Irrfahrt - Toine Heijmans - E-Book
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Irrfahrt E-Book

Toine Heijmans

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Beschreibung

Ein Vater nimmt seine sieben Jahre alte Tochter mit auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Abgeschieden vom Rest der Welt, gehören sie mehr denn je zusammen. Bis etwas passiert, das ihr Leben völlig auf den Kopf stellt. »Irrfahrt« ist ein spannender Roman über Eltern und Kinder und die Angst, alles zu verlieren. Das Buch wurde verfilmt und in acht Sprachen übersetzt; in Frankreich wurde es mit dem renommierten Prix Médicis étranger ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Toine Heijmans

Irrfahrt

Roman

Aus dem Niederländischen von Ilja Braun

Widmung

Für Elsa

Für Michiel

Prolog

»There is no reason for harmful …«

Solosegler Donald Crowhurst, 1969

Letzter Satz aus dem Logbuch

»Er war der Architekt seines eigenen Niedergangs.

Er wollte etwas tun, was katastrophal schiefging.«

Sein Sohn Simon Crowhurst, 2006

Aus einem Interview mit der Times

1

Die Wolken hatte ich nicht gesehen. Sie müssen sich hinter meinem Rücken zusammengezogen haben. Sie müssen auf Befehl aufmarschiert sein. Nun hängen sie vor dem Bug, in Gefechtsaufstellung. Wie flache Kiesel, schiefergrau am Himmel, ein gigantisches Mobile von Wolken, wie früher eines über ihrem Kinderbett gehangen hat.

Die Wolken verdunkeln den Morgen. Sie nehmen dem Meer das Licht. Stundenlang hat der Mond die Wellen beschienen, wie ein Nachtlicht über das Boot gewacht. Aber jetzt ist das Licht aus, und ich stehe alleine da.

Es muss Morgen werden. Es muss heller werden. Aber es wird nur dunkler, als würde das Boot zurückfahren in die Nacht. Als gäbe es eine Wahl: zurück oder vorwärts. Aber es gibt keine Wahl. Ich habe es nicht mehr in der Hand.

Ich muss auf die Karte schauen. Ich muss auch etwas trinken, aber kann die Thermoskanne mit dem Tee nicht finden. Und warum funktioniert der Kompass nicht? Warum muss ich über Dinge nachdenken, die ich sonst automatisch tue?

Die Wolken scheinen an Angeldraht zu hängen: enorme, schwebende Ovale. Es wird Regen geben. Die ­Wolken deuten darauf hin. Und mit dem Regen kommt der Wind, in heftigen Böen. All das ist vorhersehbar und unvorhersehbar zugleich.

Als Erstes muss ich die Segel einholen, sicherheitshalber. Sonst zerreißt sie der Wind. Dann muss ich mir über das Gewitter in den Wolken Gedanken machen. Von vorn höre ich das Grollen. Gleich stürzen die Blitze herab, in langen Strängen, suchen sich ein Ziel und schlagen ein.

In den Häfen unterwegs habe ich jede Menge Geschichten darüber gehört: Segelboote, die vom Blitz getroffen werden, bersten und in Flammen aufgehen. Der Blitz trifft die Spitze des Mastes, eine Millisekunde später springt er ins Wasser über, und alles, wirklich alles an Bord wird zerstört.

Es waren immer dieselben Geschichten, von wechselnden Personen nacherzählt. Selbst kenne ich niemanden, der tatsächlich vom Blitz getroffen worden wäre. Warum sollte gerade mein Boot für die Blitze interessant sein? Dafür ist es zu klein, der Mast ragt keine fünfzehn Meter hoch auf. Ein Tropfen im Meer. Es hat keinen Sinn, gerade mein Boot zu vernichten. Auf mein Boot kommt es nicht an.

Ich steige in die Kajüte, um das Handy zu suchen. Ich muss es in den Backofen legen. Im Hafen von Thyborøn habe ich einen Fischer getroffen, der das auch immer macht. Bei einem Unwetter braucht gar nicht erst der Blitz einzuschlagen, hat der Fischer gesagt. Es reicht schon die elektrische Ladung: Everything breaks down, you know.Außer im Backofen. Der Backofen ist ein faradayscher Käfig. Der einzige Ort, in den nichts von außen eindringt.

Ich sollte selbst in diesen Backofen hineinkriechen. Verschwinden, fort von allem, was mich umgibt. Aber das geht nun mal nicht. Ich bin nicht alleine auf dem Boot. Ich habe meine Tochter dabei; sie schläft. Ich muss dafür sorgen, dass sie durchschläft, bis das Unwetter vorbei ist. Bis wir zu Hause sind. Dann habe ich sie sicher übers Meer gebracht, von Dänemark bis nach Hause. Ohne Probleme.

Ich lege das Telefon in den Backofen. Ich weiß nicht, ob es etwas nützt, aber zumindest hilft es mir beim Nachdenken. Solange ich noch daran denke, das Telefon in den Backofen zu legen, habe ich den Überblick.

An Bord muss man routiniert und ausgeglichen sein, das beruhigt. Die Festmacher links im Ankerkasten. Kaffee um acht. Stiefel unter Deck. Regelmäßig die Positionsdaten ins Logbuch schreiben. Die Wettervorhersage im Seefunk hören. Bei Sonnenuntergang die Flagge einholen. Bei drohendem Unwetter das Telefon in den Backofen legen.

Überleben beruht auf Routine. Wenn etwas schiefgeht, sollte man wissen, wo genau sich was befindet. Ohne Routine purzeln die Gedanken durcheinander. Man denkt plötzlich an alles auf einmal: an die Wolken, den Backofen, den Kaffee, die Stiefel, die Flagge. An das Logbuch, die Festmacher. An die eigene Tochter, die in der Koje liegt und schläft.

Wenn das Denken aufhört, übernimmt das Meer.

2

Thyborøn liegt vierundvierzig Stunden zurück. Zweihundertdreißig Seemeilen Entfernung. Die ganze Reise spielt keine Rolle mehr. Jetzt kommt es darauf an, dass alles heil bleibt.

Noch ist es das. Das Boot sieht prächtig aus. Ein aufgeräumtes Deck. Stolze Segel. Die Kajüte ist niedrig, ich kann gerade aufrecht darin stehen. Durch die kleinen Bullaugen sehe ich das Meer, als ob ich ein Teil davon wäre. Als ob ich drin schwimmen würde.

Die Kajüte ist so klein, dass ich Hände und Füße gegen die Wände stemmen kann, wenn das Wetter schlecht wird. An Backbord ist die Kombüse, ein Gaskocher auf einem Ofen, der so aufgehängt ist, dass er mit jeder Welle vor- und zurückschaukelt. Der Ofen hat Seemannsbeine. So kann man auch kochen, wenn es stürmt.

In der Kajüte hängt der vertraute muffige Geruch. Ich finde mich blind zurecht: die Seekarten flach auf dem Kartentisch, der Überlebensanzug an einem Haken. Ein gefütterter, roter, wasserdichter Overall, der dazu dient, mich etwa eine Stunde am Leben zu erhalten, falls ich über Bord gehe. Erst hing er in der Koje. Ich habe ihn weggenommen, weil Maria das wollte. Sie hatte von dem Anzug geträumt. Eine neben ihrem Bett baumelnde Leiche.

Kinder unterscheiden weniger klar zwischen Traum und Wirklichkeit. Es wäre gut, wenn Erwachsene das auch öfter mal so hielten. Die Wirklichkeit ist manchmal ein Traum, würde ich sagen. Und umgekehrt.

Am ersten Abend unserer Segeltour stand Maria plötzlich im Niedergang.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie. »Es quietscht und knarrt überall.«

»Das geht mir auch immer so in der ersten Nacht auf See«, sagte ich.

»Darf ich bei dir bleiben?«

»Morgen. Jetzt leg dich erst mal wieder hin. Auf See muss man schlafen, das ist wichtig.«

»Aber dann musst du den Toten da wegnehmen. Das Ding da. Das ist so gruselig.«

»Gut, ich hänge ihn weg.«

Ich nahm den Überlebensanzug vom Haken. Dann brachte ich Maria wieder in die Koje, steckte sie ins Bett und sang ihr Lieder vor, die ich ihr schon als Baby vorgesungen hatte. Sie schlief ein.

Ein einziges Mal ist sie noch wach geworden in jener Nacht. In der nächsten Nacht gar nicht mehr.

Maria ist ein starkes Kind. Sie hat nur selten Angst. Zumindest keine Erwachsenenangst, die sich wie ein Eisenring um den Kopf legen kann. Kinderangst ist anders. Die lässt sich leicht vertreiben. Wie eine Lampe, die man an- und ausknipst: Man braucht bloß etwas vorzusingen oder sich eine Geschichte auszudenken, schon muss Maria lachen und schläft ein. Richtige Angst bekommt man erst später.

Jetzt schläft sie, und ich muss mich gegen meine eigene Angst zur Wehr setzen. Ich muss ruhig bleiben. Wenn ich selbst ruhig bin, bleibt auch Maria ruhig. So funktioniert das bei Kindern.

Ich steige aus der Kajüte, greife die Pinne und schaue aufs Meer und in die Nacht. Die Schieferwolken sinken herab. Es ist kein schöner Anblick, die Wolken kommen mir vor wie Soldaten. Sie bringen sich in Stellung. Gleich kommt der Sturm, da bin ich jetzt sicher.

Ich muss ihr das Ölzeug hinlegen, für den Fall, dass sie gleich wach wird und hochkommt. Ich muss ihr erklären, dass das letzte Stück bis nach Hause ein bisschen unangenehm wird. Ein bisschen rucklig. Das Boot wird krängen und sich weit auf die Seite legen, sie wird sich festhalten müssen. Das wird sie schon verstehen. Sie wird fragen, ob sie davon seekrank wird.

Es ist kalt hier draußen. Ich schaue in den Himmel. Ich muss eine Entscheidung treffen. Weiterfahren kann gefährlich sein. Der Sturm treibt mich vielleicht auf eine der Sandbänke, die hier rundum liegen, unsichtbar, wie schlafende Wale. Auf der Seekarte schaue ich nach den Untiefen, den Fahrrinnen, den Sandbänken, der nicht mehr weit entfernten Insel. Es sind viele Wracks eingezeichnet.

Ich will nach Hause.

Ich kann Hagar nicht noch länger warten lassen. Sie macht sich bestimmt Sorgen und vermisst ihre Tochter. Mich vermisst sie vielleicht auch. Es ist lange her, dass ich mich so nach Hagar gesehnt habe.

Eigentlich müsste ich erschöpft sein. Zwei Nächte ohne Schlaf, und ich bin völlig klar im Kopf. Aber ich traue der Sache nicht. Ich fühle mich einfach zu gut. Ich bin zu stark. Es geht zu leicht. Ich habe alles im Blick. Aber wie durch ein Fenster aus zerkratztem Plexiglas. Ich spüre alles, ich erinnere mich an alles. Ich bin noch nie gut darin gewesen, vorauszudenken, zu Hause nicht, und hier auch nicht. Handy in den Backofen. Logbuch bereithalten. Entscheidungen treffen. Eine Schachpartie auf See. Und Maria ist als großes Opfer mit an Bord.

Heute Nacht habe ich eine Kinderstimme gehört. Es war nicht ihre. Ich konnte die Stimme nicht verstehen. Aber sie war da. Ich bin an Deck gegangen, um zu suchen, und habe ins Kielwasser geschaut, aber da war kein Kind zu sehen. Vielleicht waren es bloß meine eigenen Gedanken, die ich da gehört habe.

Ich denke zu viel nach. Ich muss den Überblick behalten und eine Entscheidung treffen. Entweder den Sturm abwarten oder schnell nach Hause segeln.

Ich treffe eine Entscheidung.

»Wir bleiben hier und warten«, sage ich laut zu mir selbst. »Ich muss einen Aufschießer machen, das Boot stoppen und den Anker werfen. Beim ersten Morgenlicht fahren wir weiter. Bloß nicht am Ende noch Fehler machen. Du bist müde, auch wenn es dir nicht so vorkommt. Du siehst Dinge, die gar nicht da sind, du hörst Kinderstimmen. Du musst bei der Sache bleiben. Du hast es versprochen.«

Die Wolken hängen jetzt so tief, dass ich die Spitze des Mastes nicht mehr sehe. Die See darunter liegt regungslos. Ich brauche nicht aufzuschießen, das Boot hält den Atem an. Das Wasser scheint zu Beton erstarrt. Die Wolken haben die See geplättet, den Wind eingesaugt. Die Segel hängen schlaff in ihren Lieken. Ich muss sie einholen und den Motor anwerfen. Falls gleich der Sturm kommt.

Aber erst starre ich zu den Inseln. Sie sind ganz nahe. Ich kann sie schon sehen: kleine Hügel, die sich dunkel im Wasser abzeichnen. Wie von Kinderhand aus schwarzem Karton geschnitten und in die Nacht geklebt.

Noch ist es still, aber gleich kommt der Wind.

Ja, das wird jetzt das Beste sein: auf See bleiben und abwarten, bis der Wind aufzieht und sich wieder legt. Hier hat mein Schiff genug Platz. Hier kann es die Wellen abreiten, ohne aufzulaufen. Ein Schiff, das aufläuft, ist verloren. Es wird durch schäumende Brecher auf immer höheren Grund getragen, und wenn es kaputt ist, zieht das Wasser sich zurück und sucht eine neue Beute.

Ich sehe fünf Leuchttürme. Jede Insel hat einen. Unbeirrbar, fast schon begierig kreisen ihre Lichter. Fünf Irrlichter, die mein Boot an Land locken wollen. Komm her, sagen sie, komm her. Nein, hier bin ich richtig. Hier ist das Leben besser als dort.

Wärter sitzen in den Türmen. Ich weiß, dass sie mich sehen mit ihrem Radar, mit ihren Ferngläsern. Wahrscheinlich haben sie mich schon geplottet auf ihren Radarbildschirmen, ein Punkt mit dem Namen meines Boots daneben. Ismael, Segeljacht, Callsign PB3356. Vielleicht hat der Leuchtturmwärter eine Notiz gemacht, für den Kollegen, der ihn gleich bei der Nachtschicht ablösen wird. Auf so einem gelben Klebezettel. Mit Bleistift, zum Wegradieren.

Still liegende Jacht oberhalb des Stortemelk. Im Auge behalten.

Alle Auffälligkeiten notieren. Das haben sie gelernt, die Leuchtturmwärter.

3

Wenn mein Boot hier liegen bleibt, so nahe an der Insel, wird ein Leuchtturmwärter mich anfunken und fragen, was das soll. Antworte ich dann oder nicht?

Vierundvierzig Stunden war ich außer Sicht, und jetzt saugt die Welt mich wieder ein. Mit allem, was dazugehört. Leuchttürme, Radar, Ferngläser, Leitfeuer, Nachtsicht, Tonnen, Seefunk, Handys. Die Adleraugen der Leuchtturmwärter. An unsichtbaren Drähten ziehen sie mich aufs Land. Ob ich will oder nicht. Mit vereinten Kräften hieven sie mich heraus. Und wenn es nicht die Menschen tun, dann die Flut. Bald wird die Flut mein Boot einsaugen, in das Seegatt zwischen Terschelling und Vlieland. Das Wasser wird mich durch die Fahrrinnen und Priele tragen. So muss es sein. Man kann nicht ewig weitersegeln; irgendwann wollen sie einen wieder an Land haben. So habe ich es auch mit Hagar abgesprochen: Ich komme auf jeden Fall zurück.

Wenn ich mich an diese Abmachung nicht halte, werden sie mein Boot hineinschleppen. Zurück zu den Menschen und ihren Dingen. Man kann ausfahren, aber irgendwann muss man wieder in einen Hafen einlaufen. So ist das nun mal geregelt in der Welt. Die Boote, die für immer draußen bleiben, sind die gesunkenen.

Außerdem war ich nun lang genug unterwegs.

Mit Hagar habe ich lange darüber gesprochen, warum ich Maria mitnehmen wollte. »Ich möchte Maria etwas beibringen«, sagte ich zu Hagar. »Ihr zeigen, dass man auch anders leben kann. Dass man keine Marionette zu sein braucht, wenn man nicht will. Keine Puppe an Fäden, die andere in der Hand halten, nicht abhängig davon, was sich gehört, was als akzeptabel oder normal gilt. Ich möchte ihr zeigen, dass es eine andere Welt gibt, mit anderen Regeln. Ihr zeigen, wie es ist, auf dem Meer zu leben.«

Ich fand diese Worte selbst ziemlich übertrieben, aber sie wirkten. Eine Zeit lang sträubte sich Hagar gegen meinen Plan. Aber dann durfte Maria plötzlich doch mit.

»Hör auf mit deiner Marionette«, sagte Hagar. »Du willst einfach mal was Verwegenes mit deiner Tochter unternehmen. Sag das doch. Das versteh ich schon.«

Hagar, die Mutter. Meine Frau. Sie ist nicht weit weg. Ich könnte sie jetzt anrufen oder ihr eine sms schicken. Über einen Funkmast auf dem Festland bekomme ich bestimmt ein Netz. Auf all diesen Leuchttürmen stehen Mobilfunkmasten. Bestimmt, bei so vielen Antennen.

Ich könnte das Telefon aus dem Ofen holen, aber der Akku ist fast leer. Ich habe das Ding die ganze Reise über an gelassen, auch wenn es keinen Empfang hatte. Schon eine Stunde, nachdem ich aus Thyborøn ausgelaufen war, stand »Kein Netz« auf dem Display, und trotzdem habe ich es nicht ausgeschaltet. Vielleicht aus Faulheit. Besonders vernünftig war es nicht.

Manchmal tut man Dinge, von denen man weiß, dass man sie besser nicht tun sollte. Aber man tut sie trotzdem. Ich habe mich schon öfter gefragt, warum das so ist.

Manchmal stecke ich einen falschen Palstek in eine Leine, von dem ich weiß, dass er nicht halten wird. Und trotzdem lasse ich ihn so. Wenn er sich dann löst, ist es meine eigene Schuld. Niemand sonst hat den Palstek gebunden. Er geht auf, und ich denke: Siehst du wohl? Der war nicht fest. Wusst ich’s doch. Und dann mache ich es wieder.

Ich steige zurück in die Kajüte, öffne den Ofen und hole das Telefon heraus. Es hat Empfang. Eine kleine rote Lampe leuchtet auf, und es gibt Töne von sich: eine sms, eine Mail, eine Sprachnachricht – ich will das Ding am liebsten ausschalten, damit ich nicht an zu Hause denken muss, wo sich alle gegenseitig sms und Mails und Sprachnachrichten schicken, wo es Millionen kleine Blinklichter auf Millionen von Handys gibt.

Ich schaue auf das Display.

Eine der vielen sms kommt von zu Hause. Es ist die einzige, die ich öffne. Verschickt drei Stunden nach unserer Ausfahrt aus Thyborøn.

Von: HAGAR mob

Alles in Ordnung? x H

Regentropfen fallen auf das Display, durch den Niedergang. Es sind feine Tröpfchen, fast noch Nebel. Ich ­steige die Kajütentreppe hinauf und schaue nach draußen. Das Boot liegt in Dunst gehüllt. Das Meer ist spiegelglatt. Die Insel kann ich nicht mehr sehen, wohl aber das Licht des Leuchtturms. Es ist ein fahles Licht. Als würde dort jemand stehen und eine Öllampe schwenken.

Ich starre auf das Display des Handys.

Ich schreibe eine sms.

An: HAGARmob

10 Meilen vor Tersch. Will Morgen abwarten. Alles ok an Bord, aber Regen. ETA Harlingen 12.00. Macht Spass zus. xxx

Die Antwort kommt sofort. Hagar hat ihr Telefon anscheinend neben dem Bett liegen. Wahrscheinlich hat sie die ganze Nacht wach gelegen, genau wie die vorige; wahrscheinlich hat sie ein Buch gelesen, ohne wirklich darin zu lesen, und hat im Fünf-Minuten-Takt auf ihr Telefon geschaut, ob eine Nachricht von mir gekommen war. Bestimmt hat sie sich Sorgen gemacht und angefangen, ein Buch zu lesen, um sich abzulenken. Ich frage mich, ob ihr das gelungen ist.

Hagar ist eine starke Frau, aber manchmal gibt sie vor, stärker zu sein, als sie ist. Das muss ich in Zukunft stärker beachten.

Ich denke nie gründlich genug über solche Dinge nach.

Und wenn doch, ist es oft schon zu spät. Genau wie bei dem Palstek.

Wenn ich etwas will, zum Beispiel Maria mitnehmen auf die Nordsee, dann mache ich das auch. Dann schiebe ich die von Hagar und dem Rest der Welt vorgebrachten Bedenken einfach beiseite, mit allen Gründen, die mir auf die Schnelle einfallen. Ich wollte Maria mitnehmen auf See. Vater und Tochter. Von Dänemark in die Niederlande, von Thyborøn nach Hause. Achtundvierzig Stunden fernab der Welt. Ja, das war ein verwegener Plan. Was wäre verwegener, als mit der eigenen Tochter über die Nordsee zu segeln? Es ist alles gut gegangen, es war ein schöner Törn, aber vorher weiß man das schließlich nicht. Man weiß es immer erst hinterher. Letztlich ist es auch für mich eine Erleichterung, dass es so gut gelaufen ist.

Hagar wollte sich nicht anstellen, uns nicht dauernd in den Ohren liegen. Die Mutter, die überall Gefahr wittert, für ihre Tochter und ihre Familie. Die Angst hat, dass ihr Kind sich die Jacke schmutzig macht.

Hagar nimmt sich etwas vor und zieht es durch, auch wenn sie sich selbst damit quält. Beschlossen ist beschlossen.

Maria wollte nichts lieber, als mit mir zur See zu fahren. Ich stelle mir vor, wie wohl der Abschied der beiden verlaufen ist. Das war sicher nicht leicht. Hagar wird für Maria die Tasche gepackt haben. Maria wird durchs Zimmer gelaufen sein und immer wieder gerufen haben: »Ich fliege zu Papa, ich fliege zu Papa.« Bis Hagar sie zum Flughafen gebracht hat.

Und als sie wieder nach Hause kam, war sie allein.

Ich nehme an, Hagar hat sich tagelang schlecht gefühlt, ohne es sich anmerken zu lassen. Vielleicht fühlt sie sich immer noch schlecht. Das kann ich schon verstehen. Sie hat mir ihre Tochter ausgeliefert, mir, ihrem Mann. Das Wertvollste, was sie besitzt, hat sie jemandem ausgeliefert, dem sie zwar vertraut, aber der vorher auch nicht wusste, wie die Sache ausgehen würde, Vater und Tochter zusammen auf See. Es muss ihr vorgekommen sein, als hätte sie ihre Tochter in eine Flasche gesteckt und an der dänischen Küste ins Meer geworfen. Eine Flaschenpost, von der man nur hoffen kann, dass sie eines Tages irgendwo an Land gespült wird.

Und jetzt ist ihre Tochter auf See, unerreichbar für die Arme und Blicke ihrer Mutter. Es macht sie bestimmt ganz krank. Ja, sie nimmt wahrscheinlich Paracetamol gegen die Kopfschmerzen. Wenn Maria bloß mal eine Nacht bei einer Freundin schläft, bekommt Hagar schon Kopfschmerzen.

Aber für Schuldgefühle ist es zu spät. Ich habe Maria mitgenommen. Jetzt muss ich zeigen, dass es die Sache wert war. Ich muss Hagar zeigen, dass ihre Sorgen grundlos waren.

Wie sehr eine Mutter an ihrer Tochter hängt, ist für den Vater nicht zu verstehen. Bei Kindern denken Mütter anders als Väter. Hagar hat sich schon in ihrer ­Jugend vorgenommen, eines Tages Mutter zu werden. Sie hat ihre Kinderpuppen aufgehoben, für Maria. Das ist das Geheimnis der Mütter: Erst bekommen sie die Puppen von ihren Müttern, dann wollen sie eigene Puppen, dann wollen sie Kinder, und die Kinder bekommen auch wieder Puppen. Und Kinder. So reihen sich die Generationen aneinander.

Trotzdem habe ich es getan. Ich habe meine Tochter mitgenommen. Es war eine Entscheidung. Und wenn man Entscheidungen trifft, muss man sie auch umsetzen. Es war eine gute Entscheidung. Ein fantastischer Törn über eine fantastische Nordsee. Dort drüben liegt schon Terschelling.