Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen - Johann Wolfgang Goethe - E-Book

Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen E-Book

Johann Wolfgang Goethe

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Beschreibung

Johann Wolfgang Goethes klassisches Schauspiel in fünf Aufzügen "Iphigenie auf Tauris" ist in mehreren Fassungen überliefert: 1779 wurde die erste Prosafassung in Weimar uraufgeführt, 1780 folgte eine Versfassung in freien Rhythmen, dann eine zweite Prosafassung und 1786 die zweite, während der ersten italienischen Reise fertiggestellte Fassung in Blankversen, die 1787 erstmals in Buchform erschien. Den Iphigenie-Stoff entnahm Goethe dem Drama "Iphigenie bei den Taurern" des griechischen Dramatikers Euripides. Bei Goethe vollzieht sich das dramatische Geschehen im Inneren der Personen und in den "Rededuellen". Seine Iphigenie verkörpert das Ideal der Klassik: Humanität, Aufrichtigkeit und Unschuld. Ihre tiefe Menschlichkeit befreit nicht nur den Bruder Orest vom Wahnsinn und von der Verfolgung durch die Erinnyen, sondern sorgt auch für einen friedlichen Abschied vom taurischen König Thoas. Text aus Reclams Universal-Bibliothek mit Verszählung der gedruckten Ausgabe.

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Seitenzahl: 80

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Johann Wolfgang Goethe

Iphigenie auf Tauris

Ein Schauspiel

Reclam

Zu Goethes Iphigenie auf Tauris gibt es in Reclams Universal-Bibliothek

• einen Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler (Nr. 15350, PDF 978-3-15-950128-4)

• Erläuterungen und Dokumente (Nr. 16025)

• eine Interpretation in: Goethes Dramen in der Reihe »Interpretationen« (Nr. 8417, PDF 978-3-15-950016-4)

1993, 2001, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartDurchgesehene Ausgabe 2001auf der Grundlage der gültigen amtlichen RechtschreibregelnGesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Made in Germany 2017RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Markender Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-960008-6ISBN der Buchausgabe 978-3-15-000083-0

www.reclam.de

Personen

IPHIGENIE

THOAS, König der Taurier

OREST

PYLADES

ARKAS

Schauplatz: Hain vor Dianens Tempel

Erster Aufzug

Erster Auftritt

IPHIGENIE. Heraus in eure Schatten, rege Wipfel

Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines,

Wie in der Göttin stilles Heiligtum,

Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,

5

Als wenn ich sie zum ersten Mal beträte,

Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.

So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen

Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;

Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.

10

Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten,

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,

Das Land der Griechen mit der Seele suchend;

Und gegen meine Seufzer bringt die Welle

Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.

15

Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern

Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram

Das nächste Glück vor seinen Lippen weg.

Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken

Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne

20

Zuerst den Himmel vor ihm aufschloss, wo

Sich Mitgeborne spielend fest und fester

Mit sanften Banden aneinander knüpften.

Ich rechte mit den Göttern nicht; allein

Der Frauen Zustand ist beklagenswert.

25

Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann

Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.

Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg;

Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.

Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!

30

Schon einem rauen Gatten zu gehorchen,

Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar

Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!

So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,

In ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest.

35

O wie beschämt gesteh ich, dass ich dir

Mit stillem Widerwillen diene, Göttin,

Dir meiner Retterin! Mein Leben sollte

Zu freiem Dienste dir gewidmet sein.

Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe

40

Noch jetzt auf dich Diana, die du mich,

Des größten Königes verstoßne Tochter,

In deinen heil’gen, sanften Arm genommen.

Ja, Tochter Zeus’, wenn du den hohen Mann,

Den du, die Tochter fodernd, ängstigtest;

45

Wenn du den göttergleichen Agamemnon,

Der dir sein Liebstes zum Altare brachte,

Von Trojas umgewandten Mauern rühmlich

Nach seinem Vaterland zurückbegleitet,

Die Gattin ihm, Elektren und den Sohn,

Die schönen Schätze, wohl erhalten hast;

So gib auch mich den Meinen endlich wieder,

Und rette mich, die du vom Tod errettet,

Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode.

Zweiter Auftritt

IPHIGENIE. ARKAS.

ARKAS. Der König sendet mich hieher und beut

55

Der Priesterin Dianens Gruß und Heil.

Dies ist der Tag, da Tauris seiner Göttin

Für wunderbare neue Siege dankt.

Ich eile vor dem König und dem Heer,

Zu melden, dass er kommt und dass es naht.

60

IPHIGENIE. Wir sind bereit, sie würdig zu empfangen,

Und unsre Göttin sieht willkommnem Opfer

Von Thoas’ Hand mit Gnadenblick entgegen.

ARKAS. O fänd ich auch den Blick der Priesterin,

Der werten, vielgeehrten, deinen Blick

65

O heil’ge Jungfrau, heller, leuchtender,

Uns allen gutes Zeichen! Noch bedeckt

Der Gram geheimnisvoll dein Innerstes;

Vergebens harren wir schon jahrelang

Auf ein vertraulich Wort aus deiner Brust.

70

Solang ich dich an dieser Stätte kenne,

Ist dies der Blick, vor dem ich immer schaudre;

Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele

Ins Innerste des Busens dir geschmiedet.

IPHIGENIE. Wie’s der Vertriebnen, der Verwaisten ziemt.

75

ARKAS. Scheinst du dir hier vertrieben und verwaist?

IPHIGENIE. Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?

ARKAS. Und dir ist fremd das Vaterland geworden.

IPHIGENIE. Das ist’s, warum mein blutend Herz nicht heilt.

In erster Jugend, da sich kaum die Seele

80

An Vater, Mutter und Geschwister band;

Die neuen Schösslinge, gesellt und lieblich,

Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts

Zu dringen strebten; leider fasste da

Ein fremder Fluch mich an und trennte mich

85

Von den Geliebten, riss das schöne Band

Mit eh’rner Faust entzwei. Sie war dahin,

Der Jugend beste Freude, das Gedeihn

Der ersten Jahre. Selbst gerettet, war

Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust

90

Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.

ARKAS. Wenn du dich so unglücklich nennen willst;

So darf ich dich auch wohl undankbar nennen.

IPHIGENIE. Dank habt ihr stets.

ARKAS.                                           Doch nicht den reinen Dank,

Um dessentwillen man die Wohltat tut;

95

Den frohen Blick, der ein zufriednes Leben

Und ein geneigtes Herz dem Wirte zeigt.

Als dich ein tief-geheimnisvolles Schicksal

Vor so viel Jahren diesem Tempel brachte,

Kam Thoas, dir als einer Gottgegebnen

100

Mit Ehrfurcht und mit Neigung zu begegnen.

Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich,

Das jedem Fremden sonst voll Grausens war,

Weil niemand unser Reich vor dir betrat,

Der an Dianens heil’gen Stufen nicht

105

Nach altem Brauch, ein blut’ges Opfer, fiel.

IPHIGENIE. Frei atmen macht das Leben nicht allein.

Welch Leben ist’s, das an der heil’gen Stätte,

Gleich einem Schatten um sein eigen Grab,

Ich nur vertrauern muss? Und nenn ich das

110

Ein fröhlich selbstbewusstes Leben, wenn

Uns jeder Tag, vergebens hingeträumt,

Zu jenen grauen Tagen vorbereitet,

Die an dem Ufer Lethes, selbstvergessend,

Die Trauerschar der Abgeschiednen feiert?

115

Ein unnütz Leben ist ein früher Tod;

Dies Frauenschicksal ist vor allen meins.

ARKAS. Den edeln Stolz, dass du dir selbst nicht g’nügest,

Verzeih ich dir, so sehr ich dich bedaure:

Er raubet den Genuss des Lebens dir.

120

Du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?

Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?

Wer hat den alten grausamen Gebrauch,

Dass am Altar Dianens jeder Fremde

Sein Leben blutend lässt, von Jahr zu Jahr

125

Mit sanfter Überredung aufgehalten,

Und die Gefangnen vom gewissen Tod

Ins Vaterland so oft zurückgeschickt?

Hat nicht Diane, statt erzürnt zu sein

Dass sie der blut’gen alten Opfer mangelt,

130

Dein sanft Gebet in reichem Maß erhört?

Umschwebt mit frohem Fluge nicht der Sieg

Das Heer? und eilt er nicht sogar voraus?

Und fühlt nicht jeglicher ein besser Los,

Seitdem der König, der uns weis und tapfer

135

So lang geführet, nun sich auch der Milde

In deiner Gegenwart erfreut und uns

Des schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert.

Das nennst du unnütz? wenn von deinem Wesen

Auf Tausende herab ein Balsam träufelt;

140

Wenn du dem Volke, dem ein Gott dich brachte,

Des neuen Glückes ew’ge Quelle wirst,

Und an dem unwirtbaren Todesufer

Dem Fremden Heil und Rückkehr zubereitest?

IPHIGENIE. Das wenige verschwindet leicht dem Blick,

145

Der vorwärts sieht wie viel noch übrig bleibt.

ARKAS. Doch lobst du den, der was er tut nicht schätzt?

IPHIGENIE. Man tadelt den, der seine Taten wägt.

ARKAS. Auch den, der wahren Wert zu stolz nicht achtet,

Wie den, der falschen Wert zu eitel hebt.

150

Glaub mir und hör auf eines Mannes Wort,

Der treu und redlich dir ergeben ist:

Wenn heut der König mit dir redet, so

Erleichtr’ ihm, was er dir zu sagen denkt.

IPHIGENIE. Du ängstest mich mit jedem guten Worte;

155

Oft wich ich seinem Antrag mühsam aus.

ARKAS. Bedenke was du tust und was dir nützt.

Seitdem der König seinen Sohn verloren,

Vertraut er wenigen der Seinen mehr,

Und diesen wenigen nicht mehr wie sonst.

160

Missgünstig sieht er jedes Edeln Sohn

Als seines Reiches Folger an; er fürchtet

Ein einsam hülflos Alter, ja vielleicht

Verwegnen Aufstand und frühzeit’gen Tod.

Der Skythe setzt ins Reden keinen Vorzug,

165

Am wenigsten der König. Er, der nur

Gewohnt ist zu befehlen und zu tun,

Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch

Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken.

Erschwer’s ihm nicht durch ein rückhaltend Weigern,

170

Durch ein vorsetzlich Missverstehen. Geh

Gefällig ihm den halben Weg entgegen.

IPHIGENIE. Soll ich beschleunigen was mich bedroht?

ARKAS. Willst du sein Werben eine Drohung nennen?

IPHIGENIE. Es ist die schrecklichste von allen mir.

175

ARKAS. Gib ihm für seine Neigung nur Vertraun.

IPHIGENIE. Wenn er von Furcht erst meine Seele löst.

ARKAS. Warum verschweigst du deine Herkunft ihm?

IPHIGENIE. Weil einer Priesterin Geheimnis ziemt.

ARKAS. Dem König sollte nichts Geheimnis sein;

180

Und ob er’s gleich nicht fordert, fühlt er’s doch

Und fühlt es tief in seiner großen Seele,

Dass du sorgfältig dich vor ihm verwahrst.

IPHIGENIE. Nährt er Verdruss und Unmut gegen mich?

ARKAS.

So scheint es fast. Zwar schweigt er auch von dir;

185

Doch haben hingeworfne Worte mich

Belehrt, dass seine Seele fest den Wunsch

Ergriffen hat, dich zu besitzen. Lass,

O überlass ihn nicht sich selbst! damit

In seinem Busen nicht der Unmut reife

190

Und dir Entsetzen bringe, du zu spät

An meinen treuen Rat mit Reue denkest.

IPHIGENIE. Wie? sinnt der König, was kein edler Mann,

Der seinen Namen liebt und dem Verehrung

Der Himmlischen den Busen bändiget,

195

Je denken sollte? Sinnt er vom Altar

Mich in sein Bette mit Gewalt zu ziehn?

So ruf ich alle Götter und vor allen

Dianen die entschlossne Göttin an,

Die ihren Schutz der Priesterin gewiss,

200

Und Jungfrau einer Jungfrau, gern gewährt.

ARKAS. Sei ruhig! Ein gewaltsam neues Blut

Treibt nicht den König, solche Jünglingstat

Verwegen auszuüben. Wie er sinnt,

Befürcht ich andern harten Schluss von ihm,

205

Den unaufhaltbar er vollenden wird:

Denn seine Seel ist fest und unbeweglich.