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Zwischen Rheinland und Irland … Helen Freitags ganz persönlicher Fall Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Helen Freitags irischer Freund sich das Leben genommen hat. Plötzlich erhält die Rechtsanwältin den Anruf, dass sein Vater, der Gestütsbesitzer Kevin O'Brian, einem Mord zum Opfer gefallen ist. War es damals womöglich doch kein Selbstmord? Überstürzt reist sie nach Irland, um herauszufinden, auf welche ihrer Erinnerungen sie sich noch verlassen kann. Derweil schließt sich ihre Auszubildende Marie Glücklich einer Gruppe von Tierschützern an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, geschundenen Rennpferden zu helfen. Um auf die Missstände im Rennsport aufmerksam zu machen, planen sie eine spektakuläre Protestaktion bei den Renntagen in Köln-Weidenpesch. Ein Thema, dem auch Helen in Irland begegnet, als eines der Pferde des Ballyhonny Gestüts während eines Rennens stirbt. Beide Frauen müssen feststellen, dass im Vergleich zu den horrenden Geldsummen, mit denen im Pferderennsport jongliert wird, das Leben eines einzelnen Tieres nichts wert ist. Die Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Ist der Wetteinsatz so hoch wie der Wert eines Menschenlebens?
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Seitenzahl: 419
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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Letzte Ausfahrt Auerberg
Nacht über dem Campus
Nicole Peters wurde 1968 am Niederrhein geboren. Das Studium der Geografie führte sie nach Bonn, wo sie anschließend im Lektorat eines Verlages arbeitete. Heute lebt und arbeitet sie mit ihrem Mann, einem Rechtsanwalt, in Hennef. Sie ist Mitglied bei den Mörderischen Schwestern, der Literaturwerkstatt Hennef und beim Syndikat.
2018 veröffentlichte sie ihren ersten historischen Roman und begann ein Jahr später mit Letzte Ausfahrt Auerberg ihre Reihe um die Rechtsanwältin Helen Freitag.
www.nicolepeters-autorin.de
Nicole Peters
Originalausgabe
© 2022 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von
© Gabriel Cassan - stock.adobe.com
Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-629-5
E-Book-ISBN 978-3-95441-639-4
Namensregister
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Im Rheinland
Helen Freitag
Rechtsanwältin
Marie Glücklich
Rechtsanwaltsfachangestellte in der Kanzlei Freitag & Vettweiß
Matthias Vettweiß
Rechtsanwalt
Friederike Vettweiß (Frieda)
seine Ehefrau und Büromanagerin der Kanzlei Freitag & Vettweiß
Ralf-Peter Voss (Rabe)
Journalist, Helens Freund
Kathi Voss
seine Schwester, KHK bei der Bonner Polizei
Yuna Bäcker
Freundin und Mitbewohnerin von Marie
Cara Bäcker
Yunas Cousine
Auf einem Reiterhof in Niederkassel
Paul und Dina van Deren, Charly (Charlene), Jenny und Anni
In Irland
Eilis Hogan
Halbschwester von Helen Freitag
Finn Hogan
ihr Ehemann, Tierarzt und Trainer im Ballyhonny-Rennstall
Fee und Rea
ihre Kinder
Horace Wellermann
Nachbar der Hogans
Dane O’Brian †
Helens vor Jahren verstorbener Freund
Kevin O’Brian †
Gestütsbesitzer und Geschäftsmann, Vater von Dane und Paddy
Sharni O’Brian
erste Ehefrau von Kevin O’Brian, Mutter von Dane
Dairine O’Brian
zweite Ehefrau von Kevin O’Brian, Mutter von Paddy
Padraig (Paddy) O’Brian
Sohn von Kevin und Dairine O’Brian
Farell Quinn
Bruder von Sharni O’Brian, bis vor Kurzem Haupttrainer im Ballyhonny-Rennstall
Mary Quinn †
seine vor Jahren verstorbene Ehefrau
James Quinn
Sohn von Farell, Jockey und Trainer
Emma Quinn
Tochter von Farell, Jockey
Danny Crab
Arbeitsreiter im Ballyhonny-Rennstall
Peter Shaw
Familienanwalt und Testamentsvollstrecker
DI Conor Bail
Kriminalkommissar von der Dubliner Polizei
DI Sean Tanner
Kriminalkommissar von der Dubliner Polizei
Nach nur wenigen Schritten durch das irische Wetter war sie völlig durchnässt. Sie lehnte sich gegen Wind und Regen und folgte dem Weg, den Dane eingeschlagen haben musste. Der Adrenalinstoß, den die schreckliche Erkenntnis in ihr freigesetzt hatte, trieb sie voran. Auf dem Küstentrail angekommen, musste sie langsamer werden. Der Pfad lief eng an der Steilkante entlang.
Das Meer zweihundert Meter unter ihr peitschte zornig gegen die steilen Felsen, im Wettstreit mit ihrem pochenden Gewissen. Warum hatte sie es nicht kommen sehen?
»Dane!« Sie schrie gegen ihre wachsende Verzweiflung an, doch der Wind warf den Namen ungehört zu ihr zurück.
Über dem Hexenkopf, dem in das Meer hinausragenden Felsen, brachen für einen Moment die Wolken auf, und dort sah sie ihn stehen. Das musste er sein. Niemand sonst war bei diesem Wetter hier.
Sie rannte, stolperte, rannte.
Als sie den Felsvorsprung erreichte, war die Gestalt verschwunden.
Eisige Kälte legte sich um sie. Versiegelte die Risse in ihrem schützenden Panzer, die sich gerade erst geöffnet hatten.
Diesmal schmerzte das quietschende Geräusch besonders in Helens Ohren. »Mensch, Rabe!« Sie schaute von ihrem Laptop auf und warf ihrem Freund einen empörten Blick zu, den er allerdings nicht sah, da er ihr seinen langen Rücken zuwandte. Rabe kniete vor dem Schrank. Er versuchte vergeblich, etwas aus dem untersten Fach hervorzukramen. Die Schiebetür ließ sich nur einen Spalt weit öffnen, da eine größere Box über die benachbarte Schrankseite hinausragte.
»Du wirst nicht umhinkommen, das Sofa zu verschieben«, sagte Helen. Das eng am Schrank stehende Sitzmöbel machte es unmöglich, die Box herauszuziehen. »Was suchst du eigentlich?«
Rabe seufzte und richtete sich auf. »Dieses alte Buch mit den Fotos meiner Kindheit. Ich war so lange nicht mehr am Niederrhein, dass ich mich kaum an das Haus erinnere.« Er meinte das Elternhaus seiner Mutter. Die sang- und klanglos nach Indien verschwunden war. So hatte es nach dem Tod der Eltern ihre Schwester geerbt. Und nun war Rabes Tante Gerda ebenfalls verstorben.
»Ich dachte, du hast da einige Urlaube verbracht, nachdem ihr weggezogen seid.«
»Ja, aber das letzte Mal war ich ungefähr fünfzehn. Lange her.« Er schielte zu ihr herüber.
»Fishing for compliments? Du bist ganz schön eitel«, frotzelte Helen. »Da fischst du bei mir im Trüben.« Sie sagte es mit einem Lächeln auf den Lippen. Denn er sah wirklich nicht nach Anfang vierzig aus. Fahrradfahren hielt offensichtlich jung. Das brachte Helen auf ihre Internetsuche zurück.
»Du nimmst also dein Fahrrad mit?«
Er zog Entrüstung vorspielend die Augenbrauen hoch. »Der Niederrhein würde es mir sonst persönlich übel nehmen. Und meine Tante – Gott hab sie selig – hat mir mit Sicherheit ein altes Hollandrad hinterlassen, sodass du ebenfalls gerüstet bist.«
Helen seufzte. Trotz all seiner Bemühungen hatte ihr Freund es nicht geschafft, ihr das Fahrradfahren schmackhaft zu machen, geschweige denn sie zum Kauf eines eigenen Rads zu überreden. »Okay. Aber falls ich mit dir auf Fahrradtour gehe, spielst du mit mir Golf.« Sie drehte den Laptop zu ihm und zeigte das Ergebnis ihrer Google-Suche. Die Startseite eines Golfclubs am Niederrhein. »Wenn ich richtig recherchiert habe, müsste der Golfplatz ganz in der Nähe des Hauses von Tante Gerda liegen.«
Rabe beugte sich über sie und warf einen Blick auf den Bildschirm. Dann drückte er ihr einen Kuss auf den Kopf. »Versprochen. Wenn du dir wirklich sicher bist, den Urlaub damit zu verschwenden, mein Erbe zu entrümpeln.«
Helen zog ihn zu sich aufs Sofa. »Hey! Ich freue mich darauf. Außerdem lerne ich dich so besser kennen. Du hast einen Großteil deiner Kindheit in diesem Haus verbracht, oder nicht?«
Er setzte sich neben Helen. »Schon. Aber nach meinem letzten Besuch dort ist unser Kontakt fast ganz abgebrochen. Es kamen noch ein paar Geburtstagskarten. Aber auch die haben irgendwann aufgehört. Und jetzt ist Tante Gerda gestorben und hat mir ihr Haus vererbt, was ich überhaupt erst nach der Beerdigung erfahren habe. Ich habe wirklich ein ganz übles Gewissen.«
»Du warst ein Kind. Wenn, dann hätte sie den Kontakt halten müssen. Vor allem nachdem sie deine letzte Verwandte mütterlicherseits ist.« Helen legte den Arm um Rabe. Das Einzige, was er je wieder von seiner Mutter gehört hatte, war ein Postkartengruß aus Indien. Aber Rabe schien nicht darunter gelitten zu haben, nicht so wie Helen, als ihr irischer Vater sie verlassen hatte und in seine Heimat zurückgekehrt war.
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht liegt das ja in den Familiengenen«, sagte Rabe. Er wandte sich Helen zu. »Aber nur auf der weiblichen Seite. Du kannst dir sicher sein, dass ich nicht davon betroffen bin.«
»Das will ich doch hoffen. Von diesem Fluchtgen haben die Männer in meiner Familie schon genug abbekommen.« Es überraschte Helen, dass sie es mit einer solchen Leichtigkeit aussprechen konnte. Sie hatte lange damit gekämpft, dass ihr Vater sie als Kind zurückgelassen hatte, um eine neue Familie in Irland zu gründen. Jahre später als erwachsene Frau hatte sie ihren Frieden mit ihm geschlossen und den irischen Teil in ihr bei einer Reise durch das Land kennengelernt. Und Dane. Der sie ebenfalls verlassen hatte, wenn auch auf eine ganz andere Art. Erst mit diesem mittelalten, aber gut erhaltenen Journalisten namens Ralf-Peter Voss mit dem treffenden Spitznamen Rabe hatte sie ihre Verlustängste hinter sich gelassen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Den hatte er sich verdient. Denn von Beginn an hatte er ihr alles frei von sich und seiner Lebensgeschichte erzählt. Sie hatte sich spät geöffnet. Hatte ihm erst vor ein paar Monaten komplett ihr Herz ausgeschüttet. Über ihren Vater. Über Dane, ihren irischen Freund, der sich vor fünfzehn Jahren das Leben genommen hatte.
»Wofür ist der denn?«, fragte Rabe.
»Einfach so. Und nun lass uns dieses Sofa verrücken, damit ich die Fotos aus deiner Kindheit endlich mal sehen kann. Ich bin bereit dafür.«
»Wirklich?« Rabe erhob sich. »Gemeinsames Fotoalben anschauen ist ein großer Schritt in einer Beziehung. Das ist dir schon klar, oder?«
Helen lachte auf und gab ihm einen Klaps auf den Po. »Absolut bereit. Und danach gibt es kein Zurück mehr. Dann hast du mich an der Backe. Ob du willst oder nicht.«
Er drehte sich noch mal um. Sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst. »Ich bin froh, dass du mitkommst und da bist, wenn ich mich den Dämonen meiner Kindheit stelle.«
»Du hast dich meiner und meines verkorksten Lebens angenommen. Hast dir meine Sorgen angehört. Jetzt bist du dran.« Helens Telefon klingelte. »Wenn man vom Teufel spricht. Das ist meine Schwester.« Sie hielt ihr Handy hoch und zeigte auf das Display, bevor sie ranging. »Hallo Eilis.«
Draußen war es dämmrig geworden. Die enge Gasse der Bonner Altstadt, auf die ihr Zimmerfenster zeigte, bekam nur morgens Sonne. Selbst im Sommer erreichte das Sonnenlicht am Nachmittag nur die Dächer und obersten Etagen der gegenüberliegenden Häuserreihe. Marie schaltete die Schreibtischbeleuchtung an. Vor ihr lagen aufgeschlagene Fachbücher, daneben die Notizen ihrer Abschlussprüfung zur Rechtsanwaltsfachangestellten. In der Küche hörte sie Yuna hantieren. Der Kühlschrank piepte protestierend, weil die Tür schon zu lange aufstand, und Besteck klirrte auf einem Teller. Ihre Mitbewohnerin, nein, ihre Freundin war in Eile. Prompt stand Yuna nach einigen Minuten mit einem belegten Brot in der Hand und mit der Sporttasche über die Schulter gehängt in Maries Zimmertür.
»Lernst du etwa schon wieder?« Yuna nahm einen Bissen, ihre nächsten Worte klangen daher etwas undeutlich. »Du … mm … hast die … mm … Prüfung doch bestanden?«
Marie drehte sich mit ihrem Schreibtischstuhl zu ihr um. »Ja. Schon.« Sie wusste selbst nicht genau, warum sie nicht einfach glücklich war. Denn sie hatte all das, was sie sich bis vor zwei Jahren nie hätte vorstellen können. Eine abgeschlossene Ausbildung. Und sie war von der Kanzlei Freitag und Vettweiß übernommen worden. Ihre Chefin hatte ihr nicht nur durch die Ausbildungsstelle das Leben gerettet, sondern wortwörtlich. Die Arbeit war für Marie gleichzeitig ein Zuhause. Ihr Privatleben lief ebenfalls in besten Bahnen, wie sie es sich nie hätte träumen lassen. Sie war der erstickenden Enge ihres Elternhauses entkommen, den Stimmungsschwankungen ihrer Mutter, der Fürsorglichkeit ihrer Großmutter. Und mit ihrem Vater, der im Gefängnis saß, stand sie in Briefkontakt. Immerhin. Das Verhältnis mit ihm würde nie wieder werden, wie es einmal gewesen war. Aber durch die Briefe näherten sie sich zumindest wieder an. Zu alledem lebte sie in einer eigenen Wohnung zusammen mit Yuna. Einer besten Freundin, die sie nie zuvor gehabt hatte.
»Was ist denn los? Warum gräbst du dich in die Bücher ein?«, fragte Yuna. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Marie rollte mit den Augen. »Nicht auf die Schnelle. Aber ich muss wohl eine Entscheidung treffen.«
»Oha, das hört sich bedeutungsschwer an.« Wieder schaute ihre Freundin auf die Uhr. »Aber sorry. Ich muss weg zum Training. Wir sprechen heute Abend, okay?«
Das war noch so eine Sache, die Marie belastete. Zwar waren Yuna und sie vor einem halben Jahr in dieser WG zusammengezogen, das hieß aber nicht, dass sie sich oft sahen. Denn ihre Freundin hatte schon vorher ihr eigenes Leben gehabt, im Gegensatz zu Marie. Sie spielte hochklassig Badminton und war deshalb neben ihrem Studium und dem Job in der Campusbibliothek in Hennef ständig unterwegs. Training. Meisterschaftsspiele. Marie jedoch kannte niemanden in Bonn außer Yuna und den Arbeitskollegen. Sie hatte kein Hobby, das sie unter Leute brachte. Sie hielt losen Kontakt mit einem der Studenten aus Hennef, den sie im letzten Jahr kennengelernt hatte. Ferhats Familie lebte in Bonn, er selbst war in einer Versicherung in Mainz tätig. Das beschränkte ihre Beziehung auf Nachrichtenaustausch und gelegentliche Treffen, wenn er zum Studium in Hennef weilte. Bald hätte er zudem seinen Abschluss, und seine Besuche in der alten Heimat würden nur sporadisch sein.
»Okay. Soll ich dann etwas zu essen machen?«, fragte Marie.
Yuna nahm einen weiteren Bissen von ihrem Brot. »Nein, neun Uhr ist mir zu spät. Das Sandwich muss für heute reichen.«
Das erklärte, warum ihre Freundin so schlank war. Kein Essen nach sieben Uhr abends und dann der viele Sport. Und dabei schien es ihr nicht mal schwerzufallen. In solchen Momenten schämte Marie sich wieder für ihren Körper. Im letzten Jahr hatten ihr die paar Wochen an der Hochschule in Hennef zwar gezeigt, dass die Hänseleien, die sie an der Schule wegen ihrer Fülligkeit hatte ertragen müssen, vorbei waren. Dort hatte sie Yuna und Ferhat kennengelernt. Und unter den Studenten war ihr nie ein komischer Blick zugeworfen worden oder eine abwertende Bemerkung gefallen. Marie hatte sich zugehörig gefühlt, obwohl sie eben gar nicht dazugehörte. Ihre Chefin Helen Freitag hatte sie dort nur eingeschleust, um Augen und Ohren offenzuhalten, nachdem ein Student ermordet worden war. Wie sich das anhörte! Aber eben wegen dieses Zugehörigkeitsgefühls war ihr die Idee gekommen. Sie musste es nur ihrer Chefin beibringen.
Yuna stellte ihre Sporttasche ab. »Weißt du was, Marie? Ich sage das Training ab. Wir kochen zusammen, und du schüttest mir dein Herz aus. Wie hört sich das an?«
Toll wäre das. Andererseits ärgerte sie sich über sich selbst. Darüber, welchen Eindruck sie offenbar erweckt hatte. »Quatsch, nein. Geh bitte zum Training. Wir können später reden.«
»Kommt gar nicht infrage.« Yuna nahm ihre Sporttasche wieder hoch und wandte sich in Richtung Küche. »Na los. Die Bücher können warten. Und Badminton spiele ich jede Woche dreimal. Da kann ich ruhig einmal aussetzen. Außerdem habe ich dir ebenfalls etwas zu erzählen.« Damit ließ sie Marie perplex auf ihrem Schreibtischstuhl sitzen und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Doch Yuna hatte sie neugierig gemacht. Sie stand auf und folgte den Geräuschen, die aus der Küche kamen.
»Was hältst du von vegetarischer Carbonara?«, fragte Yuna. Ein Topf mit Wasser köchelte auf dem Herd. Beide kochten und aßen sie gerne italienisch. Unschlagbar waren die vietnamesischen Rezepte von Yunas Mutter. Die brauchten aber mehr Vorbereitung. Und dieses gemeinsame Kochen kam spontan.
»Ist das okay mit dem Training? Musst du da nicht irgendeine Strafe zahlen?« Yuna hatte mal erzählt, dass sie in ihrer Mannschaft die Regelung hatten, pro Minute, die man zu spät kam, zehn Cent in die Mannschaftskasse zu zahlen. Und womöglich wurde es richtig teuer, wenn man ein ganzes Training ausfallen ließ.
»Geht aufs Haus«, scherzte Yuna. Als sie Maries besorgten Blick sah, setzte sie hinzu: »Echt, kein Problem.« Sie lächelte aufmunternd und sagte: »Also zuerst du. Was ist los?«
Marie schnitt derweil die Tomaten, allein schon um ihre Hände zu beschäftigen. »Wahrscheinlich bin ich sowieso nicht gut genug dafür.«
Yuna unterbrach sie sofort: »Völlig falscher Beginn. Fang noch mal an. Was möchtest du tun?«
Marie atmete durch. Sie hatte es bisher niemandem gesagt. »Ich würde gerne studieren. Jura.«
»Aber das ist doch eine tolle Idee. Was ist das Problem?«
»Ich will meine Chefin nicht im Stich lassen. Sie hat so viel für mich getan. Sie hat mir das Leben gerettet.« Durch Helen Freitag war sie überhaupt erst aus ihrem tiefen schwarzen Loch gekrabbelt und hatte der Welt in die Augen geschaut. Wenn sie bedachte, dass sie, bevor sie die Ausbildungsstelle bei der Anwaltskanzlei bekommen hatte, sich nicht einmal getraut hatte, ohne Kopfhörer und Musik aus dem Haus zu gehen! Die Geräusche der Welt hätten sie sonst erdrückt.
»Und wieso würdest du sie im Stich lassen, nur weil du ein Studium anfängst?«
»Sie braucht jemanden, der ihr den Rücken freihält.«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Ich arbeite ja auch neben meinem Studium. Ist ganz normal. Ein Studium ohne Job kann sich doch keiner mehr leisten. Und wie sieht es mit dem NC aus bei Jura? Möchtest du in Bonn bleiben?«
Marie nickte. Aber so weit wie bis zu einem NC hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie hatte zwar mit einer glatten Zwei eine gute Abschlussnote geschafft, aber ob das ausreichte, wusste sie nicht.
Die Nudeln waren fertig. Yuna schöpfte sie mit einer Nudelkelle in die Pfanne, in der bereits Zwiebeln und Tomaten brieten. Marie fügte die gewürzte Eiermasse hinzu und vermengte alles.
Yuna schaltete den Herd ab und legte den Deckel auf. »Perfekt. Und während das Ganze ruht, kannst du mir erzählen, warum du dir darüber jetzt so einen Kopf gemacht hast. Ich habe Frau Freitag so kennengelernt, dass man mit ihr über alles reden kann. Ich sehe da überhaupt kein Problem.«
Yuna hatte völlig recht. Marie schloss ihre Freundin spontan in die Arme.
»Danke. Den Klaps habe ich gebraucht. Gleich nach ihrem Urlaub werde ich es mit Helen besprechen.«
»Wer Fische essen will, der muss angeln, wie meine Mutter immer so treffend sagt. Warum erst nachher?«
Marie stellte die Pfanne auf den Tisch, und sie setzten sich. »Sie macht so selten Urlaub. Und ich werde mich schlaumachen wegen des NC und so. Zwei Wochen mehr oder weniger machen jetzt auch keinen Unterschied.« Marie lud sich eine große Portion Nudeln auf den Teller. Sie hatte Appetit bekommen. »Und was hast du für Neuigkeiten?«
Yuna legte ein breites Grinsen auf. »Du glaubst mir nicht?«
Marie nickte. »Genau.«
»Tja, da liegst du falsch. Ich finde, wir beide müssen viel mehr Zeit miteinander verbringen. Wir sehen uns kaum, obwohl wir unter einem Dach wohnen. Und glaub mir, ich bin so froh, mit dir eine neue Mitbewohnerin gefunden zu haben. Nach all dem Scheiß im letzten Jahr würde mir hier sonst die Decke auf den Kopf fallen.«
Marie wusste, worauf ihre Freundin anspielte. Der ermordete Student auf dem Hennefer Campus war Yunas Freund gewesen.
Yuna fuhr fort: »Wir brauchen ein gemeinsames Hobby. Gerade jetzt im Sommer. Etwas unter freiem Himmel. Bei den Temperaturen ist es nicht angenehm in der Badmintonhalle.«
»Für Sport bin ich nicht zu haben.« Marie schüttelte den Kopf.
»Du vertraust mir doch?«, fragte Yuna.
Marie nickte.
»Gut. Ich muss noch etwas abklären, aber ich habe genau die richtige Idee für uns beide. Lass dich überraschen.«
»Hallo, Eilis. Der zweite Anruf in einem Monat. Ich hoffe, du hast es dir nicht anders überlegt mit mir als Patentante?« Eilis war mit dem dritten Kind schwanger und hatte Helen vor Kurzem gefragt, ob sie die Patenschaft übernehmen wolle. Helen hatte zwar gescherzt, dass Eilis die echten irischen Geschwister offenbar ausgegangen seien und sie auf ihre deutsche Halbschwester zurückgreifen müsse. Doch in Wirklichkeit überspielte Helen damit nur ihre Rührung. Für diese Entscheidung brauchte sie keine Zeit zum Überlegen. Sie hatte ohne zu zögern angenommen.
»Natürlich nicht, Helen. Darum rufe ich nicht an«, sagte Eilis mit belegter Stimme.
Helens Alarmglocken fingen an zu läuten. »Was ist passiert?«
Rabe, der begonnen hatte, das Sofa zu verschieben, hielt inne und schaute zu Helen herüber. Sie hielt die Luft an, um sich gegen die Antwort zu wappnen.
»Setz dich lieber erst«, sagte Eilis.
»Ich sitze die ganze Zeit. Los, sag schon.« Helen strich ihre Stirnfalte glatt, die sich immer bildete, wenn sie angespannt war.
»Der alte O’Brian ist ermordet worden.«
Es dauerte eine Sekunde, bis Helen einen Menschen mit dem Namen verbinden konnte. Angesichts der Erkenntnis wurde ihr eiskalt. »Danes Vater? Ermordet?« Sie hatte ihn nur einmal gesehen. Auf der Beerdigung von Dane. Damals hatte Dane schon mit ihm gebrochen gehabt. Das Gestüt verlassen. Ihr Freund hatte kaum über seinen Vater gesprochen.
»Ja. Finn hat ihn gefunden. O’Brian ist erstochen worden. Vor einer der Pferdeboxen.« Eilis’ Stimme wurde immer piepsiger. Sie rang nach Luft. So hatte Helen sie noch nie erlebt. »Vielleicht verdächtigen sie ihn deshalb.«
»Langsam, Eilis. Ich komme nicht mit.« Tausende Gedanken schossen Helen durch den Kopf und sackten dann wie in einer Achterbahnfahrt hinunter in den Magen. »Finn hat den Toten gefunden?« Der Ehemann ihrer Schwester arbeitete für das Gestüt der O’Brians. Das, was Helen vom Ballyhonny-Gestüt wusste, kam hauptsächlich von Eilis und ihrem Mann. Dane hatte auch darüber nie viel erzählt. »Nur weil man einen Toten findet, wird man nicht gleich verdächtigt. Da steckt doch mehr dahinter?«
»Ach, Helen. In den letzten Wochen geht es hier drunter und drüber. Der Alte hat seinen Neffen gefeuert und Finn zum Leiter des Rennstalls gemacht. Seitdem ist die Stimmung mies. Jeder geht jedem an den Kragen. Also nicht wortwörtlich. Aber jeden Abend, wenn Finn nach Hause kommt, ist er völlig fertig, nicht nur körperlich wie sonst.« Ihre Schwester hatte Finn, der damals schon am Gestüt arbeitete, vor vielen Jahren kennengelernt. Sie war aus Nordirland gekommen, um Helen in Ballyhonny zu besuchen. Alles schien perfekt. Finn und Eilis, sie und Dane. Aber dann starb Dane, und Helen kehrte Ballyhonny und ganz Irland den Rücken. Ihre Schwester war geblieben. Sie und Finn hatten geheiratet.
»Haben sie Finn verhaftet?«, fragte Helen.
»Nein. Das nicht. Aber einer der beiden Kommissare hat ihn in die Mangel genommen. Und …«, Eilis stockte, »ich glaube, Finn erzählt mir nicht alles.«
»Du glaubst aber nicht, dass er etwas damit zu tun hat.«
»Gott bewahre, nein! Trotzdem ist jeder hier in Schockstarre. O’Brian hatte sich zwar größtenteils aus dem Gestüt zurückgezogen und sich seiner Firma gewidmet. Dennoch hat immer noch er die großen Entscheidungen getroffen. Und nun scheint keiner zu wissen, wie es weitergeht.« Eilis seufzte. »Außerdem habe ich ein komisches Gefühl. Wir wohnen direkt am Gestüt, die Kinder sind fast täglich drüben, wenn sie nicht in der Schule sind.« Wieder machte sie eine Pause. »Ehrlich gesagt habe ich ein wenig Angst.«
Helen sah ihre Schwester vor sich. Obwohl sie sogar etwas größer war als Helen, war Eilis zierlicher. Dazu im siebten Monat schwanger und jetzt solche Sorgen. »Oh, Eilis. Ich wünschte, ich könnte dich in den Arm nehmen.« Sie blickte zu Rabe, der vom Sofa abließ und sich neben sie setzte.
»Das wünschte ich auch. Es gibt noch etwas«, sagte Eilis und unterbrach sich gleich wieder. »Moment. Es hat geklingelt.«
Helen hörte, wie das Telefon abgelegt wurde, vernahm dann die Stimme ihrer Schwester und eine männliche. Alles unverständlich. In Helens Magen begannen die seit Beginn des Gesprächs heruntergeschluckten Gedankenfetzen zu rumoren, so als wollten sie sich bemerkbar machen, um zu Ende gedacht zu werden. Sie griff nach Rabes Bein, und er legte beruhigend die Hand auf ihre. »Was ist denn passiert?«, fragte er.
»Gleich, ich glaube, sie kommt zurück.«
Und dann war Eilis erneut am Apparat. »Entschuldige. Es war nur der Nachbar. Dem passt wieder etwas nicht. Das kann ich gerade gar nicht gebrauchen.«
Helen atmete in den Bauch hinein, um sich zu beruhigen. »Was wolltest du mir noch sagen?«
»Der Inspektor, der Finn so auseinandergenommen hat, DI Tanner, heißt er. Der ist nicht alleine aus Dublin angerückt.«
»Ja?«
»Der Kommissar, der damals gegen Dane ermittelt hat, war bei mir.«
»Conor Bail?«, fragte Helen. Den Namen würde sie nie vergessen. Er hatte ihren Freund so unter Druck gesetzt, dass er ihn damit in den Tod getrieben hatte. Zumindest war sein Vorgehen einer der Gründe für Danes Selbstmord gewesen. Daran zweifelte Helen nicht.
»Zum Glück ermittelt der nicht alleine. Damals lag er ja total falsch.« Bail hatte Dane beschuldigt, seinen kleinen Bruder entführt zu haben. Später hatte sich herausgestellt, dass der Junge einfach nach einem Streit mit seinem Vater ausgebüxt war. Zu spät für ihren Freund. Er hatte das nie mehr erfahren.
»Ich habe ihn damals nicht erlebt, erst bei Danes Beerdigung«, sagte Eilis.
»Da ist er aufgetaucht, weil er ein schlechtes Gewissen hatte.« Helen erinnerte sich, dass sie ihm aus dem Weg gegangen war. Wie allen, die gekommen waren. Sie hatte sich nur an Eilis’ Arm geklammert und mit keinem mehr gesprochen. Gleich danach war sie zurück nach Deutschland abgereist. Aber beobachtet hatte sie den Kommissar. Sharni, Danes Mutter, hatte ihm den Handschlag verweigert. Sein Vater und dessen zweite Frau hatten ihm dagegen die Hand gereicht.
»Das mag sein, Helen. Aber er schien ganz nett. Er hat nach dir gefragt.«
»Hat er das?«
»Ja. Und er hat mir Fragen zu Dane gestellt«, erzählte Eilis weiter.
»Warum?«
»Es hat sich für mich so angehört, als ob er eine Verbindung zwischen Danes Tod und dem seines Vaters jetzt sieht.«
Helen verstand nicht. »Das ist fünfzehn Jahre her. Was sollte Danes Suizid mit dem Mord an Kevin O’Brian zu tun haben?«
»Helen! Ich glaube, was er mir deutlich machen wollte, ist, dass er nicht mehr an einen Selbstmord glaubt«, sagte Eilis. »Und er möchte dich zu den Ereignissen von damals befragen. Deshalb hat er nach dir gefragt.«
»Was?« Helen stöhnte auf. Rabe wollte fürsorglich den Arm um sie legen, doch sie stieß ihn fort. War sich ihrer Grobheit dabei bewusst, konnte den Reflex aber nicht unterdrücken. Sie hatte Jahre gebraucht, um über Danes Tod hinwegzukommen. Sie hatte gelernt, damit zu leben. Mit den Vorwürfen gegen sich selbst, weil sie seine Verzweiflung nicht erkannt hatte, und ihrem toten Freund gegenüber, der sich ihr nicht anvertraut hatte. Erst mit Rabe hatte sie ihre Angst überwunden, einer Beziehung nicht gewachsen zu sein. Dafür hatte sie so lange gebraucht, dass sie befürchtet hatte, ihn deshalb zu verlieren. Und jetzt, da sie so weit gekommen war, kam dieser Kommissar und stellte alles infrage?
»Was – willst – du – damit – sagen?«, fragte sie ihre Schwester, jedes Wort einzeln herausstoßend.
»DI Bail glaubt, dass Dane ermordet wurde, und zwar aus dem gleichen Grund wie sein Vater.«
Nachdem Helen das Telefonat mit ihrer Schwester beendet hatte, herrschte Stille im Wohnzimmer. Die Luft war so schwer davon, dass sie auf den Boden zu sinken schien und oben nicht genug Sauerstoff übrig ließ, um auch nur ein Wort zu sprechen. Helen stierte auf das halb verrückte Sofateil. Der Teppich darunter war zu einer Welle aufgebäumt. Rabe war ein Stück von ihr weggerückt. Sie spürte seinen Blick auf sich. Er erwartete eine Erklärung, doch sie wusste nicht, wie sie ihre Gefühle in Worte fassen sollte. Sie verstand sie ja selbst nicht. Fünfzehn Jahre war sie davon überzeugt gewesen, Dane habe sich umgebracht. Fünfzehn Jahre hatte sie versucht zu ergründen, warum sie es nicht hatte kommen sehen. Sie war jede Unterhaltung, jede seiner Bewegungen und Reaktionen in den letzten Wochen seines Lebens unzählige Male durchgegangen. Hatte sie analysiert, nach Spuren gesucht, die seine Tat angedeutet hätten. Fündig geworden war sie nicht. Sie hatte gelernt, damit umzugehen. Sie hatte Trost in der Arbeit gefunden, indem sie anderen half. Es war ein langer Prozess gewesen, der immer noch andauerte, der sie aber zu dem Menschen gemacht hatte, der sie heute war. Und nun stand diese Frage im Raum so aufgebläht wie der Teppich vor ihr. Sie konnte sich nicht rühren. Sie hatte das Gefühl, dass, wenn sie sich jetzt regte, ihre ganze Gefühlswelt zusammenbräche und nichts von ihr übrig ließe.
»Hey«, sagte Rabe. Seine Stimme klang lockend, so wie Musik aus einem Pub, der einen an einem klaren und kühlen irischen Abend willkommen heißt. Er würde es verstehen. Sie riss sich aus ihrer Erstarrung und blickte ihn an. Griff nach seiner Hand.
»So ist es besser.« Er atmete durch. »Und jetzt erklär mir bitte, was passiert ist. Mein Englisch ist etwas eingerostet, und deine Schwester hat schon einen sehr breiten irischen Akzent. Das Einzige, was ich deutlich verstanden habe, ist, dass du gesagt hast, du würdest kommen, und zwar sofort. Aber das kann ja nicht stimmen.«
Doch, das hatte sie. Und sie meinte es so. Es hieß, dass sie nicht mit Rabe zum Niederrhein fahren konnte. »Hast du mitbekommen, dass Danes Vater tot ist? Ermordet. Gestern.«
»Der alte O’Brian, habe ich verstanden. Das ist also Danes Vater?«
Sie nickte.
Rabe zog seine Hand unter ihrer fort und fuhr sich durchs Haar. »Und wie betrifft das jetzt deine Schwester?«
Er konnte es nicht verstehen. Bei ihren Erzählungen über ihre Schwester hatte sie immer ausgeblendet, dass Eilis jetzt dort lebte, wo Helen einst mit Dane zusammen gewesen war. »Finn arbeitet doch auf dem Gestüt vom alten O’Brian, und sie wohnen direkt nebenan.«
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Das schien mir nicht wichtig. Dane hatte da schon längst mit seinem Vater und dem Gestüt gebrochen«, sagte sie entschuldigend, woraufhin Rabe ungläubig die Augenbrauen hochzog. Und recht hatte er. Helen hatte versucht, jeglichem Gespräch über Ballyhonny aus dem Weg zu gehen. Und sie hatte bislang erfolgreich verdrängt, dass sie beim Besuch, der anlässlich der Taufe geplant war, erstmals wieder den Boden von damals betreten würde. Finn hatte zwar schon vor fünfzehn Jahren auf dem Gestüt gearbeitet, aber dorthin gezogen waren Finn und Eilis erst, seit Fee, ihre Älteste, auf der Welt war. Zuvor hatten sie in einem Vorort von Galway gewohnt. Selbst bei ihren späteren Besuchen in Irland war Helen nie nach Ballyhonny zurückgekehrt, sondern hatte sich mit Eilis immer in Galway oder bei ihrer gemeinsamen Familie in Nordirland getroffen.
»Aber jetzt ist es wichtig, warum genau?«, fragte Rabe.
»Eilis hat gesagt, dass ihr Mann mit zu den Verdächtigen gehört.«
Rabe stand auf und lief im Zimmer umher. Mit seinen langen Beinen stakste er dabei eher wie ein Storch. Kurz setzte er an, das Sofa weiterzuverschieben. Ließ dann aber abrupt ab und wandte sich ihr zu. »Und wie sollst du da jetzt bitte helfen?«
Helen schrak ob der Lautstärke seiner Worte zurück und fiel sofort in den Verteidigungsmodus. »Ich soll gar nichts. Eilis braucht meine Unterstützung. Sie sitzt da mit zwei Kindern und ist schwanger.«
»Also haben sie ihren Mann verhaftet?«
»Nein. Haben sie nicht.«
Sie stumm anblickend, forderte er eine Erklärung ein.
»Es gibt im Zusammenhang mit dem Mord an Kevin O’Brian Andeutungen, dass Danes Tod kein Selbstmord war.«
»Andeutungen?«
»Ach Mensch, Rabe. Ich weiß es doch auch nicht genau. Einer von der Gardai, der irischen Polizei, hat eine Vermutung.«
»Also irgendein Polizist hat irgendetwas angedeutet, und das reicht aus, dass du unseren Urlaub platzen lässt, verstehe.« Er wandte sich ab und begann, das Sofa wieder zurück vor den Schrank zu schieben.
Helen ging zu ihm, griff nach seinem Arm. »Jetzt lass doch das blöde Sofa.«
»Warum? Das Fotoalbum brauchen wir ja nicht mehr.« Er schüttelte sie ab und schob weiter.
»Verstehst du denn nicht? Wenn Danes Tod kein Suizid war, würde das alles ändern.«
Das brachte ihn dazu, innezuhalten. »Alles?«
Das Wort stand im Raum zwischen ihnen. Änderte es etwas an ihrer Beziehung? An ihren Gefühlen für Rabe? Nein! Nur an denen zu sich selbst. Und eines hatte sie in den vergangenen fünfzehn Jahren gelernt: auf ihr Bauchgefühl zu hören. So erklärte man das in Deutschland oft. Das hatte sie schon ihr Leben lang begleitet, und sie hatte es sich nie erklären können. Nicht rational. Deshalb hatte sie diesem Gefühl nie getraut. Erst nach ihrem ersten Besuch in ihrer anderen Heimat Irland. Dort war die Existenz solcher »alten Kräfte« in aller Bewusstsein. Und manchmal brachen sie auch bei Menschen durch, die ansonsten kopfgesteuert waren. So wie sie. Und jetzt machten sich diese Kräfte in Form eines Bauchgefühls bei ihr wieder bemerkbar. Auch sonst zog irgendetwas sie immer auf die grüne Insel. Wie eine lockende Hintergrundmusik mit leichten Flötentönen. Aber nach dem Telefonat mit Eilis hatte sich dieser Ruf in den Vordergrund gedrängt, nicht durch Lautstärke, sondern wie ein Gesang mit eindringlicheren, melancholischeren Tönen, die tief in sie drangen. Es war fast wie ein körperlicher Schmerz, der erst nachlassen würde, wenn sie irischen Boden betrat.
»Es ändert nichts zwischen uns. Aber ich kann nicht mit dir kommen. Ich muss nach Irland.«
Rabe nickte langsam. »Da bin ich mir nicht so sicher. Gerade hast du noch gesagt, dass mal meine Sorgen dran wären. Aber irgendwas ist bei dir dann doch immer wichtiger.«
»Nein! So ist das nicht. Ich kann einfach nicht anders. Ich kann es dir nicht erklären. Aber bitte versteh es doch.«
»Oh, ich verstehe es ja. Und ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Du musst ja bestimmt umpacken. Ich nehme an, dass es in Irland kälter ist als am Niederrhein. Außerdem gibt es da wohl auch bessere Golfplätze. Kann der Niederrhein nicht mithalten.« Er ließ sie stehen und ging hinüber in die Küche. Durch die Durchreiche sah sie, wie er den Kühlschrank öffnete. Er schien sich hinter der Tür verbergen zu wollen.
Helen schluckte. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie wollte zu ihm gehen, ihn umarmen und sagen, dass er ja recht hatte. Denn das hatte er. Sie hatte ihm in den letzten beiden Jahren so viel abverlangt, und er war immer für sie da gewesen. Jetzt sei er dran. Und sie hatte sich so darauf gefreut, mit ihm zusammen seine Kindheit am Niederrhein zu ergründen. All das wollte sie ihm sagen. Aber sie konnte nicht.
Ohne ein weiteres Wort verließ sie seine Wohnung.
Beruhigt schloss Dane das untere Tor zu Joys Box. Die Stute streckte ihren Kopf darüber, und der Junge streichelte ihr zum Abschied sanft den Hals. Ihr ging es gut. Es war bald so weit. Aber ein paar Tage würde es noch dauern. Trotzdem würde Joys Fohlen das erste in diesem Jahr sein, das auf dem Ballyhonny-Gestüt zur Welt kam. Er hatte ein Gespür dafür.
»Ich schaue morgen wieder nach dir. Versprochen«, sagte er und schob die Stute sanft zurück, um auch das obere Tor zu schließen. Dann lief er hinüber zum Wohnhaus, wo die gesamte Familie bereits versammelt war. Sein Vater hatte an diesem Abend alle zusammengerufen, selbst Tante Mary. Seitdem sein Onkel mit Frau und Kindern in eines der Häuser an der Straße gezogen war, sah er seine Tante nur noch an Feiertagen. Onkel Farell war schon wegen der Pferde immer auf dem Gestüt, und Emma und James sowieso. Dane überquerte den gepflasterten Hof und warf noch einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass alle Boxen vollständig geschlossen waren. Es ging kaum ein Wind heute Abend. Das war außergewöhnlich. So nah am Atlantik wehte eigentlich immer ein Lüftchen. Deshalb waren die Ställe nach Osten hin geöffnet. Heute aber zog kalte Luft von dort herein. Dunst driftete von den angrenzenden Koppeln in den Hof, so als bewegte er sich aus eigenem Antrieb. Vielleicht gab es sogar Frost. Dennoch war der Stutenstall mit seinen fünfzehn Boxen gut geschützt, er lag unmittelbar am Wohnhaus. Er beherbergte neben Joy derzeit acht weitere trächtige Stuten und war das einzige Stallgebäude gewesen, als sein Vater seinerzeit das Gestüt übernommen hatte. Inzwischen schlossen sich dahinter zwei weitere an. Die waren für die Deckhengste bestimmt und für die Jungpferde, die nicht verkauft wurden.
Dane öffnete die hintere Tür zum Haus. Wärme schlug ihm entgegen. Er streifte seine Stiefel ab. Aus der Küche duftete es verlockend. Zur Vorbereitung der großen Ankündigung seines Vaters würde es erst einmal ein üppiges Essen als Grundlage geben. Außerdem hatte er vorhin das Auto von Mums Freundin kommen sehen, die seiner Mutter immer half, wenn es für viele zu kochen galt.
Als Dane nach kurzem Waschen und Umziehen ins große Esszimmer kam, saßen schon alle bis auf seine Mutter am Tisch.
»Da ist er ja«, sagte sein Vater, sobald er hereinkam. »Und wie geht es unseren Pferdedamen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an Onkel Farell. »Er macht am Abend immer eine Runde durch den Stall.«
Dane tauschte einen Blick mit seinem Onkel. Der wusste genau, was mit den Pferden los war. Als ob er eine Erklärung dazu von seinem Schwager benötigte! Onkel Farell hatte, seitdem er nicht mehr im Haus wohnte, Dane sogar die Weisung gegeben, in der Nacht auf die trächtigen Stuten zu achten. Sein Vater war der Besitzer des Gestüts, die Quinns aber waren es, die Ahnung und das Gefühl für die Pferde hatten.
»Es geht allen gut«, erzählte er dennoch und setzte sich neben seinen Vater.
»Das ist ja hervorragend. Neun Fohlen dieses Jahr. Ich bin sehr zufrieden.«
In diesem Moment kam seine Mutter mit einer großen Schüssel herein.
»Nichts da, bevor hier irgendwelche Verkündigungen gemacht werden, wird zuerst gegessen.« Sie stellte das Stew mitten auf den Tisch. Sein Leibgericht. Dane merkte erst jetzt, wie hungrig er war. Er musste sich zügeln, nicht sofort zuzugreifen. Seiner Mutter folgte ihre Freundin nach, die ein Tablett mit dampfenden Schalen trug. Emma ging ihr entgegen und half, die Schüsseln mit Kartoffeln und verschiedenen Gemüsen auf dem Tisch zu verteilen.
»Bleib sitzen, Mary«, sagte seine Mutter, als seine Tante sich mühsam aufrichtete. Ihr ging es in letzter Zeit nicht gut. Das hatte Dane von Emma gehört, die seit Neuestem früher als sonst nach Hause ging, um ihrer Mutter zu helfen. Das war ungewöhnlich. Emma war zwar erst acht, aber schon eine begnadete Reiterin. Sie half mit den Jungpferden fast ebenso viel mit wie Dane. Und sie wollte Jockey werden. Das sagte ihr großer Bruder James zwar auch ständig, aber bei ihm war sich Dane nicht so sicher, dass er es auch schaffen würde. Emma war taff. Wenn sie mal vom Pferd fiel, was selten genug vorkam, lachte sie nur und stand sofort wieder auf. Sie hatte keine Probleme, sich die Hände schmutzig zu machen. James war weniger draufgängerisch, obwohl er zwei Jahre älter war als seine Schwester. Beide hatten eine gute Statur, um diese Laufbahn einzuschlagen. Dane wusste von Anfang an, dass es nichts für ihn war. Schon jetzt war er zu groß und kräftig. Den Körperbau hatte er von seinem Vater geerbt. Aber er wollte sowieso enger mit den Tieren zusammenarbeiten. Die Rennen waren zwar die Krönung der Arbeit, doch für ihn war der größere Lohn die Zeit, die er mit den Pferden verbringen konnte. Mehr als jeder Pokal oder jedes Preisgeld. Seine Mutter sagte ihm ständig, dass sie alle ihre guten Gene bei ihm quasi aufgebraucht habe. Deshalb habe er keine Geschwister. Ihm war es recht. Denn es half ihm, seine Träume zu verwirklichen. Er würde Veterinärmedizin studieren. Mit Pferden als Schwerpunkt. Damit würde er seinen gefühlsmäßigen Umgang mit den Tieren mit medizinischem Wissen komplettieren. Er würde der Experte für die Zucht und das Training der Pferde von Ballyhonny und ganz Irland werden. Und vielleicht ja noch darüber hinaus. Und dabei würde er das machen können, was ihm das Liebste war: Zeit mit den Pferden verbringen.
»Also, seid ihr bereit, von meinen Plänen zu hören?«, fragte sein Vater. Der Tisch war abgeräumt, Tee aufgefahren. Sein Vater und Onkel Farell gönnten sich einen Whisky.
»Zuerst habe ich eine Aufgabe für euch Kinder.« Er blickte der Reihe nach Dane, dann die ihm gegenübersitzenden Emma und James an. »Die Geburten stehen kurz bevor. Was haltet ihr davon, wenn ihr Kinder die drei Namen für die Fohlen aussucht, die zuerst geboren werden? Und zwar in der Reihenfolge eures Alters.«
»Oh ja, ich weiß schon einen«, jubelte Emma. »Soll ich ihn sagen?«
»Nein, das bringt Unglück«, wandte Onkel Farell ein. »Du musst warten, bis es geboren ist.«
Danes Mutter stieß ihren Bruder an. »So abergläubisch kenne ich dich gar nicht.« Sie blickte dabei auf Mary. Im Gegensatz zu Danes Mutter und seinem Onkel war Mary sehr katholisch und ging jeden Sonntag in die Kirche. Emma versuchte immer, dem Kirchenbesuch zu entkommen, und schlich sich schon früh in die Pferdeställe. Aber seine Tante schien völlig unbeteiligt an dem Gespräch und nippte an ihrer Teetasse.
»Und, mein Junge«, wandte sich Sharni an Dane. »Hast du schon einen Namen im Kopf? Du weißt, dass es Joys Fohlen sein wird, welches zuerst auf die Welt kommt, nicht?« Seine Mutter war jeden Morgen noch vor ihm im Stall, um nach den trächtigen Stuten zu sehen.
»Nein, nein, Sharni, diesmal hast du unrecht«, fiel ihr ihr Mann ins Wort. »Ich bin mir sicher, dass Blue Sea zuerst fohlt, sie wurde schließlich als Erste gedeckt.«
Dane schüttelte den Kopf. »Was Mum sagt, stimmt. Joy wird die Erste sein.« Er lächelte seine Mutter an. »Aber einen Namen weiß ich noch nicht. Dazu muss ich das Stutenfohlen erst sehen.«
»Hört, hört! Ein Stutenfohlen, sagt er!« Onkel Farell klopfte auf den Tisch. Dann wandte er sich an seine Schwester. »Sharni, wenn das stimmt, hat der Junge eine größere Gabe als du in diesen Dingen. Das Geschlecht eines Fohlens hast du uns bisher noch nicht vorhergesagt.«
Dane konnte nicht sagen, warum er es wusste, es fühlte sich eben so an, wenn er über Joys Bauch strich. Vielleicht lag es daran, dass er Joy am besten kannte. Seine Lieblingsstute. Ihre Geburt war die erste gewesen, die er miterlebt hatte. Er freute sich, den Namen zu vergeben. Das war eine Ehre. »Danke, Vater, dass wir die Namen wählen dürfen.« Auch Emma und James bedankten sich.
»Gerne. Das steht euch zu. Ihr seid eine große Hilfe für unser Gestüt. Wir haben es als Familie zusammen geschafft, es bis hierher zu bringen. Und damit sind wir schon bei meiner nächsten Ankündigung. Wir werden uns weiter vergrößern.« Er machte eine Pause. »Das geht aber nur, wenn ihr weiterhin alle mit anpackt.«
»Wie vergrößern?«, fragte Onkel Farell. »Wir haben letztes Jahr erst die neuen Ställe gebaut.«
»Richtig. Aber ich habe weiteres Land dazugekauft. Das ganze Gebiet von unserer östlichen Grenze bis zum Fluss. Das bedeutet, neue Koppeln und vor allem mehr Platz, um ein Trainingsgelände anzulegen. Wir werden einen eigenen Rennstall aufbauen. Und du, Farell, wirst ihn leiten.« Er legte seinem Schwager die Hand auf die Schulter. »Wenn du willst. Ich würde ungern einen Trainer von außerhalb holen.«
Es war absolut still im Esszimmer. Als sei die Zeit einen Moment eingefroren, zusammen mit dem einsetzenden Frost draußen. Dane warf einen Blick durchs Fenster. Das Pflaster auf dem beleuchteten Weg, der die Einfahrt mit dem Hinterhof verband, glitzerte bereits.
»Kevin, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich fühle mich geehrt«, begann Onkel Farell. »Aber ich war Jockey, kein Trainer. Ob ich genug Erfahrung …«
Sein Vater unterbrach ihn. »Unsinn. Du bereitest unsere Pferde seit Jahren darauf vor, zu Rennpferden zu werden. Und dann geben wir sie weg in die Rennställe. Du weißt, wie teuer so ein Trainingsplatz in einem Rennstall ist. Das können wir selbst. Du kannst das. Wir sparen und verdienen noch daran, wenn wir auswärtige Pferde ins Training bei uns nehmen. Oder fühlst du dich dem nicht gewachsen? Dann müssen wir einen anderen Trainer engagieren. Denn bauen werde ich unbedingt.«
So war es jedes Mal. Sein Vater traf die Entscheidungen im Voraus, und die ganze Familie musste mitziehen. Bisher hatte das immer funktioniert. Sie hatten sich Jahr für Jahr vergrößert, mehr Pferde, mehr Ställe, Land. Aber was den eigenen Rennstall anging, da pflichtete Dane seinem Vater bei. Denn auch er bedauerte stets, dass ihre Pferde während ihrer Rennkarriere anderswo trainiert wurden. Aus ganz anderen Gründen als sein Vater, der dabei nur auf das Geld schaute. Bevor sein Onkel etwas sagen konnte, stand Dane daher auf.
»Du kannst das, Onkel Farell. Du hast ein gutes Auge für die Pferde. Und außerdem werde ich dir helfen.«
»Das ist mein Sohn«, rief sein Vater. »Damit ist es beschlossen. Ballyhonny bekommt einen eigenen Rennstall.«
Marie schlenderte durch die Altstadt. Es war spät geworden. Die Straßenbeleuchtung brannte schon. Aus den Lokalen schien warmes Licht. In den engen Gassen war nur wenig Platz, um Tische aufzustellen. Die wenigen Außenplätze waren im Sommer daher begehrt und dementsprechend voll besetzt. Es war ein angenehm warmer Abend, nicht so heiß wie in den letzten Tagen. Von dem schönen Wetter hatte Marie allerdings kaum etwas mitbekommen. Bis auf eine kurze Mittagspause, in der sie sich einen Burger vom Schnellimbiss geholt hatte, war sie in der Kanzlei gewesen, in die kein direktes Sonnenlicht fiel. In einem so heißen Sommer eigentlich ein Segen, weil die Kanzleiräume angenehm kühl blieben. Trotzdem fühlte man sich dann dort ein wenig abgeschottet von der Welt, während draußen die Studenten an den Geschäften vorbeischlenderten, ein Eis schleckten oder in irgendeinem Café einkehrten. Würde sie dazugehören, wenn sie den Schritt wagte und ein Studium anfing?
Marie hatte ihre Pläne an diesem letzten Arbeitstag ihrer Chefin nicht mehr angesprochen. Das war auch auf jeden Fall die richtige Entscheidung gewesen. Nicht nur wegen des normal hohen Stresslevels vor einem Urlaub.
Von der Kanzlei bis zu ihrer Wohnung war es nur eine Straße, aber Marie machte einen kleinen Umweg und holte sich eine große Portion Eis. Das Eislabor in der Maxstraße bot zwar eine breite Auswahl an Eisspezialitäten an, Marie entschied sich aber dennoch für das altbewährte Spaghettieis. Das hatte sie sich nach dem Arbeitstag verdient. Und es musste als Abendessen reichen. Yuna hatte heute ein Badmintonspiel, und für sich alleine hatte sie keine Lust, etwas zu kochen. Aber als sie in der Wohnung ankam, schlug ihr beim Öffnen der Tür würziger Essensgeruch entgegen. Eindeutig mit Knofi.
»Hallo? Yuna?«, rief sie vorsichtig. Man wusste ja nie. Yuna kannte einige verrückte Leute, und manchmal tauchten die unerwartet auf. Obwohl keiner einen Schlüssel hatte. Zumindest war Marie davon bisher ausgegangen.
»Da bist du ja endlich.« Yuna streckte ihren Kopf aus der Küchentür heraus. »Und beeile dich. Ich halte das Essen schon eine halbe Stunde warm. Ist nicht gut für den Reis.«
»Was machst du hier?«, fragte Marie erleichtert.
»Ich wohne hier. Schon vergessen?« Yuna lachte. »Komm, setz dich.« Der Tisch war gedeckt inklusive Tischdecke, die Yuna bisher nur ein einziges Mal hervorgeholt hatte. Als sie ihre Eltern eingeladen hatte, um ihnen Marie vorzustellen.
»Ich dachte, du bist heute Abend beim Badminton.«
Yuna brachte zwei voll gefüllte Schalen zum Tisch. »Das Spiel ist ausgefallen. Die gegnerische Mannschaft hat kurzfristig um Verlegung gebeten, weil die nicht genug Leute zusammenbekommen haben. Geht wohl eine Magen-Darm-Geschichte rum.«
»Na, dann guten Appetit«, scherzte Marie und nahm die Stäbchen in die Hand. Yuna hatte ihr das Essen damit beigebracht, vor dem besagten Besuch ihrer Eltern. Zu Beginn hatte sie sich nicht besonders geschickt angestellt. Erst als Yuna ihr die dickeren chinesischen Stäbchen gegeben hatte, hatte es besser geklappt, und mittlerweile machte es ihr sogar Spaß, die koreanischen Gerichte ihrer Freundin auf diese Weise zu essen.
»Genau. Ich hoffe, du hast Hunger. Ist reichlich da.«
Marie gestand Yuna, gerade noch ein Eis gegessen zu haben. »Ich hab ja nicht damit gerechnet, dass du hier bist. Aber ich hab trotzdem noch Hunger. War heute keine Zeit zu essen, zu Mittag nur einen schnellen Hamburger.«
»So stressig?«
»Mehr als gedacht. Nicht nur die ganzen Fristsachen vor dem Urlaub. Bevor wir überhaupt angefangen haben zu arbeiten, hat Helen erst einmal erzählt, dass es eine kleine Urlaubsänderung bei ihr gab.«
»Sie fährt nicht morgen?«
»Schon. Aber nicht mit ihrem Freund an den Niederrhein.«
»Sondern?«, fragte Yuna. Bei Geschichten über Maries Chefin hörte sie immer gern zu. Yuna war ebenso wie Marie vernarrt in Bücher, sie träumte sogar davon, eines Tages selbst eines zu schreiben. Und sie fand, Helen Freitags Leben tauge hervorragend als Vorlage.
»Sie fliegt nach Irland. Und zwar alleine ohne ihren Freund.« Marie berichtete von dem Anruf der Schwester ihrer Chefin, dem Mord und dem Streit mit Rabe, genauso wie Helen es im Schnelldurchlauf am Morgen erzählt hatte. »Die Stimmung war deshalb nicht die beste.«
»Dann hast du deinen Plan nicht erwähnt?«, fragte Yuna.
»Nein. Hatte ich auch nicht vor. Außerdem kann ich so noch überlegen.«
»Davon will ich nichts hören. Es ist eine tolle Idee. Genau das Richtige für dich. Du musst Neues probieren. Auf eigenen Füßen stehen. In deiner Kanzlei hast du es dir eingerichtet wie in einem schönen Nest.«
Marie war eigentlich ganz zufrieden damit.
Yuna blieb dran. »Wo wir gerade von Neuem reden: Ich habe eine Überraschung.«
Marie schlug der Bissen, den sie eben heruntergeschluckt hatte, auf den Magen. Sie mochte warme kuschelige Nester, keine Überraschungen. Sie hatte schon einige in ihrem zwanzigjährigen Leben erlebt, und die waren heftig genug gewesen. Angefangen damit, dass sie vor drei Jahren erst erfahren hatte, dass sie adoptiert war.
Yuna beruhigte sie sofort. »Keine Angst, ist nichts Lebensveränderndes. Und wenn es dir nicht gefällt, lassen wir es eben wieder sein. Aber du liebst doch Tiere aller Art. Und meine richtige Cousine …« Yuna lachte, und Marie ließ sich anstecken. Im letzten Jahr am Campus in Hennef hatten sie sich als Cousinen ausgegeben.
»So ist es besser«, sagte Yuna. »Cara ist da so ähnlich wie du. Oder übertriebener. Sie ist sogar Mitglied in einer Tierschutzorganisation. Außerdem hat sie mittlerweile zwei Hunde und eine Katze. Und … «, sie machte eine bedeutungsschwere Pause, »sie ist regelmäßig beim Reiten. Mehr noch, sie arbeitet in einem Reitstall.«
»Du machst Scherze.« Ja, Marie liebte Tiere. Und Pferde zeichnete sie gern. Sie fand sie wunderschön. Aus sicherer Entfernung.
»Komm schon. Lass es uns probieren. Der Reiterhof von Cara ist in Niederkassel. Ich habe mit ihr gesprochen. Wir können morgen vorbeikommen.«
»Um zu reiten?« Marie riss die Augen auf.
»Cara sagt, die haben prima Anfängerpferde.«
»Ich weiß nicht.«
»Gib dir einen Ruck. Du musst ja nicht gleich aufsteigen. Wir können uns erst einmal nur umsehen.«
»Na gut«, sagte Marie nach einer weiteren Gabel Reis. »Aber nur gucken und nicht anfassen.«
»Jeder so, wie er mag«, sagte Yuna. »Ich hab mir vorgenommen, es sofort zu probieren. Ich kenne da ein Sprichwort.«
Marie verzog den Mund. »Das größte Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.«
»Genau! Ich werde ab jetzt Sprichwörter auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Und mit dem fange ich an«, sagte Yuna, die Bibliothekswissenschaftlerin. »Wäre kein schlechtes Thema für meine Abschlussarbeit.«
Damit brachte sie Marie zum Lachen. »Dann lass uns mal Hals über Kopf in dieses Abenteuer stürzen.«
Helen stand am Gepäckband des Dubliner Airports und wartete auf ihren Koffer. Rabe hatte recht gehabt, sie hatte umgepackt und ihr Reisegepäck um Pullover und Regenjacke ergänzt. Sie hatte den deutschen Hochsommer hinter sich gelassen. Hier war es mindestens zehn Grad kühler und bewölkt.