Inselträume - Hannah Roitzsch - E-Book

Inselträume E-Book

Hannah Roitzsch

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Beschreibung

Was macht man als Teenager, wenn die ganze Welt von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt wird? Richtig, man rebelliert. Das denkt sich auch die fünfzehnjährige Elizabeth, als sie von London nach Galway umziehen soll. Nie hätte sie gedacht, welche Abenteuer in Irland auf sie warten, und dass Veränderungen nicht immer etwas schlechtes bedeuten müssen...

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Seitenzahl: 235

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Für meine Eltern, Lilly, Hanna und Elisa, die diese Geschichte als Erste hörten.

Inhaltsverzeichnis

Rendezvous mit dem Teufel

Eine Menge Neuigkeiten

Eine Nacht zum Verlieben

Alles vorbei?

Eine Hütte am Meer

Neue Bekanntschaften

Der Christliche Pfandfinder Club

Schicksalsspiel

Herzschmerz und andere Brüche

Wenn es am schönsten ist

Neuanfang

Ein etwas anderer Geburtstag

Hier und jetzt

Epilog

Rendezvous mit dem Teufel

Als ich am Dienstagmorgen vom Schulbus zur Schule lief ahnte ich noch nicht, was heute alles passieren sollte. Ahnte nichts von den Ereignissen, die auf mich zukamen, und die mein ganzes Leben auf den Kopf stellen sollten. Es war eben ein ganz normaler Schultag, grau, verregnet, nass.

Auch an der Glastür, durch die ich jetzt trat, war nichts Ungewöhnliches. Sie gehörte einfach an die Saint Lennox High School wie der Big Ben nach London. Oder ich ins Bett, zumindest um diese Uhrzeit. Das wurde mir mal wieder bewusst, als ich, ganz in Gedanken, in einen dunkelblauen Mantel hineinlief und zu allem Überfluss auch noch meinen Kaffee verschüttete. Sofort nahm der graue Linoleumboden die Farbe von – nun ja, Kaffee eben an.

Ich rappelte mich stöhnend hoch, um mich bei dem Besitzer des Mantels zu entschuldigen. Und plötzlich schien sämtliches Blut aus meinem Körper in mein Gesicht zu schießen, denn ich realisierte, wen ich da gerade umgerannt hatte: Ausgerechnet Lucifer, den süßesten Jungen der gesamten Schule. Er wurde von Mädchen jeglicher Jahrgangsstufen vergöttert, auch die Oberstufenschülerinnen warfen ab und an ein Auge auf ihn.

Ein Teufel war er in zweifacher Hinsicht. Er sah einfach unbeschreiblich gut aus, mit seinem cool gestylten Haar und den leuchtend grünen Augen. Darüber hinaus verfügte er über eine ebenso scharfe Zunge, mit der er nur zu gerne kleine, gaffende Schüler zur Schnecke machte. Ich stammelte eine hastige Entschuldigung und hastete dann den Gang entlang zu unserem Klassenraum.

Dort tobte die Vorstufe der Hölle: Schüler und Schülerinnen rannten umher, schrien quer durchs Zimmer oder bekritzelten Tafel und Mobiliar. Kopfschüttelnd blieb ich im Türrahmen stehen und betrachtete das Treiben der Neuntklässler. Ihr Verhalten glich eher dem von Kindergartenkindern, fand ich. Da drang durch den Tumult eine Stimme zu mir hinüber: „Lizzy! Endlich!“ Die Stimme gehörte niemand anderem als meiner allerbesten Freundin, Katherine Roberts, oder einfach Kat. Ich zwängte mich durch das Chaos zu ihr, und sie fiel mir um den Hals. Sofort kämpfte ich mich los und sah sie vorwurfsvoll an. Von allzu engem Körperkontakt war ich kein Fan, und das wusste Kat auch. „Sorry, Liz! Aber ich hätte es keine Sekunde mehr ohne dich ausgehalten. Echt, die reinste Hölle hier!“, keuchte sie jetzt. Ich nickte lebhaft, während ich meine Bluse, die leider zur Pflichtuniform der Schule gehörte, glatt strich. Dann ließ ich meinen Blick durch das Zimmer wandern und stöhnte auf. „Ja, Hölle passt! Hier kommt auch schon der Teufel!“

In der Tür stand Mr. Charlston, der Lehrer, den Kat und ich am wenigsten leiden konnten. Mit seiner monotonen Stimme konnte er jeden Schüler einschläfern, und er war gleichzeitig so zynisch und gemein, dass ich in den Unterstufenklassen immer panische Angst vor ihm gehabt hatte. Und als wäre das nicht genug unterrichtete er auch noch Physik, was meines Erachtens eine Erfindung zum Schülerquälen war. Ich konnte tun, was ich wollte, ich bekam diese Regeln und Formeln und was nicht noch einfach nicht in meinen Kopf. Und wenn dann noch jemand wie Mr. Charlston der Lehrer war, konnte man den Klassenraum gut und gerne als Folterkammer bezeichnen. Was Kat im Übrigen sowieso tat, ob mit Physik oder ohne.

In der Mittagspause stand ich, wie alle anderen auch, in der Schlange in der Cafeteria an, als mir plötzlich jemand auf den Rücken tippte. Ich fuhr herum und wäre am liebsten unsichtbar geworden- es war Lucifer. Er stand ganz lässig da und grinste, sodass ich nicht umhinkonnte, seine ausgeprägten Muskeln und das hübsche Gesicht zu betrachten.

Doch dann fiel mir schlagartig auf, wie bescheuert ich aussehen musste, und ich gab mir einen Ruck: „Ähm… hi. Ich wollte nur nochmal, also… das mit heute Morgen… ja, also… ich… Entschuldigung.“ Meine Stimme klang fast ein bisschen heiser und aus meinem zusammenhanglosen Gestammel konnte man auch nicht wirklich schlau werden. Peinlich berührt biss ich mir auf die Lippe, doch Lucifer lachte bloß. „Hey, entspann dich! Das mit dem Kaffee ist schon okay. Ich fand´s ehrlich gesagt ganz süß.“ „Süß?“ Er lachte über mein fassungsloses Gesicht. „Ja, vor allem, wie du weggerannt bist. Als wäre der Teufel hinter dir her!“ Jetzt musste auch ich lachen. „Ja, war er auch! Ich hätte bestimmt Nachsitzen bekommen! Physik!“, fügte ich nachdrücklich hinzu. „Ich mag Physik! Ich könnte dir Nachhilfe geben“, schlug er, ohne das Grinsen einzustellen, vor. Aber ich schüttelte entsetzt den Kopf: „Um Himmels willen! Die zwei Stunden pro Woche sind schon zwei zu viel!“ Wir lachten beide, und er berührte kurz meine Hand. Himmel, was tat ich denn da?! Ich stand hier in der Cafeteria und hielt Smalltalk mit dem begehrtesten Jungen der Schule, als sei es das normalste der Welt! Ich musste verrückt sein!

Innerlich bereitete ich mich auf ein „Sorry, aber ich muss los“ vor, als er plötzlich meinte: „Ich würde gerne mal was mit dir machen.“ Ganz locker sagte er das, fast unbeteiligt, doch in meinem Magen begannen Schmetterlinge, zu tanzen und Gedanken fuhren in meinem Kopf Karussell. Das hatte er nicht gesagt! Lucifer hatte mich nicht gerade indirekt um ein Date gebeten! Das konnte gar nicht sein! Ich glotzte ihn, zugegeben, wenig intelligent, aus aufgerissenen Augen an. Jetzt schien auch er ein bisschen verunsichert, zum ersten Mal sah ich das Grinsen schwinden. „Also, ich meine…, wenn du nicht willst, dann…“ Ich riss mich zusammen und beeilte mich, zu antworten: „Doch! Doch ich würde unglaublich… also, sehr gerne!“ Gespannt hielt ich den Atem an, als Lucifer augenblicklich wieder zu grinsen begann. „Hey, cool! Sagen wir… halb fünf im Hyde Park?“ Ich nickte nur. „Super! Dann bis dann!“

Ich starrte ihm hinterher, als hätte ich einen Geist gesehen. Da riss mich eine scharfe Stimme aus meinen Gedanken: „Hallo, du! Du bist dran!“ Es war die Küchenhilfe. Ich zuckte zusammen und reichte ihr mein Tablett. Als es mit Essen beladen war, ging ich zum Ecktisch, wo Kat bereits saß und Kartoffelsuppe löffelte. Ihrem Gesicht nach zu urteilen schmeckte es ihr nicht besonders, was weiter kein Wunder war, denn bis auf freitags war das Essen hier immer nicht so lecker. Wir mutmaßten schon, dass freitags eine andere Köchin kochte, eine, die den Schülern keine Lebensmittelvergiftung zumuten wollte.

Aber das Schulessen war momentan meine kleinste Sorge. Leicht außer Atem stellte ich mein Tablett auf den Tisch, den Kat und ich schon in unserer ersten Woche zu unserem Stammplatz erkoren hatten. Dann setzte ich mich und begann, zu essen. Wie erwartet schmeckte es nicht gerade gut, zudem schien mein Magen ohnehin von einem Schwarm Schmetterlinge besiedelt. Ich legte den Löffel also wieder weg und wartete, bis Kat den letzten Löffel Suppe gegessen hatte. Sie wischte sich über den Mund und schüttelte sich leicht. „Puh, wenn ich nicht so furchtbar Hunger gehabt hätte, hätte ich es gemacht wie du.“ Sie deutete auf meinen fast unberührten Teller. Ich nickte.

Als wir unsere Gedecke abgeräumt hatten, waren noch zehn Minuten der Pause übrig. Also gingen wir auf den Schulhof. Aber anstatt wie sonst zu unserem Lieblingsplatz, der Bank unter der Kastanie, zu gehen, zog ich Kat zu den alten Schultoiletten. Sie sah mich fragend an. „Liz, geht es dir gut? Du bist ganz blass.“ Ich holte tief Luft. „Lucifer hat mich gerade um ein Date gebeten!“ Kat riss die Augen auf. „Ernsthaft?!“ Ich nickte bloß. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Wow, Liz! Dein erstes Date!!“ „Ja!“, rief ich. Kat fiel mir um den Hals, und diesmal schüttelte ich sie nicht ab. Ich war innerlich viel zu aufgewühlt. Kat und ich sprangen quietschend wie kleine Kinder auf und ab. Manche Schüler, die vorbeigingen, schauten uns befremdet an. Aber das war uns egal, das heißt, mir war es egal. Kat war ja sowieso nie etwas peinlich. Das Läuten riss uns aus unserer kindischen Hüpferei.

Ich schaute auf die Uhr und stöhnte. Erst drei! Und jetzt hatten wir auch noch Kunst bei Mrs. Stone, einer kleinen, rundlichen Frau, die aussah wie eine Schildkröte. Sie trug immer farbbekleckste Jeans und Shirts, die Haare meist in einem messy Dutt. Eigentlich hätte sie ganz cool sein können, wenn sie nur nicht immer mit uns reden würde, als wären wir erst drei. Heute würden wir glücklicherweise ein neues Thema anfangen, die letzten Wochen hatten wir damit zugebracht, aus Ton irgendwelche Figuren zu formen. Ich, als feinmotorisch unbegabt geltend, hatte mich an einem Hund versucht, der mehr aussah wie eine zu dünn geratene Kuh. Darum war ich heilfroh, dass wir jetzt aufgefordert wurden, Zeichenblock und Wasserfarbkasten zu holen. Schlimmer als Ton konnte es ja sowieso nicht werden.

Konnte es doch. Eine halbe Stunde später saßen Kat und ich, vollkommen entnervt, vor unseren Blöcken. „Um Himmels willen, wozu braucht man das??“, wollte Kat wissen. Ihre Haare standen in allen möglichen Richtungen von Kopf ab und sie hatte einen braunen Fleck auf der Wange. Auch ich sah unzufrieden auf mein Blatt und das halbfertige Bild darauf, das ein Baum werden sollte. Er war unregelmäßig und viel zu schief, ich hätte ihn mit Bleistift vorzeichnen sollen. Doch unsere Lehrerin hatte darauf bestanden, dass wir sofort losmalten. „Ihr müsst die Magie der Farben nutzen, meine Lieben! Lebt eure Kreativität!“ Ich seufzte. Im Zweiminutentakt sah ich auf die Uhr und rechnete aus, wie lange es bis zu meinem Date mit Lucifer war. Die Zeiger schienen nur so über das Ziffernblatt zu kriechen, aber dann war auch der Kunstunterricht endlich geschafft.

Ohne auf meinen mehr oder weniger ordentlichen Baum zu achten quetschte ich den Block in den Kunstschrank und warf meine Weste über. Kat und ich drängten uns aus dem Schulgebäude. Draußen nahm meine Freundin meine Handgelenke. „Also, Liz. Toi, toi, toi und viel Spaß! Du musst mir unbedingt alles erzählen!“ Ich nickte und versprach es ihr. Dann sauste ich los, damit ich den frühen Bus noch bekam.

Als ich schließlich keuchend zwischen zwei Fünftklässlerinnen eingequetscht im viel zu vollen Bus stand, wanderten meine Gedanken wieder zu Lucifer. Er war an unserer Schule sicher so beliebt wie mancher Popstar. Denn zu seinem umwerfenden Aussehen konnte er auch noch unglaublich gut Football spielen und er war der Held der Mannschaft. Er hatte Scharen von Fans und Bewunderern, hunderte Mädchen himmelten ihn an. Er hätte jede, wirklich jede haben können und entschied sich für mich! Ich konnte es noch immer nicht fassen. In unserer Klasse waren praktisch alle, die nicht in festen Händen waren, in ihn verliebt. Bei dem Gedanken an ihre Gesichter, wenn sie davon erfuhren, musste ich grinsen. Nach etwa fünfzehn Minuten Fahrt stieg ich aus. Auf den letzten fünf Minuten Fußweg überlegte ich, was ich zu unserem Date anziehen sollte. Ich wollte hübsch aussehen, aber nicht aufgebrezelt wirken.

Zuhause rief ich ein allgemein gemeintes Hallo in den Flur. Ich erhielt keine Antwort. Ach ja, es war ja Dienstag. Meine Mum arbeitete heute noch länger als sonst und Julia, meine ältere Schwester, hatte Mädelsnachmittag in der City. Umso besser, dann konnte ich lange ins Bad und keiner fragte mich über Schule und Hausaufgaben aus.

Ich beeilte mich, in mein Zimmer zu kommen. Während ich die knarzende Holztreppe hochlief strichen meine Finger sanft über das schon reichlich verkratzte Geländer. Der Lack war an einigen Stellen abgeplatzt und er hatte viele Risse. Besonders nobel und luxuriös war es vielleicht nicht bei uns, aber auf alle Fälle gemütlich. Schwungvoll riss ich meine Zimmertür auf. Ein großes Foto begrüßte mich von der Dachschräge. Es zeigte Kat und mich im London Eye, beide eine Cola in der Hand, im Hintergrund glitzerte die Themse. Es war einer der wenigen sonnigen Londoner Tage gewesen.

Lächelnd betrat ich den Raum. Er war ziemlich klein, so wie jedes Zimmer in unserem Apartment. Ja, reich waren wir nicht, unsere Mutter war alleinerziehend und arbeitete praktisch den ganzen Tag, um über die Runden zu kommen. Viele Extras waren da nicht drin. Aber mir gefiel es so. Auch mein Zimmer würde ich nicht gegen irgendeine Luxusvilla eintauschen. Ich mochte die Blümchentapete und das große Bett unter der Schräge, auf dem sich bestimmt zehn Kissen häuften. Am Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem meine Mathe Hausaufgaben darauf warteten, gemacht zu werden. Aber im Moment hatte ich wirklich andere Sorgen. Ich riss den Kleiderschrank auf und kramte mich durch jedes der gefühlten zehntausend Kleidungsstücke.

Nach einer Viertelstunde hatte ich mir ein Outfit zusammengesucht. Dann ging ich erst mal ins Bad, um zu duschen und die Zähne zu putzen. Nachdem ich meine Haare trocken geföhnt hatte, fielen sie mir etwa bis zu Brust, hellbraun und glatt. Ich schlüpfte in die hellblaue Bluse und die engen Jeans. Dann nahm ich noch die Silberkette auf der in silbernen Lettern geschwungen „Elizabeth“ stand. Ich hatte sie zur Taufe bekommen. Dann ging es ans Styling. Mit meinem Haar konnte ich nicht allzu viel machen, zum Flechten war ich schlicht nicht geduldig genug. Also nahm ich die vordersten Strähnen, fasste sie nach hinten und machte sie mit einer Blümchenspange zusammen. Ich trug sogar etwas Make-Up auf, was ich normalerweise nicht tat. Aber etwas Wimperntusche und Lipgloss konnten sicher nicht schaden. Zu guter Letzt packte ich Handy, Geldbeutel und Schlüssel in meine kleine, blaue Tasche und schlüpfte in meine Sneakers. Dann sah ich auf die Uhr. Viertel nach vier. Perfekt. Ich hinterließ eine kurze Notiz für meine Mum und machte mich auf den Weg zum Hyde Park.

Die Vögel zwitscherten über meinem Kopf und am Wegesrand zeigte sich hier und da schon das erste Frühlingsgrün. An Bäumen und Büschen begannen die Knospen langsam aufzugehen und in den mehr oder weniger gepflegten Beeten wuchsen erste Schneeglöckchen und Krokusse. Ich passierte das in die Erde gerammte Schild mit der Aufschrift „Hyde Park, London“ und schaute mich suchend um. Blöd, dass Lucifer und ich nicht ausgemacht hatten, wo genau wir uns treffen wollten. Aber noch waren es auch fünf Minuten und ich nutzte die Zeit, um mich ein wenig umzusehen.

Einige Männer und Frauen liefen mit Hunden über die Sandwege, ab und an schob eine Mutter einen Kinderwagen vorbei. Ab und zu auch ein Vater. Kleine Kinder tollten lachend und schreiend umher, und einige besonders motivierte Jungs hatten sich aus Stöcken Fußballtore gebastelt. Sie rannten über die Wiesen und jagten einem nicht mehr sehr sauberen Ball hinterher.

Es war erst Anfang März und das Gras ziemlich feucht. Aus einem romantischen Picknick würde also nichts werden, stellte ich seufzend fest. Die meisten Pärchen tummelten sich am riesigen Springbrunnen, der das Zentrum des Parks bildete. Und gerade als ich überlegte, was Lucifer und ich am besten machen könnten, rief jemand hinter mir: „Hey, ähm…“ Ich fuhr herum und erkannte Lucifer. Sofort begannen meine Wangen zu glühen und die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten wieder. „Hey“, sagte ich, während ich zu ihm hinüberging. Da fiel mir auf einmal siedend heiß ein, dass ich mich ihm ja noch gar nicht vorgestellt hatte! Die Röte auf meinem Wangen vertiefte sich etwas, als ich sagte: „Ach so, ähm, ich habe heute Morgen ganz vergessen dir zu sagen, wie ich heiße. Ich bin Elizabeth, aber sag ruhig Liz, das ist nicht so ein Zungenbrecher und klingt auch einfach besser, also, hast du irgendwelche Pläne, was wollen wir machen?“ Diese Sätze sprudelten im Rekordtempo aus mir heraus und Lucifer sah kurz ziemlich überfordert aus. Und echt süß, wie ich zugeben musste. Doch dann lächelte er schon wieder. „Elizabeth klingt aber auch cool! Was würdest du denn gerne machen?“ Ich lächelte geschmeichelt. Mein Name bekam sonst selten Komplimente, allein schon, weil er so gewöhnlich war. Ich mochte Lucifer von Sekunde zu Sekunde mehr. „Keine Ahnung, einfach ein bisschen spazieren gehen? Damit wir uns besser kennen lernen?“ Er nickte zustimmend.

Gemeinsam spazierten wir also die sandigen Wege entlang. Anfangs noch ziemlich schweigend kam im Verlauf der Zeit ein richtiges Gespräch in Gang. Es stellte sich heraus, dass wir beide Sunrise Avenue mochten, gerne auf Konzerte gingen und auch mal was in der Natur machten. Ich fand es cool, dass Lucifer so direkt war. Ich kannte das von mir selber nicht und mochte es. Auch wenn er manchmal etwas selbstgefällig war, konnte ich ihn gut leiden. Ich stand zwar nicht so auf Fußball und auch nicht auf dieses Computerspiel, das er manchmal mit seinen Kumpels spielte, aber wir waren ja auch keine Zwillinge. Ich konnte gut mit ihm reden und lachen und die Zeit verging wie im Flug. Blitzschnell verschwand die Sonne hinter den Bäumen, die den Park säumten, und sofort wurde es empfindlich kühl. Ich hatte bloß eine dünne Weste an und begann zu frösteln. Außerdem wurde es allmählich spät. Lucifer und ich gingen zum Parkeingang, um uns zu verabschieden. „Tschüss, Lucifer. Es war echt schön mit dir, können wir gerne öfters machen.“ Er nickte und sah mich lange an.

Von seinem intensiven Blick aus diesen unglaublichen Augen wurde mir ganz schwindelig. „Liz, ich mag dich wirklich sehr. Ich würde dich gerne öfter treffen.“ Ich starrte ihn an, unfähig, etwas zu sagen oder mich auch nur zu bewegen. Ich hatte ein Kribbeln im Bauch, und aus irgendeinem Grund wanderte mein Blick auf seine Lippen. Er schien es zu bemerken und sein Gesicht näherte sich langsam meinem. Ich hielt den Atem an, als seine Hand vorsichtig meine streifte. Seine Augen waren so unheimlich fesselnd… Ein lauter Schlag ließ uns zusammenfahren. Ich drehte mich um und sah das Tor, das den Eingang bildete. Es war zugefallen. Ich wandte mich zu Lucifer um, der peinlich berühr schien. Er rieb sich den Nacken und schaute über meinen Kopf hinweg. Auch meine Wangen begannen wieder zu brennen und ich murmelte nur noch ein hastiges „Tschüss, bis morgen“, dann verschwand ich.

Einerseits war ich irgendwie erleichtert, andererseits aber auch unheimlich enttäuscht. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten uns geküsst. Geküsst – allein der Gedanke daran verursachte mir Herzklopfen. Tatsache war, dass ich noch nie diesen berühmten Ersten Kuss gehabt hatte. Wir hatten mal an Kats Geburtstagsfeier Flaschendrehen gespielt, bei dem man sich erst auf die Hand, dann auf die Wange und dann auch den Mund küssen musste. Der Nervenkitzel dabei war, dass man ja nie wusste, auf wen die Flasche zeigen würde. Ich hatte Kat auf die Hand küssen müssen, ihren kleinen Bruder auf die Wange und Michael, einen zugegebenermaßen hübschen Jungen aus unserer Klasse, auf den Mund. Aber das war erstens schon fast drei Jahre her und zweitens nicht mal ein richtiger Kuss. Abgesehen davon war ich einem Jungen noch nie näher gekommen, als man musste, um einem freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Die Jungs aus unserer Klasse waren mehr so die Kumpel-Typen. Oder einfach doof.

Das beste Beispiel dafür war Justin. Sein Name steckte ihn schon in eine Schublade, und in die gehörte er auch. Er erfüllte alle Klischees zu diesem Namen auf einmal. Er schrieb in der Schule grundsätzlich immer ein C oder ein E. ab und an auch ein F. Und er war einfach ein Pausenclown, der ganz versessen darauf schien, Leute zu nerven.

Ich kramte den Schlüssel aus meiner Tasche und öffnete die Tür. Wie schon heute Mittag rief ich ein Hallo, und diesmal bekam ich auch Antwort. „Hallo, mein Schatz!“, rief meine Mutter aus der Küche, wo sie das Abendessen zubereitete. Ich, die ich den ganzen Tag seit heute früh außer einem Löffel Suppe nichts mehr gegessen hatte, bemerkte auf einmal, wie hungrig ich war. Mit geschlossenen Augen sog ich den Duft, der aus dem geschlossenen Raum, der Küche und Esszimmer in einem war, tief ein. Meine Mum kam aus der Tür und umarmte mich. „Na, Schatz, wo warst du denn? Das Essen ist gleich fertig“, bemerkte sie mit einem Blick auf mich. Ich hatte gierig in die Küche geschielt und grinste jetzt verlegen. Ich wollte ihr eigentlich nicht unbedingt etwas von Lucifer erzählen, zumal da ja noch gar nichts war. „Ich habe mich mit… jemandem getroffen“, wich ich also rasch aus. Im weitesten Sinne stimmte das ja auch. Meine Mum lächelte und strubbelte durch meine Haare.

„Was gibt´s zu essen?“ Ohne, dass wir es bemerkt hatten, war meine Schwester Julia in die Küche gekommen. Sie war ein Jahr älter als ich und mir in Sachen Jungs meilenweit überlegen. Sie hatte bereits einen festen Freund gehabt, sich aber nach einem Monat von ihm getrennt, weil er einfach „zu anhänglich und unreif“ war. Generell war sie ziemlich pingelig und achtete sehr auf ihr Äußeres. Nicht, dass ich jetzt irgendwie schlampig umherlief, aber sie war nochmal eine Klasse extremer. Ihre Shopping-und Bummelnachmittage mit ihrer Clique bedeuteten ihr sehr viel. Jetzt beäugte sie stirnrunzelnd die Lasagne, die Mum gerade aus dem Ofen nahm. Ich war sicher, dass sie in Gedanken schon die Kalorien ausrechnete. Mir hingegen lief bei ihrem Anblick das Wasser im Mund zusammen. „Könntet ihr Tisch decken?“ Ich nickte und griff nach Tellern, Messern und Gabeln.

Während Julia Wasser in unsere Glaskaraffe füllte, deckte ich den kleinen Tisch, an dem zweit Stühle und eine Bank standen. Die Bank war mein Stammplatz, hier saß ich schon immer. Julia mir rechts gegenüber und Mum links. So nahmen wir auch jetzt Platz und begannen, zu essen. Das Abendessen war eigentlich immer eine recht stumme Angelegenheit. Auch heute redeten wir nur das Nötigste und das war mir gerade recht. So konnte ich den Nachmittag in aller Ruhe Revue passieren lassen und mir jedes noch so kleine Detail merken. Ich ließ meine Gedanken schweifen, von unserem Zusammenstoß auf dem Flur über das Treffen in der Mensa bis hin zu dem Abschied im Park…

„Sag mal, was grinst du eigentlich die ganze Zeit so idiotisch vor dich hin?“ Erschrocken fuhr ich zusammen. Julia saß mir gegenüber, die Gabel auf halbem Weg zum Mund, und beäugte mich mit gerunzelter Stirn. Natürlich übertrieb sie maßlos. Ich grinste keineswegs idiotisch vor mich hin. Ich lächelte bloß, das war ja wohl kein Verbrechen! „Wieso idiotisch, Schwesterherz? Ich bin einfach gut drauf!“ Julia hob eine Augenbraue, zog es aber vor, zu schweigen. Verhalten grinsend wandte ich mich wieder mit mächtigem Appetit meiner Lasagne zu. Idiotisch, na danke!

Nach dem Essen räumte ich mit meiner Mum den Tisch ab. „Hattest du einen schönen Tag?“, wollte sie wissen. Ich nickte. Mum seufzte. „Naja, wenigstens du…“ Ihr Tonfall klang besorgt. Jetzt, so aus der Nähe betrachtet, fiel mir auf, wie müde sie aussah. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, ihr Gesicht wirkte grau und schlapp. Aber bevor ich fragen konnte, was los war, klingelte unser Festnetztelefon. Ich eilte zum Apparat und meldete mich. Eine tiefe Männerstimme antwortete: „Elizabeth? Gibst du mir mal Jane?“ Jane, das war meine Mutter. Ich bejahte und brachte ihr das Telefon. Ich sah, wie sie auf das Display schielte, etwas wie „Canmoore“ murmelte und dann ranging.

Ich stieg unterdessen die Stufen zu meinem Zimmer hoch. Wer oder was war Canmoore? Grübelnd ging ich zu meinem Bett und zog den Schlafanzug unter dem Kopfkissen hervor. Er war blau-weiß gestreift und unbeschreiblich gemütlich. Rasch zog ich mich um und ließ mich dann auf die Bettkante sinken. Meine nackten Füße strichen über den rosafarbenen, flauschigen Teppich, ein Geschenk zu meinem zwölften Geburtstag. Während ich so dasaß und nachdachte fiel mir ein, was Lucifer zu mir gesagt hatte: „Liz, ich mag dich wirklich sehr.“ Es war nicht so, dass mir noch nie jemand gesagt hatte, dass er mich mochte. Von Kat hörte ich es oft, von Mum auch, und ich sagte es umgekehrt zu ihnen. Aber es von einem Jungen gesagt zu bekommen spielte nochmal in einer anderen Liga. Wenn ein Junge einem sagte, dass er einen mochte, war das etwas wahnsinnig Aufregendes. Und dann auch noch jemand wie Lucifer! Ich mochte ihn auch. Immer, wenn Kat mich darauf angesprochen hatte, ob ich nicht auf Lucifer stehe, hatte ich das mit energischem Kopfschütteln abgetan. Tatsache war allerdings, dass ich schon immer heimlich für ihn geschwärmt hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon halb zehn war und ich allmählich schlafen sollte. Aber noch war ich einfach zu hibbelig, also stand ich auf und ging zu meinem Schreibtisch. Einer plötzlichen Eingebung folgend griff ich zu einem Blatt Papier und einem Stift. Ich würde mich bei Lucifer für den schönen Nachmittag bedanken und-was am wichtigsten war-meine Nummer aufschreiben. Ich brauchte geschlagene 45 Minuten, aber als der Brief schließlich fertig war steckte ich ihn zufrieden in meine Schultasche. Dann stieg ich endlich ins Bett, rundum glücklich mit der Welt. Aus Gewohnheit begann ich im Kopf bis Tausend zu zählen. Das tat ich abends immer, damit ich schnell einschlief. Ich kam gerade mal bis siebenundzwanzig, dann war ich auch schon eingeschlafen.

Eine Menge Neuigkeiten

„Sei still, du Quälgeist!“, fluchte ich halblaut und tastete nach meinem Wecker. Seit etwa fünf Minuten schlug ich jetzt schon, halb blind, auf meinem Nachttisch herum, aber der Wecker piepte unaufhörlich weiter. Doch dann, endlich, mitten im zwanzigtausendsten Piepen, brach er ab. Ich hatte den Aus-Knopf getroffen. Stöhnend knipste ich meine Nachttischlampe an und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Dann streckte ich mich kurz und wuchtete mich schließlich wohl oder übel aus dem Bett.

Nachdem ich rasch meine Zähne geputzt und mich angezogen hatte, tapste ich schlaftrunken in die Küche, wo Julia und Mum bereits beim Frühstück saßen. „Morgen“, gähnte ich und schob mich auf die Bank. Meine Mutter murmelte ein undeutliches „Guten Morgen“ hinter ihrer Zeitung hervor. Julia widmete sich grußlos wieder ihrem Toast. Ich rollte die Augen. Julia war ein echter Morgenmuffel. Na gut, ich genaugenommen auch, aber naja. Ich zog meine Lieblingstasse, in der bereits heißer Kakao dampfte, zu mir heran. Abwesend strich ich über den schwarzen, teils abgeblätterten Schriftzug darauf: „Little Princess“. Ich hatte die Tasse von meinem Vater bekommen, als dieser noch bei uns lebte. Ich erinnerte mich allerdings kaum noch an ihn, denn als er Mum verlassen hatte war ich gerade erst drei gewesen. Das war vielleicht auch besser so, denn für mich war das Leben ohne Vater ganz normal.

Über einer Scheibe Honigtoast erwachten schließlich meine Lebensgeister vollends und auch meine Gedanken begannen wieder zu laufen. Allmählich kehrten die Erinnerungen an den vergangenen Tag zurück, allen voran Lucifers herzlicher Abschied im Park. Diese Gedanken brachten mich, obgleich am frühen Morgen, zum Lächeln. Oder, um es mit Julias Worten zu sagen, zum idiotisch vor mich hin grinsen. Aber heute störte das nicht mal meine Schwester. Morgens war sie sowieso nicht zurechnungsfähig. Man sollte wichtige Anliegen mit ihr frühestens nach der zweiten Stunde besprechen, vorher war ihr Gehirn nicht in der Lage, darüber nachzudenken. Zumindest meiner Meinung nach. Früh morgens war Julia meines Erachtens am erträglichsten.

Nach dem recht wortkargen Frühstück begann ich meine Schultasche zu packen, wobei ich darauf achtete, den Brief für Lucifer nicht zu verknicken. Ich hätte mir Sorgen machen können, wie ich ihn ihm zukommen lassen solle, immerhin ging er nicht in meine Klasse. Aber das war kein Problem. Ich wollte den Brief durch den Lüftungsschlitz seines Spindes schieben. Wo sein Spind war wusste ich, weil ich ihn schon früher heimlich beobachtet hatte. Er war bloß drei Fächer von meinem entfernt. Aus reiflicher Beobachtung wusste ich außerdem, dass Lucifer seinen Spind täglich öffnete, weil er seine Jacke darin einschloss. Das garantierte mir, dass er den Brief auch fand. Alles war gut durchdacht, und so stieg ich um viertel nach sieben verhältnismäßig gut gelaunt in den Bus. Viel besser konnte ein Mittwoch nicht anfangen.

Als ich in der Schule ankam herrschte eine aufgedrehte Stimmung. Sonst schleppten die meisten Schüler sich wie Schnecken durch die Gänge, höchstens mal fähig zu einem Hallo oder Guten Morgen. Heute hingegen schien ich mitten auf einer Party gelandet zu sein. Mädchen kicherten herum, Jungs wirkten zwiegespalten zwischen Vergnügen und Entsetzen. Den Grund für den Aufruhr fand ich am schwarzen Brett. Nachdem ich mich durch die gaffenden Schülermassen gekämpft hatte, erhaschte ich einen Blick auf den gelben Zettel, der scheinbar über Nacht dort aufgetaucht war:

Liebe Schülerinnen und Schüler!

Wir freuen uns, dass wir diesen Frühling ein ganz besonderes Ereignis an unserer Schule haben werden: Einen FRÜHLINGSBALL! Er findet am 12.3.19 ab 19 Uhr in der Turnhalle statt.