Issa - Mirrianne Mahn - E-Book

Issa E-Book

Mirrianne Mahn

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Beschreibung

Kunstvoll verwebt Mirrianne Mahn die Schicksale von fünf Frauen miteinander, deren Leben mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen und doch über die Linien kolonialer Ausbeutung und dem Streben nach Selbstbestimmung verbunden sind. Ein empowerndes, ein kraftvolles, ein eindringliches Debüt. Eigentlich will Issa diese Reise gar nicht antreten. Schwanger sitzt sie im Flugzeug nach Douala, angetrieben von ihrer Mutter, die bei der bevorstehenden Geburt um das Leben ihrer Tochter fürchtet. In Kamerun, dem Land ihrer Kindheit, soll sie den heilsamen Weg der Rituale gehen, unter den Adleraugen ihrer Omas. Doch so einfach ist das alles gar nicht, wenn man in Frankfurt zu schwarz und in Buea zu deutsch ist. Der Besuch wird für Issa eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und der Gewissheit, dass sowohl Traumata als auch der unbedingte Liebes- und Lebenswille vererbbar sind. «Ich kenne ihre Geschichten so gut, dass ich manchmal glaube, ich hätte sie selbst erlebt.»

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Seitenzahl: 371

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mirrianne Mahn

Issa

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Ich kenne ihre Geschichten so gut, dass ich manchmal glaube, ich hätte sie selbst erlebt.»

 

Eigentlich will Issa diese Reise gar nicht antreten. Hochschwanger sitzt sie im Flugzeug nach Douala, angetrieben von ihrer Mutter, die bei der bevorstehenden Geburt um das Leben ihrer Tochter fürchtet. In Kamerun, dem Land ihrer Kindheit, soll sie den heilsamen Weg der Rituale gehen, unter den Adleraugen ihrer Omas. Doch so einfach ist das alles gar nicht, wenn man in Frankfurt zu Schwarz und in Buea zu deutsch ist. Der Besuch wird für Issa eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und der Gewissheit, dass sowohl Traumata als auch der unbedingte Liebes- und Lebenswille vererbbar sind.

 

Kunstvoll verwebt Mirrianne Mahn die Schicksale von fünf Frauen miteinander, deren Leben mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen und doch über die Linien koloniale Ausbeutung und Streben nach Selbstbestimmung verbunden sind. Ein empowerndes, ein kraftvolles, ein eindringliches Debüt.

Vita

Mirrianne Mahn wurde 1989 in Buea/Kamerun geboren und wuchs in einem kleinen Dorf im Hunsrück auf. Mittlerweile lebt sie in Frankfurt, wo sie sich als Aktivistin und Theatermacherin gegen Diskriminierung und Rassismus engagiert. Sie ist Referentin für Diversitätsentwicklung und Antidiskriminierung und seit 2021 Stadtverordnete in Frankfurt am Main. Für ihr politisches Engagement wurde sie vom FOCUS Magazin zu einer der 100 Frauen des Jahres 2021 gewählt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte Vorsatz Peter Palm, Berlin

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Oluwole Omofemi

ISBN 978-3-644-01848-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Latisha und Jayden

Issa, 2006

Morgenübelkeit. Das liest sich so leicht in den Babyblogs, die ich seit Wochen täglich durchforste. Ich dachte, ich hätte eine Vorstellung davon, was es bedeutet. Ich dachte, dass ich morgens aufwachen und dann eilig auf die Toilette rennen würde. Morgens halt oder höchstens noch, wenn mir der Geruch von verdorbenem Essen in die Nase steigt oder der typische U-Bahn-Duft meine Sinne betört. Das vergeht, haben sie gesagt. Iss kleine Mahlzeiten, haben sie gesagt. Trage immer Zwieback in der Tasche, haben sie gesagt. Lügen, alles Lügen.

Ich sitze in einem Air-France-Flugzeug, im Landeanflug auf den Douala International Airport. Seit dem Start in Paris vor sechs endlosen Stunden habe ich mit Übelkeit zu kämpfen. Ich habe alles versucht: Ich habe versucht zu schlafen, Zwieback und Cracker in kleinen Hamsterbissen gegessen und mir Watte in die Nase gesteckt, um dem Whiskey-Atem der Dame auf Platz 18D und dem Geruch von abgestandenem Flugzeugbrokkoli zu entkommen. Bisher habe ich recht gut durchgehalten. Seit fünf Wochen weiß ich, dass ich schwanger bin, und seit dem Tag des positiven Schwangerschaftstests habe ich angefangen, mich mehrmals täglich zu übergeben. Mittlerweile stört es mich kaum noch, und ehrlich gesagt habe ich auch nicht mehr die Energie, jedes Mal danach meine Zähne zu putzen. Kaugummis und Taschentücher sind nun meine ständigen Begleiter, und die Erfahrung hat gezeigt, dass es nicht immer eine Toilette sein muss. Gullys, Büsche und Tüten sind völlig ausreichend. Daher betrachte ich es als große Errungenschaft, dass ich es nach einer kurzen Session auf der Damentoilette im Flughafen Charles-de-Gaulle bis hierhin geschafft habe. Die gelben Anschnallzeichen leuchten auf.

«Sehr geehrte Fluggäste, wir beginnen nun mit dem Landeanflug auf den Douala International Airport.»

Ein bedrohliches Gluckern ertönt aus meinem Magen.

«Bitte kehren Sie zu Ihren Sitzplätzen zurück und legen Sie Ihren Sicherheitsgurt an.»

Mein Mund füllt sich mit Speichel.

«Ich bitte Sie, Ihren Sitz in eine aufrechte Position zu bringen …» Ich würge. «… sowie Ihre Vordertische hochzuklappen.»

Mit jedem Meter, den das Flugzeug sinkt, bahnt sich mein Mageninhalt den Weg nach oben. Ich klingele nach der Flugbegleiterin. «I need to vomit. Ich muss mich übergeben. – Äääh, je muss äää je vet remettre …», versuche ich es auf Französisch. Sie eilt davon und kommt kurz darauf mit einer Papiertüte zurück. Papier? Ernsthaft? Komm schon. Nur noch zehn Minuten, bis wir landen. Du schaffst das. Komm schon. Draußen erstreckt sich ein dunkelgrünes Meer aus Bäumen. Das Flugzeug gleitet im Halbdunkel über den saftigen Urwald und scheint auf ihm landen zu wollen. Die bisherigen Landungen, die ich erlebt habe, kündigten sich immer durch die Lichter der angeflogenen Stadt an. Doch in diesem Fall ist weit und breit kein einziges Haus zu sehen. Für einen kurzen Moment scheint sich meine Übelkeit zu legen. Adrenalin schießt stattdessen durch meine Adern.

Es ist ironisch, dass ich ausgerechnet jetzt sterben könnte, wo ich doch gekommen bin, um meinen Tod zu verhindern. Zumindest wenn man meiner Mutter Glauben schenkt. Sie hat mich dazu gedrängt, diese Reise anzutreten, nachdem sie geträumt hatte, dass ich bei der Geburt meines Kindes sterben würde, wenn ich nicht sofort in mein Geburtsland Kamerun zurückkehren würde, um dort die Rituale durchzuführen, die eine Frau vor der Geburt ihres ersten Kindes abschließen muss. Zudem hatte ich von einer gelben Schlange geträumt und war so dumm gewesen, ihr davon zu erzählen. Die Kombination unserer Träume hatte sie veranlasst, um zwei Uhr morgens bei mir und meinem Freund vor der Tür zu stehen. Dort hatte sie panisch verkündet, dass sie nicht tatenlos zusehen würde, wie ein Kind seiner Familie ihre Tochter ins Grab bringt. Meine Mutter hatte bereits einen Sohn verloren, und so versicherte sie dem müden und überforderten zukünftigen Kindsvater, der im Bademantel vor ihr stand, dass sie den Fötus lieber eigenhändig aus mir herausprügeln würde, als ihre älteste Tochter – mich – zu Grabe zu tragen.

Die einzige Möglichkeit schien anfangs zu sein, das Kind abzutreiben, wenn ich überleben wollte. Das vermittelte mir jedenfalls meine Mutter, und mein Vater wollte sowieso kein Großvater sein. Acht Tage und viele dramatische Szenen später – inklusive des Eintreffens meiner Tante Frida aus den USA sowie einer Aunty aus Marseille – wurde jedoch beschlossen, dass ich einfach nach Kamerun fliegen solle, um dort Rituale im Wert von mehreren Tausend Euro durchzuführen. Nicht nur die Tarotkarten, die meine Tante Frida gelegt hatte und die meinen baldigen Tod zeigten, unterstützten die These meiner Mutter, auch der untrügliche Instinkt der Aunty, die behauptete, mein Freund, dieser kleine blonde Mann, wolle mir nichts Gutes und würde mir langfristig nur Schmerz und Trauer bringen, verunsicherten mich. Alle bestätigten meine Mutter, dass ich nach Kamerun musste, um dort Rituale vorzunehmen. Rituale konnten in meiner Familie alles sein. Von kleinen und großen Festen zu besonderen Lebensereignissen, wie Bornhouse nach der Geburt eines Kindes, oder irgendetwas, um böse Augen abzuwehren. Ich erinnerte mich an Geschichten von blutigen Ritualen mit Menschenopfern, von mythischen Orten und geheimnisvollen Ereignissen in Kamerun, die mir in meiner Kindheit erzählt wurden, aber was davon wahr ist und was nicht, ich weiß es nicht. Auch wenn ich befürchtete, meine Mutter veranstaltete dieses Theater, um mich zu kontrollieren, wie sie es bereits mein ganzes Leben wollte, war es mir insgeheim ganz recht, etwas Abstand von allem zu gewinnen, um mir darüber klar zu werden, wie ich dieses Leben gestalten möchte, jetzt, wo ein Kind dazukommen würde. Und sicher ist sicher. Ich liebe dieses Kind. Also buchte ich den Flug.

Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus. Ein großer Fehler. Der beißende Duft des Aftershaves meines Sitznachbarn umgeht die Watte in meinen Nasenlöchern und lässt meinen Magen in gewohnt schmerzhafter Art zusammenzucken. Ich bin fasziniert von der Reißfestigkeit des so fragil scheinenden Papierbeutels. Meinen Sitznachbarn scheint diese Tatsache hingegen nicht zu beeindrucken, er ist inzwischen ein wenig blass um die Nase geworden, fängt sich aber schnell wieder. Zum Glück, denn ich habe mich nicht sechs Stunden lang zusammengerissen, um nun von einem verschwitzten Mittsechziger und seinem Mageninhalt belästigt zu werden. Als ich das klimatisierte Flugzeug verlasse und durch den Verbindungsgang zum Terminal gehe, stoße ich gegen eine unsichtbare Wand, so heiß und schwül ist die Luft. Innerhalb weniger Sekunden bin ich schweißgebadet, und meine Leinenhose mit dem lockeren Hosenbund klebt unangenehm an meiner Haut und zwingt mich dazu, unnatürlich langsam zu gehen, um möglichst wenig Reibung zu erzeugen. Das letzte Mal bin ich 1996 in Kamerun gewesen, als meine Mutter das 25. Todesjubiläum ihres Vaters mit einer siebentägigen Gedenkfeier beging. Sie hatte ihre Verwandten aus aller Welt zusammengetrommelt, um ihnen zu zeigen, dass sie nun eine bedeutende Persönlichkeit war. Damals hielt ich meine Mutter für verrückt, heute tue ich es immer noch, doch auf andere Weise. Denn ich kenne ihre Geschichten so gut, dass ich manchmal glaube, ich hätte sie selbst erlebt. Meine Mutter hat 81 Geschwister, denn sie ist das 72. Kind von Chief Fokumla Thompson des Bokowa-Buea-Stammes, der ein Großneffe des berühmten Chiefs von Douala, Rudolf Manga Bell, war. Ihr Vater hatte 32 Frauen. Polygamie ist in Kamerun auch heute noch verbreitet, und meine Mutter betont immer, dass 32 selbst für damalige Verhältnisse eine unverschämt hohe Anzahl an Frauen war, was sie jedoch nicht verwerflich findet, vielmehr untermauerte es seinen Status als mächtiger Mann. Nachdem die erste außereheliche Affäre meines Vaters ans Licht kam, fragte ich meine Mutter, warum sie nicht wütend war und ihn verließ. Sie lachte mich aus und meinte, monogame Männer seien schwach: «Ich schneide meinem eigenen Mann doch nicht seine Eier ab.» Verrückt. Ich würde meinem Freund nach einer Affäre nicht nur die Eier abschneiden, sondern sie ihm wahrscheinlich am nächsten Morgen zum Frühstück servieren. Meine Oma erzählt, dass Chief Fokumla die vielen Ehefrauen nicht alle gleichzeitig hatte. Viele verließen ihn aus Eifersucht, sobald er sich eine neue, jüngere Frau ins Haus holte. Meistens wurden sie jedoch, wenn sie in ihre Elternhäuser zurückkehrten, abgewiesen, da niemand bereit war, die Mitgift zurückzuerstatten. Die Frauen kehrten dann entweder zurück an seinen Hof oder verkrochen sich bei weit entfernter Verwandtschaft, in der Hoffnung, dass der Schandfleck ihrer Scheidung über die Jahre verbleichen möge. Meiner Oma war die Promiskuität ihres verstorbenen Ehemanns stets ein Dorn im Auge. Sie behauptete einmal, sie hätte vier Frauen überredet, ihn gemeinsam zu verlassen, doch eine der Frauen habe sie verraten, um den Platz ihrer Kinder an der Seite ihres Vaters zu zementieren und damit auch ihre finanzielle Zukunft zu sichern. Daraufhin seien alle zu ihm zurückgekehrt.

Die erste Frau eines Mannes war das Herzstück der vielschichtigen Familienkonstellation. Sie genoss innerhalb des Gefüges automatisch ein hohes Ansehen und besaß Autorität über die nachfolgenden Frauen. Ihre Meinung zählte bei wichtigen Entscheidungen, und oft war sie es, die die Geschicke der Familie mit kluger – oder manchmal weniger kluger – Hand lenkte. Ihre Stellung resultierte nicht nur aus ihrer chronologischen Vorherrschaft, sondern auch aus ihrer Rolle als Mutter der ersten Kinder. Meine Oma hatte sich, auch ohne die erste Frau zu sein, einen gewissen Respekt verdient, konnte Entscheidungen beeinflussen, doch ohne die Zustimmung der ersten Frau ging nix. Dies führte natürlich zu einem anstrengenden Kräftespiel zwischen den Frauen, geprägt von Verhandlungen, Kompromissen und dem Erhalt ihrer Machtpositionen.

Für meine Mutter hingegen war ihr Vater unfehlbar. Sie sprach oft strahlend von diesem imposanten Mann, der sie jeden Tag mit dem Mercedes oder dem Jaguar zur Schule fuhr, von seiner Zuneigung und Zärtlichkeit und davon, dass er seine Kinder nie schlug, obwohl es damals üblich war und bis heute noch ist, Kinder zu züchtigen. Sie erzählte von den kleinen, schönen und manchmal auch unschönen Begebenheiten, die sie mit ihm verband und die sie teilweise auch mit mir und meinen beiden Geschwistern wiederholte, wie das Schlecken von Honigwaben oder die Einläufe mit Kräutertee, die wir alle paar Wochen bekamen. Doch wenn sie über die Zeit nach seinem Tod sprach, wurde sie traurig und verbittert. Denn ihre Verbindung war immer eine besondere gewesen, sie und ihre Schwester lebten ohne ihre Mutter bei ihm. Sein Tod hatte das Leben, wie sie es kannte, von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt.

Vor zehn Jahren kehrte sie, mich im Schlepptau, für sechs Wochen nach Kamerun zurück und kaufte auf dem Weg von Douala nach Buea einen neuen Mercedes-SUV. Gemeinsam mit einer Entourage von drei weißen Männern fuhr sie zu dem Haus, das sie einige Jahre zuvor für ihre Mutter und Großmutter gebaut hatte. Allein die Tatsache, dass weiße Männer für sie arbeiteten und nicht umgekehrt, machte sie zu einer mächtigen Erscheinung. Innerhalb weniger Tage hatte sich die Nachricht im ganzen Land verbreitet, und im Radio hörte man, dass Ayudele Brinkmöller, geborene Fokumla, zurückgekehrt sei, um ihrem Vater Ehre zu erweisen. Täglich bildete sich eine Schlange von Menschen vor dem Hoftor, lang verloren geglaubte Verwandte strömten herbei, um zu beteuern, wie sehr sie damals immer bereit gewesen wären zu helfen. Auch der ein oder andere Halbbruder, der noch lebte, kam vorbei und erinnerte sie daran, wie großzügig sie alle gewesen waren und welche Schulhefte sie ihr und ihrer Schwester gekauft hatten. Einer von ihnen ging sogar so weit zu behaupten, er habe ihr Erbteil jahrelang für sie aufbewahrt, sich gewundert, als sie dann mit dem weißen Mann nach Deutschland ging, und erst dann zugelassen, dass Einbrecher das Geld aus der Kiste unter seinem Bett stehlen konnten. Meine Mutter machten die Lügen dieses Mannes, der auf der Beerdigung ihres Vaters betrunken versucht hatte, sie anzugrabschen, sauer, und sie schärfte mir immerzu ein, dass man den Worten eines Mannes nie bedingungslos Glauben schenken darf, egal wie sehr er weint oder was er auch verspricht. Sie hat es auf die harte Tour gelernt. Aber diesen Quatsch hätte ich auch ohne ihr Mantra niemals geglaubt.

Vier Wochen lang wurden die Feierlichkeiten geplant. Dazu gehörte der Bau eines Mausoleums für das Grab meines Großvaters, das mit Marmor verkleidet wurde. Eine halbe Herde Rinder und mindestens zehn Ziegen wurden geschlachtet. Die Getränke wurden tagelang mehrmals täglich in großen Transportern geliefert, und ich erinnere mich noch an die ein oder andere Tante, die in ihrem Stuhl einschlief und am nächsten Morgen aufwachte, sich frisch machte und lautstark nach Kuchen und Bier verlangte. Sogar Präsident Paul Biya kam mit seinen Ministern, von denen einige Brüder und Söhne des Chief Fokumla waren. Ich schüttelte so vielen nahen und fernen Verwandten die Hände und zählte so viele Cousinen und Cousins, viele davon extra aus Europa angereist, dass ich beschloss, niemals einen Mann zu daten, der biologische Verbindungen nach Kamerun hatte, da es durchaus möglich war, mit ihm verwandt zu sein. In diesen Wochen erlebte ich als Teenagerin zum ersten Mal die Kultur meiner Mutter und genoss sie in vollen Zügen. Diese Traditionen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und die alle Nachkommen, egal wo auf der Welt sie mittlerweile lebten, selbstverständlich weitertrugen. Da gab es den Cousin aus Frankreich, der mühelos seinen maßgeschneiderten Anzug gegen die traditionelle Agbada tauschte, und die Tante, die in London als Anwältin arbeitete und gleichzeitig als Priesterin Hühner für eine der zahlreichen Zeremonien schlachtete.

Die Feier war ein riesiger Erfolg, und meine Mutter verließ das Land als Heldin all derer, die damals aufgrund ihrer korrupten Halbbrüder Probleme gehabt hatten – und als neue Todfeindin ebendieser. Meine Mutter erzählte mir zum ersten Mal wenigstens ein bisschen von ihrer Kindheit, und ich begriff, dass auch sie Ungerechtigkeiten erfahren hatte, dass sie trotz eines reichen Vaters hatte Hunger leiden müssen, da einzelne Männer ihre Gier über das Wohlergehen anderer gestellt hatten. Und dass meine Mutter es gewagt hatte, ihre Geschichte umzuschreiben, sie sich geweigert hatte zu akzeptieren, dass sie in einer Welt lebte, die ständig nur Geschichten erzählte, in denen Mädchen und Frauen die Opfer waren. Doch kaum jemand ahnte, dass meine Mutter den Kredit, den sie für die Feier aufgenommen hatte, noch jahrelang abbezahlen würde und dass diese Aktion ihre Ehe beinahe geschrottet hätte. Es war ein großer ausgestreckter Mittelfinger an ihre Vergangenheit, und weder die Neider noch die Bewunderer konnten ahnen, dass ihre hochpubertierende Tochter, die sechs Wochen lang gezwungen wurde, ausschließlich Weiß zu tragen, um böse Geister und Flüche abzuhalten, zehn Jahre später als schwangere, unverheiratete Frau am Flughafen Douala eintreffen würde, um im Urwald lebensrettende Voodoo-Rituale durchzuführen.

In der Ankunftshalle ist es laut, stickig und staubig. Mein Begrüßungskomitee besteht aus George, der sich durch die Menge der wartenden Menschen einen Weg zu mir bahnt und mich gerade rechtzeitig erreicht, um einen Taschendieb davon abzuhalten, meine Bauchtasche mit einem Teppichmesser aufzuschneiden. Gelassen hievt er meinen Koffer auf seinen Kopf und zieht mich am Arm durch die Menge zu einem zerbeulten, gelb gestrichenen Toyota Corolla. Der Wagen hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen und wird größtenteils mit Klebeband zusammengehalten. Bevor George mich auf den Rücksitz bugsiert, sagt er mir noch verschwörerisch, dass ich nicht sprechen soll, bis wir in das andere Auto steigen, und umarmt mich etwas unbeholfen. Es ist mir unangenehm, weil ich schwitze und mein Atem in Kombination mit einem Streichholz wahrscheinlich halb Douala in Brand setzen kann. Während wir im Schritttempo durch die vollgestopften Straßen fahren, kann ich meinen Blick nicht von den bunten Neonröhren abwenden, die die Kneipen und Bars erleuchten. Das warme Licht erfüllt die Nacht. Es erinnert mich an meinen letzten Besuch in Kamerun, als ich mit meiner Mutter das highlife erkundete. Wie stolz ich damals gewesen bin, in einer Bar zu sitzen und meine Limo zu schlürfen. Damals war ich noch ein Teenager, aber ich fühlte mich wie eine Erwachsene, während ich zwischen den lebhaften Straßencafés und den bunt beleuchteten Bars umherschweifte, ich war unbeschwert und naiv. Ganz anders jetzt mit meinem Koffer voller Beziehungs-, Übelkeits- und Elternprobleme sowie einem Kind im Bauch.

Auf dem Bürgersteig verkaufen Frauen gebratenen Fisch, frittierte Plantains und Poff Poff. Bei dem Geruch von frittiertem Teig habe ich sofort Hunger. Ich brauche unbedingt und sofort Suya. Als der nächste Stand in Sicht ist, möchte ich George bitten anzuhalten, da fällt mir seine Anweisung wieder ein, nicht zu sprechen. Also beobachte ich in Zeitlupe, wie der Stand an uns vorbeizieht, der Duft der leckeren Fleischspieße in scharfer Erdnusspaste schleicht sich durch das offene Fenster und bleibt im Auto hängen. Mein Magen knurrt. Nach wenigen Metern kommen wir zum Stehen, und der Fahrer stimmt in das wütende Hupkonzert der anderen Autofahrer ein. Ein Junge tritt ans Fenster und preist knusprig gebratene Suya-Spieße aus einem Korb auf seinem Kopf an. Sofort laufen Tränen über meine Wangen, diese elenden Hormone, obwohl ich mich mittlerweile fast daran gewöhnt habe, wegen allem weinen zu müssen. Gerade möchte ich einfach nur Suya essen, und ich weiß nicht, warum ich nicht sprechen darf.

«Ashya Sista. Weine doch nicht», sagt mein Onkel und dreht sich panisch zu mir um. «Eh, Issa, warum weinst du? Hör auf. I beg. Was ist los?»

Ob ich einfach normal sprechen soll? Seine Anweisungen ignorieren? Oder sollte ich ihm lieber ins Ohr flüstern und riskieren, dass er durch meinen Mundgeruch das Bewusstsein verliert? Ich entscheide mich für Schluchzen: «Ich hab Hunger. Auf Suya.»

«Eh eh», ruft George aus und springt aus dem Auto.

«Boi, boi … komm her. Gib mir das Suya, oh.»

Der Taxifahrer tritt auf die Bremse, was rein gar nichts ausmacht, da wir eh stehen. Er flucht und fragt, ob George verrückt geworden sei, einfach aus dem Auto zu springen. Mitten in seiner Tirade steigt mein Onkel wieder ein und reicht mir drei Sorten Suya mit verschiedenen Soßen und einer Sprite.

«Sie ist schwanger», erklärt er dem Fahrer, dessen Schimpftirade daraufhin sofort verstummt. «Chop, Schwester. Chop.»

Ich habe vergessen, dass schwangere Frauen hier in der Regel wie Königinnen behandelt werden, denn man kann sich nie sicher sein, ob das ungeborene Kind nicht eine Reinkarnation einer Ahnin ist. Deshalb werden alle Wünsche und Gelüste der Schwangeren, die natürlich vom Fötus stammen, unter Umständen aber ja Wünsche und Gelüste einer Ahnin oder eines Ahnen sein könnten, erfüllt. Die Wünsche der Schwangeren werden zu Befehlen. Und wie mit Befehlen deiner Elders umzugehen ist, bekommt jede von uns schon mit der Muttermilch einverleibt. Wer auch nur in zweiter oder dritter Generation von afrikanischen Eltern erzogen wurde, weiß, dass ein gutes Kind die Wünsche oder Befehle der Eltern und Großeltern am besten via Telepathie erkennt, bevor die Erwachsenen sie überhaupt äußern. Und wenn es schon so weit gekommen ist, dass die Tante nach einem Glas Wasser fragen muss, ist deine einzige Option, ihr nicht nur einfach ein Glas Wasser – eins mit und eins ohne Sprudel, eins mit und eins ohne Eis – zu bringen, sondern auch gleich noch einen Tee mit viel Zucker und eine Cola darzureichen.

Ich versenke meine Zähne in das knusprige Rindfleisch. Schon der erste Bissen versetzt meine Geschmacksnerven in helle Aufregung. Das Fleisch schmilzt wie Butter in meinem Mund, die Gewürze sind vertraut und beruhigend. Ich möchte, dass jeder Bissen ein Leben lang anhält. Mit jeder Sekunde werde ich glücklicher und genieße das Prickeln der leichten Schärfe auf meiner Zunge. Mittlerweile haben wir die Innenstadt verlassen, und der Taxifahrer lässt uns auf einem Parkplatz außerhalb von Douala raus, wo wir in einen silbernen VW Passat Kombi umsteigen. Ein neues Modell. Mein Onkel George setzt sich ans Steuer, und ich stelle nach wenigen Metern erleichtert fest, dass unser neues Transportmittel über eine Klimaanlage verfügt, die das Auto in wenigen Minuten auf eine erträgliche Temperatur herunterkühlt. Wie umständlich kann es eigentlich sein, jemanden vom Flughafen abzuholen? Aber George ist davon überzeugt, dass es besser ist, unser Glück hinter einem leichten Hauch von Rost und einem Haufen Klebeband zu verstecken und zu schwitzen, anstatt mit einem neuen Auto am Flughafen vorzufahren, um unseren angeblichen Reichtum vor den bösen Blicken der Diebe und Betrüger zu schützen. Wenn dich jemand fragt, wie es dir geht, zeigst du ihm deine Autoreparatur-Rechnungen. Wenn er immer noch fragt, zeig ihm die Dellen.

Zum ersten Mal seit meinem Abflug am Frankfurter Flughafen heute Morgen kann ich mich etwas entspannen. George taut langsam auf und fragt mich nach meiner Reise, jedoch nicht, ohne vorher das Befinden jedes einzelnen Verwandten in Deutschland zu ergründen, von dem er auch nur entfernt etwas gehört hat.

«Wie geht es allen zu Hause?»

«Es geht allen wirklich gut.»

«Ah, das ist großartig. Und wie geht es deiner Mutter?»

«Es geht ihr gut.»

«Und Onkel Jürgen? Wie geht es ihm?»

«Meinem Vater geht es auch gut.»

«Und die Zwillinge, Dante und Nala? Wie geht es ihnen?»

«Ihnen geht es auch gut.»

«Ah, schön, das freut mich zu hören. Und wie geht es deiner deutschen Großmutter?»

«Auch ihr geht es gut.»

«Hat sie immer noch den kleinen Hund?»

«Ja, hat sie.»

«Ah, das ist schön. Und wie geht es dem Hund?»

So geht es fast eine halbe Stunde, bis ich ihm auch alles über die ihm unbekannte Familie meines angeheirateten Onkels berichtet habe. Beim Erzählen fällt mir auf, dass mein Cousin aus den USA überhaupt nicht «in Ordnung» ist, da er vor einem halben Jahr verhaftet wurde und noch immer in Untersuchungshaft sitzt, da niemand die festgesetzte Kaution bezahlen kann. Aber ich verzichte darauf, mich in solchen Details zu verlieren. Ich verzichte auch darauf, ihm zu erzählen, dass ich nicht mehr zu Hause wohne, sondern in Sünde mit meinem Freund.

Wir fahren durch Limbe und Mutengene, und ich bin überrascht, wie vertraut mir die kurvige Fahrt, die stetig bergauf geht, vorkommt. Als ich George aus Versehen erzähle, dass ich die Mutter meines Freundes nicht kenne, weil sie gestorben ist, als er 15 Jahre alt war, und er in ein kurzes Gebet für das Glück ihrer unsterblichen Seele verfällt, taucht auch schon das Haus meiner Großmütter vor uns auf. Das Tor zum Grundstück ist so breit, dass auch ein Sattelschlepper problemlos hindurchfahren könnte. Meine Großmütter wohnen selbst für deutsche Verhältnisse recht großzügig. Ihr Haus liegt wie alles in Buea am Hang und besteht aus drei üppigen Stockwerken und zwei Einliegerwohnungen, die sie gegen den Willen meiner Mutter an Studierende vermieten. Der Betonkoloss ist in einem auffälligen Türkis gestrichen, und die große Tür aus schwerem Bubinga-Holz wird von zwei protzigen Säulen gesäumt, vor denen jeweils eine lebensgroße Löwenstatue aus Terrakotta thront. Meine Mutter hat das Haus auf dem gleichen Grundstück gebaut, auf dem einst das kleine Holzhaus meiner Omas stand, in dem auch ihre Schwester und sie gelebt haben. Sie kaufte noch zwei der benachbarten Grundstücke dazu, riss das kleine Holzhaus mit dem Wellblechdach ab und ersetzte es durch ein großes Haus mit Garten, Kieswegen und kitschigen Steinfiguren, einschließlich Gartenzwergen in Dirndl und Lederhosen.

Es ist inzwischen so spät, dass nur meine Großmutter Namondo, die strengere von beiden, uns erwartet. Die freundlichere ist meine Uroma, die ich Mbambah nenne. Mbambah bedeutet Oma. Und Marijoh kümmert sich nicht nur um ihre eigenen Enkel und Urenkel, sondern um alle, die eine Oma brauchen, weshalb sie auch von allen Mbambah genannt wird. Sie verschläft anscheinend gerade die Ankunft der zurückgekehrten Tochter. Genau genommen bin ich ihre Urenkelin, aber sie bezeichnete alle ihre weiblichen Nachkommen als Tochter. Die strenge Oma ist eine kleine Frau, die mir gerade bis zum Kinn reicht. Sie ist eine stolze und resolute Erscheinung, und ihre tief liegenden Augen spiegeln jahrzehntelange Weisheit wider. Sie geht jeden Sonntag in die Kirche und achtet darauf, dass man beim Essen nicht schmatzt und sich auch gründlich hinter den Ohren wäscht. «Respektiere Erwachsene. Bete vor dem Essen. Arbeite hart. Wasch dich vor dem Schlafen. Kratze dich nicht am Hintern.» Sie lebt nach klaren Regeln und erwartet von ihrer Familie, dass sie diese respektieren und befolgen. Disziplin und Ordnung sind für sie von größter Bedeutung, und ich habe manchmal den Eindruck, dass sie nur dann glücklich ist, wenn alle um sie herum arbeiten. Das alles vermittelt sie, ohne zu schreien oder laut zu werden, ihre erhabene Ruhe ist Autorität genug. Anscheinend hat auch sie schon geschlafen, denn sie steht ohne Perücke, nur mit ihrem Haarnetz und einer Kaba in der Tür. Sie muss das Auto schon von Weitem gehört haben, denn um diese Uhrzeit herrscht ansonsten Totenstille. In ihrer festen Umarmung fühle ich mich sofort geborgen. Die Fältchen um ihre Augen sind wie eine Karte, die das Labyrinth ihres Lebens zeichnet. Ihre Kaba duftet nach dem Lavendel ihres Mottenpulvers und ihre Haare nach Kokosöl. Ich atme ihren Geruch tief ein und möchte kurz die Augen schließen, aber sie bugsiert mich schnell ins Haus, seufzt und befreit mich mit hektischen Handbewegungen von den unsichtbaren bösen Blicken, die ich auf dem Weg vom Flughafen zu ihr eingesammelt habe.

An den Flurwänden hängen Fotografien ihrer Kinder und Enkelkinder. Mein zweijähriges Ich strahlt mich mit einem angebissenen Maiskolben aus einem goldenen Rahmen an der Wand an, mit fettigen Wangen sitze ich auf Mbambahs Schoß. Andere zeigen meine Großmütter in glücklichen Momenten, etwa nach der Fertigstellung des Hauses. Sie stehen zwischen meiner Mutter und meinem Vater, der wie immer als einziger Weißer an der Wand seltsam deplatziert wirkt. Hier ist die ganze Familie gegenwärtig, obwohl viele von ihnen über die ganze Welt verteilt leben. Mein Lieblingsfoto zeigt Mbambah, George und mich. Wir stehen eng umschlungen, strahlend vor Glück, und es erzählt von unseren gemeinsamen Momenten voller Abenteuerlust. Die Erinnerung an diese unbeschwerten Tage zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und wärmt mein Herz. Damals war alles noch nicht so kompliziert.

Der Fußboden besteht aus altmodischen Fliesen mit kaleidoskopischen Mustern in Gelb-, Rosa- und Grüntönen. Alle Türen stehen offen, als ob sie darauf warten, uns zu empfangen. Der Esstisch ist so reich gedeckt, als ob eine große Familie erwartet würde, und aus der Küche dringt ein köstlicher Duft. Das Bild von den dichten tiefgrünen Feldern, auf denen wir früher Eru geerntet haben, steigt vor meinem inneren Auge auf. Beim Anblick dieser vertrauten Szenerie umspült mich eine Welle von Wärme und Geborgenheit. An diesem Ort habe ich mich schon immer wie zu Hause gefühlt, und ich hoffe, dass ich hier meine Sorgen für einen Moment hinter mir lassen kann. Dass ich nicht die ganze Zeit über meinen Freund und Kindsvater, nicht über meine Mutter und ihre Wünsche nachdenken muss und auch nicht darüber, dass ich Angst habe, am Ende allein mit diesem Kind dazustehen und eine noch größere Schande für diese Familie zu sein, als ich es eh schon bin.

Ich rieche Eru, Quakoko und Bangasoup. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, aber bevor ich es ganz begreife, verschlucke ich mich schon, und das Suya und die Sprite ergießen sich auf den Fußboden. Meine Oma schnalzt empört mit der Zunge und ruft nach Epossi, während sie mich ins Bad begleitet. Epossi ist eine der vielen Cousinen, die, glaube ich, gar keine echten Cousinen sind, und eine nervige Person, mit der ich schon seit meiner frühesten Kindheit in einem Konkurrenzkampf stehe, auch wenn ich nicht weiß, warum. Meine Oma hilft mir aus den Klamotten und reicht mir Seife und eine Zahnbürste. Dankbar putze ich meine Zähne und wasche mich mit dem warm dampfenden Wasser aus einem Eimer, den die verschlafene Epossi durch die Tür geschoben hat. Ich schlüpfe in die Kaba, die für mich bereitgelegt ist, und krame aus meinem Handgepäck eine frische Unterhose. Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, bemerke ich, dass jemand bereits geputzt hat, und ich schäme mich. Auf dem Esstisch stehen dampfende Schüsseln mit meinem Lieblingsgericht, und ich freue mich auf das Essen, doch das Eru ist so scharf, dass mir die Ohren klingeln und ich versucht bin, das Abendessen zu beenden, bevor es richtig angefangen hat, aber meine Oma knurrt: «Chop, ich mach keine Scherze.» Ihr zu widersprechen, wäre keine gute Idee.

Meine Oma ist trotz ihrer Strenge eine der fürsorglichsten Frauen, die ich kenne. Sie hegt und pflegt ihre Enkel und ist nach den Geburten aller sechs Kinder ihrer Töchter sofort zu ihnen geeilt, um die Neugeborenen bis zu ihrem ersten Geburtstag zu hüten und zu verwöhnen. Für ihre Enkelkinder waren fester Körperkontakt beim Einschlafen genauso selbstverständlich wie selbst gedichtete Lieder zu jeder Uhrzeit. Sie trug sie auf ihrem Rücken, bis sie laufen konnten, und manche sogar noch weit darüber hinaus. Sie lernte nach der Geburt meiner Cousine Zoe in den USA Englisch, nach der Geburt meiner Geschwister sogar Deutsch, um ihnen ‹Hänschen klein› fehlerfrei vorsingen zu können. Und um meinen Vater zu beeindrucken. Ich bin die Ausnahme. Meine Mutter brachte mich drei Monate vor der Geburt meines Onkels George zur Welt, und so kam es, dass meine Omas George und mich in den ersten Jahren gemeinsam großzogen, während meine Mutter ihr Studium in Nigeria fortsetzte. Oma stillte uns sogar abwechselnd, wodurch ich nicht wirklich den Status eines Enkelkindes habe, sondern eher wie eine Tochter von ihr behandelt werde – eine Tochter mit Nesthäkchenbonus, was in diesem Fall bedeutet, dass sie mich immerhin nicht schlägt. Ich bin also das einzige Enkelkind, das meine Oma wütend kennt und in ihrer Anwesenheit einfache körperliche Arbeiten verrichten darf. Die typischen Sprüche einer Schwarzen Mutter kenne ich ausschließlich von meiner Oma: «Warum weinst du? Wenn du nicht aufhörst, gebe ich dir einen Grund zum Weinen.» Oder: «Nein, es gibt kein Eis, wir haben Eis zu Hause.» Oder: «Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche.» Auch der Pantoffel, der nach einer frechen Bemerkung knapp an meinem Kopf vorbeisaust, kommt von ihr. Inzwischen bin ich mir sicher, dass sie mich absichtlich verfehlt, denn gerade erwischt sie George treffsicher mit ihrem gelben Flip-Flop am Kopf. Sein Kichern über meine Versuche, mich hechelnd und schmatzend mit dem Quakoko in Palmölsoße abzumühen, verstummt sofort. Tapfer zwinge ich einen Bissen nach dem anderen herunter und befehle meinem Körper, dass wir uns erst wieder übergeben, wenn diese Mahlzeit komplett verstoffwechselt ist.

In meinem Zimmer brummt die Klimaanlage, und ich bin kurz davor, mich selbst mit dem Moskitonetz zu erdrosseln, als ich endlich den Eingang zum Himmelbett finde. Erschöpft und vollgefuttert lasse ich mich in die unzähligen Kissen fallen. Mein Körper fühlt sich an wie ein schwerer Zementsack, und meine Zunge steht in Flammen. Als ich meine Augen schließe, denke ich an mein Baby.

Enanga, 1903

Enanga kniete auf dem staubigen Boden des Feldes und grub nach Cassava-Wurzeln. Die Hitze der Trockenzeit lastete schwer auf ihr, die Sonne brannte unbarmherzig auf ihr Gesicht. Ihr Korb lag neben ihr und füllte sich langsam mit den erdigen Schätzen, die sie sorgfältig ausgrub. In der Ferne hörte sie das Zirpen der Zikaden, deren zartes Lied den heißen Nachmittag begleitete. Ein paar Vögel zwitscherten über ihr in den kargen Bäumen auf der Suche nach Schatten und Nahrung. Enanga hob den Blick, um den Stand der Sonne zu überprüfen. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie noch vor dem Heimweg bei der Arbeit ihrer Mutter vorbeischauen wollte. Ihr Blick wurde von einem Adler gefangen, der am Himmel kreiste. Oh, wie sie sich sehnte, ein Adler zu sein, jenes majestätische Geschöpf der Lüfte, das seine Sehnsucht mit ausgebreiteten Schwingen ergriff und sich leicht wie ein Hauch emporhob. Wie der sanfte Atem des Morgens wollte sie sein, nicht die Pflicht haben, die Alten zu pflegen oder die jungen Kinder zu hüten. Keine Felder zu bestellen und Stoffe zu weben, nicht mehr dieser Schatten der Verantwortung, sondern königlich in den Strahlen der Sonne zu baden und ihre Sorgen wie Nebel vom Wind verwehen lassen.

Enanga schnürte den gefüllten Korb zu und warf einen letzten Blick auf das Feld. Die Trockenzeit hatte ihnen Glück gebracht, und die Felder waren ertragreich. Ihre Mutter hatte eine Ziege auf dem Feld geopfert, und die Ahnen dankten es ihr. Bald würde die Regenzeit kommen, der Himmel sich öffnen und sein Blau in ein Grau verwandeln, dem Boden das nötige Wasser geben, um weitere Knollen hervorzubringen. Sie trug den Korb stolz auf ihrem Kopf und machte sich auf den Weg zu ihrer Mutter. Die Bakala, die ihre Mutter gestern Abend vor dem Zubettgehen geflochten hatte, spannte immer noch und kribbelte. Das Kokosöl lief ihr den Nacken hinab und sammelte sich im Knoten ihres Tuchs, das sie am Nacken zusammengebunden hatte. Enanga und ihre Mutter gehörten zu den wenigen Mädchen und Frauen, die seit der Ankunft der Deutschen die neu gebauten Häuser putzten und lernten, die Speisen der Weißen zuzubereiten. Ihre Mutter wurde dafür im Dorf immer wieder verspottet und von den anderen Frauen gehänselt, denn den meisten Frauen blieb nichts anderes übrig, als für die Deutschen zu arbeiten, sie hatten ihre Männer im Kampf gegen die Weißen verloren und mussten ihre Familien ernähren. Ihanna aber war aus freien Stücken hier. Sie gehörten dem Bakweri-Stamm aus Buea an, der das Land in Fako am Fuß des Kamerunbergs bewohnte. Die Legende des Stammes besagte, dass ein Wanderer, der mit seinem Freund auf dem Berg Elefanten jagte, von ihm getrennt wurde und sich selbst in einen Elefanten verwandelte und sein Zuhause fortan die Wildnis in der Nähe von Bonakanda war. Auch der andere wurde zu einem Elefanten, der sich weiter entlang des Flusses, nahe dem heutigen Buea, niederließ. Als ihre Frauen sie in den Elefanten erkannten, lebten sie fortan als Gemeinschaft am Fuße des Berges zusammen, der sich immer mehr Menschen anschlossen, die sich in der Wildnis verirrten. Sie wurden zu den Kindern des Berges, Bonakanda und Buea ihre Heimat, Orte, die das Versprechen von Fülle und Wohlstand hielten.

Seit dem Tag, an dem Enanga zum ersten Mal einen weißen Menschen sah, war sie von ihnen und ihrer Lebensweise fasziniert. Doch Keke, ihr Vater, erlaubte es ihr und ihrer Mutter erst nach langen Verhandlungen, bei den Deutschen zu arbeiten. Mittlerweile konnte Enanga sogar einige deutsche Sätze sprechen. Als Lohn erhielt ihre Mutter oft Trockenfisch oder Gari, manchmal auch Reis, Zucker oder Salz. Die Sprüche und Neckereien der Frauen ignorierte Ihanna meistens. «Diese Hühner verstehen nicht, dass sich die Welt verändert. Sie wollen für immer in der Vergangenheit bleiben, aber das ist vorbei.» Sie war davon überzeugt, dass die Weißen gekommen waren, um zu bleiben. Ihre Fußabdrücke prägten das Land und die Menschen so deutlich, dass es nicht mehr möglich war, sie zu ignorieren.

Endlich hatte Enanga das weiße Haus erreicht. Es war so groß, dass mindestens zehn Hütten aus dem Dorf dort Platz gefunden hätten, und war von einem Garten mit Kies und Sand umgeben. Enanga fragte sich zum wiederholten Male, warum die Deutschen das Gras immer unter Kies und Sand begruben und dann darüber klagten, dass der Regen in der Regenzeit nicht abfließen konnte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass die Weißen ihre Häuser auf Füße stellten, um Ungeziefer und Schlangen daran zu hindern, ins Haus zu gelangen. Für Enanga schienen die Häuser frei in der Luft zu schweben, wie ein mächtiger Zauber. Und was sollte eine Schlange denn überhaupt in einem Haus machen? Allein der beschwerliche Weg über Sand und Kies würde sie abschrecken. Von den Jugendlichen im Dorf hatte sie aber gehört, dass die Stelzen einen Voodoo-Zauber in sich trugen, der die Weißen in den Häusern unsterblich machte. Das erklärte auch, warum es unter ihnen nur wenige alte Menschen gab. Angelehnt an das Eisentor vor dem Haus, schlief der Wachjunge Tatu im Stehen. Enanga schlich sich an ihn heran. Sein Kopf sah aus wie der eines schönen Pferdes.

«Eh eh, schläft da etwa der Wächter des Hauses?»

Tatu schreckte aus dem Schlaf hoch und grinste breit, als er Enanga erkannte. Er hatte ein freundliches Gesicht und weit auseinanderstehende Augen.

«Schön siehst du mit deiner Frisur aus. Hat deine Mutter deine Haare so hübsch geflochten?»

«Ja, Bruder. Das hat sie gestern Abend gemacht, und seitdem tut mein Kopf weh.»

Tatu lachte, sein Lachen klang wie das einer hungrigen Ziege.

«Wie geht es deinem Vater?»

«Ihm geht es gut. Seine zweite Frau ist endlich schwanger.»

«Ah, gesegnet seien die Ahnen.»

Tatu schnalzte mit den Fingern.

«Und wie geht es deinem Bruder? Er war doch krank.»

«Ihm geht es gut. Aber der Husten ist immer noch da. Bah hat gestern dafür eine Ziege geopfert.»

«Ashya. Ich werde für ihn beten. Und wie geht es deiner Cousine Emefa?»

«Emefa geht es auch gut. In vier Tagen wird sie heiraten, danach wird sie mit ihrem Mann nach Mutengene gehen.»

«Wie schön. Eine Hochzeit bringt immer Segen.»

Tatu wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, Enanga kannte ihn nicht ohne diese Anfälle, manchmal hustete er so stark, dass seine Augen groß und rot aus seinem Kopf herauszutreten schienen. Tatu war wenige Jahre jünger als Enanga, und die beiden kannten sich schon lange, sie waren im selben Dorf aufgewachsen, doch seit sein Vater in der Schlacht um Bowa getötet worden war, musste Tatu mit seiner Mutter in eine Hütte hinter dem großen Haus ziehen und gemeinsam mit seiner Mutter für die Deutschen arbeiten. Dass er den Weißen gehörte, erkannte man auch an dem Brandmal auf seinem Handrücken. Enanga vermisste ihn im Dorf, er war immer nett zu ihr gewesen, auch wenn andere Kinder sie ärgerten. Sie stellte ihren Korb vor dem Tor ab und öffnete vorsichtig den Knoten im Tuch. Mit ihrem kleinen Messer, das sie immer dabeihatte, schnitt sie ein großzügiges Stück der Cassava-Wurzel ab und reichte es Tatu. «Für deine Geschwister», sagte sie und eilte schnell durch das Tor, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.

«Du seist gesegnet, Schwester», rief Tatu ihr hinterher.

Enanga fand ihre Mutter hinten im Hof. Sie hing gerade riesige weiße Laken auf einer Leine auf. Wie sie im Wind wehten, erinnerten sie Enanga an die Wolken, die am Morgen nach einem Sturm am Himmel erschienen. Ihre Mutter war eine schöne Frau, ihre Haut war kupferbraun und so glatt wie ein Mondstein. Sie hatte schillernde, kastanienbraune Augen und halbmondförmige Wangenknochen. Jetzt lächelte sie über das ganze Gesicht, und Enanga konnte ihre kalkweißen Zähne und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen sehen, die in ihrer Familie so typisch war. Jede Frau in ihrer Verwandtschaft war stolz auf diese Lücke und benutzte sie regelmäßig zum Spucken.

«Enanga! Warst du auf dem Feld, so wie ich es dir gesagt habe?»

«Ja, Mah.»

«Und hat Emefa dich begleitet?»

«Nein, sie wollte nicht mitkommen, weil sie ihre Haare für die Hochzeit flechten lassen will. Sie interessiert sich nur noch für diese blöde Hochzeit.»

Ihanna lächelte.

«Wenn du eines Tages heiratest, möchtest du an deinem Hochzeitstag auch schöne Haare haben.»

«Ja, aber ich werde deswegen niemals aufhören, mit meiner Cousine zu spielen.»

«Enanga, sei nicht so dumm. Emefa ist viel älter als du und kein Kind mehr. Sie wird heiraten und bald ihre eigenen Kinder haben. Sie hat keine Zeit mehr, mit ihrer kleinen Cousine Chakalaka zu spielen.»

Enanga schnaubte. Ihre Cousine war ihre beste Freundin, auch wenn sie fünf Jahre älter war, aber seit ihrer Verlobung saß sie nur noch mit den älteren Mädchen und jungen Frauen im Dorf zusammen und trank mit den Erwachsenen Palmwein. Kam Enanga mit einem Beutel voller Kieselsteine zu ihr, um Chakalaka zu spielen, schickte Emefa sie genervt weg.

«Sah, Herr Wilhelm will dich sehen. Geh rein, bevor er nach dir rufen muss.»

«Ja, Mah», sagte Enanga und lief in Richtung Haus davon. Sie hatte gehofft, dass Herr Wilhelm heute nicht da war. Er roch nach den dicken Zigarren, die er rauchte und von denen ihr die Augen tränten. Sie rochen bitter und scharf, anders als der süßliche Geruch der Pfeife ihres Vaters oder ihrer älteren Brüder. Seine Zähne waren so gelb wie seine Haare, die überall am Körper waren, er hatte sogar gelbe Haare auf seinem Rücken. Die harten Stoppeln in seinem Gesicht kratzten auf ihrer Haut. Und wenn er seinen Mund aufmachte, roch es nach totem Tier, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Sie hatte sich schon häufig deshalb übergeben müssen. Sie hasste Herrn Wilhelm aus vollem Herzen und wusste nicht, wem sie sich anvertrauen sollte. Und diese geheime Last, die sie mit sich herumtrug, erfüllte sie mit Scham. Eine ungewohnte Scham, die ihr neu war und die sie nicht einordnen konnte. Jedes Mal, wenn es passierte, spürte sie, wie ihr Geist sich von ihrem Körper trennte und durch eine dunkle Wolke aus Angst und Verwirrung ersetzt wurde. Als es das erste Mal geschah, war sie alleine zum Putzen ins Haus gekommen, da ihre Mutter eine Tante im Wochenbett pflegte. Er hatte sie in der Küche fragend angeschaut, sie ein wenig gekitzelt, bevor seine Hände überall auf ihr waren. Sein Atem war der eines Jagdhundes. Als er sich auf sie stürzte, dauerte es eine Weile, bis sie verstand, dass es das Spiel vom Stier und der Kuh war. Sie schrie nicht und weinte nicht, obwohl der Schmerz unerträglich war, aber sie wusste, es gab kein Entkommen. Aber es war nicht nur ihre eigene Scham, die sie zum Schweigen brachte. Es war auch die Angst vor ihrer Mutter, die Angst, sie zu enttäuschen, ihr das Herz zu brechen.

Enanga hatte wenige Monde vor Sah Wilhelms erstem Angriff ihre Mondblutung bekommen. Die Feier, um sie in die Gemeinschaft der Frauen aufzunehmen, wurde aber nicht abgehalten, da es als schlechtes Omen gesehen wurde, dass sie so früh schon blutete. Der herbeigerufene Schamane erklärte, dass die Ahnen ein Zeichen schicken wollten. Welches Zeichen, hatte er für sich behalten und ihre Eltern und die anderen Frauen auf dem Hof ratlos zurückgelassen. Wenn ein Mädchen zu bluten begann, bedeutete es, dass sie bereit war zu heiraten. Die meisten Mädchen bluteten, nachdem sie 14 oder mehr Jahre gesehen hatten, aber Enanga war erst elf Jahre. So hatte sie eine eigenartige Stellung und war weder bei den Kindern willkommen noch bei den Frauen.

Nach dem ersten Mal dauerte es mehrere Monde, bis er es wieder tat. Doch die Abstände wurden schnell kürzer, und inzwischen rief er sie fast immer zu sich, wenn er sie auf dem Hof oder im Haus bemerkte. Manchmal gab er ihr hinterher Zuckerwürfel. Auch heute lutschte sie wieder an dem weißen Zucker. Die restlichen Stücke hob sie für ihren Bruder auf. Als sie mit ihrer Mutter durch das Eisentor dem gewundenen Weg nach Hause folgte, wurde ihr plötzlich wieder übel.

Der Tag, an dem Marijoh geboren wurde, roch nach dem Ende der Regenzeit, die dieses Mal hart gewesen war. Im Dorf waren viele Menschen am Fieber gestorben. Eltern