sie griff in ihre Jackentasche und nur den Bruchteil einer Sekunde später betätigte sie den Abzug ihres Pfeffersprays.

Der Mann hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit solch einer Gegenwehr. Das Gemisch aus Capsaicin und Schaum schoss auf ihn zu und umhüllte ihn wie eine dichte Wolke. Er schrie auf, ließ die Waffe fallen und presste sich die Hände vor das Gesicht. Er torkelte ein paar Schritte davon, dann stürzte er auf die Knie.

»Ihr verdammten Schlampen. Ich bringe euch um.«

»Schnell weg«, schrie Grace und rannte los.

Als sie nach einigen Metern noch immer nichts von ihrer Freundin sah, drehte sie sich um. Wie ein Racheengel stand Samy über dem Mann und lächelte ihn überheblich an. Die Arme vor der Brust verschränkt stand sie da und amüsierte sich über seinen Anblick.

»Du willst mich aufschlitzen? Versuch es doch, du Feigling.«

Immer wieder forderte sie ihn zynisch auf, sein Versprechen wahrzumachen. Dabei lachte sie wie von Sinnen. Plötzlich wurde sie still. Ein paar Sekunden betrachtete sie den Mann vor sich, dann trat sie zu. Ihr Schuh donnerte gegen die Brust des Angreifers und beförderte ihn komplett zu Boden. Der Dealer schrie und schlug um sich. Weitere Tritte folgten und jeder Treffer wurde von Samy von einem euphorischen Aufschrei begleitet. Grace war entsetzt. Ihre Freundin verhielt sich wie ein wildes Tier, dessen Verlangen, zu kämpfen, unersättlich schien. Aber irgendwie versetzte dieses Geschehen sie auch in eine Art Rausch. Innerlich genoss sie es, ja faszinierte es sie sogar, dass dieser schlechte Mensch, der vermutlich schon viele Unschuldige auf dem Gewissen hatte, nun endlich seine gerechte Strafe bekam. Plötzlich überkam es sie. Sie rannte zu dem am Boden liegenden Mann und trat ebenfalls zu. Immer wieder holte sie aus und drosch mit ihrem Fuß auf ihn ein. Das Gefühl, die absolute Kontrolle zu haben, berauschte sie und jeder schmerzerfüllte Aufschrei ihres Gegners steigerte ihr Verlangen nach mehr. Wie glühende Asche kochte das Adrenalin in ihren Venen und trieb sie immer weiter an. Vermutlich hätte sie erst aufgehört, wenn kein Fünkchen Leben mehr in ihm gesteckt hätte, aber plötzlich zerrte Samy an ihrem Arm und riss sie einfach mit sich.

»Komm, der hat genug, du bringst ihn ja noch um«, hörte sie die Stimme ihrer Freundin, die wie aus weiter Ferne zu ihr durchdrang. Noch immer hatte das Szenario Grace fest im Griff. Sie lachte und jauchzte, während die beiden durch den Park nach Hause rannten.

 

 

 

Kapitel 3

Jack Logan, den alle unter dem Namen Bruder Jack kannten, betrachtete lächelnd die Broschüre in seinen Händen.

Gerade eben hatten die Spediteure drei große Kartons dieser Informationshefte hereingeschleppt und schnaufend auf dem Tisch abgestellt. Jack strich liebevoll über das glänzende Papier, auf dessen Vorderseite groß das Logo des Ordens prangte. Er blätterte die Seiten durch, nickte anerkennend und legte sie in den Karton zurück. Diese zu verteilen, würde eine Menge Arbeit werden. Aber nicht für ihn, schließlich gab er sich mit solchen niedrigen Arbeiten, wie er es nannte, nicht mehr ab. Diese Zeiten lagen schon lange zurück. Die Anwärter des Ordens, die blind seinen Befehlen folgten und ihm bei jedem Satz an den Lippen hingen, durften sich in den nächsten Tagen damit beschäftigen. Für sie war es eine Ehre, ein Privileg, solche Arbeiten ausführen zu dürfen. Jeder einzelne hoffte, dadurch ihr Ansehen bei den Höheren zu steigern und sich als geduldige und eifrige Anwärter zu präsentieren.

Jack blickte sich im Raum um. Er nickte zufrieden, die Anwärter hatten alle seine Befehle genaustens ausgeführt, nur die riesigen LED-Buchstaben, die mit ihrem Licht fast den gesamten Raum erhellten, waren seiner Meinung nach ein wenig zu hoch angebracht. Die mussten auf jeden Fall etwas tiefer, sie sollten schließlich etwas Greifbares und Familiäres vermitteln und nicht unnahbar erscheinen. Genau auf solch winzige Details legte Jack sehr viel Wert. Voller Ehrfurcht betrachtete er die zwei Worte.

»Die Erleuchteten«.

Sofort stieg in ihm dieses vertraute Gefühl der Wärme auf. Dieser Orden, den Außenstehende gerne als Sekte oder Geheimbund betitelten, war das einzige, was ihm in diesem Leben noch etwas bedeutete. Er hatte vor vielen Jahren in Birmingham, seinem damaligen Wohnort, das erste Mal von dem Bund der Erleuchteten gehört und war sofort von dessen Einstellung fasziniert gewesen.

Nächtelang hatte er das Internet nach dieser Organisation durchstöbert und alles verschlungen, was er fand. Fein säuberlich hatte er auf dem Computer diverse Ordner angelegt, in denen er die Berichte und Fotos wie einen kostbaren Schatz gehortet hatte. Besonders interessant hatte er die Live-Interviews gefunden, von denen es aber leider nicht allzu viele gegeben hatte. Er hatte sich mit jedem gesprochenen Satz identifizieren können und war fasziniert gewesen, wie direkt, sachlich, aber auch konsequent diese Gruppe mit den Problemen der Welt umgegangen war. Sie hatten nie die Tatsachen verdreht und anders als die Politiker, hatten sie den Teufel beim Namen genannt und diesem den Kampf angesagt. Dieser Orden hatte einem das Gefühl von Schutz und Zusammengehörigkeit gegeben, jener Werte, die heutzutage schon längst vergessen worden waren.

Jeden Tag hatte er sich die Video-Interviews angeschaut und vor seinem inneren Auge hatte er sich schon Seite an Seite mit jenen Leuten stehen sehen, die mit Herzblut für diesen Orden eingestanden hatten und ihn vor Neidern und Andersdenkenden verteidigt hatten. Manchmal hatte er sich dabei ertappt, wie er bei den Videos einfach mitdiskutiert hatte und darin völlig aufgegangen war. Oh ja, das wäre genau das Richtige für ihn gewesen. Wenn unzählige Kameras auf ihn gerichtet gewesen wären und die Reporter ihre Mikrofone nach vorne gestreckt hätten, hätte er eine so eindrucksvolle Rede gehalten, dass selbst der letzte Zweifler schweigend seinen Worten gelauscht hätte. Genau dort hätte er hingehört, an vorderste Front in diesem Orden.

Er hatte sich dann in diversen Foren angemeldet und mit denen diskutiert, die es gewagt hatten, die Erleuchteten zu kritisieren. So lange, bis diese irgendwann erschöpft aufgegeben und sich ausgeloggt hatten. Jack war niemand, der klein beigegeben hätte. Ausdauernd hatte er sich dann das nächste Opfer ausgespäht, das er mit seinen Argumenten und seinem Wissen in Grund und Boden gerammt hatte. Mit einem entzückten Lächeln hatte er dann immer wieder den kleinen Kasten betrachtet, der seine Beiträge im Forum mitgezählt hatte. Siebenhundertfünfzig hatte er hinterlassen und hatte so unangefochten den ersten Platz für sich beansprucht. Allein damit hatte er schon bewiesen, wie ernst es ihm gewesen war.

Besonders engagiert war er dabei, wenn andere den Orden der Erleuchteten als religiöse Sekte betitelt hatten, die ihre Mitglieder einer Gehirnwäsche unterziehen würden. Das waren Sätze gewesen, die ihn zur Weißglut getrieben hatten. Mittlerweile hatte er sich schon als Mitglied des Ordens angesehen und jeder Angriff auf den Bund der Erleuchteten war ein Angriff gegen ihn persönlich gewesen. Hart und bestimmt, manchmal auch ein wenig aggressiv, hatte er die Vorurteile zurückgewiesen, dabei hatte er aber immer die Fassung behalten und sich nie in niveaulosen Streitereien oder Beleidigungen verfangen. Schließlich war es darum gegangen, den Orden zu repräsentieren und da sollte jedes Wort gut überlegt sein.

Immer öfter hatte er auch die eigene Internetpräsenz des Ordens besucht und war auch in deren Forum, nach kurzer Zeit, ein gern gesehener Gast. Seine ständige Einsatzbereitschaft und seine Wortgewandtheit, in Verbindung mit seiner Intelligenz, waren für den Orden immer interessanter geworden und irgendwann hatte man ihn zu einer Veranstaltung eingeladen. Das war der schönste Tag in Jacks Leben gewesen. Endlich war man auf ihn aufmerksam geworden und nun hatte er die Belohnung bekommen, die er auch verdiente.

Die Tage bis zur Abreise hatten einem endlos langen Martyrium geglichen. Als er dann endlich das Flugzeug betreten hatte, das ihn nach Schottland gebracht hatte, war seine Aufregung kaum noch zu bändigen gewesen. Schon bald würde er mit denen, die er viele Monate beobachtet hatte, an einem Tisch sitzen. Es war unfassbar gewesen, sein Traum war Wirklichkeit geworden.

 

Jack schreckte aus seinen Gedanken auf. Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Genau hier hatte das erste Treffen stattgefunden. Dort, an diesem Platz, natürlich in der ersten Reihe, hatte er gesessen und den Worten der Ordensbrüder gelauscht. Jeder einzelne Satz hatte seinen Verstand durchdrungen, sein Herz erwärmt und sein Innerstes berührt. Die Redner hatten Emotionen geweckt, die ihm bisher unbekannt waren. Sie hatten allen Zuhörern klargemacht, dass ihr Leben reine Zeitverschwendung war und sie nutzlos von einem Tag zum nächsten gelebt hatten. Aber hier, in diesem Orden, würden sie ein sinnvolles und vor allem erfülltes Leben führen.

Am Ende der Sitzung hatten sich alle noch gemütlich zusammengesetzt, das Essen genossen und miteinander geplaudert. Jack hatte sich sofort verstanden und aufgenommen gefühlt. Als die Ordensbrüder dann noch erwähnt hatten, dass sie seine unermüdliche Arbeit im Internet schon seit längerer Zeit beobachtet hatten, war es um ihn geschehen gewesen. Er war mehr und mehr den aufbauenden und vor Kraft strotzenden Worten der Ordensbrüder verfallen. In diesem Moment hatte für ihn nur noch eines gezählt, er hatte einer von ihnen sein wollen.

Nachdem er diesen Wunsch immer öfter erwähnt hatte, hatte man ihm versprochen, über eine Aufnahme nachzudenken. Noch immer völlig berauscht, aber auch ein wenig enttäuscht, nicht sofort eine Zusage erhalten zu haben, war Jack wieder zurück nach England geflogen.

Am nächsten Tag war er zu seiner Arbeitsstelle gefahren und hatte an die Bürotür seines Chefs geklopft.

»Herein«, hatte er eine grelle Stimme vernommen, die es einem unmöglich gemacht hatte, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden.

Als Jack die Tür geöffnet hatte, war ihm ein Schwall Rauch entgegen gedrungen, sein Chef war Raucher gewesen. Eine erneute Wolke war vom rustikalen Eichentisch auf ihn zu getrieben und hatte seine Sicht vernebelt. Schemenhaft hatte er die massige Gestalt seines Vorgesetzten erkannt, dessen enormer Bauch seitlich über die Armlehnen seines Bürostuhls gequollen war.

»Jack, endlich bist du wieder da, die Arbeit türmt sich. Wie war dein Kurztrip nach Schottland?«

»Darüber wollte ich mit Ihnen reden. Ich habe nun meine wahre Bestimmung gefunden.«

»Wahre Bestimmung?«, hatte der Chef zynisch wiederholt und sich dabei unter der Achsel gekratzt, wo ein riesiger Schweißfleck erahnen ließ, dass sein Gewicht nicht sein einziges Problem gewesen war. »Ich kenne deine wahre Bestimmung auch und die ist da hinten am Schreibtisch. Vorher kannst du mir aber noch einen Kaffee bringen.«

»Ich meine es ernst«, hatte Jack wiederholt und versucht seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich habe mich bei dem Orden der Erleuchteten beworben.«

»Falls Geld das Problem ist, muss ich dich enttäuschen, du bekommst keine Lohnerhöhung.«

»Das ist es nicht, ich möchte nur nicht weiter Mitglied einer Gesellschaft sein, die den Sinn des Lebens nicht erkennt.«

Jack hatte in seine Tasche gegriffen und seine Kündigung auf den Tisch gelegt.

»Du meinst es wirklich ernst«, hatte der Chef kopfschüttelnd kommentiert.

Aber ein Blick auf die großen Aktenberge, die sich imposant auf seinem Schreibtisch getürmt hatten, hatten ihm nur noch mehr verdeutlicht, dass er schon genug Zeit mit Jack verschwendet hatte. Wütend hatte er die Kündigung an sich gerissen.

»Ich werde es weiterleiten«, hatte er gefaucht. »Die Personalabteilung meldet sich dann bei dir.«

»Vielen Dank.«

Als Jack das Büro verlassen hatte, hatte sich ein überhebliches Grinsen auf sein Gesicht gestohlen. Das war ja leichter als gedacht gewesen.

 

Von da an hatte er jeden Tag in den Briefkasten geschaut und auf eine Nachricht von dem Orden gehofft. Die Woche war vergangen. Die ersten Zweifel, doch nicht aufgenommen zu werden, hatten sich in seine Gedanken geschlichen, ihn Tag für Tag verfolgt und selbst vor seinen Träumen nicht halt gemacht. Seine zuvor so heile Welt, seine neu entfachte Lebenslust und seine Ziele und Pläne waren wie ein klappriges Gestell in sich zusammengefallen.

Habe ich sie vielleicht nicht genug überzeugt? Hätte ich noch mehr zum Ausdruck bringen sollen, wie wichtig mir eine Aufnahme ist und dass mir dieser Orden alles bedeutet. Daran muss es liegen, sonst hätten sie sich doch schon längst gemeldet.

Jack hatte seine Art verflucht, die von manchen Menschen als kühl, unnahbar und desinteressiert aufgefasst worden war. Gebückt, als würde ein mächtiges Gewicht auf seinen Schultern lasten, war er ins Badezimmer geschlichen und hatte sich eiskaltes Wasser über das Gesicht laufen gelassen. Er hatte sich am Waschbecken abgestützt und in den Spiegel geschaut.

Ich hasse diese Visage. Selbst jetzt noch habe ich dieses selbstgefällige Grinsen auf dem Gesicht, obwohl mir eigentlich zum Heulen zumute ist. Vermutlich haben sie deswegen nicht bemerkt, wie wichtig mir das alles ist. Da helfen mir auch meine diversen Forenbeiträge oder mein Erscheinen bei dem Treffen nicht. Nein, ich habe es selber vergeigt und eine erneute Einladung werde ich mit Sicherheit nicht bekommen.

 

Eine weitere Woche war vergangen, die Jacks Laune erheblich zugesetzt hatte. Tief im Inneren hatte er zwar noch immer darauf gehofft, etwas von den Erleuchteten zu hören, aber langsam schien es aussichtslos geworden zu sein.

In den Internetforen hatte er sich zunehmend zurückgehalten. Er hatte sich mittlerweile wie ein Ausgestoßener gefühlt. Unwürdig, diesem Orden beitreten zu dürfen. Wie lächerlich hätte er auf andere Forennutzer wirken müssen, wenn diese erfahren hätten, dass er dem Bund der Erleuchteten überhaupt nicht angehörte. Nein, diese Blöße hatte er sich nicht geben dürfen. Es wäre wie ein Schlag ins Gesicht, eine absolute Erniedrigung gewesen.

Er hatte von da an sämtliche Anschuldigungen und Beleidigungen gegenüber den Erleuchteten unkommentiert gelassen. So sehr er es früher auch geliebt hatte, mit seinen Kommentaren im Mittelpunkt gestanden zu haben, hatte er sich nun mehr und mehr zurückgezogen.

Nach ein paar weiteren Tagen, die Jack an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, hatte er auf der Couch gesessen und aus dem Fenster geblickt. Es hatte in Strömen geregnet und der Wind hatte mit einer enormen Geschwindigkeit um das Haus gefegt und versucht, durch jeden Spalt und jede Ritze ins Innere zu gelangen. Dieses Wetter hatte genau seine Laune unterstrichen. Er war aufgestanden und träge zum Briefkasten gegangen. Schon längst hatte er nicht mehr daran geglaubt, vom Orden zu hören, aber dieser monotone Ablauf, den er noch immer zigmal am Tag wiederholt hatte, war mittlerweile zu einer schlechten Angewohnheit geworden. Jack hatte sich schwergetan, diese abzulegen. Es war vermutlich dieses kurz aufflackernde Gefühl der Hoffnung gewesen, das er jedes Mal aufs Neue genossen hatte, wenn er den Briefkasten geöffnet hatte. Natürlich war die Erkenntnis, keine Nachricht bekommen zu haben, danach umso härter gewesen, aber das hatte er gerne in Kauf genommen.

Quietschend hatte er das kleine, verrostete Türchen des Postkastens geöffnet. Neben Werbung, Rechnungen und anderen Briefen hatte ein Umschlag ganz besonders hervorgestochen. Seine Augen waren groß geworden, als er das Emblem des Ordens erkannt hatte. Schnell war er zurück ins Haus gerannt. Wie ein Kind, das aufgeregt seine Geschenke auspackt, hatte er den Umschlag aufgerissen und den Brief herausgezogen. Sofort war ihm das edle Büttenpapier aufgefallen, auf dem erneut das Emblem und der Name des Ordens zu sehen gewesen waren. Er hatte die üblichen Floskeln überflogen, die ihm jetzt nur unnötig Zeit gekostet hätten. Dann, er hatte einen freudigen Schrei nicht unterdrücken können, hatte er es schwarz auf weiß, man hatte ihm eine Aufnahme im Orden angeboten. Durch sein einzigartiges Engagement hatte man sogar auf weitere Bewerbungsabläufe verzichtet. Sämtliche Formalitäten, die die Reise nach Schottland mit sich gezogen hatten, waren schon vorbereitet worden und er hatte nur noch zusagen müssen. Immer wieder hatte Jack den Brief durchgelesen, aber es hatte keinen Zweifel gegeben, der Orden der Erleuchteten hatte ihn in seine Reihen aufgenommen. Sein größter Traum war Wirklichkeit geworden.

Dann war alles sehr schnell gegangen. Er hatte seine Habseligkeiten verkauft und nur einen knappen Monat später im Flieger gesessen und war seiner neuen Heimat entgegengesteuert. Für ihn hatte nur das Hier und Jetzt gezählt und das war der Orden gewesen, sein neues Leben.

Nach einigen Stunden hatte er den Flugplatz Kirkwall auf den Orkney-Inseln erreicht und mit der Fähre zu der Insel Eilean nam Marbh übergesetzt, auf der die Erleuchteten ihren Sitz hatten. Dann hatte er zum zweiten Mal vor dem prächtigen Anwesen gestanden. Erst dann hatte er begriffen, dass er es wirklich geschafft hatte.

Nachdem man ihn herzlich begrüßt und in alles eingewiesen hatte, hatte man ihn zu seiner kleinen Wohnung auf dem Gelände gebracht. Als Anwärter war es üblich gewesen, in einer kleinen Wohnung zu wohnen. Später, wenn er zum Ordensbruder aufgestiegen war, würde er natürlich eine größere Wohnung bekommen. Diese Ranghierarchie hatte ihn nicht gestört. Er hatte schnellstens alles lernen und die Ordensbrüder von seinen Qualitäten überzeugen wollen.

 

Jack lächelte hochmütig. Nun, nach so vielen Jahren, war es ihm endlich gelungen und er gehörte zu den Höchsten dieses Ordens. Über ihm gab es nur noch die Gründer der Erleuchteten, die allerdings in den USA lebten. In den ganzen Jahren hatte Jack sie nur zweimal zu Gesicht bekommen, aber beide Treffen waren ein unbeschreibliches Erlebnis gewesen und hatte sich tief in seine Erinnerung gebrannt. Er schloss die Augen und wog sanft den Kopf hin und her, als würde er wieder jene berauschende Musik hören, die damals den Saal erfüllt hatte, als die Gründer den Raum betraten. Wie Lichtgestalten, wie heilige Geschöpfe des Himmels, waren die Oberhäupter erschienen und hatten mit ihrer einzigartigen Ausstrahlung alle in ihren Bann gezogen. Jeder Zuhörer war fasziniert gewesen und hatte bedächtig gelauscht, als sie über die Pläne und Ziele des Ordens berichtet hatten. Am Ende ihrer Ansprache waren alle in schiere Begeisterung ausgebrochen. Sie waren aufgesprungen und hatten euphorisch in die Hände geklatscht. Manche hatten ihre Gefühle nicht länger unter Kontrolle halten können und vor lauter Glück geweint. Sie hatten die Gründer wie die Retter aus tiefster Not gefeiert.

»Entschuldigen Sie, wo sollen wir die Tische hinstellen?«, riss eine helle Stimme Jack aus seinen Gedanken. Vor ihm standen zwei junge Mädchen, die ihn mit verschwitzten Gesichtern fragend anblickten.

»Stellt einen direkt an die Wand, dann können wir dort das Informationsmaterial aufbauen. Die restlichen fünf Tische stellt ihr bitte in U-Form in die Mitte.«

Sie hatten zwar noch über zwei Wochen Zeit, bis die Veranstaltung stattfand, aber er hatte alles lieber früher fertig. Die beiden Mädchen nickten, verbeugten sich kurz und machten sich an die Arbeit.

Jack grinste. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Er gab Anweisungen und die anderen gehorchten.

»Ich schaue mir das später noch einmal an«, rief er den beiden zu und rauschte aus dem Zimmer. Er hatte für seine Rede noch einiges vorzubereiten und wie immer sollte diese imposant und überzeugend wirken und selbst den letzten Zweifler zum Schweigen bringen. Die negative Presse machte es dem Orden nicht leicht, neue Leute zu gewinnen, denn die meisten mieden den Bund der Erleuchteten. Aber Jack wusste, für die Ziele dieser Gemeinschaft brauchten sie neue Leute. Leute, die sich mit Leib und Seele dem Orden verschrieben und ihm bedingungslos gehorchten.

Mit einem breiten Grinsen setzte er sich an den massiven, mit unzähligen Schnitzereien verzierten Schreibtisch und begann, seine Rede vorzubereiten.

 

 

 

Kapitel 4

Grace und Samy hetzten durch den Park. Erst als sie den kleinen Kiosk erreichten, der mit seinen unzähligen bunten Zeitschriften in den Regalen, wie ein riesiger Farbklecks aus den grauen Häuserwänden hervorstach, blieben sie stehen.

»Dem haben wir es aber gezeigt.« Samy schlug und trat triumphierend in die Luft, als würde der Kerl noch immer vor ihr stehen. »Der hatte es aber auch verdient. Na ja, das nächste Mal überlegt er es sich bestimmt zweimal, uns doof anzumachen.«

»Das hätte aber auch übel ausgehen können«, konterte Grace, bei der der Rausch der Schlägerei langsam versiegte. Schuldgefühle machten sich in ihr breit und verurteilten sie für ihr Handeln.

»Wir haben uns nur verteidigt. Der Penner wollte mich abstechen, hast du das schon vergessen?«, antwortete ihre Freundin entrüstet.

»Nein, natürlich nicht. Aber trotzdem.«

»Nun heul nicht rum, du kleine Pazifistin. Warte, ich hol uns etwas zu trinken und ein paar Zigaretten.«

»Okay«, stimmte Grace knapp zu und war heilfroh, ein wenig durchatmen zu können.

Sie schaute sich um. An den zwei wackeligen Stehtischen, die mit ihren billigen PVC-Blumentischdecken das Bild eines heruntergekommenen Kiosks noch unterstrichen, standen ein paar Obdachlose und genehmigten sich ihr abendliches Bier. Ein lautes Geschrei entstand, als zwei von ihnen wegen des Pfands einiger leerer Flaschen aneinandergerieten. Aber so schnell der Streit begonnen hatte, so schnell ebbte er auch wieder ab und kurz darauf ertönte das altbekannte Zischen, als sie eine neue Flasche öffneten und miteinander anstießen. So hart das Leben auf der Straße auch war, diese Menschen lebten nach ihren eigenen Gesetzen, an deren strenge Regeln sich jeder zu halten hatte, um nicht irgendwann tot in einer Seitenstraße zu enden.

Grace stutzte, als keiner Notiz von ihr nahm. Passte sie selbst schon so gut hierher, dass sie überhaupt nicht mehr auffiel? Mit ihrer zerrissenen Jeanshose, der ausgewaschenen Joggingjacke und den nachgemachten Chucks gehörte sie nicht gerade zur High Society, das war ihr klar, aber gehörte sie deswegen automatisch hierhin, zwischen die billigen Plastiktische und den Geruch von Schnaps und Kippen?

Plötzlich entdeckte sie einen Zettel an einem der Bäume, die den Park umrahmten. An dieser Stelle hing ständig Werbung. Meist waren es irgendwelche Sportvereine oder andere Kurse, die hier auf guten Kundenfang hofften. Grace hatte keine Ahnung warum, aber irgendwie stach dieser Zettel hervor und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit seiner matt weißen Farbe, der unauffälligen Standardschrift und ohne jegliche Verzierungen war dies eher die Arbeit einer schlechten Druckerei, aber trotz allem strahlte dieses Stück Papier etwas Eigenartiges aus. Neugierig trat sie näher heran und überflog die Zeilen. Der Zettel stammte von dem Bund der Erleuchteten, der sich von all dem Alltäglichen löste und der Welt eine neue Wendung geben wollte. Interessiert las sie weiter.

»Hey, was machst du? Komm, ich habe hier was für dich.«

Graces Blick glitt vom Zettel zu ihrer Freundin, die zwei Flaschen Bier in die Höhe streckte und dabei so freudig grinste, als wäre dies das Highlight des gesamten Tages.

»Beeil dich oder ich trinke sie alleine.« Grace riss den Zettel ab und steckte ihn in ihre Tasche.

»Wage es bloß nicht.«

»Willst du dich für einen Strickkurs anmelden oder was hast du da gelesen?«

Samy deutete zu den Bäumen, an denen die Ausschreibungen hingen.

»Nicht so wichtig, erzähle ich dir später. Lass uns anstoßen, ich verdurste gleich.«

»So lieb ich dich. Prost.« Samy stieß mit ihrer Flasche gegen die von Grace. »Ich hoffe, du strickst mir dann ein paar dicke Socken.«

»Du bist echt bescheuert, prost.«

Nachdem sie ein paar Biere am Kiosk getrunken und sich angeregt mit den Leuten vom Nachbartisch unterhalten hatten, sollte ihnen eine Flasche Jägermeister den Weg zu Samys Wohnung verkürzen. Dort angekommen, warfen sich beide auf die Couch. Nun begann das, was sie am liebsten machten und am besten konnten, Musik hören, trinken und kiffen. Nach einigen Stunden schlief Samy mit dem Glas in der Hand ein. Gerade als sich Grace zur Seite drehen und ebenfalls die Augen schließen wollte, knisterte es in ihrer Tasche. Es war der Zettel vom Baum. Sie versuchte, das Geräusch zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. Entnervt gab sie auf, kramte den Zettel hervor und fing erneut an, ihn zu lesen.

 

Sucht ihr nach eurer wahren Bestimmung? Strebt ihr nach tieferen Einsichten und dem Sinn eurer Existenz? Seid ihr es leid, wirren Plänen unfähiger Politiker hinterherzulaufen?

Hier, im Bund der Erleuchteten, bekommt ihr einen festen Halt und eine gesicherte Existenz. Ihr erhaltet Arbeit, bei der ihr euch frei entfalten könnt und wohnt mit Gleichgesinnten in Häusern auf unserem Areal. Bei uns seid ihr nicht nur eine Nummer, hier seid ihr ein wichtiger Teil vom Ganzen. Wir brauchen jeden Einzelnen von euch, denn nur gemeinsam sind wir stark.

Hier gibt es Menschen, die euch so akzeptieren, wie ihr seid und euch jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Unser Ziel ist es, unsere eigene Infrastruktur auszuweiten und uns immer mehr von den Ungläubigen zu distanzieren. Gebt euch und euer Leben nicht auf, werdet endlich glücklich und ein Teil von uns.

Die nächste Informationsveranstaltung findet am 03. Oktober 2021 statt. Bewerbt euch, der Orden der Erleuchteten freut sich auf euch.

 

Grace hatte schon unzählige Male solche Ausschreibungen gelesen, aber dieser Text war völlig anders. Die gewählten Sätze berührten sie und trafen genau die Punkte, nach denen sie sich am meisten sehnte. Sie hörten sich wie die aufbauenden Worte eines guten Freundes an, der ihr mit seiner Hoffnung und Zuversicht neue Kraft und Mut zusprach.

Nachdem sie den Text zum wiederholten Male durchgelesen hatte, sank ihre Hand mit dem Zettel nach unten. Sie blickte sich um. Wollte sie wirklich so weiterleben?

Volle Aschenbecher, in denen sich die Kippen und Joints zu einem ansehnlichen Haufen türmten, gehörten schon längst zum alltäglichen Bild. Tiefgelbe, vom Nikotin verfärbte Gardinen hingen an verschmierten Fenstern, die von dreckigen Tapeten umrahmt wurden. Der zerkratzte Wohnzimmertisch, auf dem sich dutzende alte Fertiggerichte stapelten und neben den Bier- und Schnapsflaschen ein chaotisches Bild abgaben, stand mittig im Raum und verdeckte zum Glück die meisten Brandlöcher auf dem schmuddeligen und stinkenden Teppich. Die alte braune Ledercouch mit den schon längst aus der Mode gekommenen Schnitzereien an den Holzarmlehnen war im Grunde ein Zufallsfund auf einem Sperrmüllhaufen gewesen und genau dort gehörte sie auch hin.

In einer Ecke befand sich die Miniküche. Der Stapel an Tellern und Gläsern in allen Farben und Formen, der in der kleinen Spüle schon fast bis zur Decke reichte, schien die meisterhafte Arbeit eines Jongleurs zu sein. Daneben stand der mit Panzerband zusammengehaltene Kühlschrank sowie eine tragbare Gaskochplatte und eine Mikrowelle. Grace verzog den Mund bei dem Anblick. Ihre eigene Wohnung sah nicht ganz so schlimm aus wie Samys, aber trotzdem war auch sie weit entfernt von einem sauberen und schönen Zuhause.

Will ich wirklich so weiterleben? Zum ersten Mal sehe ich alles mit völlig anderen Augen. Früher hat mich das nie gestört, aber jetzt dreht es mir den Magen um.

Sie legte den Zettel auf ihre Brust und schloss die Augen. In ihrer Fantasie malte sie sich aus, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Diese Gedanken umhüllten sie mit einer wohligen Wärme und mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht schlief sie ein.

Nach ein paar Stunden schreckte Grace auf. Der Wasserhahn im Badezimmer rauschte so laut, als würde sie inmitten der Niagarafälle sitzen, und ohne jegliche Vorwarnung gesellte sich noch Samys schiefer Gesang dazu. Ihre schmerzhafte Sopranstimme, die sich übergangslos mit diversen anderen Stimmlagen vermischte, hätte ohne Zweifel Tote zum Leben erwecken können. Jeder einzelne Ton bohrte sich wie ein Stachel in Graces verkaterten Kopf. Sie verzog das Gesicht. Für sie war es ein Rätsel, wie man nach den ganzen Joints und dem Alkohol so fit und gut gelaunt sein konnte. Sie fühlte sich, als hätten sie unzählige LKWs überrollt.

Nach einer halben Stunde kam ihre Freundin fröhlich pfeifend aus der Dusche. Um ihren Kopf hatte sie sich ein Handtuch geschlungen, das einem Turban hätte Konkurrenz machen können.

»Guten Morgen, mein Sonnenschein«, sang sie ihrer Freundin entgegen. »Na, hast du schlechte Laune oder warum schaust du so böse drein?«

»Morgen Samy, nein, es ist alles okay, nur mein Kopf dröhnt ein wenig.«

»Ich mache uns erst einmal einen Kaffee und dann sieht die Welt schon wieder anders aus.«

Kurz darauf zischte das heiße Wasser durch die Maschine und tropfte als dunkelbraune Flüssigkeit in die bauchige Kaffeekanne.

»Was ist das für ein Zettel?«, fragte Samy und deutete auf den Boden.

»Darüber wollte ich noch mit dir reden. Ich hab’ den Zettel gestern vor dem Kiosk am Baum entdeckt. Er kommt von so einem Orden und ich bin wirklich begeistert von dem, was da steht. Vielleicht gelingt es uns, dort einen Job und eine neue Wohnung zu bekommen.«

Während Samy an dem heißen Getränk nippte, streckte sie ihre Hand aus.

»Zeig mal her.«

Sie nahm den Zettel an sich und las ihn durch. Gedankenverloren legte sie ihn beiseite, schnappte sich das Holzkästchen, in dem sie ihren Tabak aufbewahrte und drehte sich in aller Seelenruhe eine Zigarette.

»Und was meinst du?«, fragte Grace neugierig und ein wenig ungeduldig.

Keine Antwort. Samy leckte über den Klebestreifen, drückte das Papier noch einmal fest zusammen und zündete die Zigarette an. Grace knetete nervös ihre Hände und zog die Augenbrauen hoch. Sie kannte die Gewohnheiten ihrer Freundin, vor dem ersten Kaffee und einer Zigarette war Samy nicht für tiefgründige Gespräche zu haben.

»Wenn du mich fragst, hört sich das ein bisschen nach Sekte an«, sagte ihre Freundin plötzlich so laut, dass Grace erschrocken zusammenzuckte.

»Quatsch, jede Organisation oder Gruppierung, die anders denkt als der Rest der Gesellschaft, wird direkt als etwas Schlimmes hingestellt.«

»Vermutlich hast du Recht. Aber ein komisches Gefühl habe ich trotzdem.« Samy drehte die Zigarette in ihrer Hand hin und her und beobachtete den Rauch, der zur Decke stieg. »Ich bin dabei. Sich der Norm zu widersetzen, fand ich schon immer gut. Wollen wir in zwei Tagen zu dieser Versammlung gehen?«

Grace stutzte. Sie hatte es sich schwerer vorgestellt, ihre Freundin zu überzeugen.

»Dir ist aber schon klar, dass wir einige Stunden fahren werden.«

»Wir haben eh nichts vor und können das ja mit einem schönen Ausflug verbinden. Wir wollten doch sowieso mal aus diesem scheiß Kaff raus.«

»Okay, hört sich gut an. Lass uns da ganz unvoreingenommen hingehen und uns das mal anhören. Wenn es uns nicht gefällt, hauen wir einfach wieder ab«, schlug Grace vor.

»Vielleicht führen die auch mystische Rituale durch und verhexen dich.«

Samy verzog das Gesicht zu einer Grimasse und zeichnete mit den Händen verschiedene Zeichen in die Luft.

»Du hast doch echt einen Knall.« Grace lachte. »Du hast zu viele Horrorfilme gesehen.«

»Wer weiß, wer weiß«, hielt Samy dagegen und verkniff sich ein Grinsen. »Was man schon so alles gehört hat.«

Grace hasste es, wenn die beiden die Rollen tauschten und Samy den Part der wachsamen Freundin einnahm, das war schließlich ihre Aufgabe. Aber Samy hatte schon längst Blut geleckt und ließ nicht mehr locker.

»Denk mal an andere bekannte Sekten, von denen hört man ja auch nichts Gutes.«

»Du willst eine kleine Gruppe Menschen, die sich in Schottland zusammengefunden hat, um sich gegen die Politik und die Gesellschaft zu wehren, mit Sekten vergleichen, die auf der ganzen Welt aktiv sind und Millionen von Anhängern haben?« Grace konnte sich ein heiteres Kichern nicht verkneifen.

»Ist ja auch egal«, Samy winkte gelassen ab. »Wir machen uns selbst ein Bild und dann sehen wir weiter. Der Hauptsitz liegt in einer schönen Ecke, das verschafft denen schon mal gehörige Pluspunkte. Und vielleicht verhelfen die uns wirklich zu einem Job und einer neuen Wohnung, das wäre wirklich klasse.«

»Mein Reden. Ich kann es nicht erwarten hier rauszukommen. Jeder Meter hier widert mich an. Überall nur diese dreckigen Häuser und Straßen und dann noch dieses Gesindel.«

»Nice, dann haben wir das ja geklärt«, stellte Samy fest. »Selten, dass wir uns mal so schnell einig waren. Ich schau mal, ob ich noch ein paar saubere Gläser finde, dann stoßen wir direkt auf eine bessere Zukunft an«, beschloss Samy und sprang auf. In den nächsten zwei Tagen verließen sie kein einziges Mal die Wohnung. Das Marihuana und der Alkohol sollten die Zeit bis zur Veranstaltung verkürzen, was aber nicht wirklich gelang.

 

Aber dann kam endlich der Moment, in dem sie in Samys alte Klapperkiste stiegen und losfuhren. Um der Rush Hour zu entgehen, starteten sie am frühen Abend und erreichten gegen Morgen das Hafenstädtchen John o'Groats. Sie hatten eigentlich auf ein kleines, verträumtes Fischerdörfchen gehofft, wurden aber kläglich enttäuscht. Flache, unscheinbare Häuser, deren ehemals kalkweißen Fassaden bereits graue und gelbe Zwischentöne aufwiesen, gruppierten sich um einen großen Parkplatz.

»Ganz schön trostlos hier. Lass uns zum Hafen gehen und jemanden nach der Fähre fragen«, grummelte Grace.

---ENDE DER LESEPROBE---