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Sonne, Meer und Rügen Die 43-jährige Marie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Mit ihren Töpferarbeiten und einem Nebenjob schafft sie es kaum, die Miete für ihre kleine Wohnung zu verdienen. Trotzdem findet sie die Zeit, sich um ihre kranke Nachbarin Ruth zu kümmern. Doch als ihr Wohnhaus plötzlich verkauft wird, drohen Sanierungen und eine saftige Mieterhöhung. Zum Glück hat Ruth eine Idee: Sie besitzt ein Haus auf Rügen und lädt Marie ein, zusammen mit ihr und den Kindern dort einzuziehen. Als Marie jedoch sieht, in welch schlechtem Zustand das Haus ist, will sie am liebsten wieder umkehren. Wäre da nicht der sympathische Tischler Christian, der ihr hilft, das Haus zu renovieren. Auch Maries Leben könnte einen neuen Anstrich gebrauchen. Doch sie ist sich nicht sicher, ob sie dieser Aufgabe schon gewachsen ist … Evelyn Kühne schreibt Bücher für starke Frauen, Bücher, die Mut machen und zeigen, dass es nie zu spät ist, neu anzufangen. Dabei begeistert sie mit ihrem locker leichten Schreibstil, der den Leser in die beschriebene Welt entführt, und garniert das Ganze gekonnt, mit einer Prise Humor und Herzlichkeit. (Leserin auf Lovelybooks) Meinungen zum Buch: Am liebsten würde ich jetzt meine Koffer packen und Marie, die Protagonistin des Romans, auf Rügen besuchen. Ich habe mit ihr einen Neuanfang gewagt, neue Freunde gefunden, gehasst, geweint, gelacht und geliebt. Doch mehr verrate ich euch nicht. Ich kann es jetzt schon kaum erwarten wieder mit der Autorin an die Ostsee zu reisen. Lest einfach selbst. Ihr werdet es ganz sicher nicht bereuen. (Secret Bookdreams auf Amazon) Mit Inselküsse schafft Evelyn Kühne einen locker-leichten Ostseeroman mit viel Herz, sehr charmanten Charakteren und einer realistischen Geschichte, die ein Wohlfühlgefühl vermittelt. Einfach das Buch schnappen, auf die Couch und in die Geschichte abtauchen. (Rezensentin auf Amazon) Mit Inselküsse ist Evelyn Kühne wieder eine wundervolle Geschichte gelungen. Es geht um Neuanfang, sich etwas zuzutrauen, Risiken einzugehen und nicht immer nur Rücksicht auf andere zu nehmen, sondern sich dabei auch wieder auf sich selbst zu besinnen. Es geht um Freundschaften, Geborgenheit und um das Altwerden. Inselküsse kann ich wärmstens empfehlen, ich habe das Buch nicht weglegen können und es in einem Rutsch gelesen.(Bettina H. auf Amazon) Von Evelyn Kühne sind bei Forever by Ullstein erschienen: Neuanfang auf Italienisch Dü nengeflüster - Ein Ostseeroman Dünenzauber - Ein Ostseeroman Dünenrauschen - Ein Ostseeroman Inselküsse - Ein Ostseeroman
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Seitenzahl: 536
Inselküsse
Evelyn Kühne wurde 1970 in Radebeul geboren. Schon immer galt ihre ganze Leidenschaft den Büchern. Beruflich ging sie jedoch erst einmal andere Wege und arbeitete unter anderem als Verkäuferin. Viele Jahre später, nachdem sie eine Krebserkrankung überstanden hatte, traute sie sich erstmals mit ihren eigenen Geschichten an die Öffentlichkeit. Für sie war das Schreiben auch ein Stück Krankheitsbewältigung. Seitdem veröffentlichte sie mehrere Romane sowie das Kinderbuch "Die kühne Marie", welches sie zugunsten krebskranker Kinder schrieb. Sie lebt heute mit Mann und Tieren in der Nähe von Meißen und schreibt am liebsten Krimis und Liebesromane über starke Frauen.
Sonne, Meer und Rügen
Die 43-jährige Marie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Mit ihren Töpferarbeiten und einem Nebenjob schafft sie es kaum, die Miete für ihre kleine Wohnung zu verdienen. Trotzdem findet sie die Zeit, sich um ihre kranke Nachbarin Ruth zu kümmern. Doch als ihr Wohnhaus plötzlich verkauft wird, drohen Sanierungen und eine saftige Mieterhöhung. Zum Glück hat Ruth eine Idee: Sie besitzt ein Haus auf Rügen und lädt Marie ein, zusammen mit ihr und den Kindern dort einzuziehen. Als Marie jedoch sieht, in welch schlechtem Zustand das Haus ist, will sie am liebsten wieder umkehren. Wäre da nicht der sympathische Tischler Christian, der ihr hilft, das Haus zu renovieren. Auch Maries Leben könnte einen neuen Anstrich gebrauchen. Doch sie ist sich nicht sicher, ob sie dieser Aufgabe schon gewachsen ist …
Evelyn Kühne
Ein Ostseeroman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuni 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-372-8
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Danksagung
Leseprobe: Dünengeflüster
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Cover
Titelseite
Inhalt
1. Kapitel
Zur Erinnerung an wundervolle Kindheitstage auf Rügen
Mit kreisenden Bewegungen massierte Marie das duftende Shampoo in ihre Kopfhaut. Dann suchte sie nach dem Wasserhahn und drehte. Ein dünnes Rinnsal ergoss sich, welches nach kurzer Zeit verebbte. Stöhnend tastete sie erneut nach dem Regler, drehte ihn zu und wieder auf und schielte mit einem Auge erwartungsvoll zum Duschkopf empor. Wie zum Hohn landete ein einzelner Tropfen auf ihrer Nase – das war’s.
In Windeseile schob sie den Duschvorhang beiseite und stürzte zum Waschbecken. Auch dort kam nur ein spärlicher Strahl, der nach Sekunden versiegte. »Oh nein, bitte nicht schon wieder, und vor allem, bitte nicht heute«, murmelte sie flehend vor sich hin. Marie ergriff ihr Badetuch vom Wannenrand und huschte mit einshampooniertem Kopf Richtung Flur. Ihre nackten nassen Füße hinterließen feuchte Spuren auf den Dielen. Die Wohnung lag in morgendlicher Stille. Um diese Zeit schliefen ihre Kinder noch friedlich in den Betten. Leise knarrten die alten Holzbretter unter ihren Füßen und sie ließ fürsorglich diejenigen aus, die besonders laut waren.
Als Erstes schlich Marie in die Küche. Sonnenschein fiel durchs Fenster und ließ Staubkringel darin tanzen. Die Tür zum Balkon war nur angelehnt und fröhliches Vogelgezwitscher drang herein. Bestimmt tobten die Amseln wieder durch den alten Kastanienbaum, der direkt vor ihrem Fenster wuchs und sich jedes Jahr ein kleines Stück mehr in die Höhe reckte.
Kein Mensch würde darauf kommen, dass sie mitten in Berlin wohnte. Ihr kleines Reich war eine Oase der Ruhe, der Hinterhof glich einer anderen Welt. Kater Felix lag in seinem Kuschelbett an der Heizung, reckte den Bauch nach oben und würdigte sie nur eines knappen Blickes aus schmalen Augen. Gleich darauf erfüllten erneut rhythmische Schnarchgeräusche den Raum.
Suchend sah Marie sich um. Ihr Blick fiel auf den Wasserhahn über der Spüle. Einen weiteren Versuch sparte sie sich. Sie wusste genau, es würde sowieso kein Wasser kommen. Der Topf auf dem Herd war leer, genauso wie die Gießkanne neben ihren Kräutertöpfen auf der Fensterbank. Gestern Abend hatte sie die letzten Tröpfchen über ihre Petersilie geschüttet und natürlich wie immer vergessen, die Kanne erneut aufzufüllen. Aber da war noch der Selterskasten, der vor dem Fenster stand. Sie ging hinüber und beugte sich hinab. Doch jede Flasche, die sie herauszog, war leer. Sie sah nur eine Lücke, irgendwo in der Wohnung musste es also eine weitere Flasche geben, und die galt es zu finden. Hier in der Küche war sie schon mal nicht, denn sowohl der große Esstisch als auch die zusammengewürfelten Arbeitsplatten der Schränke waren leer. Marie passierte erneut den langen Flur und öffnete vorsichtig die Tür zu Karos Zimmer. Bunte Vorhänge bauschten sich in einer ersten Morgenbrise und ließen einzelne Sonnenstrahlen durchschimmern.
Karo, die eigentlich Karoline hieß, war ihr ältestes Kind, gerade vierzehn geworden, und befand sich mitten in der schlimmsten Phase der Pubertät. Momentan lag sie jedoch friedlich wie ein Baby in ihrem Bett. So ohne Schminke und mit leicht geöffnetem Mund, wirkte sie immer noch wie das kleine Mädchen mit den rutschenden Strumpfhosen und den blonden Zöpfen, das so gerne Bilder für seine Mama gemalt hatte. Einzig das Handy, welches ihre Tochter krampfhaft umklammerte, und die Stöpsel in den Ohren störten das Bild.
Marie löste ihren Blick von Karo und begab sich auf die Suche. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster wurde sie schließlich fündig. Sie erspähte zu ihrer Erleichterung eine fast volle Flasche Wasser, die zwischen Schulbüchern, leeren CD-Hüllen und anderem Kram herumstand. So lautlos, wie sie gekommen war, huschte sie wieder nach draußen.
Im Badezimmer versuchte Marie, mit der vorhandenen Wassermenge den Schaum aus ihren Haaren zu bekommen, was nicht gerade einfach war. Zum Glück trug sie seit einigen Jahren einen Kurzhaarschnitt. Nach der Geburt ihrer Zwillinge hatte sie sich nicht nur von deren Vater Sebastian getrennt, sondern auch von ihrer langen Mähne. In diesem Moment war Marie unglaublich dankbar dafür. Dennoch sahen ihre Haare anschließend alles andere als frisch gewaschen aus und klebten strähnig zusammen. Und das ausgerechnet heute, an diesem für sie so wichtigen Tag. Sie seufzte und versuchte, mit Fingern und Gel eine einigermaßen ansprechende Frisur zu zaubern.
Denn heute galt es, heute würde sich vielleicht ihre Zukunft entscheiden. Marie war selbstständige Töpferin, eine brotlose Kunst, wie ihr Vater immer sagte. Aber sie liebte ihre Arbeit und konnte sich keine andere vorstellen. Gut, an ein paar Abenden in der Woche jobbte sie in der Kneipe ihres Kumpels Jo, damit zusätzlich ein paar Euros in die Kasse kamen. Doch Marie war mit Leib und Seele Töpferin. Diese Arbeit aufzugeben kam für sie nicht infrage. Noch nicht, denn ihre Geschäfte liefen zugegebenermaßen ziemlich mies. Sorgenvoll machte sie an jedem Monatsende ihre Abrechnung und klappte dann resigniert die Bücher zu. Wenn nicht bald etwas geschah, musste sie eine Entscheidung treffen.
Und aus diesem Grund hatte ihre beste Freundin Rike sie vor einiger Zeit zu einem Handwerkermarkt, der während eines Dorffests stattfand, mitgeschleppt. Rike hatte ihre gefilzten Sachen und Marie ihre Töpferarbeiten präsentiert. »Du musst deine Keramik bekannter machen. Sie ist wunderschön, aber wenn du immer nur deine eingefahrenen Wege abläufst, wird nie jemand Neues auf deine Kunstwerke aufmerksam werden.« Seit Jahren stand Marie an den gleichen Tagen des Jahres auf den gleichen Märkten. Das hatte sich so eingebürgert. Denn anstatt sich um neue Standtermine zu kümmern, saß sie am liebsten an der Töpferscheibe in ihrer Werkstatt und ließ ihrer Kreativität freien Lauf. Im Internet zu recherchieren oder mühevoll neue Leute anzuschreiben, empfand sie als total lästig, obwohl sie wusste, dass diese Arbeit nun einmal dazugehörte.
Der Dorfmarkt war alles andere als gut besucht gewesen. Nur wenige Besucher waren bei ihr stehen geblieben, die meisten schlenderten achtlos vorbei. Das versetzte Marie jedes Mal einen heftigen Stich. Genau gegenüber hatte sich eine Imbissbude befunden, an der Bratwürste verkauft wurden. Die Schlange dort war lang und länger geworden. »In meinem nächsten Leben mache ich in Fressereien«, hatte Marie mit einem Seufzen zu ihrer Freundin gemeint.
»Ärgere dich nicht, das ist nun mal so«, hatte Rike in ihrer unerschütterlich positiven Art erwidert. »Das wird schon noch, warte nur ab.«
Kurz vor Feierabend war doch noch eine junge Frau an den Stand gekommen, die Maries Arbeiten sehr genau betrachtet hatte. Sie war schick angezogen gewesen, mit einem Kostüm, hohen Schuhen und sorgfältig hochgesteckten blonden Haaren. Irgendwie hatte sie gar nicht auf diesen Markt gepasst, auf dem die meisten Besucher recht alternativ gekleidet gewesen waren. Immer wieder hatte die Frau ihre Blicke über die Auslage schweifen lassen. Besonders die getöpferten Seifenschalen und Zahnputzbecher schienen bei ihr Gefallen gefunden zu haben.
»Sehr schön, diese Farben sind einfach eine Wucht. Genau so etwas habe ich gesucht. Wissen Sie, wir betreiben eine kleine Hotelkette.« Sie hatte einen Becher in die Hand genommen und ihn betrachtet. »Na ja, Hotelkette, das klingt immer so großspurig, aber es sind tatsächlich inzwischen vier Häuser, und weitere sollen dazukommen. Bei uns ist alles bio, das Essen, die Ausstattung der Räume und so weiter. Und was würde da besser hineinpassen, als selbst getöpferte Keramik in den Badezimmern, statt irgendwelcher Plastikbecher? Und wer weiß, wenn uns Ihre Produkte gefallen, vielleicht lassen wir sogar unser ganzes Geschirr bei Ihnen produzieren. Na, was sagen Sie?« Erwartungsvoll lächelnd hatte die Frau Marie angesehen. Sie hatte ausgesprochen sympathisch gewirkt, mit zahlreichen kleinen Lachfältchen um ihre braunen Augen.
Marie hatte es kurzfristig die Sprache verschlagen. Erst ein kräftiger Rempler von Rike hatte sie wieder in die Gegenwart geholt. »Das klingt fantastisch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Marie hatte sich die Worte förmlich abringen müssen. Die Sache hatte einfach zu gut geklungen, um wirklich wahr zu sein.
»Wissen Sie was, Sie geben mir Ihre Nummer, wir vereinbaren einen Termin und Sie kommen mit Ihren Arbeiten einfach mal bei uns vorbei«, hatte die Frau fröhlich zu ihr gesagt. »Ich führe die Hotels zusammen mit meinem Vater, und er hat immer das letzte Wort. Also muss er sich Ihre Arbeiten ebenfalls ansehen. Aber meist kann ich ihn überzeugen. Na, was sagen Sie, hätten Sie Lust?«
Ob Marie Lust hatte, war gar keine Frage, ihr Herz hatte voller Aufregung geklopft. Und so hatte sie zugesagt und zum Schluss erfahren, dass die nette Frau Susanne von Greifenberg hieß. Rike war vor Freude vollkommen außer sich gewesen und beide Frauen mussten ihre kleinen Begeisterungskreischer unterdrücken, bis die Hotelbesitzerin außer Hörweite war.
Heute nun war der wichtige Termin, dem Marie so entgegengefiebert hatte, in den sie all ihre Hoffnung setzte. Und ausgerechnet dieser Tag hatte suboptimal begonnen.
Kritisch betrachtete Marie ihre Frisur im Spiegel. Irgendwie hatte sie doch noch ein einigermaßen zufriedenstellendes Ergebnis hinbekommen. Die dunklen Haare, in die ihre Friseuse vor Kurzem kleine rötliche Strähnen gezaubert hatte, glänzten frisch gestylt. Ihr Blick streifte das Make-up, welches ihr eine Bekannte zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Doch Maries Haut sah immer noch glatt und ebenmäßig aus. Zwar waren ihre Wangen wie eigentlich immer etwas gerötet, aber das gehörte von Kindheit an zu ihr. Schon immer hatte sie rote Bäckchen gehabt, die sich bei Aufregung im Farbton noch vertieften. Aber Marie liebte ihr natürliches Aussehen und fühlte sich geschminkt seltsam verkleidet. Also legte sie schnell nur noch ein wenig Wimperntusche auf und suchte verzweifelt ihren Lipgloss in der Kosmetiktasche. »Karo, wenn ich dich erwische«, stöhnte sie und huschte abermals ins Zimmer ihrer Tochter. Dort wurde sie sogleich auf deren Schminktisch fündig. Ihre Tochter hatte mittlerweile die Rückenlage verlassen und kuschelte sich bäuchlings auf das Bett. Wie ein blonder Vorhang flossen Karos Haare zu Boden und ließen sie wie eine schlafende Elfe wirken. Doch heute musste Marie sich losreißen.
Schnell noch im Bad den Gloss aufgetragen und einen letzten Kontrollblick in den Spiegel geworfen. Sie war mit sich zufrieden. Ihre braunen Augen leuchteten voller Vorfreude. Ein zarter Kranz von Lachfältchen schimmerte an ihren Schläfen und ließ sie wie eine Frau in den besten Jahren wirken, deren Schönheit sich gerade so richtig entfaltete. Das hatte zumindest ihre Freundin Rike vor Kurzem zu ihr gesagt, und in diesem Moment musste Marie ihr innerlich zustimmen.
Ihr Outfit für den heutigen Tag hing schon bereit, und so schlüpfte sie in eine dunkelblaue Hose und eine weiße Bluse. Das sah leger und trotzdem irgendwie geschäftsmäßig aus. Dann schaute Marie auf die Uhr, schon gleich halb sieben. Es wurde Zeit, die Kinder zu wecken.
Das Zimmer der neunjährigen Zwillinge Til und Ole lag in fast vollständiger Dunkelheit. Marie musste aufpassen, nicht über irgendwelche herumliegenden Legobauteile, Schultaschen oder Fußballschuhe zu stürzen. Vorsichtig tastete sie sich zum Fenster vor und öffnete den Vorhang ein winziges Stück. Brummender Protest aus Richtung Bett war die einzige Reaktion. Schnarchgeräusche ertönten aus der oberen Etage des Doppelstockbettes, ein nackter Fuß hing heraus. Die Wand hinter Tils Bett war mit unzähligen Fußballplakaten zugepflastert. Die Bettwäsche zierte das Logo eines großen bayrischen Vereins. Ganz anders als bei Ole, der im unteren Bett schlief. Neben ihm lag ein Buch, seine Taschenlampe brannte immer noch. Ganz offensichtlich hatte er wieder heimlich in der Nacht gelesen.
So ähnlich sich Maries Söhne sahen, so unterschiedlich waren sie. Til, der Unruhige, der einfach nicht still sitzen konnte und immer Bewegung brauchte. Der am liebsten an jedem Tag der Woche Fußball spielen würde und der Hausaufgaben für unnötig hielt. Und Ole, der Ruhige, der gerne las und am liebsten Geige gelernt hätte, wenn Marie die Kosten für den Unterricht hätte aufbringen können. Stattdessen verbrachte er die Nachmittage in der Bibliothek und tauchte dort in andere Welten ab. Oder nervte seine Umgebung mit Fragen zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Doch wenn es darauf ankam, hielten die beiden Brüder zusammen wie Pech und Schwefel, da passte kein Blatt Papier zwischen sie. Marie zog behutsam die Decken weg und kitzelte ihre Söhne am Bauch, doch aus beiden Etagen schallten ihr nur grunzende Geräusche entgegen. »Los, aufstehen, die Schule wartet«, sagte sie deswegen energisch.
Bei Karo erging es ihr nicht anders. Ihre Tochter stöhnte und drehte sich Richtung Wand.
»Komm schon, Karo, es ist schon nach halb sieben«, flüsterte Marie ihrem Kind ins Ohr.
Erneut stöhnte ihre Tochter leise vor sich hin. Doch urplötzlich drehte sie sich um, richtete sich auf und sah ihre Mutter entsetzt an. »Was, schon halb sieben? Du solltest mich doch eher wecken! Ich muss noch Haare machen und so.« Hektisch hüpfte Karo durchs Zimmer und sah ihre Mutter anklagend an.
Verdammt, dachte Marie. Das hatte sie ganz vergessen. Da waren dieser Schüleraustausch im nächsten Jahr und die Fotos, die dafür geschossen werden sollten. Noch gestern Abend hatte Karo sie erinnert, sie unbedingt um halb sechs zu wecken. Alle Mädchen in der Klasse wollten sich natürlich von ihrer besten Seite zeigen. Aber da war ihr heutiger Termin, und sie hatte einfach nicht mehr daran gedacht.
Marie berührte ihre Tochter sanft am Arm. »Du siehst doch gut aus, mit deinen blonden Haaren. Schön wie immer.« Besänftigend lächelte sie ihr zu.
»Das würdest du auch sagen, wenn ich aussähe wie ein Grufti, du bist schließlich meine Mutter«, zischte Karo ihr zu und raffte nervös irgendwelche Sachen zusammen. Dann raste sie auf den Flur. Marie folgte ihr und fing sie erst direkt vor der Badezimmertür ab.
»Du kannst dir trotzdem nicht die Haare waschen«, sagte sie und seufzte bereits innerlich. Marie wusste, was gleich passieren würde.
Karo drehte sich um und strich eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht. »Und warum nicht? Wenn ich mich beeile, schaffe ich das locker bis um sieben. Vielleicht komme ich ein bisschen zu spät, aber das ist heute egal«, sagte sie genervt.
»Es geht nicht, weil … Wir haben mal wieder kein Wasser.« Nun war es heraus.
Fassungslos sah Karo sie an und ließ ihre Sachen mitten im Flur fallen. »Na prima, und alles nur wegen dieser Scheißwohnung. Ständig ist hier was kaputt, immer ist irgendwas in dieser steinalten Hütte. Warum können wir nicht in einer normalen Wohnung leben, so wie die anderen aus meiner Klasse?« Marie seufzte und versuchte, ihr Kind zu beruhigen, doch Karo schlug ihre Hand weg. »Alle haben ein Haus, nur wir natürlich nicht. Wäre ich nur zu Dad gezogen. Dort hätte ich sogar zwei Zimmer und ein Badezimmer ganz für mich allein«, schrie sie ihr ins Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ihrem Vater so unendlich ähnlich, dass es Marie in der Brust schmerzte. »Dad würde alles für mich machen, sogar die Möbel haben wir schon zusammen ausgesucht.« In Karos Augen schossen Tränen der Wut und sie lief zurück in ihr Zimmer. Kurz bevor sie den Raum erreichte, drehte sie sich um und sah ihre Mutter an. »Kannst du mich wenigstens jetzt noch zu Dad fahren?«
Marie schüttelte den Kopf und bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. »Ich hab’ doch heute Morgen diesen wichtigen Termin. Karo, das schaffe ich nicht«, sagte sie flehend. »Sonst komme ich zu spät. Mach dir doch einfach einen Zopf und gut.«
»Einen Zopf, einen Zopf.« Karo lachte hysterisch. »Klar, immer geht es nur um dich. Alles dreht sich um diese blöde Töpferei, bei der eh nie was rauskommt. Aber das kapierst du ja einfach nicht. Andere Mütter suchen sich einen normalen Job, aber du … Was aus mir wird, ist dir doch scheißegal.« Mit einem lauten Knall fiel Karos Tür zu.
Marie stand im Flur und kämpfte mit den Tränen. Diese Art Unterhaltung führten sie mindestens zweimal die Woche. Alles hatte sie versucht. Sie war Karo mit Strenge und Verständnis begegnet, doch diese schaltete einfach auf stur und trieb sie regelmäßig in den Wahnsinn. Vor allem die Drohungen, zu ihrem Vater zu ziehen, setzten Marie zu. Maik, Karos Vater, war ihre erste große Liebe gewesen. Davor hatte sie nur kleinere Liebeleien gehabt, mit denen es nie ganz ernst wurde. Aber Maik war anders gewesen, er eroberte ihr Herz im Sturm. Alle Warnungen von Freunden und Familie hatte sie in den Wind geschlagen. Sie liebte diesen Typen einfach und hatte über seine Fehler großzügig hinweggeschaut. Er sah gut aus, mit seinen dunklen Haaren und dem smarten Blick. So war Marie zunächst entgangen, dass er eigentlich nur ein Sprücheklopfer und Blender war. Er liebte es, irgendwelche Pläne zu schmieden, aber setzte sie nur äußerst selten in die Tat um. Maik war unzuverlässig und unehrlich, ein Tagträumer und Spinner. Das wurde Marie erst bewusst, als es schon fast zu spät war. Sie erwischte ihn nämlich zusammen mit einer ihrer damals besten Freundinnen in der gemeinsamen Wohnung im Bett. Natürlich hatte er auch dafür eine durchaus plausible Erklärung, die sie sich zum Glück aber nicht mehr anhörte. Viel zu lange hatte sie seinen Versprechungen und Schwüren vertraut, nun war endgültig Schluss.
Erst dann zeigte Maik sein wahres Gesicht. Nach ihrer Trennung rannte Marie regelmäßig ihrem Unterhalt hinterher. Er versprach großzügig, Karo am Wochenende abzuholen, machte mit dem Kind schon Pläne und kam dann nicht. Oder er überschüttete ihre Tochter mit abnorm teuren Geschenken und versuchte damit, sie ihr zu entfremden. Vor einigen Jahren hatte er geheiratet, eine Frau, die einiges an Geld in die Ehe brachte. Endlich verkehrte er in den Kreisen, die er für angemessen hielt. Es wurde ein prächtiges Haus gebaut und vor zwei Jahren war er zum zweiten Mal Vater geworden. Karo verdrehte er mit einer kleinen Einliegerwohnung den Kopf, die regelmäßig für Streit sorgte. Denn noch immer kam er seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nach. Maik fuhr mit seinem nagelneuen Sportwagen vor, machte auf dicke Hose und wurde beim Thema Geld kleinlaut.
All das wusste Karo nicht. Marie war verzweifelt darum bemüht, diese Probleme von ihr fernzuhalten. Warum, wusste sie manchmal eigentlich selbst nicht so genau. Aus diesem Grund vergötterte Karo ihren Vater und stellte ihn auf ein Podest. So auch heute wieder.
Marie vernahm hinter sich ein Geräusch und sah Ole, der die ganze Szene mitbekommen hatte, in der Tür seines Zimmers stehen. »Sei nicht traurig, Mam, die kriegt sich schon wieder ein.« Er umschlang sie mit beiden Armen ganz fest und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Marie spürte, wie sich eine Träne löste und langsam nach unten rann. Ihr Sohn, der oft als Vermittler agierte und seine Schwester manchmal besser erreichte als sie selbst. Ole der Tröster, der es nicht ertragen konnte, wenn in der Familie schlechte Stimmung herrschte. Eine kleine Weile standen sie so und sie genoss die kindliche Umarmung. Schließlich schob Marie Ole von sich, rang sich ein Lächeln ab und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schon gut, und nun schnell, zieh dich an, sonst kommen wir alle noch zu spät.«
Seufzend verschwand sie in der Küche und verpackte die geschmierten Schnitten in Plastikdosen. Die Zwillinge verschlangen inzwischen hinter ihr am großen Familientisch Kakao und Müsli, doch Karo ließ sich nicht blicken. Marie wusste, sie würde eine ganze Weile schmollen, doch heute hatte sie einfach nicht den Nerv, auf Karos Rumgezicke einzugehen.
Eine Viertelstunde später herrschte Stille. Alle drei Kinder waren zur Tür hinaus verschwunden. Karo natürlich, ohne ein Wort zu sagen, und mit beleidigter Miene. Selbst die geschmierten Brote hatte sie verschmäht und auf dem Tisch liegen lassen.
Marie schnappte sich ihre Tasche und sah ein letztes Mal in den Spiegel. Der Streit hatte ihr zugesetzt und die heute Morgen noch so entspannte Miene war verschwunden. Egal, was gerade gewesen war, nun musste sie sich beweisen und unbedingt die Nerven behalten. Sie zog die Wohnungstür hinter sich zu und wollte gerade die Treppe hinablaufen, als eine dünne Stimme nach ihr rief – auch das noch.
Ihre Nachbarin Ruth Lachmann stand in einem rosafarbenen Morgenrock in der Tür und sah sie neugierig an. Als Marie in dieses Haus gezogen war, hatte Frau Lachmann schon hier gewohnt. Damals noch mit ihrem Mann, aber der war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem lebte sie allein und hatte keine Kinder. Sie war achtundsiebzig, der Körper wurde allmählich älter und schwächer. Fast nie kam sie jemand besuchen, und irgendwann hatte Marie angefangen, sich aus Mitleid ein wenig um sie zu kümmern. Sie kaufte für die alte Dame ein oder erledigte die Säuberung des Treppenhauses gleich mit. Nach und nach hatte sich zwischen den beiden ungleichen Frauen eine Art Freundschaft entwickelt. Oft tranken sie zusammen einen Kaffee und Marie musste selbst gebackenen Kuchen probieren. Ein paarmal hatte sie mit Ruth sogar über Karo und ihren Vater gesprochen, und die alte Frau hatte ihr nachdenklich zugehört. Mit Ratschlägen hielt sie sich stets zurück und wackelte manchmal nur bedenklich mit dem Kopf.
In den letzten Tagen schien es Ruth schlechter zu gehen. Vorgestern war sogar der Notarzt da gewesen. Marie hatte sich durchgesetzt und ihn gerufen. Er hatte den Verdacht Schlaganfall zum Glück nicht bestätigt. Seine Miene sprach jedoch Bände und allen war wohl bewusst, dass Ruths Tage gezählt waren. »Tja, wissen Sie, wenn der Lebensmut schwindet, da kann man nichts machen. Irgendwann ist es eben vorbei«, hatte er leise zu ihr gesagt.
Und nun stand Ruth auf dem Absatz und sah sie neugierig an. »Ist alles gut, Marie? Ich habe euch streiten gehört, es ging wohl um das Wasser, oder besser gesagt, um das nicht vorhandene Wasser.«
»Ja, richtig, Karo beruhigt sich schon wieder. Aber sei mir nicht böse, heute ist doch mein Termin.« Erneut schaute Marie auf ihre Uhr.
Die alte Frau nickte eifrig. Einer der Lockenwickler, die sie in ihr schlohweißes Haar gedreht hatte, wippte bedenklich auf und ab. »Ich weiß schon, wollte dir nur alles Gute wünschen und die Daumen drücken.« Ruth reckte beide Daumen ermutigend in die Luft. »Wird schon werden, wirst sehen. Ich hab’ heute ein sehr gutes Gefühl.«
Marie winkte ihr lachend zu und rannte dann die Treppe hinab. Laut knarrten die wurmstichigen Bretter unter ihren Füßen. Unten im Hausflur, direkt vor den Briefkästen, begannen Handwerker Zementsäcke aufzustapeln und sahen sie unfreundlich an. Vorsichtig, um sich nicht schmutzig zu machen, quetschte sie sich an ihnen vorbei.
Das Haus, in dem sie wohnte, war vor einigen Monaten verkauft worden. Diese Tatsache glich an sich schon einem Wunder, denn das Gebäude war in einem katastrophalen Zustand. Die Lage war nicht schlecht, in einer ruhigen Gegend von Berlin. Ringsumher gab es viel Grün, deswegen zog es die Menschen hierher. Aber angefangen bei einem kaputten Dach bis zur bröckelnden Fassade und einer gewissen Nässe in den Erdgeschosswohnungen, die langsam nach oben kroch, war an der alten Bude fast alles marode. Doch anscheinend hatte sich nun endlich ein neuer Besitzer gefunden. Die anfängliche Freude schlug bei den verbliebenen Bewohnern schnell in pure Angst um. Denn der neue Besitzer hatte nur ein Ziel – er wollte sie alle aus ihren Wohnungen vertreiben und diese teuer weiterverkaufen. Dabei ging er ziemlich kreativ vor und ließ keine Möglichkeit aus, die Mieter zu vergraulen. Es fielen öfter Wasser oder Strom aus. Vor einer Woche war allen Mietern das Benutzen ihrer Toiletten untersagt worden. Sie sollten für ungewisse Zeit auf ein Toi-Toi-Klo im Hof gehen. Das Problem hatte sich dann zwar wieder erledigt, aber es würde nicht lange dauern, bis die nächste Katastrophe käme. Mittlerweile suchten bereits erste Mieter das Weite. Eigentlich wohnte nur noch ein einzelner stiller Herr im Erdgeschoss, Ruth und Marie in der ersten Etage und über ihnen befand sich eine Studenten-WG, die die ganzen Vorkommnisse eher mit Humor nahm.
Der Humor war Marie inzwischen abhandengekommen, dafür wurden die Sorgen immer größer. Sie liebte ihre Wohnung, und vor allem war sie bezahlbar. Dass die Miete erschwinglich war, lag am schlechten Zustand des Hauses und den alten Verträgen. Alles hatte sie zusammen mit Freunden selbst gemacht. Ein zauberhaftes Bad eingebaut, überall die alten Dielen abgeschliffen und einen prächtigen Boden zum Vorschein gebracht, Wände eingerissen und eine gemütliche Wohnküche geschaffen. Karo hatte ein kleines Zimmer und die Zwillinge ihr eigenes. Dafür schlief Marie in einer winzigen Kammer, aber das war ihr wurscht. Die Wohnung war einfach perfekt. Zudem lag sie nahe bei ihrer Töpferwerkstatt, die sich im Hinterhof eines Kulturzentrums befand. Bei jedem Blick in den Anzeigenteil der Berliner Zeitung verschlug es ihr schier die Sprache. Wohnraum war knapp, alle Welt wollte in die Hauptstadt, wie sollte sie da eine neue Wohnung für sich und ihre Kinder finden?
Doch in diesem Augenblick schüttelte Marie, so gut es ging, ihre Sorgen ab und stieg in den alten Passat, der draußen unter einer Kastanie stand. Gestern Abend hatte sie ihre Musterstücke bereits ins Auto gebracht und war nun bereit für die heutige Präsentation.
Doch zunächst musste sie sich durch den morgendlichen Berliner Verkehr quälen und tuckerte, nervös auf die Uhr blickend, hinter einem Müllwagen her. Endlich bog dieser in eine schmale Straße ab und sie hatte freie Fahrt, wenigstens bis zur nächsten roten Ampel. Überall sah sie Menschenmassen, die zur Arbeit oder zur S-Bahn strebten. Lärm und Abgase lagen in der Luft. Doch dann veränderte sich die Gegend allmählich. Die großen Mietskasernen wichen erst flacheren Wohnblocks und dann schmucken Einfamilienhäusern, bis sie endlich die ersten Felder vor den Toren der Stadt erreichte. Über bewaldete, schattige Alleen brauste Marie hinaus aufs Land, Richtung Gutshotel Lindenhof. Sie kurbelte ihr Fenster nach unten und sog die frische Morgenluft tief ein. Landluft, die liebte sie über alles, und musste dabei an die wenigen Besuche bei ihrer Großmutter denken, die in der Uckermark gewohnt hatte. Dort hatte es auch immer so gerochen, nach frischem Heu, nach alten Bäumen und nach zarten Blumen, die am Wegesrand wuchsen. Der Himmel war viel blauer gewesen und Abenteuer schienen hinter jedem Busch zu lauern.
Marie war spät dran, stellte sie nach einer Weile unruhig fest. Noch immer war laut ihrem Handy eine Viertelstunde zu fahren und ihr Termin sollte jetzt in diesem Augenblick beginnen. Auch das noch. Konnte es einen schlechteren Einstieg geben, als zu spät zu kommen?
Da endlich tauchte am Straßenrand der entscheidende Wegweiser zum Gutshotel auf. In Höchstgeschwindigkeit brauste sie über die sandige Auffahrt und zog dabei eine Staubwolke hinter sich her. Vermutlich würden jetzt alle schon sehen, dass jemand auf das Haus zugerollt kam.
Das Hotel lag auf einer kleinen Anhöhe und war von einem Park umgeben. Direkt vor dem Eingang zierte ein üppig blühendes Rosenbeet den Platz, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Seitlich vor einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude lagen die Parkplätze. In aller Eile quetschte Marie sich in eine Lücke, zerrte ihre Klappkiste aus dem Kofferraum und lief auf den Eingang zu.
Wie von Zauberhand öffnete sich die Tür. Susanne von Greifenberg stand vor ihr und sah Marie lächelnd an. Keuchend stellte diese die Kiste ab und gab der jungen Frau die Hand. »Entschuldigung, ich bin eigentlich immer pünktlich. Aber heute ging einfach alles schief.«
Die Hotelbesitzerin winkte lachend ab. »Solche Tage kenne ich zur Genüge. Alles gut, mein Vater hat bis zu diesem Moment telefoniert und die Verspätung vermutlich nicht mal bemerkt.« Sie trug heute eine moderne Jeans und flache Schuhe, die Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden.
So schnell wie möglich folgte Marie der Frau durch eine wahrhaft beeindruckende Halle. Sie kam sich vor, als wäre sie in einer anderen Zeit gelandet. Eine breite hölzerne Treppe führte in den ersten Stock, um den sich rundherum eine Galerie wand. Direkt über ihr an der Decke prangte ein riesiger Kronleuchter, dicke Teppiche bedeckten den Boden. Die Wände schmückten alte Bilder, vor denen vereinzelt zierliche Tischchen mit wunderbaren Blumensträußen standen. Das Haus wirkte in keiner Weise wie ein Hotel, sondern eher wie der Privathaushalt der Familie. Aber dieser Eindruck war vermutlich genau so gewollt. Wer hier abstieg, hatte ganz sicher keine finanziellen Sorgen.
Dann standen sie vor einer breiten zweiflügeligen Tür und Marie betete, dass der Chef des Hauses ähnlich gelassen wie seine Tochter war. Sie hatte jedoch kein Glück. Eduard von Greifenberg empfing sie mit den Worten: »Sie sind zu spät, und zwar fast zwanzig Minuten. Wenn es schon so losgeht, sinkt meine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten, augenblicklich in den Keller.«
Eduard von Greifenberg war etwa siebzig Jahre alt. Er trug einen dunklen Anzug, hatte grau melierte Haare und eine randlose Brille saß auf seiner Nasenspitze. Der Hotelbesitzer thronte hinter einem riesigen Schreibtisch, der vor einem Fenster stand, welches den Blick auf den großzügigen Park hinter dem Haus freigab. Dunkle Möbel füllten den Raum und vermittelten ein Gefühl von Schwere. Es gab mehrere Bücherregale und genau über Marie schwebte ein ebenso prachtvoller Kronleuchter wie in der Diele. Greifenbergs Augen musterten sie prüfend von oben bis unten und wanderten dann weiter zu seiner Tochter.
»Vater, da waren eine Baustelle und später eine Umleitung, du weißt doch, wie es manchmal ist.« Krampfhaft versuchte Susanne zu vermitteln. Dass sie sich so für Marie ins Zeug legte, machte Susanne noch sympathischer.
»Nein, das weiß ich nicht, denn dann fährt man eben eher los«, meinte er unwirsch und nahm einen Schluck Kaffee. Dann seufzte er. »Na ja, wenn Sie schon mal da sind, können Sie uns Ihr Zeug ja auch zeigen.«
Marie hatte noch kein Wort gesagt und war von der Betitelung ihrer Keramik als Zeug alles andere als begeistert. Dennoch schluckte sie eventuelle Widerworte tapfer hinunter. Es ging schließlich um etwas. Der morgendliche Streit mit ihrer Tochter fiel ihr wieder ein. Wenn es mit diesem Auftrag klappen würde, wäre das wie ein Lottogewinn, und endlich würde sie einmal Glück haben. Aufmunternd zwinkerte ihr Susanne von der Seite zu.
Behutsam stellte sie die Klappkiste auf den Schreibtisch und begann dann, ihre Muster auszupacken. In den letzten Tagen hatte Marie die Homepage der Gutshotels ausführlich studiert und dabei war ihr aufgefallen, dass es insgesamt vier Häuser gab, von denen zwei an der Ostsee lagen und zwei nördlich von Berlin. Eine gewisse maritime Ausstattung spielte bei den Ostseehotels, aber auch in den anderen Häusern, eine große Rolle. Und genau diese hatte Marie aufgegriffen. Langsam füllte sich der Tisch mit Seifenschalen und Zahnputzbechern in verschiedenen Blautönen. Sie hatte Muschelornamente, Segelboote und Fische als Dekor gewählt und manchmal Wellenmuster eingearbeitet. Ein paar der Stücke waren auch neutral gehalten und wurden von zarten Gräsern geziert.
Susanne nahm die Muster begeistert in die Hand und begann, erste Arrangements zusammenzustellen. Ihr Vater betrachtete alles ebenso gründlich, sagte jedoch vorerst kein Wort. Seine Miene war undurchschaubar, keine Tendenz darin erkennbar.
»Also ich finde es zauberhaft, die Meeresmotive sind Ihnen wirklich gut gelungen«, sagte die junge Frau nach einer Weile. »Es wären Einzelstücke, die uns zu etwas Besonderem machen. Vater, was sagst du?«
Greifenberg nahm einen der Zahnputzbecher in die Hand und drehte ihn hin und her. »Als ob ein simples Glas nicht reicht«, grummelte er in seinen Bart. Deine Mutter und ich haben die ganzen Jahre Gläser oder Plastikbecher verwendet und es hat sich niemand beschwert. Die Gäste sind immer wiedergekommen.«
»Aber zum Schluss sind die Zahlen in den Keller gerutscht und wir haben lange überlegt, woran das wohl lag«, erwiderte Susanne eindringlich und beugte sich zu dem älteren Mann. »Es war unsere gemeinsame Entscheidung, die Häuser neu auszurichten. Der Erfolg gibt uns recht, die Zahlen steigen an, die Auslastung ist gut, Bio ist im Trend und wir sind der Vorreiter an vielen Standorten. Jetzt müssen wir das Konzept auch durchziehen bis zum Schluss. Und diese Keramik ist ein weiterer Schritt. Stell dir doch mal vor, wir könnten unser neues Haus auf Rügen genau so ausstatten, von Anfang an. Das wäre doch toll!«
Im Raum herrschte Schweigen und Marie trat vorsichtig von einem Fuß auf den anderen. Immer noch drehte Eduard von Greifenberg den Becher in seiner Hand. Sinnierend starrte er vor sich hin und nickte schließlich vorsichtig. »Ja, vielleicht hast du recht. Hauptsache, hier bleibt alles, wie es ist. In unserem Stammhaus wird nichts verändert, nur über meine Leiche.« Er holte tief Luft und musterte versonnen ein Foto, welches auf seinem Schreibtisch stand. Dann brummte er ein wenig versöhnlicher: »Mach du den Rest mit ihr, aber erst mal nur für das Gutshotel Eichenpark. Dort wird getestet, und dann sehen wir weiter.«
Zu Marie sagte er kein Wort. Er behandelte sie, als wäre sie Luft. Ihr Stolz wurde heute wirklich auf eine harte Probe gestellt.
Der alte Mann griff neben seinen Körper, und zu ihrer Verwunderung sah Marie, dass er in einem Rollstuhl saß. Greifenberg fuhr ein Stück rückwärts, umrundete dann den Schreibtisch und rollte auf eine seitliche Tür zu. Kurz bevor er diese erreichte, öffnete sie sich von selbst und er verschwand in der Diele.
Augenblicklich fühlte Marie sich besser. Die unangenehme Atmosphäre war verschwunden, sofort atmete sie leichter. Susanne von Greifenberg schien es genauso zu gehen, denn sie zeigte mit dem Kopf auf einen seitlich stehenden Tisch. »Wollen wir uns setzen? Und darf ich Ihnen was anbieten, Kaffee, Tee oder ein Wasser?«
»Ein Kaffee wäre wunderbar«, meinte Marie, während die Frau bereits zwei Tassen füllte.
»Sie müssen meinen Vater entschuldigen, er ist ein schwer kranker Mann. Es ist für ihn nicht leicht, so viel Verantwortung abgeben zu müssen. Er hat dieses Haus hier zusammen mit meiner Mutter durch schwierigste Zeiten geführt. Der Lindenhof war alles, was unserer Familie noch geblieben war. Erst nach und nach haben wir bestimmte Objekte zurückerworben oder neue gekauft. Meine Mutter ist vor sechs Jahren plötzlich gestorben, das war für uns alle ein schwerer Schlag, natürlich besonders für ihn«, sagte sie mit ernster Miene. »Dazu kamen gewisse wirtschaftliche Probleme. Die Auslastung stimmte einfach nicht mehr, deswegen der neue Weg Richtung Bio. Die Menschen mögen das, man muss es nur konsequent durchziehen. Mit diesen Veränderungen hat mein Vater große Probleme. Bio ist ihm so fremd wie … wie …« Sie schien nach dem passenden Vergleich zu suchen und verstummte dann.
Marie nickte verständnisvoll und nippte an ihrem Kaffee. »Das kann ich mir gut vorstellen, das ist wirklich keine leichte Situation.« Das Getränk war gut, stark und aromatisch, genau so, wie sie es mochte.
Susanne lehnte sich entspannt im Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und strich sich gedankenverloren eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ein Hosenbein ihrer hellen Jeans rutschte ein Stück nach oben und gab den Blick auf schlanke, wohlgeformte Beine frei. Überhaupt war sie eine sehr attraktive Frau, die vielleicht nur ein paar Jährchen jünger war als Marie mit ihren dreiundvierzig Jahren.
»Mein Vater sprach ja schon von unserem neuen Hotel, dem Gutshaus Eichenpark auf Rügen. Es ist ein Landhaus, liegt etwas abseits im Inneren der Insel, genauer bei Langenow, aber das wird Ihnen nichts sagen.« Marie schüttelte verneinend den Kopf. Susanne fuhr fort. »Das Haus war früher im Besitz meiner Familie. Dann stand es lange leer, verfiel oder wurde für andere Zwecke genutzt. Aber nun haben wir es zurückerhalten und sind, was die Modernisierung betrifft, in den letzten Zügen. Neueröffnung sollte eigentlich im Frühjahr sein, aber manchmal kommt es eben anders«, sagte Susanne seufzend. »Alte Häuser – da erlebt man immer wieder böse Überraschungen. Es ist eine gute Idee, dort mit Ihren Keramiken zu starten. Es gibt insgesamt zwanzig Zimmer, also ist der Auftrag zunächst überschaubar. Dennoch würde ich gerne einige zusätzliche Dinge bei Ihnen ordern, wie zum Beispiel Vasen für die Eingangshalle. Und keine Angst, das Haus ist ganz anders als dieses hier.« Sie sah sich um, als sähe sie den Raum zum ersten Mal, und schauderte. »Viel moderner und leichter, nicht so bedrückend und schwer. Ich habe viele eigene Ideen mit einfließen lassen. Wäre das für Sie machbar? Ich meine, haben Sie überhaupt freie Kapazitäten?«
Ja, ich habe mehr freie Kapazitäten als alles andere, hätte Marie am liebsten geschrien, doch sie versuchte ihre Freude zu unterdrücken. Ihr Herz klopfte im Galopp. Das war endlich die Chance, auf die sie immer gewartet hatte. Der fragende Blick von Susanne ruhte auf ihr. »Das lässt sich machen«, meinte sie nach einem kleinen Moment. Das klang zu kühl, also schickte sie noch ein »Das lässt sich sogar sehr gut machen, und ich freue mich riesig auf diesen Auftrag« hinterher.
»Also sind wir uns einig?«, fragte Susanne lächelnd und reichte ihr die Hand.
»Ich glaube schon.« Marie lachte zurück und besiegelte damit ihren Auftrag.
Drei Stunden später rollte sie wieder heimwärts und konnte ihr Glück kaum fassen. Dieser Auftrag war das Beste, was ihr jemals passiert war, zumindest im beruflichen Bereich. Sogar einen Vorschuss bekam sie, was alles andere als selbstverständlich war. Mit Susanne verstand sie sich wunderbar und schon nach kurzer Zeit waren sie beim Du gelandet.
Marie schmiedete im Kopf bereits Pläne, so viel war zu tun. Auf jeden Fall musste sie gleich heute noch mit Jo reden, in dessen Kneipe sie einige Tage in der Woche aushalf. Das würde in der nächsten Zeit vermutlich nicht mehr möglich sein. Jo würde es bestimmt verstehen, zumindest hoffte sie das. Doch zuerst musste sie ihre kleine Töpferwerkstatt aufsuchen und sich Gedanken über weitere Entwürfe machen. Tausende Ideen schwirrten durch ihren Kopf und mussten zu Papier gebracht werden, ehe sie im Nirwana ihres Geistes verschwanden.
Schwungvoll kurvte Marie mit ihrem Auto auf den Hof des Kulturzentrums und trat heftig auf die Bremse. Ein Polizeifahrzeug versperrte ihr den Weg, gleich daneben parkte ein Krankenwagen mit Blaulicht. Auf dessen Treppe saß Viola, die ebenso wie sie einen Raum in der kleinen Baracke hinter dem Haupthaus gemietet hatte und dort eine Schmuckwerkstatt betrieb. Schmerzverzerrt hielt sie sich ihren Arm und soeben wickelte ein Sanitäter eine Binde um ihren Kopf.
Marie sprang aus ihrem Auto und eilte zu Viola. Entsetzt musterte sie die junge Frau, die aussah, als wäre sie unter eine Lawine geraten. Diverse Schürfwunden zogen sich über ihre Stirn und auf der rechten Wange prangte eine blutende Wunde. »Oh Gott, Viola, was ist denn passiert?«
Viola stöhnte zunächst nur und winkte dann ab. »Hör bloß auf, ich bin froh, dass ich noch lebe. Die Decke im Flur, du weißt schon, die ist vorhin runtergekommen. Ich wollte gerade aufs Klo, hab’ die Tür hinter mir zugeknallt, und dann ist es passiert.«
Angsterfüllt schaute Marie Richtung Werkstatt und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Da, wo gestern noch der Eingang zu ihrer Baracke gewesen war, lag jetzt ein Schutthaufen. Ihre Werkstatt und auch Violas Raum, die seitwärts lagen, schienen unversehrt, doch die Absperrbänder, welche sich rund ums Gebäude zogen, sprachen eine andere Sprache. Natürlich war ihr bewusst gewesen, dass die Baracke alt war. Die Decke wies mehrere feuchte Stellen auf und nach einem heftigen Unwetter vor einigen Wochen war es noch schlimmer geworden. Sie hatten einfach Wassereimer aufgestellt und positiv gedacht. Alles war getrocknet und gut. Ihre Maßnahmen schienen allerdings nicht ausgereicht zu haben.
Ihr Herz blieb fast stehen. Eben noch war sie der glücklichste Mensch der Welt gewesen. Wie hatte Maries Oma früher schon immer gesagt? »Auf Sonnenschein folgt Regen, und manchmal unverhoffter, als man denkt.« Und sie stand gerade mitten in einem ziemlich heftigen Schauer.
Maries Blicke fielen wieder auf Viola, deren Wange soeben mit einem großen Pflaster beklebt wurde. »Aber dir ist nichts Schlimmes geschehen?«
»Nein. Die wollen mich zwar unbedingt ins Krankenhaus mitnehmen, aber ich will nicht. Umso schlimmer steht es um unsere Werkstätten. Die werden nämlich erst mal baupolizeilich gesperrt. Keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll«, sagte Viola und ließ die Schultern hängen.
Baupolizeilich gesperrt – Marie erschien es, als wäre ihr Luftballon aus Glück soeben mit einem riesigen Knall geplatzt. Was sollte nun werden? Ohne Werkstatt konnte sie nicht produzieren. Gerade eben hatte sie per Handschlag einen Vertrag geschlossen, nächste Woche sollte sie offiziell ihre Unterschrift daruntersetzen, und nun das.
Unter Aufbietung all ihrer Überredungskünste brachte sie einen der Polizisten dazu, sie wenigstens einen Blick durchs Fenster werfen zu lassen. Im Inneren sah alles gut aus. Da waren ihre Drehscheibe und der sündhaft teure Brennofen, den sie sich vor einiger Zeit geleistet hatte. Alles wirkte unversehrt, selbst die Holzregale mit ihren Verkaufsstücken standen noch an Ort und Stelle. Doch Marie durfte keinen Schritt weitergehen. »Nix da, am Ende fällt der Rest auch noch zusammen und Sie liegen drunter«, knurrte der Polizist streng. Dann wurde er etwas versöhnlicher. »Tut mir leid, junge Frau. Es kommt ein Gutachter und schaut sich das an. Und wenn alles in Ordnung ist, dürfen Sie Ihren Kram bestimmt noch rausholen. Aber die Baracke muss auf jeden Fall abgerissen werden. Da ist garantiert nichts mehr zu machen. Eigentlich unverantwortlich, dass Sie in dieser Bude noch gearbeitet haben.«
Wie erschlagen machte Marie sich auf den Heimweg. In ihrem Kopf war eine unendliche Leere. Was sollte sie jetzt tun? Sie stellte ihr Auto ab, durchquerte das vordere Haus und betrat den Hof. Mitten vor ihrer Haustür stand ein riesiger Container. Gedankenverloren quetschte sie sich daran vorbei und betrat den Hausflur ihres Wohnhauses. Erregte Stimmen schallten ihr entgegen. Bitte nicht auch noch hier weitere Katastrophen, dachte sie. Das ertrage ich nun wirklich nicht.
Der stille Herr Brahm aus dem Erdgeschoss stand vor seiner Tür und diskutierte aufgebracht mit einem Mann im dunklen Anzug. Dieser trug eine Aktenmappe unter dem Arm und wedelte mit einem Blatt Papier herum. Bei Maries Anblick schrie Herr Brahm auf. »Ha, gut, dass Sie kommen. Sie glauben ja gar nicht, was hier los ist! Sie wollen uns das Wasser abstellen, für ganze vier Wochen. Und soeben hat man mir ein Schreiben übergeben. Darin steht, was meine Wohnung nach der Sanierung kosten soll. Das müssen Sie sich mal anschauen, alles Verbrecher sind das. Jawohl, Halunken und Verbrecher, ich werde mich an die Zeitung wenden.« So aufgebracht hatte sie den Herrn aus dem Erdgeschoss noch nie erlebt. Eigentlich nickte Herr Brahm ihr immer nur schweigend zu und schlich ohne ein Wort an ihr vorbei.
Der Herr im dunklen Anzug lächelte dagegen dezent und meinte schließlich: »Das können Sie gerne tun, Herr Brahm, das steht Ihnen frei.« Dann sah er Marie an. »Und Sie sind, nehme ich mal an, Frau Sander aus der ersten Etage? Gut, dass ich Sie auch noch antreffe. Ihr Sohn öffnete mir schon die Tür und meinte, Sie wären dienstlich unterwegs. Ich habe hier ein Schreiben für Sie. Lesen Sie sich alles in Ruhe durch.« Er sprach so salbungsvoll wie ein Pfarrer von der Kanzel. Dem entgegen stand sein Gesichtsausdruck; wie ein Frettchen sah er sie an und schien sich innerlich köstlich zu amüsieren.
»Und Sie sind wer, bitte?«, fragte Marie und bemühte sich, Herrn Brahm zu ignorieren, der neben ihr stand und sich die Haare raufte. Der Inhalt des Briefes schien also mehr als brisant zu sein.
»Mein Name ist Kleist, Dr. Robert Kleist, ich vertrete den neuen Hausbesitzer.« Er reichte ihr einen Umschlag und wandte sich dann zum Gehen.
Marie hielt ihn am Arm zurück. »Und Sie wollen uns also einfach so das Wasser abdrehen?«
»Nicht einfach so.« Erneut lächelte er. »Wir teilen es Ihnen ja vorab mit. Im Rahmen der Sanierungsarbeiten ist dies nun einmal erforderlich, und wir halten uns selbstverständlich an alle Vorschriften. Sämtliche Wasserleitungen sind marode und müssen ausgetauscht werden. Wie soll man das machen, ohne das Wasser abzudrehen? Aber keine Angst, wir haben für alles gesorgt. Es wird Ihnen Wasser zur Verfügung gestellt in Form eines Tankwagens vor dem Haus. Alles Weitere finden Sie in dem Umschlag, und bei Rückfragen dürfen Sie uns jederzeit anrufen.« Er sah auf seine Uhr. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe noch weitere Termine.«
Ohne ein weiteres Wort verließ er das Haus. Herr Brahm sah sie an und schluckte. »Das war’s, nun ist es endgültig zu viel. Ich suche mir eine neue Wohnung, und fertig. Nie im Leben kann ich mir die erhöhte Miete leisten, niemals. Und dann noch die Umbauarbeiten, das packe ich nicht.« Langsam zog er die Tür hinter sich zu.
Wie erschlagen stieg Marie die Treppe empor. Vom halben Absatz sah sie etwas Rosafarbenes leuchten. Ruth saß auf einem kleinen Hocker vor ihrer Tür und hatte das gesamte Gespräch von oben belauscht. Angesichts ihrer kummervollen Miene war es um Marie geschehen. Sie blieb einfach stehen und brach in Tränen aus.
»Was für eine verdammte Scheiße ist das? Kann nicht einmal in meinem Leben alles klargehen? Kann nicht irgendwann mal etwas funktionieren, so wie bei anderen Leuten?«, klagte sie und versuchte krampfhaft, Luft zu holen.
Ruth schwieg, quälte sich dann ächzend empor und sagte: »Komm erst mal rein. Ich koche uns einen Kaffee, und ein Stück Kuchen ist auch noch da.«
Kaffee, Kuchen – als ob davon alles gut werden würde. Dennoch folgte Marie ihrer Nachbarin nach drinnen und setzte sich in deren Küche. Mit zitternden Händen goss Ruth die Tassen voll und stellte einen Teller mit Rührkuchen mittig auf den Esstisch.
»Nun erzähl doch mal, hast du den Auftrag?« Mit leuchtenden Augen schaute sie Marie an.
Diese nickte. »Ja, aber er nützt mir nichts mehr.« Dann brachte sie Ruth auf den neuesten Stand. Angesichts der letzten Entwicklungen schlug ihre Nachbarin die Hände vors Gesicht und sah sie erschrocken an. Dann wackelte sie mit dem Kopf und nahm sich ein Stück Kuchen. »Und dennoch hat es etwas Gutes. Stell dir vor, die Bude wäre eingefallen, während du noch drin gewesen wärst.«
Marie lachte sarkastisch auf. »Dann wäre wenigstens Ruhe, und ich hätte eine Sorge weniger.«
Energisch ergriff Ruth ihre Hand. »Marie, so etwas darfst du nicht sagen. Niemals, hörst du? Du hast Kinder, eine Verantwortung, hast noch ein langes Leben vor dir. Es geht immer irgendwie weiter, glaub mir. Ich bin sicher, wir finden einen Weg.«
»Das mag schon sein, aber momentan fällt mir das positive Denken etwas schwer. Rügen und diesen Auftrag für Langenow kann ich mir jedenfalls abschminken. Das war’s. Morgen werde ich Frau von Greifenberg anrufen und alles absagen.« Marie blickte deprimiert auf ihren Teller und pickte Krümel mit ihrem Zeigefinger auf. Erst nach geraumer Zeit bemerkte sie, dass im Raum Stille herrschte. Ruth sah gedankenverloren aus dem Fenster und schien ihre letzten Worte nicht gehört zu haben. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als wäre sie an einem anderen Ort.
»Ruth, ist alles in Ordnung bei dir?«
Die ältere Frau zuckte zusammen und sah Marie verträumt an. »Was sagtest du gerade, wie heißt dieser Ort auf Rügen?«
»Langenow, dort steht das Gutshotel, für das ich die Keramik machen soll.«
»Langenow.« Erneut blickte Ruth versonnen nach draußen. »Diesen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört. Schon viele, viele Jahre nicht mehr.«
»Du kennst den Ort?« Nun war es an Marie, erstaunt zu schauen.
»Ja, ich kenne ihn, sogar sehr gut.« Wieder driftete Ruth in ihre Traumwelt ab.
Marie trank nach einer Weile ihre Tasse leer und beschloss, zu ihren Kindern hinüberzugehen. Irgendwie wurde Ruth langsam ein wenig wunderlich. Selbst auf ihre Abschiedsworte reagierte sie kaum und nickte nur abwesend.
Auf dem Flur kam Ole ihr bereits entgegen. »Mama, was war denn los? Ich hab’ Herrn Brahms unten streiten hören, und da war vorher noch ein Mann, der zu dir wollte. Ich hab’ gesagt, du bist unterwegs.«
Marie strich ihm über den Kopf. »Jaja, schon gut. Es ist alles in Ordnung. Ist Til da?«
Ole schüttelte den Kopf. »Der ist Fußball spielen.«
»Und Karo, ist die in ihrem Zimmer?«
Ihr Sohn schüttelte erneut den Kopf. Vielleicht war sie zu ihrem Vater gefahren, um sich auszuheulen, dachte Marie und schlüpfte erst mal in bequeme Sachen.
Dann widmete sie sich anderen Dingen und kam erst am späten Abend dazu, den ihr heute Nachmittag übergebenen Umschlag zu öffnen. Alle Kinder lagen in ihren Betten. Gegen sieben war Karo endlich aufgetaucht, hatte ihre Mutter mit Missachtung gestraft und war augenblicklich in ihrem Zimmer verschwunden. Marie ließ sie in Ruhe, spätestens morgen würde ihre Tochter sich wieder beruhigt haben.
Zum Glück sprudelte das Wasser seit heute Nachmittag wieder aus der Leitung. Marie kochte sich eine Tasse Tee und setzte sich dann in ihren gemütlichen Lesesessel neben dem Fenster. Behutsam fuhr sie mit dem Finger unter den Falz des Briefes und entnahm einige Seiten Papier. Zuerst teilte man ihr den weiteren Ablauf der Sanierungsarbeiten mit. Wenn Marie alles richtig verstand, würde hier kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Auch das Innere des Hauses sollte umgestaltet werden, zum Beispiel für einen Fahrstuhl. Jahrelang waren die Leute so in die oberen Etagen gekommen, aber nun ging es anscheinend einfach nicht mehr ohne.
Dann kam der überarbeitete Mietvertrag. Marie überflog die meisten Posten nur flüchtig und schaute stattdessen auf die Zahlen, die rechts unten in der Ecke standen. Die neue Miete war so horrend, dass es ihr die Luft nahm. Die Papiere sanken in ihren Schoß. Was sollte nun werden?
Marie schlich zu ihrem Bücherregal und tastete auf einem der oberen Regalbretter nach einer Flasche Weinbrand, die etwas verborgen hinter den Büchern stand. Normalerweise trank sie kaum Alkohol, aber jetzt brauchte sie unbedingt einen Schnaps. Sie goss sich das Glas voll, nahm die Flasche gleich mit und trat auf ihren winzigen Balkon hinaus. Der Blick fiel Richtung Innenhof. Da war der kleine Spielplatz, den alle Anwohner vor vielen Jahren zusammen gebaut hatten. Dort die alte Kastanie, unter der sie in manchen lauen Sommernächten gesessen und gegrillt hatten. Seitlich standen die Mülltonnen, die mittlerweile aus Kunststoff waren. Früher hatten die Jungs gegen die alten Blechbehälter immer Fußballzielschießen gemacht. So manches Fenster war dabei zu Bruch gegangen.
Seufzend setzte Marie sich auf ihren Klappstuhl und ließ den Blick schweifen, während sie vorsichtig an ihrem Glas nippte. Der Schnaps war scharf und brannte in ihrer Kehle. Langsam machte er sich auf den Weg Richtung Magen und hinterließ eine brennende Spur. Doch nach einigen Minuten breitete sich ein wohliges Gefühl in ihrem Bauch aus. Das Gefühl war so angenehm, dass Marie sich noch ein zweites Glas einschenkte. Denn wie schon ihr Opa immer gesagt hatte: Auf einem Bein konnte man nicht stehen.
Genau gegenüber saß ein verliebtes Pärchen auf seinem Balkon und knutschte so heftig, dass es alles um sich herum vergessen hatte. Ohne es zu wollen, musste Marie einfach hinschauen. Knutschen, jemanden haben, der einem zuhörte oder einen mal in den Arm nahm, das wäre schön. Gerade jetzt, an diesem beschissenen Tag, hätte sie sich ein wenig Zuspruch gewünscht. Kater Felix strich um ihre Beine und holte sich seine abendliche Streicheleinheit ab. »Wenigstens du kommst zum Kuscheln«, flüsterte sie und kraulte ihrer Katze den Bauch. Genießerisch ringelte sich das Tier auf ihrem Schoß zusammen und schnurrte.
Das Pärchen gegenüber knutschte immer noch hingebungsvoll, doch plötzlich schien der Frau die stierende Besucherin auf dem Balkon gegenüber aufgefallen zu sein. Die beiden warfen sich einen scheelen Blick zu, flüsterten miteinander und gingen dann nach drinnen. Was sie jetzt wohl dachten? Einsame Frau, Alkoholikerin, und eine Spannerin ist sie auch noch.
Marie war alles egal. Einen kurzen Moment war sie geneigt, sich noch ein drittes Glas Schnaps einzuschenken, ließ es dann aber. Morgen brauchte sie einen klaren Kopf. Als Erstes musste sie Susanne von Greifenberg anrufen und den Vertrag stornieren, denn eine andere Lösung fiel ihr nicht ein. Schon bei dem Gedanken daran kamen ihr die Tränen. Doch je eher sie diesen Schritt machte, desto besser.
Sie schloss die Balkontür hinter sich und drehte eine kleine Runde durch die Kinderzimmer. Während Til schon friedlich in seinem Bett schnarchte, erwischte sie Ole, wie dieser hastig seine Taschenlampe löschte und unter der Decke versteckte. Marie setzte sich auf seine Bettkante und zog das dicke Buch unter der Decke hervor. »Schluss jetzt mit Lesen. Morgen musst du wieder zeitig aufstehen. In einer Woche sind Ferien, da darfst du abends ein wenig länger schmökern.«
Ole nickte und ergriff ihre Hand. »Müssen wir ausziehen, Mam?«, flüsterte er leise und warf einen Blick auf das Bett über ihm. Doch Til schnarchte unbeeindruckt weiter. »Können wir uns die Miete nicht mehr leisten?« Unsicher sah er sie an.
Marie versuchte eine möglichst entspannte Miene auf ihr Gesicht zu zaubern und unterdrückte die Angst. »Das werden wir sehen. Jetzt wird erst mal geschlafen, und morgen sieht alles schon ganz anders aus. Mach dir keine Gedanken, wir kriegen das schon irgendwie hin. Wir sind doch die vier Musketiere.« Sie gab ihrem Sohn noch einen Kuss auf die Stirn und ging dann zu Karos Zimmer.
Ihre Tochter lag auf dem Bett und drehte ihr betont kühl den Rücken zu. Wie immer hatte sie ihre obligatorischen Stöpsel in den Ohren und schien Musik zu hören. »Schlaf gut, Karo«, sagte Marie und trat einen Schritt auf sie zu. Die Antwort war nur ein undefinierbares Grummeln, also hatte ihr Kind sie gehört, wollte aber nicht groß reagieren. Dennoch strich sie Karo behutsam über den Kopf und verließ dann langsam den Raum.
Allmählich schlenderte sie durch die stille Wohnung und sah sich um. Es war Marie unvorstellbar, ihr kleines Reich aufzugeben. An allem, was sie ansah, hingen so viele Erinnerungen. Sie wollte gerade im Bad verschwinden, als es an der Wohnungstür klopfte. Marie sah auf ihre Uhr, es war gleich halb elf. Wer konnte das noch sein?
Eine flüsternde Stimme ertönte durch den Briefschlitz. »Marie, Marie, bist du noch wach? Ich bin es, Ruth.«
Ruth? Was wollte ihre Nachbarin um diese Zeit? Eigentlich wollte Marie nur noch schlafen, ihre Ruhe haben. Doch normalerweise ging Ruth immer um neun ins Bett. Wenn sie um diese Zeit noch wach war, konnte das nur eins bedeuten: Irgendwas war passiert, vielleicht hatte sie wieder einen Herzanfall oder andere gesundheitliche Probleme.
Aber als Marie die Tür öffnete, stand ihre Nachbarin putzmunter und mit einem großen Karton voller Papiere unter dem Arm vor ihr. Von gesundheitlichen Problemen konnte gar nicht die Rede sein. Denn Ruths Augen strahlten und ihre Wangen waren gerötet.
»Darf ich reinkommen?«, flüsterte sie. Marie hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, es ist schon spät, aber trotzdem«, sagte Ruth eindringlich. »Wenn es nicht so wichtig wäre, hätte ich nicht geklopft. Ich habe eventuell die Lösung für alle unsere Probleme, für deine und für meine.«
Marie seufzte innerlich. Wo sollte die alte Frau denn so plötzlich eine Lösung hergezaubert haben? Da brauchte es schon einen Lottogewinn, um ihr aus der Patsche zu helfen. Doch die Begeisterung ihrer Nachbarin war so groß, dass sie schließlich einen Schritt beiseitetrat und sie einließ.
Beide setzten sich an den Küchentisch und Marie schaute ihre Freundin mit einer Mischung aus Neugier und Resignation an. »Na, erzähl schon, was ist die Lösung für all unsere Probleme?«, fragte sie leise.
Triumphierend wühlte Ruth in der Schachtel und schob Marie schließlich ein verblichenes, schwarz-weißes Foto über den Tisch hin. Diese schaute sich das Bild an und verstand nur Bahnhof. Man sah ein altes Haus – das Dach reetgedeckt, obendrauf ein schiefer Schornstein, mit einem verwitterten Zaun davor. Büsche wucherten in einem ungepflegten Garten vor sich hin. Die Ecken der Fotografie waren abgegriffen, sogar ein Riss, den man notdürftig mit Tesafilm geklebt hatte, war erkennbar. Wo sich darin die Lösung für all ihre Probleme befinden sollte, war Marie vollkommen unklar. Sie tastete nach dem Lichtschalter und die Lampe über dem Tisch flammte auf. Doch auch bei näherer Betrachtung blieb das Foto ein verblichenes Foto mit einem Haus darauf. Fragend schaute sie Ruth an.
Diese lachte und zog einen dicken Umschlag aus ihrem Karton. »Es war mir irgendwie entfallen; erst heute Nachmittag, als du dein neues Projekt erwähntest, fiel es mir wieder ein.«
»Und was fiel dir wieder ein? Ruth, sei mir nicht böse, mein Tag war echt beschissen. Können wir das nicht morgen besprechen?«
»Nein, deswegen bin ich doch gekommen. Dieses Haus da, das du auf dem Bild siehst, es gehört mir. Ich habe es geerbt, und zwar von meiner Tante Dora.« Triumphierend sah Ruth sie an. »Also eigentlich haben es mehrere Personen geerbt, aber ich bin die Letzte von uns allen, die noch lebt. Kinder hatte keiner – es gehört also mir. Zuletzt hat mein Cousin Walter darin gewohnt, aber der ist vor einem halben Jahr gestorben. Ein wunderlicher Kerl, sehr wortkarg und ein wenig seltsam, wenn du mich fragst. Wir hatten nicht das beste Verhältnis und ich wollte von seinen ganzen Angelegenheiten gar nichts wissen. Er war Zeit seines Lebens ein Spinner und hat sich von unserer Familie immer distanziert. Deswegen habe ich auch die Briefe nicht geöffnet, die ich vor einigen Wochen bekommen habe. Aber vorhin habe ich sie aufgemacht und gleich anschließend ein ausführliches Telefonat mit diesem Notar da geführt.« Sie deutete auf mehrere ziemlich amtlich aussehende Papiere.
»Aha.« Marie betrachtete das Foto und war langsam der Ansicht, dass nicht nur dieser Cousin etwas seltsam war, sondern auch Ruth. Ihr war vollkommen unbegreiflich, was sie mit diesem Haus wollte.
»Ich bin also Hausbesitzerin, das ist schon mal toll. Aber das ist noch nicht das Wichtigste, das kommt nämlich jetzt.« Ruth suchte ein weiteres Foto aus den Papieren heraus und Marie wappnete sich bereits innerlich für die nächste Katastrophe. Vor ihr lag die Fotografie eines etwas neueren Nebenhauses. Sie erkannte mehrere große Fenster und zwei Eingangstüren. Eine führte zum Hof, die andere direkt in einen kleinen Vorgarten. Noch immer verstand sie nur Bahnhof und sah ihre Nachbarin fragend an.
Ruth verdrehte die Augen. »Verstehst du denn nicht? Wäre dieses Nebenhaus nicht perfekt, um darin eine Töpferwerkstatt mit Verkaufsraum einzurichten? Keine Ahnung, was zuletzt darin war, aber die Räume sind groß genug dafür. Da bin ich ganz sicher.« Triumphierend lehnte sie sich zurück und schnappte nach Luft. »Hast du vielleicht mal ein Wasser für mich?« Aufgeregt fächelte sie sich mit einem Blatt Papier Luft zu.
Marie griff in den Selterskasten, bis ihr einfiel, dass sie die letzte Flasche heute Morgen verwendet hatte, um ihre Haare zu spülen. »Ich koch’ uns mal einen Tee.« Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sich das nächtliche Gespräch noch eine Weile hinziehen würde.
Minuten später setzte sie sich wieder zu ihrer Nachbarin und sah das Foto genau an. Das Nebenhaus musste tatsächlich relativ geräumig sein und die großen Fenster durchfluteten es sicher mit viel Licht. »Gut, dir gehört also ein Haus, mit einem Nebengebäude. Aber was hat das mit mir zu tun?«