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Alles Müll? Das Müllentsorgungsunternehmen in Ebbelheim am Taunus wird erpresst. Die Lösegeldübergabe endet in einem Fiasko. Was ist dran an den anonymen Vorwürfen von illegaler Müllentsorgung, Bodenverschmutzung und Schwarzarbeit? Unter großem öffentlichem Druck sucht Hauptkommissar Beinert mit seinem Team nach Täter und Wahrheit. Kommissarin Analyn lässt der Fall selbst in ihrer Freizeit nicht los. Wie weit wird die neue Freundin ihres Bruders gehen, um ihren Traum einer plastikfreien Welt zu verwirklichen? Auch die fidele Seniorin Rosalie gerät mit ihren ganz persönlichen Müllproblemen in den Sog der Ereignisse. Mit Humor und Raffinesse begibt sie sich auf ihre eigene Spurensuche im Ebbelheimer Abfallkreislauf. Wie immer baut sie auf die Hilfe ihres jungen Freundes Marius und bringt ihn damit in ungeahnte Gefahr.
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Seitenzahl: 472
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Das Buch
Alles Müll?
Das Müllentsorgungsunternehmen in Ebbelheim am Taunus wird erpresst. Die Lösegeldübergabe endet in einem Fiasko. Was ist dran an den anonymen Vorwürfen von illegaler Müllentsorgung, Bodenverschmutzung und Schwarzarbeit? Unter großem öffentlichem Druck sucht Hauptkommissar Beinert mit seinem Team nach Täter und Wahrheit. Kommissarin Analyn lässt der Fall selbst in ihrer Freizeit nicht los. Wie weit wird die neue Freundin ihres Bruders gehen, um ihren Traum einer plastikfreien Welt zu verwirklichen?
Auch die fidele Seniorin Rosalie gerät mit ihren ganz persönlichen Müllproblemen in den Sog der Ereignisse. Mit Humor und Raffinesse begibt sie sich auf ihre eigene Spurensuche im Ebbelheimer Abfallkreislauf. Wie immer baut sie auf die Hilfe ihres jungen Freundes Marius und bringt ihn damit in ungeahnte Gefahr.
Die Autorin
Iris Otto ist in Niedersachsen aufgewachsen und kam mit einem Umweg über Bayern 1992 in den Main-Taunus-Kreis. Nach einer mehrjährigen Phase als Familienmanagerin bildete sich die gelernte Reiseverkehrskauffrau zur Schriftstellerin weiter. Nach »Mord kommt vor dem Fall« und »RAUB von Silber, MORD für Gold« liegt nun mit »Ist der RUF ruiniert, folgt der MORD garantiert« ihr dritter Kriminalroman aus Ebbelheim am Taunus vor. Außerdem veröffentlicht sie Kurzgeschichten und Kurzkrimis.
Weitere Informationen unter: www.irisotto.de
© 2019 Iris Otto
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Lektorat: Dr. Hanne Landbeck, www.schreibwerk-berlin.de
Umschlag: Dipl. Grafikdesignerin Martina Otto, www.mo-keramik.de
ISBN
Paperback:
978-3-7497-3809-0
Hardcover:
978-3-7497-3810-6
e-Book:
978-3-7497-3811-3
Druck in Deutschland und weiteren Ländern
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für alle,
die täglich unseren Abfall entsorgen
Kapitel 1
»Schnell! Sie müssen mir helfen!«
Analyn zuckte zusammen, als ihre Bürotür aufgerissen wurde. Eine Frau mittleren Alters stürmte herein. Der Knall, mit dem der Türgriff gegen die Wand donnerte, war wahrscheinlich in der ganzen Ebbelheimer Polizeistation zu hören – mindestens aber im Obergeschoss. Unwillkürlich lehnte sich Analyn so weit wie möglich zurück, darauf gefasst, dass die Fremde gleich gegen ihren Schreibtisch rennen würde. Doch die Frau bremste in letzter Sekunde. Während sie nach Luft rang, flehte sie eindringlich: »Helfen Sie mir! Bitte!«
Nun tauchte Lissy im Türrahmen auf. Auch ihr Atem ging stoßweise, was sie nicht davon abhielt, sofort loszuschimpfen: »Was soll das denn? Sie können nicht einfach quer durchs Gebäude rennen! Das ist hier kein öffentlicher Bereich.« Dabei rückte sie mit einer Hand die dunkelblaue Krawatte ihrer Polizeiuniform zurecht, während die andere ihre langen Haare nach hinten streifte.
Analyn ließ ihren Blick zwischen den beiden Frauen hin und her wandern. »Worum geht es denn überhaupt?«
»Erpressung!«, rief die Frau außer Atem.
»Völlig egal«, antwortete Lissy.
»Ich mache das hier schon, Lissy. Danke.« Analyn deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Bitte setzen Sie sich.«
Die Frau gehorchte, berührte allerdings gerade mal die Stuhlkante. Ihr Blick wanderte von Analyn zu dem zweiten verwaisten Schreibtisch und kehrte dann wieder zu ihr zurück. Offensichtlich wog die Mittvierzigerin ab, ob ihr Anliegen bei einer so jungen Kommissarin noch dazu mit einem asiatischen Einschlag gut aufgehoben war. Aber in Ermangelung einer Alternative begann sie hektisch zu reden: »Bitte! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich habe so ein ungutes Gefühl. Nicht auszudenken, wenn ihnen etwas passiert!«
Erneut knallte die Bürotür. Diesmal war es Lissy, die sie lauter schloss als nötig. Betont ruhig sagte Analyn: »Mein Name ist Analyn Zettelmann. Ich bin Kommissarin. Vielleicht nennen Sie mir erst einmal Ihren Namen.«
»Müller-Ramsig, Tanja Müller-Ramsig.«
Analyn griff nach einem Kugelschreiber und zog ihren Notizblock ein Stück näher zu sich. »Und Sie werden erpresst, Frau Müller-Ramsig?«
»Nein.« Die dunkelbraunen Locken bewegten sich, als die Frau den Kopf schüttelte. »Nicht ich, mein Schwiegervater. Genauer gesagt, seine Firma.«
»Um welches Unternehmen handelt es sich?«
»WME – Werner Müller Entsorgungsbetrieb GmbH.«
»Sie meinen die Müllabfuhr?«, hakte Analyn nach.
»Ja, wir machen allerdings mehr als nur Müllabfuhr. Aber das ist doch jetzt völlig egal! Wir müssen die drei finden. Sie sind schon viel zu lange fort.«
»Ihr Schwiegervater und wer noch?«
»Zwei Mitarbeiter. Sie wollen das Lösegeld übergeben. Das heißt, eigentlich wollen sie genau das nicht. Ach, ich weiß auch nicht. Tun Sie doch endlich was! Lassen Sie uns hinfahren.«
Noch einmal öffnete sich die Bürotür. Diesmal betrat Analyns Chef, Hauptkommissar Beinert, den Raum. »Wir haben eine Erpressung«, sagte er zu Analyn. Der Flurfunk hatte offensichtlich beste Arbeit geleistet. »Um wen geht es?« Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch stellte er sich Frau Müller-Ramsig vor, drückte ihre Hand und blickte dann erwartungsvoll zu Analyn. Sie wiederholte die wenigen Fakten, die sie bisher notiert hatte. Währenddessen hatte Frau Müller-Ramsig sich bereits zu Beinert umgedreht. Analyn wurde unfreiwillig zur Protokollantin, während ihr Chef sich setzte und die Befragung übernahm. Das karierte Hemd spannte über seinem Bauch und Analyn überlegte kurz, ob der Knopf dem Druck standhalten würde. Dann hörte sie zu.
»Auf welche Weise haben Sie von der Erpressung erfahren?«
»Ein Schreiben ging bei meinem Schwiegervater ein.«
»Wie lautet die Forderung?«
»Vierzigtausend Euro.«
»Sonst?«
»Sonst sollen belastende Unterlagen an die Presse gehen.«
»Was für Unterlagen?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe das Schreiben nicht gesehen. Das ist doch auch völlig egal. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Sie wären besser gleich zu uns gekommen«, stellte Beinert fest und strich sich durch seine leicht ergrauten Haare.
Frau Müller-Ramsig senkte den Kopf. »Das habe ich auch vorgeschlagen. Aber Werner wollte nicht.«
»Und jetzt ist Ihr Werner mit zwei anderen Männern und einem Koffer voller Geld unterwegs und spielt den Helden.«
Analyn konnte Beinerts Unmut verstehen und fragte nach: »Wissen Sie, wo die Lösegeldübergabe stattfinden soll?«
Frau Müller-Ramsig drehte sich zu ihr um. »Mein Schwiegervater wollte in den Taunus fahren – hoch zum Staufen. Dort muss es einen Bauwagen geben, wo er die Hälfte des Geldes deponieren sollte. Unser Mitarbeiter, Herr Kaverowski, begleitet ihn. Ein zweiter Übergabeort ist hier in Ebbelheim.«
»Gleich zwei Übergabeorte? Das ist aber ungewöhnlich«, sagte Analyn. »Wo genau in Ebbelheim?«
»Auf dem Friedhof – hinter einer Hecke bei irgendeinem Wasserbecken.«
Beinert hatte sich bereits von seinem Stuhl erhoben. Er wollte wissen: »Wer ist auf dem Friedhof?«
»Ebenfalls ein Mitarbeiter, Dimitri Pulstinow«, sagte Frau Müller-Ramsig und erhob sich auch. »Nicht auszudenken, wenn den Dreien etwas passiert. Sie müssen da eingreifen. Bitte!«
Beinert nickte. »Okay, Sie fahren jetzt nach Hause. Dort warten Sie auf weitere Nachrichten von uns. Wenn die Herren auftauchen, rufen Sie uns sofort an. Frau Zettelmann, wir schnappen uns jeder einen Kollegen von der Streife und sehen mal nach, was da los ist. Sie übernehmen den Friedhof, ich fahre in den Taunus. Sie wissen vermutlich sowieso nicht, wo Sie im Wald hinmüssten.«
Das war zwar richtig, denn so lange wohnte sie tatsächlich noch nicht im Main-Taunus-Kreis. Doch mangelnde Kompetenz ließ sie sich nicht gern vorwerfen. »Ich habe ein Navi«, entgegnete sie trotzig.
»Übernehmen Sie den Friedhof«, befahl Beinert. Ihr blieb nichts anderes übrig, als seiner Anweisung zu folgen.
***
»Aua!« Rosalie presste ihren Zeigefinger an die Lippen. Gleich darauf schmeckte sie das Blut auf ihrer Zunge. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ausgerechnet eine Hundsrose auf das Grab zu pflanzen. Die Dornen waren einfach hundsgemein. Immer wieder riss sie sich ihre Haut daran auf. Ihre faltigen Hände wiesen inzwischen fast genauso viele Kratzer wie Altersflecken auf. Andererseits war die Rose perfekt für ihre Zwecke. Bis zu dreihundert Jahre wurde diese Wildrosenart alt. So hatte es zumindest auf dem kleinen Informationszettel gestanden. Nicht, dass die Grabstelle ihres verstorbenen Mannes noch so lange bestehen würde. Auch wenn Rosalie uralt werden würde, bevor sie selbst ihre letzte Ruhestätte neben Karl fand, war dieser zeitliche Rahmen deutlich überdimensioniert. Aber Rosalie hatte der Gedanke gefallen, dass Dornröschen vielleicht hinter einer solchen Dornenhecke gut beschützt hundert Jahre auf ihren Märchenprinzen gewartet hatte. Niemandem war es zuvor gelungen, an den wunderschönen Schatz dahinter zu gelangen. Außerdem sahen die Blüten hübsch aus, sie leuchteten kräftig pink an den äußeren Blatträndern und zart rosa im Inneren. An einigen Trieben waren schon die Ansätze der Hagebutten zu erkennen, die mit ihrem hellen Rot in wenigen Wochen die Blüten endgültig ablösen würden. Ein untrügliches Zeichen, dass der Spätsommer bald in den Herbst überging.
Rosalie schaute auf ihre Fingerkuppe, aus der ein weiterer Blutstropfen hervorquoll. Irgendwo in ihrer Handtasche musste sie noch Pflaster haben. Sie richtete sich auf und trat auf den Kiesweg. Ihre Handtasche lehnte an der kleinen Hecke. Mit einer Hand suchte Rosalie in der unförmigen Tasche und beförderte eine Handvoll kleiner Plastikheftchen zu Tage. Die Päckchen mit der Aufschrift »Trostpflaster für jede Lebenslage« stammten von einem Werbestand des Roten Kreuzes. Gut, dass sie damals so beherzt in den Korb gegriffen hatte. Nachdem sie ihren Finger verarztet hatte, warf Rosalie die übrigen Pflaster in die Tasche zurück und betrachtete Karls Ruhestätte. Die Erde war hellgrau und trocken. Nur unter dem Rosenstrauch sah es aus, als habe dort ein Hund gebuddelt. Der Boden zog den Blick quasi auf sich, als wolle er sagen: Seht nur her, was dieser Strauch Besonderes hat. Das ging gar nicht! Rosalie griff nach der kleinen Harke, die immer unter der Hecke bereitlag und machte sich daran, die Erde überall aufzulockern.
Eine laute Männerstimme ließ sie aufhorchen. »Lass los, du Schwein!« Rosalie erhob sich, um besser sehen zu können. Nicht weit entfernt standen sich zwei Männer gegenüber, die an einer Art Rucksack zerrten. Von Größe und Statur schienen beide ebenbürtig zu sein. Der Dunkelhaarige mit der Jeansjacke machte einen geschickten Schritt zur Seite und schob gleichzeitig für eine Sekunde den türkisfarbenen Rucksack in Richtung seines Gegners. Im nächsten Moment zog er heftig in die andere Richtung. Der Mann mit dem grünen Sweatshirt geriet ins Taumeln. Sofort stürzte sich der Jeansjackenträger auf ihn. »Gib dich zu erkennen, du feige Sau«, krakeelte der Dunkelhaarige, doch der Sweatshirt-Träger wehrte sich. Aber der Andere hatte deutlich mehr Kraft und drückte plötzlich den Oberkörper seines Gegners samt Kopf nach unten. Rosalie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Ein Platschen, wie wenn jemand in ein Schwimmbecken sprang, tönte zu ihr herüber. Und tatsächlich spritzte Wasser in die Luft. Doch es handelte sich lediglich um ein Wasserbassin, in dem normalerweise die Friedhofsbesucher ihre Gießkannen auffüllten. Der Kopf wurde wieder hochgerissen und der Mann schrie erneut: »Also, wer bist du?« Als Antwort kam ein Röcheln, woraufhin er den Kopf erneut unter Wasser tauchte. Rosalie sah sich um. Niemand war weit und breit zu sehen, um diesem bizarren Treiben ein Ende zu setzen. ›Mord auf dem Friedhof‹, sie sah die Schlagzeile in der Ebbelheimer Zeitung bereits vor ihrem geistigen Auge. So schnell es ihre siebenundsiebzigjährigen Beine zuließen, rannte sie den schmalen Weg zwischen den Gräbern entlang. Die Harke fest umklammert, rief sie schon von weitem: »Aufhören! Sofort aufhören!« Doch dieser Aufforderung kamen die beiden Männer nicht nach, wobei der Mann mit dem Kopf im Wasserbecken sowieso keine Chance hatte, den Kampf entscheidend zu beeinflussen. Würde sie noch dichter rangehen, bekäme sie eventuell den einen oder anderen Hieb ab und wurde unweigerlich nass. So rasend wie sich der Jeansträger gebärdete, war er mit Worten sicher nicht zu erreichen. Rosalie blieb nichts anderes übrig, als ihrer Forderung mit der Harke Nachdruck zu verleihen. Das Adrenalin, das inzwischen auch ihren Körper durchströmte, verlieh ihrem Hieb ungeahnte Stärke. Es gab ein äußerst unschönes Geräusch, als die Spitzen der Harke auf den Schädel trafen. Der Dunkelhaarige griff sich schreiend an den Hinterkopf, wo sofort Blut zwischen seinen Fingern sichtbar wurde und auf seine Jeansjacke tropfte. Der grüne Sweatshirt-Träger nutzte den Moment, um aufzutauchen. In Nullkommanichts war er auf den Füßen, riss den Rucksack an sich und rannte, ohne Rosalie eines Blickes zu würdigen, über die Wiese davon. Der Mann vor ihr krümmte sich vor Schmerzen. Fast tat er Rosalie leid. Seine Platzwunde musste genäht oder geklammert werden. Sie wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als der Mann sie anschnauzte: »Was fällt Ihnen ein! Sie hätten mich fast umgebracht!«
»Unkraut vergeht nicht«, erwiderte Rosalie, fest entschlossen, nicht klein beizugeben. »Sie leben noch, aber Ihren Kumpel hätten Sie um Haaresbreite hier begraben können.«
Der Mann richtete sich langsam auf. »Das ist nicht mein Kumpel, sondern ein elendiger Erpresser. Ich hätte ihn geschnappt, wenn Sie nicht dazwischen gegangen wären.« Geräuschvoll spuckte er ins Gras. Er war kein sehr großer Mann, trotzdem überragte er Rosalie um einiges. Im Stillen schalt sie sich einen Dummkopf, überhaupt in den Streit eingegriffen zu haben. Was, wenn der Mann nun auf sie losging? Oder noch schlimmer, wenn er sie wegen Körperverletzung bei der Polizei anzeigte? Starr und sehr aufrecht blieb sie stehen und schaute dem Mann in die Augen. Dieser spuckte erneut auf den Rasen, tastete nach seiner Wunde, betrachtete anschließend das Blut an seinen Fingern und fluchte: »Zum Teufel mit Ihnen.« Dann drehte er sich um und ging langsam und gebückt davon. Rosalie fiel erst jetzt auf, dass sie noch immer den Arm in die Höhe streckte, die Harke fest umklammert. Allmählich löste sich die Anspannung. Sie senkte ihren Arm und ging nachdenklich zu ihrer Grabstelle zurück.
»War das jetzt richtig, Karl?«, fragte sie laut. Doch ihr Mann blieb ihr eine Antwort schuldig. Sie legte die Harke wieder unter die Hecke, nahm ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zum Ausgang. An der kleinen Eisenpforte wurde sie von dem grünen Sweatshirt-Mann fast über den Haufen gerannt, der mit erstaunlicher Energie auf den Friedhof zurückkehrte. Dass er vor wenigen Minuten fast ertrunken wäre, merkte man ihm nicht mehr an. Sein Gesicht verbarg er hinter einer dunklen Sturmhaube, wie sie Motorradfahrer zum Schutz vor Kälte unter ihrem Helm trugen. Hatte er diese Maske vorhin auch schon getragen? Wahrscheinlich schon, denn sie glänzte nass. Rosalie hatte viel zu sehr auf den anderen Mann geachtet, um sich daran zu erinnern. Sollte sie umkehren, um die beiden Streithähne erneut voneinander fernzuhalten? Sie könnte auch mit ihrem Handy die Polizei verständigen – aber der Akku war gerade leer. Außerdem war die Polizei selten eine gute Idee. Obendrein hatte der andere Mann den Friedhof bereits in die andere Richtung verlassen. Besser, sie steckte ihre Nase nicht schon wieder in die Angelegenheiten anderer Leute. Es roch nach Ärger, und dazu war dieser Sommertag viel zu schön.
Auf dem Gehweg kam Rosalie an dem Rucksack vorbei, der den Anlass für die Auseinandersetzung geboten hatte. Geöffnet lag er nun unter einer Hecke. Drum herum verteilten sich unzählige Rechtecke aus sorgsam zugeschnittenem Zeitungspapier. Wo manche Leute ihren Müll entsorgten, war schon erstaunlich. Dann entdeckte Rosalie einen Fünfzigeuroschein zwischen dem Altpapier, und ein Stück weiter lag sogar ein Hunderter. Doch die Geldscheine fühlten sich schon beim Aufheben merkwürdig an. Die Rückseite entpuppte sich als weißes Papier. Irgendjemand hatte sich einen Spaß erlaubt, Geldscheine fotokopiert, mit Zeitungspapier ergänzt und dicke Bündel geschnürt, die nichts wert waren. Wahrscheinlich hatte einer der beiden Männer den anderen betrogen. Rosalie war erleichtert: Sie hatte also dem Richtigen mit der Harke über den Kopf gehauen. Geschah ihm ganz recht! Das erklärte auch, weshalb der Mann wortlos verschwunden war, anstatt die Polizei zu rufen und sie wegen Körperverletzung anzuzeigen. Rosalie bückte sich nach dem Rucksack und hob ihn auf. Das Gezerre der beiden Männer hatte ihm nichts anhaben können. Das sprach für gute Qualität und eine solide Verarbeitung. Praktisch war die Plastikhalterung auf der Rückseite. Wollte man den Rucksack nicht auf dem Rücken tragen, konnte man ihn an einem Fahrrad einhängen. Rosalie entnahm ein letztes Päckchen Zeitungspapier mit einem gefälschten Hunderter aus dem Innenfach, warf es in einen nahen Abfalleimer und kehrte dann zur Eingangspforte des Friedhofs zurück. Es war alles ruhig. Keiner der beiden Männer war zu sehen. Auch gut! Ihr Bedarf an Auseinandersetzungen war für heute ohnehin gedeckt. Rosalie setzte sich die praktische Fahrradtasche auf den Rücken, hängte ihre eigene Handtasche über den Arm und machte sich auf den Weg zu Marius.
***
Hauptkommissar Beinert drosselte die Geschwindigkeit seines nagelneuen SUVs, als er den Waldrand erreichte. Der Parkplatz des Freibads war gut gefüllt. Ob die Leute tatsächlich beim Baden waren oder eher im benachbarten Indoorspielplatz, ließ sich schwer sagen. Der Kletterpark in den Baumwipfeln war jedenfalls verwaist. Als der Wagen auf den Waldweg fuhr, wurden die Rollgeräusche im Innern nur unwesentlich lauter. Lange hatte ihm das Autofahren nicht mehr so viel Spaß gemacht. Der neue Dienstwagen hatte viele PS und roch nach neuem Leder. Passform und Härtegrad der Sitze waren perfekt, der Sound des Autoradios dem der Elbphilharmonie gleichwertig. Beinert verringerte die Geschwindigkeit. »Die Schaltung geht butterweich.«
»Wie viel PS hat das Schätzchen denn?«
»Hundertneunzig. Dafür schluckt er allerdings etwas mehr.«
»Da hat sich Vater Staat ja mal nicht lumpen lassen. Das Teil werde ich demnächst auch für Verkehrsüberwachungen mit Zivilfahrzeug anfordern.«
Beinert lachte gutmütig. »Vergiss es. Den Wagen fahre ich allein. Jedenfalls die ersten tausend Kilometer. Aktuell sind es erst siebenundachtzig. Da kannst du also noch eine ganze Weile warten, bis du dieses Lenkrad in Händen hältst.«
Sie hatten Glück. Die Schranke, die Fahrzeuge an der Weiterfahrt in den Wald hindern sollte, war geöffnet. Beinert gab erneut Gas. Kurz überlegte er, den Allradantrieb zuzuschalten, aber das erschien ihm dann doch etwas affig. Vor einem Ausflugslokal standen einige Wanderer, die ihm mit eindeutigen Handbewegungen zu verstehen gaben, dass er hier zu schnell unterwegs war. Kollege Torsten nahm seine Polizeimütze vom Schoß, hielt sie kurz ans Fenster und umklammerte dann schnell den Haltegriff, als Beinert scharf rechts um die Ecke bog und weiter in den Wald hineinraste. Mehrere Fußgänger und Jogger sprangen zur Seite. Ein Pudel wurde von seinem Frauchen hastig auf den Arm genommen. Ihr Begleiter richtete sein Handy auf den Wagen und schrie ihnen etwas nach.
»Gleich laufen bei Lissy die Telefone heiß«, stellte Torsten fest.
»Macht nichts«, erwiderte Beinert. »Wir sind gleich da. Den Wagen lassen wir etwas unterhalb des Staufens stehen. Ich möchte mich erst ein bisschen umsehen, bevor man uns bemerkt.«
»Alles klar.« Torsten stemmte beide Füße in die Fußmatte, als ein Eichhörnchen todesmutig ihren Weg kreuzte.
Beinert grinste. »Mach mir mein Auto nicht kaputt. Es ist erst zwei Tage alt.«
»Dann fahr halt nicht wie der Henker«, konterte Torsten.
Tatsächlich verlangsamte Beinert das Tempo und bog in einen Forstweg ein, wo er den Wagen parkte. Die Männer stiegen aus und schlossen leise die Fahrzeugtüren. Dann kehrten sie auf den Hauptweg zurück und schritten zügig bergauf. Beinert kannte die Gegend gut von seinen Spaziergängen. Vom Staufen hatte man einen wunderbaren Blick bis hinüber zum Feldberg und auf die Skyline von Frankfurt. Dabei lagen einem die Ortschaften des Vordertaunus zu Füßen. Doch um die Aussicht zu genießen, war heute keine Zeit.
Beinert deutete nach vorn. »Hinter der nächsten Anhöhe kommt die Unterstellhütte. Rechts ist der Aussichtspunkt, linker Hand ist ein kleiner Platz mit einem Holzhaus für Waldarbeiter. Dort steht auch der Bauwagen, den Frau Müller-Ramsig erwähnt hat. Ich schlage vor, wir gehen hier links durch den Wald. Dann haben wir eine Chance, uns dem Bauwagen zu nähern, ohne gesehen zu werden. Du bleibst ein Stück hinter mir und sicherst mich ab.«
Torsten nahm seine Waffe in die Hand und antwortete mit gedämpfter Stimme: »Wird gemacht.«
»Pass auf, wo du hinzielst. Ich will nicht als Schweizer Käse den Wald verlassen.«
»Ich werde es versuchen«, versprach Torsten und fügte grinsend hinzu: »Waidmannsheil.«
Besser nicht, dachte Beinert und überquerte die ausgetrocknete Abflussrinne am Wegrand. Dann pirschte er tatsächlich leise wie ein Jäger durch den Wald. Mehrmals blieb er stehen und ließ den Blick durch das Unterholz streifen. Niemand war zu sehen. Gelegentlich knackte ein Zweig unter seinen Schuhen. Allerlei dicht belaubtes Gestrüpp und junge, nachwachsende Bäume erschwerten die Sicht. Beinert umkreiste mit einigem Abstand die Waldarbeiterhütte und den Bauwagen. Als er niemanden entdecken konnte, trat er schließlich auf den Waldweg und ging direkt auf den Bauwagen zu. Eine Patina aus Moos und Schmutz überzog die dunkelgrüne Wandfarbe. Drei Eisenstufen führten zu einer Tür, die jedoch verschlossen war. Leise trat Beinert an das Fenster. Das Wageninnere war leer, wenn man von einem Tisch, zwei Bänken, einem Ofen mit einigen Holzscheiten davor und einem Knäuel Plastiktüten auf dem Fußboden absah. Das Ofenrohr kam an der Vorderseite aus der Wand und überragte das Dach um einen knappen Meter. Hier befand sich auch die Deichsel. Sie war länger nicht mehr benutzt worden, denn anstelle von Rädern hatte man Steinplatten an allen vier Ecken unter den Wagen geschoben. Wegfahren konnte hiermit niemand mehr.
Ein Metallfach oberhalb der Deichsel zog Beinerts Aufmerksamkeit auf sich. Er schätzte dessen Front auf einen Meter Breite und Höhe und seine Tiefe auf etwa dreißig Zentimeter. Das war der ideale Aufbewahrungsort. Tannennadeln und Laubreste hatten sich im Laufe der Zeit auf dem Stauraum angesammelt. Der Metallriegel davor war nicht mit einem Schloss gesichert. Beinert streifte sich Einweghandschuhe über. Dann ruckelte und zog er so lange an dem Riegel, bis dieser nachgab. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf. Er kam sich vor wie ein Schatzsucher. Tatsächlich entdeckte er eine türkisfarbene Fahrradpacktasche.
Diese war prall gefüllt. Beinert hob sie an und maß ihr Gewicht. Papier wiegt schwer, dachte er. Die Gurte, mit denen man sich die Tasche wie einen Rucksack auf den Rücken schnallen konnte, waren praktisch. Neugierig stellte Beinert die Packtasche auf die Deichsel und öffnete sie. Seine Erwartung wurde nicht enttäuscht. Mehrere dilettantisch nachgemachte Geldbündel täuschten einen Wert vor, der hier schon auf den ersten Blick nicht gegeben war. Hinter ihm knackte es. Torsten kam näher. »Wir haben das Lösegeld gefunden«, sagte Beinert und drehte sich um. Doch statt seines Kollegen tauchte ein kräftig gebauter Mann in seinem Blickfeld auf. Dessen Stiernacken passte perfekt zu dem Funkeln in seinen Augen und zu seinem heftigen Atemgeräusch. Noch bevor Beinert realisierte, wie ihm geschah, wurde ihm der Rucksack aus der Hand gerissen und nahezu zeitgleich sein Arm auf den Rücken gedreht. Ein knallendes Geräusch, gefolgt von einem stechenden Schmerz, der durch sämtliche Nervenbahnen seines Körpers schoss und sich schließlich in der Schulter bündelte, ließ Beinert aufschreien. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Er hätte kotzen können, aber sein Magen gab nichts her.
»Ganz ruhig«, sagte der Stiernackige direkt in sein Ohr. »Eine falsche Bewegung und du bist ein toter Mann.« Dabei schob er Beinerts Arm ein Stückchen höher, was diesen erneut aufschreien ließ. Verflucht noch mal, wo steckte dieser Vollpfosten Torsten? Wollte er ihn diesem Dreckskerl überlassen? Der Schmerz verschlug ihm die Sprache. Er konnte nicht einmal sagen, dass er von der Polizei war, geschweige denn, dass er an seine Dienstwaffe gekommen wäre.
Stattdessen tauchte ein älterer Herr auf – nicht weniger wütend als der Stiernacken.
»Ich habe ihn«, verkündete der Stiernacken stolz und drehte Beinert an dem verletzten Arm herum. Wie eine willenlose Marionette folgte dieser mit verzerrtem Gesicht.
»Wen haben wir denn hier? Du Wichser! Meinst, du kannst andere in den Dreck ziehen und dich an ihnen bereichern? Dir werden wir’s zeigen.« Der weißhaarige Mann holte mit der Hand aus, und Beinert fühlte den kommenden Schlag schon im Voraus. Instinktiv drehte er den Kopf zur Seite.
»Hände hoch, Polizei«, brüllte Torsten und preschte endlich aus dem Unterholz hervor. Beinert schrie erneut, als der Stiernackige unvermittelt seinen lädierten Arm losließ und dieser vollkommen unkontrolliert nach unten sank. Verdammt, tat das weh. Während Beinert seinen verletzten Arm vorsichtig anhob und dabei um Luft rang, hatte Torsten die beiden Herren bereits mit erhobenen Händen an den Bauwagen gestellt und durchsuchte sie nach Waffen.
Mühsam straffte Beinert seinen Rücken. Er hätte gern mit der gesunden Hand seine Schulter abgetastet, doch er hatte Angst, dass der völlig schlaffe und taube Arm dabei erneut nach unten sinken würde. Schon der Gedanke an den damit verbundenen Schmerz ließ ihn von dem Vorhaben Abstand nehmen. Stattdessen konzentrierte er sich auf die beiden Männer am Bauwagen, während er seine Hände nacheinander vorsichtig aus den engen Einweghandschuhen pellte.
»Herr Müller, nehme ich an«, sagte er zu dem Weißhaarigen. Dieser nickte und drehte sich, nach einem fragenden Blick zu Torsten, der noch immer seine Waffe in der Hand hielt, langsam mit erhobenen Händen um.
»Was fällt Ihnen ein, hier den Sheriff zu spielen? Wir sind nicht im Wilden Westen, sondern im Taunus! Und dann so stümperhaft!« Beinert trat gegen den Rucksack. Eine Bewegung, die er augenblicklich bereute. »Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Das verspreche ich Ihnen! « Langsam wandte er sich dem zweiten Mann zu. »Wer sind Sie?«
Endlich konnte er dem Stiernackigen ins Gesicht sehen. Den Impuls, ihm eine reinzuhauen, unterdrückte Beinert aus naheliegenden Gründen. Eigentlich sah der Mann jetzt eher zerbrechlich aus, trotz seiner Figur, die regelmäßige körperliche Arbeit verriet.
»Kaverowski, Volker Kaverowski«, kam die kleinlaute Antwort.
»Sie wollten also einen toten Mann aus mir machen?«
»Entschuldigung«, murmelte Kaverowski und studierte eingehend den Waldboden.
»Körperverletzung bei einem Polizisten, das wird ein Nachspiel haben«, versprach Beinert.
»Du nimmst die Herren mit aufs Revier, Torsten. Unterwegs setzt du mich am Friedhof ab.« Er wusste gar nicht, was mehr schmerzte: der Arm oder die Tatsache, dass er nun das Lenkrad seinem Kollegen überlassen musste.
Torsten musterte ihn kritisch. »Ich bringe dich besser zum Arzt. Du bist ganz grün um die Nase.«
»Mache ich später. Erst muss ich wissen, was bei der Zettelmann los ist.«
»Analyn ist taff, die macht das schon. Außerdem ist Niklas bei ihr.«
»Wieso wollen Sie zum Friedhof?«, fragte der alte Müller und zog sein Handy aus der Tasche.
Torsten streckte seine Hand aus. »Geben Sie mir Ihr Handy.«
Nach einem kurzen Zögern gab Müller sein Telefon ab. »Was ist am Friedhof?« Diesmal klang es fast flehend.
»Das sollten Sie doch am besten wissen«, konterte Torsten, und da Beinert mit dem Kopf nach links deutete, befahl er den beiden Männern: »Los, Abmarsch!«
Als sie um den Bauwagen bogen, sahen sie einen Mountainbiker, der in den kleinen Weg einbiegen wollte. Ein Fahrradhelm schützte seinen Kopf. Doch die Sturmhaube darunter war bei diesen Temperaturen völlig übertrieben. Sofort riss der Radfahrer sein Vorderrad nach oben, vollführte eine zirkusreife Pirouette auf dem Hinterrad und raste bergab. Torsten sprintete hinterher, aber Beinert sah bereits, wie der Radfahrer einfach quer in den Wald einbog und seine halsbrecherische Fahrt fortsetzte.
Nach dreihundert Metern trafen sie Torsten auf dem Waldweg. Er hatte sich nach vorn gebeugt, beide Hände auf seine Knie gestützt und sah ihnen schwer atmend entgegen. Was für ein beschissener Einsatz! Als Torsten Beinert darauf hinwies, dass seine rechte Schulter tiefer hinge als die linke, blaffte er zurück: »Bist ziemlich langsam heute. Wieso hast du vorhin erst so spät eingegriffen? Das hier war total unnötig.« Dabei hob er den Arm und ließ diese ebenfalls total unnötige Bewegung sofort wieder bleiben.
»Ich wollte erstmal abwarten, ob noch mehr von diesen Typen auftauchen. Nicht, dass sie uns dann beide an den Eiern haben.«
»Das ist ja wunderbar gelungen«, erwiderte Beinert und starrte in den Wald. Der grün gekleidete Radfahrer war bereits vom Laubwald verschluckt worden. Jetzt konnte er nur hoffen, dass seine Kollegin am Friedhof mehr Glück gehabt hatte.
***
Endlich schnallte sich Analyn in dem Polizeiwagen an. »Wenn Beinert erfährt, dass wir eine halbe Stunde vertrödelt haben, weil mein alter Corsa liegen geblieben ist, macht er mich einen Kopf kürzer.«
Niklas lenkte den Wagen auf die Straße. »Du musst es ihm ja nicht auf die Nase binden. Von mir erfährt er jedenfalls nichts.«
»Danke, das ist nett von dir. Aber mein Chef hat telepathische Fähigkeiten.« Geschickt band sie ihre glatten schwarzen Haare mit einem Gummiband zum Zopf zusammen.
»Hartwig Beinert und übersinnlich?« Niklas lachte laut. »Wo hat der Mann denn etwas Sinnliches?«
Nun musste auch Analyn lachen. »Na ja, seit er mit seiner Silvia zusammen ist, schimmert gelegentlich seine weiche Seite durch. Vor allem, nachdem er sie allein in den Urlaub geschickt hat, weil wir uns um den Raubmord in dem Juweliergeschäft kümmern mussten. Ich glaube, er ist seitdem sogar Stammkunde in unserem kleinen Blumenladen.«
»Klingt überhaupt nicht nach dem Hartwig, den ich kenne. Wie kommt Ihr zwei jetzt zurecht? Hat er dir verziehen, dass du den Mordfall an dem Bauunternehmer Schautner und seiner Geliebten allein aufgeklärt hast?«
»Ich bin mir nicht sicher. Immerhin habe ich inzwischen die Probezeit hinter mir, und den letzten Fall haben wir ja mehr oder weniger gemeinsam aufgeklärt. Man muss sein Ego eben immer mal ein bisschen streicheln.«
»Tut er das bei dir denn auch? Ich meine, dein Ego streicheln?« Niklas bog in den Friedhofsweg ein.
»Frauen sind deutlich weniger darauf angewiesen, dass jemand ihr Ego streichelt. Außerdem möchte ich von meinem Chef nirgendwo gestreichelt werden. Nicht mal an meinem Ego. Eine faire Anerkennung meiner Arbeit reicht mir völlig. Für alles andere habe ich Marius.«
Niklas lenkte den Wagen in eine leere Parkbucht am Friedhof. Sie waren erst wenige Schritte über den Parkplatz gelaufen, als Analyn nach vorn zeigte. »Guck mal, dort.« Dabei zog sie bereits ihr Handy aus der Tasche und klickte auf die Kamerafunktion.
»Das sieht nach fingiertem Lösegeld aus«, stellte Niklas fest, nachdem er das erste Bündel aufgehoben hatte. Kleine, rechteckige Zeitungspapierbündel wurden lediglich durch einige Farbkopien von Geldscheinen abgedeckt.
Analyn drückte mehrmals auf den Auslöser ihrer Kamera. Als Niklas sich bückte, bat sie ihn, den Rest liegenzulassen. »Vielleicht brauchen wir das noch für die Kollegen von der KTU. Wir sammeln das gleich ein. Lass uns vorher auf den Friedhof gehen. Vielleicht finden wir die Hecke mit dem Wasserbecken, wo das Geld eigentlich versteckt werden sollte.«
Der Ebbelheimer Friedhof hatte etwas Parkartiges. Zwischen den vielen Gräberreihen gab es freie Flächen mit Wiesen und hochgewachsenen alten Bäumen. Ein breiter Weg führte vom Eingangstor bis zur Trauerhalle und schlängelte sich dann über das Gelände.
Niklas scannte das Areal mit leicht zusammengekniffenen Augen ab. »Wasserstellen gibt es gleich mehrere und an meterlangen Hecken herrscht ebenfalls kein Mangel.«
»Wir müssen einmal alles ablaufen«, stellte Analyn fest.
»Ich nehme die linke Seite«, sagte Niklas und marschierte bereits los. Analyn schlug den rechten Weg ein. Kaum hatte sie das Gemeinschaftsbeet mit den Urnengräbern hinter sich gelassen, tauchte das erste Wasserbassin auf. Zwei Plastikgießkannen warteten gut gefüllt auf ihren Einsatz. Die Hecken dahinter waren dicht gewachsen. Analyn kauerte sich auf den Boden auf der Suche nach einer Tasche oder zumindest einer Druckstelle, wo diese gelegen hatte. Außer einer aufgeregt schimpfenden Amsel fand sie nichts. Aufmerksam setzte sie die Runde fort. In einiger Entfernung tauchte mehrmals Niklas zwischen Sträuchern und Bäumen auf. Auch er hatte den Blick nach unten gerichtet. Analyn steuerte das nächste Wasserbassin an. Wenn es nur weniger Hecken gäbe! Aber dann wäre das Lösegeld wahrscheinlich hinter einem Grabstein versteckt worden, und davon gab es noch mehr. Sie kam an dem großen, sehr modern gestalteten Grabstein des Bauunternehmers Schautner vorbei. Er sah aus wie ein Hochhaus mit vielen Terrassen. Kurz überlegte sie, wer diesen Stein wohl ausgesucht und bezahlt hatte. Seine Gattin wohl eher nicht. Doch für solche Gedankenspiele blieb keine Zeit, denn die Hecke zu ihrer Rechten wurde immer dichter und undurchsichtiger. Kurzerhand zwängte Analyn sich an einer etwas lichteren Stelle durch die Sträucher. Obwohl sie schlank war, bohrten sich Äste in ihre Brust und ihren Bauch, während dünnere Zweige mit Blättern sachte ihre Jacke streiften. Ein abgebranntes Grablicht war das Einzige, was sie hinter der Hecke fand. An einer Kreuzung kehrte sie auf den Weg zurück. Das nächste Wasserbecken war ebenfalls verwaist. Hier gab es nicht einmal eine Gießkanne. Dafür hatte jemand eine ziemliche Planscherei veranstaltet. Der Boden war feucht. In Mulden standen kleine Pfützen und einzelne Wasserspritzer hatten eine respektable Reichweite vorzuweisen. Dazwischen gab es jede Menge Schuhabdrücke. Analyn zog ihr Handy aus der Hosentasche und machte einige Aufnahmen.
Als sie schlurfende Schritte auf dem Weg hörte, unterbrach sie ihre Arbeit. Der alte Mann, der seinen Rollator mitsamt einer Gießkanne in dem Transportkörbchen über den Weg schob, lächelte, als er Analyn entdeckte. Freundlich winkte sie hinüber. Sie saß in der Falle. Sofern sie nicht den Rückweg durch die Hecke antreten wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich die Zeit für einen kurzen Schwatz mit Herrn Kreuzner zu nehmen. Der liebenswürdige Herr wohnte im gleichen Haus wie ihr Freund Marius und hatte sie in sein Herz geschlossen. Er verwöhnte Analyn mit seinen Zimtschnecken und einem Gespräch, wann immer er sie traf.
»Frau Kommissarin, gut, dass ich Sie hier treffe«, sprudelte es aus Herrn Kreuzner hervor. »Der Vandalismus nimmt überhand. Jetzt muss man schon über den halben Friedhof laufen, um eine Gießkanne zu finden. Und dann gibt es nur diese großen Kannen. Die sind viel zu schwer zu tragen. Und zu wenig sind es auch! Dabei gehören an jedes Wasserbecken zwei Kannen. Eigentlich gibt es genügend. Ich habe sie im Frühjahr gezählt. Aber irgendwie verschwinden sie ständig. Im Rathaus war ich bereits, aber da hatte niemand Zeit. Ach, was soll’s, ich werde morgen meine eigene Kanne mitbringen. So wie früher. Ich habe sie immer hinter dem Grabstein versteckt, bis sie irgendwann verschwunden war. Geklaut. Einfach so. Was soll man dazu sagen? Zehn Liter Wasser«, er betrachtete kopfschüttelnd die Gießkanne in seinem Rollator, »da schwimmt meine Frau ja weg.«
Analyn entschied sich für einen Themenwechsel. »Ich muss jetzt weiter, Herr Kreuzner. Es war nett, Sie zu sehen.«
»Ganz meinerseits, ganz meinerseits.« Sein Händedruck war fest und herzlich. »Passen Sie gut auf sich auf, junge Frau.«
»Mach ich«, versprach Analyn und befreite ihre Hand. Niklas näherte sich und senkte seinen Daumen nach unten, als er zu ihr hinüberschaute.
Herr Kreuzner hatte ihn ebenfalls entdeckt. »Ach, Sie sind wohl beruflich hier.«
»Gewissermaßen«, entgegnete Analyn.
»Kommen Sie mal her, junger Mann«, winkte Herr Kreuzner nun Niklas zu sich. »Wissen Sie, Herr Polizist, ich verstehe ja, dass die Frau Kommissarin für so banale Sachen wie die Friedhofsordnung nicht zuständig ist. Aber in Ihr Ressort sollte das fallen. Sie sorgen doch sonst im Straßenverkehr und im Ort für Recht und Ordnung. Gucken Sie sich das mal an. Die Situation mit den Gießkannen ist ein einziges Ärgernis.«
Jetzt bloß keine Diskussion über irgendwelche Gießkannen. Dazu hatten sie wahrhaftig keine Zeit. Als Niklas den Mund aufmachte, fiel Analyn ihm ins Wort: »Tschüss, Herr Kreuzner. Wir müssen weiter.« Mit einem freundlichen Lächeln ging sie an dem alten Mann vorbei und zog Niklas sanft mit sich.
Aber Herr Kreuzner war noch nicht fertig. »Und was ist mit den Altkleidern? Es ist eine Schande, wenn jemand seine Schuhe und seine Hose einfach wegwirft. Das ist immer noch ein Friedhof und keine Kleiderkammer!«
Analyn blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Hier liegt Kleidung? Wo denn?«
»Na, da hinten, bei dem großen Komposthaufen. Wo der ganze Biomüll gesammelt wird.« Herr Kreuzner wies mit zittriger Hand auf eine halbhohe Mauer.
»Wir kümmern uns darum«, versprach Analyn und folgte ihrem Kollegen, der bereits auf den Müllplatz zusteuerte.
»Von wegen Altkleider«, sagte Niklas, als Analyn um die Mauer bog. »Da steckt der ganze Kerl noch drin.«
»Was?« Analyn beschleunigte ihre Schritte und trat neben Niklas. Auf dem Komposthaufen lagen Grünabfälle in den verschiedensten Verwesungsstadien. Je weiter unten, desto älter und unappetitlicher sahen die Pflanzenreste aus. Allerdings hatte jemand am Rand das Untere nach oben geschaufelt. Einige nicht mehr ganz frische, aber auch noch nicht verrottete Kränze und Grabgestecke waren mit deutlich älterem Kompost bedeckt worden. Dazwischen ragten zwei Schuhe samt Strümpfen und Hosenbeinen heraus. Ein kurzer Test mit einem Stock ließ Analyn erschaudern. Weder Socken noch Hose waren leer oder ausgestopft. Sie schluckte einen Kloß hinunter, der plötzlich in ihrem Hals aufgestiegen war. »Wir müssen Verstärkung rufen.«
***
Marius schaute den drei grauhaarigen Herren hinterher, die eben einen Energydrink an seinem Tresen zu sich genommen hatten und nun das Fitnessstudio verließen. Ein Grüppchen schwatzender, älterer Damen folgte ihnen. Dann kehrte Ruhe ein. Marius räumte die leeren Gläser in den Geschirrspüler. Der Jumping-Fitnesskurs endete frühestens in einer viertel Stunde. Genügend Zeit, den Kühlschrank aufzufüllen und einige Wasserkisten aus dem Vorratsraum zu holen. Erfahrungsgemäß waren die überwiegend weiblichen Teilnehmer nach den schweißtreibenden Übungen auf dem Minitrampolin durstig. Als sich die Eingangstür öffnete, war ihm klar, dass die Wasserkisten noch warten mussten. Mit einem strahlenden Lächeln lief Rosalie auf ihn zu. Einer ihrer Arme war bis zu den Ellbogen in ihrer riesigen Handtasche verschwunden. Zu allem Überfluss trug sie auch noch einen Rucksack auf dem Rücken.
»Marius, wie schön, dass du Dienst hast. Ich habe schon befürchtet, du seist in der Uni.« Er brauchte nicht zu antworten, denn sie fuhr gleich fort: »Trainiert jetzt ein Altersheim bei euch? Oder wo kamen eben die vielen alten Leute her?«
»Gar keine schlechte Idee«, erwiderte Marius und strich über seine Bartstoppeln. »Muss ich meinem Chef mal vorschlagen. Das wäre ein riesiges Kundenpotenzial. Ich kann dir unseren Kurs »Fitness für Senioren« wirklich empfehlen. Die Leute haben jede Menge Spaß, während sie Herz und Kreislauf trainieren, sich in Sturzprophylaxe üben und ihren Knochenbau stärken. Kannst du alles in unserem neuen Flyer nachlesen.« Er schob Rosalie eine Broschüre über den Tresen. Doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein, danke. Für Seniorenkurse fühle ich mich zu jung. Ich bin schließlich noch keine achtzig.«
»Aber fast«, konterte er.
Rosalies Arm tauchte aus der Handtasche auf. Sie schob den Prospekt zur Seite und legte ein Handy samt Ladekabel auf den Tresen. Dann prüfte sie die Äpfel in der Obstschale und steckte drei besonders leuchtende Exemplare in ihre Tasche.
»Bananen sind leider alle«, witzelte Marius.
»Kein Problem. Steckst du mir das bitte mal in die Steckdose?« Es war weniger eine Frage als eine Aufforderung. Marius griff nach dem Handy in der stillen Hoffnung, dass Rosalie umso schneller wieder gehen würde. Seitdem sie vor wenigen Monaten den Raubmord in dem Ebbelheimer Juweliergeschäft auf ihre ganz eigene Weise mit aufgeklärt hatte, schwamm sie im Geld. Ein Umstand, der ihr nach den entbehrungsreichen Jahren sichtlich Vergnügen bereitete. Wer wollte es der alten Frau verdenken? Trotzdem konnte sie nicht aufhören, alles einzustecken, was nicht festgeschraubt war. Marius verband Handy und Ladekabel mit der Steckdose.
Rosalie hatte inzwischen auf einem Barhocker Platz genommen. Rucksack und Handtasche standen zu ihren Füßen.
»Rate mal, was mir eben passiert ist, Marius.« Aber die Antwort auf ihre Frage lieferte sie gleich selbst: »Eine Schlägerei auf dem Friedhof! Stell dir das mal vor.«
»Und du mittendrin«, vermutete Marius.
Rosalie zog ihren Rock glatt. »Selbstverständlich!«
»Dachte ich mir.«
Sie protestierte: »Nein, natürlich nicht. Ich meine, ich habe mich nicht geprügelt. Aber als der eine Mann dem anderen den Kopf unter Wasser gedrückt hat in diesem Bassin, da konnte ich doch nicht bloß zusehen. Der wäre ertrunken!«
»In einem Wasserbecken? Auf dem Friedhof?«
»Ja, so eines, in dem man die Gießkannen auffüllt.«
»In dem Dreckwasser?« Marius schüttelte sich innerlich. »Was waren das für Typen?«
»Keine Ahnung. Zwei Männer eben. Dem einen habe ich mit der Harke auf den Kopf gehauen. Du hättest mal sehen sollen, wie schnell er den anderen losgelassen hat.« Rosalie hob ihren Arm und machte den Schlag vor.
»Hat er überlebt?«
»Selbstverständlich. Die beiden Streithähne sind dann auseinander und verschwunden.«
»Ohne dir ein Haar zu krümmen?«
»Ich glaube, die hatten selber Dreck am Stecken. Jedenfalls lag vor dem Friedhof eine ganze Menge Falschgeld, so kopiertes Geld, du weißt schon. Super schlecht gemacht. Deshalb haben sie es wohl auch dort weggeworfen.«
Rosalie und Geld, das war irgendwie immer gefährlich. Daher fragte Marius vorsichtshalber nach: »Du hast aber nichts von dem Geld mitgenommen, oder?«
Jetzt schob sie beleidigt die Unterlippe vor. »Ich bin doch nicht blöd. Am Ende erwischt mich jemand mit dem Geld. Keine Sorge, der Rucksack genügt mir. Möchtest du ihn vielleicht haben? Man kann ihn sogar wie eine Packtasche ans Fahrrad hängen. Ich schenke ihn dir.«
»Nein, danke. Ich stehe nicht so auf Second Hand. Außerdem musst du mir nichts schenken.«
»Das ist auch nicht geschenkt, denn ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Morgen brauche ich jemanden, der mir beim Tragen hilft. Ich habe mir etwas bestellt.« Ein Lächeln umspielte ihren Mund.
»Ich habe morgen Vorlesungen«, erwiderte Marius und schob sicherheitshalber nach, »außerdem muss ich arbeiten. Hast du einen Tresor gekauft?«
»Nein, viel schöner. Ich habe mir einen Fernsehsessel bestellt. Der wird morgen geliefert. Leider nur bis zur Bordsteinkante.«
Das war typisch Rosalie. »Was willst du mit einem Fernsehsessel?« Marius hob den Daumen. »Erstens: Du hast überhaupt keinen Fernseher. Zweitens«, nun ging sein Zeigefinger nach oben, »du hast weder eine Wohnung noch ein Wohnzimmer, weil du in einer Gartenhütte lebst und drittens«, diesmal wanderte sein Mittelfinger in die Höhe, » bist du viel zu jung für so einen Seniorenkram.«
Rosalie schüttelte den Kopf. Lächelnd fuhr sie fort: »Der Verkäufer hat mir versichert, dass auch junge Leute diese Art von Sitzmöbeln gern kaufen, weil man darin wunderbar entspannen kann. Eigentlich heißt das auch gar nicht mehr Fernsehsessel heutzutage. Davon haben Karl und ich früher bloß immer geträumt. Im Alter wollten wir uns zwei Fernsehsessel kaufen. Damit wir uns gemütlich darin ausruhen können. Wo ich jetzt gerade Geld habe, wollte ich nicht länger warten. Weißt du, was die Engländer sagen? Genieße das Leben ständig, denn du bist länger tot als lebendig. Da steckt viel Wahrheit drin, findest du nicht?« Marius schwieg. »Wie heißen diese Dinger denn jetzt bloß?« Rosalie kratzte nachdenklich ihre weißen Haare. Dann fiel es ihr wieder ein. »Wellnesssessel, genau! So heißen die Dinger jetzt.«
»Aha.«
»Also, hilfst du mir morgen beim Tragen?«
»Das Teil ist für einen allein mit Sicherheit zu schwer«, warf Marius ein.
Rosalie sah sich im Fitnessstudio um. Dann rief sie: »Hallo, junger Mann! Ja, Sie! Können Sie bitte mal kommen?« Mehrere Köpfe drehten sich zu ihr um, doch genau der Jugendliche, den Rosalie ins Visier genommen hatte, drehte sich schnell zur Seite. Ein vergeblicher Versuch, denn Rosalie setzte nach: »Sie, mit dem türkisfarbigen Oberteil und der Wasserflasche in der Hand.« Alle schauten zu dem etwas kräftigeren jungen Mann, dessen Gesichtsfarbe sich nun dem Ton seiner rötlichen Haare annäherte. Nach einem kurzen Zögern kam er zum Tresen. Marius kannte den Schüler flüchtig, da er in letzter Zeit häufiger zum Training kam. Rosalie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Guten Tag. Ich bin Rosalie.«
Unentschlossen wechselte das Handy mehrmals von rechts nach links, bis der Angesprochene tatsächlich kurz ihre Hand schüttelte. »Hallo. Ich heiße Conrad.« Sofort verschwand die Hand hinter seinem Rücken.
»Hallo, Conrad«, wiederholte Rosalie. »Sie können doch bestimmt ein bisschen Geld gebrauchen.«
Sein Handy fiel zu Boden. Conrad ging auf die Knie, um das Gerät und den abgesprungenen Deckel einzusammeln. Dabei warf er Marius einen hilfesuchenden Blick zu, aber der griff nach einem Tuch und polierte grinsend den Tresen. Conrad stand wieder auf und sah an sich herunter. »Warum meinen Sie, dass ich Geld brauche?«
»Alle jungen Leute brauchen Geld. Alte Leute übrigens auch«, erwiderte Rosalie. »Und ich benötige morgen Hilfe. Genaugenommen braucht mein Freund Marius Hilfe, denn er soll für mich einen Sessel ins Haus tragen. Wären Sie ihm vielleicht dabei behilflich, Conrad? Wie gesagt, ich bezahle auch dafür.«
»Ich weiß nicht …« Der Plastikdeckel schnappte mit einem Knacken auf der Rückseite des Telefons in die Abdeckung ein.
»Prima. Morgen Nachmittag um drei Uhr. Ich freue mich, dass Sie dabei sind, Conrad. Marius kennt den Weg und wird Ihnen erklären, wie sie zu mir kommen.« Rosalie strahlte über das ganze Gesicht und rutschte von ihrem Barhocker. Sie bückte sich nach ihrem neuen Rucksack und reichte Conrad erneut die Hand. »Tschüss, bis morgen.«
Marius konnte Conrads Antwort nicht verstehen, doch es klang nach einer Zustimmung. Die rötlichen Haare wippten auf und ab, als er mit schnellen Schritten zwischen den Crosstrainern verschwand.
»Was ist denn mit dem los?«, fragte Rosalie. »Der hat mich angeschaut, als wäre ich nicht ganz dicht.«
Marius legte den Putzlappen zur Seite. »Vielleicht liegt es daran, dass Conrad nicht gerade bedürftig ist. Seiner Familie gehört ein Unternehmen …«
Rosalie unterbrach ihn. »Na und? Deine Familie ist auch vermögend und das bewahrt dich nicht davor, ständig knapp bei Kasse zu sein. Aber umso besser. Ich dachte schon, der Bengel ist so schusselig, dass er am Ende den neuen Sessel fallen lässt. Er kann gern auch ohne Bezahlung helfen. Ich gehe dann mal duschen.«
»Hey, Rosalie«, rief Marius ihr hinterher. »So geht das nicht. Du bist nicht einmal Mitglied hier. Du kannst nicht einfach die Duschen benutzen.«
»Nur noch dieses eine Mal«, bat sie. »Sobald ich eine Wohnung habe, ist das nicht mehr nötig. Außerdem muss ich sowieso warten, bis mein Handy aufgeladen ist.« Dann verschwand sie in der Damenumkleide.
Marius stellte fest, dass mehrere Müsliriegel aus dem Aufsteller am Tresen fehlten. Wenn sie jetzt neben ihrer riesigen Handtasche noch eine Satteltasche mit allem füllte, was ihr unter die Nase kam, musste er wirklich ein ernstes Wort mit ihr reden. Nur dem Umstand, dass nun sein eigenes Handy klingelte, hatte Rosalie zu verdanken, dass er ihr nicht in die Damendusche folgte, um sie auf der Stelle vor die Tür zu setzen.
***
Es wurmte Hauptkommissar Beinert, in seinem neuen Wagen auf den Beifahrersitz verbannt zu sein. Aber schon das Einsteigen und Anschnallen waren so schmerzhaft, dass er unmöglich selbst fahren konnte. Im Auto herrschte Schweigen. Werner Müller von den gleichnamigen Entsorgungsbetrieben und sein Mitarbeiter Volker Kaverowski hingen auf dem Rücksitz wohl ihren eigenen Gedanken nach. Kollege Torsten hatte noch einen letzten Versuch gestartet, Beinert im Krankenhaus oder zumindest bei einem Unfallarzt abzusetzen, doch seit Beinert ihm endgültig eine Absage erteilt hatte, schwieg auch er. Bevor Beinert keine Klarheit über die beiden Orte der Lösegeldübergabe und alle daran beteiligten Personen hatte, würde er zu keinem Arzt gehen. Schließlich war seine junge Kollegin noch nicht lange dabei. Sicher, sie machte keinen schlechten Job, eigentlich sogar einen ziemlich guten. Doch zum Arzt konnte er später fahren.
Als Torsten in den Weg zum Friedhof einbog, bat Beinert ihn leise, sofort zurückzusetzen. Das Gewimmel von Autos auf dem Friedhofsparkplatz, darunter zwei Streifenwagen und ein Leichenwagen, gefiel ihm nicht. Torsten erfasste die Situation, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück auf die Hauptstraße.
Werner Müller erwachte aus seinen Grübeleien. »Was ist los?«
»Nichts«, erwiderte Beinert. »Ich steige hier aus. Sie warten auf dem Revier auf mich.« Mit aufeinander gebissenen Zähnen hievte er sich aus dem Fahrzeug. »Keine Extratouren mit dem Auto«, wies er seinen Kollegen an. Dann eilte er, so schnell es ihm möglich war, auf den Friedhof zu. Nun war ein Leichenwagen kein ungewöhnliches Fahrzeug auf diesem Parkplatz. Schließlich hatte ein Bestatter auch jenseits von Beerdigungen gelegentlich etwas auf dem Friedhof oder in der Trauerhalle zu erledigen. Doch in Kombination mit zwei Polizeifahrzeugen und dem Auto von Frau Dr. Irene Sonnenmeyer, seiner geschätzten Kollegin aus der Forensik, verhieß das nichts Gutes.
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung stand vor dem Friedhof, einen Beutel voller Papierbündel in der Hand, die Beinert bekannt vorkamen. Er grüßte kurz und wollte dann wissen: »Wo habt ihr die gefunden?«
»Die waren hier vorn auf dem Gehweg verstreut. Sobald wir alles analysiert haben, bekommt Ihre Kollegin den Bericht.«
Beinert nickte und trat durch das Eingangstor. Es war nicht schwer zu erkennen, wohin er musste. Eine Gruppe Zuschauer stand in der Nähe einer Mauer. Ein rotweißes Flatterband hielt sie auf Abstand. Das gleiche Bild bot sich etwas weiter entfernt an einem Wasserbassin. Hier war die Menschentraube allerdings deutlich kleiner. Beinert entschied sich für die Mauer. Eine Frau mittleren Alters löste sich aus der Menge und kam direkt auf ihn zu. Der Fotoapparat um ihren Hals und der Schreibblock in der Hand reichten aus, seine ohnehin nicht brillante Laune endgültig auf Talfahrt zu schicken.
»Hallo. Darf ich mich vorstellen: Vera Hagener, Ebbelheimer Zeitung. Sie sind der leitende Ermittler, Hartwig Beinert. Stimmt’s?«
Er musste der blonden Frau mit dem Dutt, aus dem zahlreiche Haarsträhnen fielen, zu Gute halten, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Denn im Gegensatz zu ihm wusste sie, mit wem sie sprach. Lächelnd nahm sie ihre Sonnenbrille von den Augen und schob sie gemeinsam mit einigen Strähnen auf den Kopf.
»Hauptkommissar Beinert«, korrigierte er widerwillig.
Sie zog einen Bleistift aus ihrem Dutt, was erneut einigen Haaren zur Freiheit verhalf. »Können Sie mir sagen, was genau hier vorgefallen ist? Man spricht von einem Toten. Können Sie das bestätigen? Wissen Sie, wer der Mann ist? Und kennt man bereits Ablauf und Gründe des Verbrechens?«
»Wie Sie unschwer erkennen können, bin ich gerade erst angekommen. Vielleicht darf ich mir erst einmal selbst einen Überblick verschaffen?«
»Kein Problem. Ich begleite Sie gern.«
»Ganz bestimmt nicht. Wenden Sie sich an die Pressestelle der Polizei. Die werden Sie mit allen notwendigen Informationen versorgen.«
»Pressestelle kann jeder. Ich möchte Ihre persönliche Einschätzung.«
Als Beinert weiterging, heftete sich die Journalistin dicht an seine Fersen.
»Sie sind offensichtlich verletzt. Hat das etwas mit Ihrem verspäteten Eintreffen an diesem Tatort zu tun? Und hat es einen Einfluss auf Ihre Arbeit?«
»Zwei Mal NEIN! Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.« Ein uniformierter Kollege hob das Absperrband, und Beinert kroch darunter hindurch. Jegliches Stöhnen verbot sich von selbst. Für die Journalistin war an dieser Stelle Schluss. Das hinderte sie jedoch nicht daran, Beinert weitere Fragen hinterherzurufen. Die Dame würde so schnell nicht lockerlassen.
Analyn entdeckte ihn sofort. »Was ist denn mit Ihnen los, Chef?« »Wieso? Darf ich mich nicht mal umschauen, was Sie so treiben? Immerhin ist hier jemand zu Tode gekommen, wenn ich das richtig sehe.« Beinert deutete mit dem Kopf in Richtung eines Leichnams, der neben dem Komposthaufen auf der Erde lag und von Frau Dr. Sonnenmeyer untersucht wurde. »Ich hätte erwartet, dass Sie mich anrufen. Sie haben doch sonst ihr Handy ständig am Ohr.«
»Ich habe acht Mal bei Ihnen angerufen.«
Ihm fiel ein, dass er sein Telefon stumm geschaltet hatte, als sie in den Wald gegangen waren. Seitdem hatte er keine Möglichkeit mehr gehabt, es aus der Jackentasche zu ziehen. Rein schmerztechnisch. Er beschloss, ihre Rechtfertigung, die eher wie ein Vorwurf klang, zu übergehen. »Also, was ist passiert?«
Analyn starrte weiter auf seinen rechten Arm, den er nach wie vor festhielt, und schilderte ihm ausführlich, wie sie erst das Falschgeld, dann die Kampfspuren am Wasserbassin und schließlich den toten Mann auf dem Komposthaufen gefunden hatten. Daraufhin hätte sie weitere Einsatzkräfte mobilisiert, die Spurensicherung und Forensik informiert, mehrfach ihren Chef angerufen und schließlich wurde mit vereinten Kräften der Leichnam von Kränzen, Grabgestecken und jeder Menge Kompost befreit. Sie beendete ihren Bericht mit der Frage, wie es im Wald gelaufen sei.
Beinert entschied sich für die Kurzvariante: »Wir haben den besagten Bauwagen gefunden, das Falschgeld mitsamt einer Fahrradpacktasche sichergestellt und den Geschäftsinhaber vom Entsorgungsbetrieb sowie seinen Kollegen mitgenommen. Torsten bringt sie gerade zur Befragung aufs Revier.«
»Das klingt alles ganz problemlos«, staunte seine Kollegin.
»Absolut.«
»Und dann sind Sie auf dem Weg zum Auto über einen Tannenzapfen gestolpert und haben sich den Arm gebrochen?«
»Das ist nichts weiter. Ich will jetzt erst mal mit Frau Dr. Sonnenmeyer reden. Vielleicht kann sie schon Näheres sagen.«
Ein modriger Geruch hing in der Luft, der ausnahmsweise nicht von dem Toten stammte. Ganze Schwärme von Fliegen konnten sich kaum entscheiden, ob sie weiter auf dem Komposthaufen bleiben sollten oder lieber über dem Mann ihren Totentanz aufführten. Als Beinert nähertrat und sein Schatten auf den Körper des Mannes fiel, blickte die Ärztin auf.
»Guten Tag, Frau Dr. Sonnenmeyer.«
»Hallo, Herr Beinert. Lange nicht gesehen.«
»Und trotzdem wiedererkannt«, scherzte er und zwang sich zu einem Lächeln. Doch sie ließ sich nicht täuschen.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus. Grün um die Nase wie ein Praktikant bei der ersten Obduktion. So kenne ich Sie gar nicht.« Sie erhob sich und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Nicht der Rede wert.« Er wich einen Schritt zurück, als sie ihre Einweghandschuhe abstreifte und den Arm nach ihm ausstreckte.
»Sie haben Ihre Schulter ausgekugelt. Darf ich mal?«
Schon ihre vorsichtige Berührung an seinem Arm und seiner Schulter ließ ihn innerlich aufschreien. Sie ging zu ihrem Koffer und kam gleich darauf mit einem Baumwolltuch zurück. Geschickt bettete sie seinen Arm in das Tuch und knotete es hinter seinem Nacken zusammen. »Wie lange ist Ihre Schulter schon ausgekugelt?«
»Eine Stunde«, antwortete er.
»Das muss so schnell wie möglich wieder eingerenkt werden.«
Seinen Protest beendete sie mit einer knappen Handbewegung. »Entweder Sie lassen sich sofort in ein Krankenhaus fahren, oder ich lege Sie hier neben diesen Herrn und renke Ihre Schulter persönlich ein. Ich bin sicher, Ihre Kollegin wird mir dabei behilflich sein.«
Er schaute zu Analyn. Wie der sorgenvolle Blick ihrer mandelförmigen Augen langsam einem Grinsen Platz machte, das fuchste ihn. »Bevor ich gehe, bringen Sie mich auf den aktuellen Stand, Frau Doktor.«
Sie seufzte. »Na gut. Vorher geben Sie Workaholic ja sowieso keine Ruhe. Also: Der Mann ist voraussichtlich seit etwa zwei Stunden tot. Er hat ausgeprägte Würgemale am Hals. Außerdem weisen jede Menge Kratzer und Blutergüsse auf einen Kampf hin. Auffällig sind die nassen Ärmel sowie Wasserspritzer auf seiner Jacke und Hose. Er muss vor seinem Tod mit viel Wasser in Berührung gekommen sein. Sein Alter schätze ich auf Ende Dreißig.«
»Wir haben an einem der Wasserbassins Spuren gefunden, die auf einen Kampf hindeuten«, bestätigte Analyn.
Dr. Sonnenmeyer nickte zustimmend. »Dann sollen die Kollegen dort auch nach Blutspuren Ausschau halten. Der Mann hat eine Verletzung am Hinterkopf, die stark geblutet hat. Ob sie todesursächlich ist oder den Tod begünstigt hat, kann ich erst sagen, wenn ich weitere Untersuchungen bei uns im Haus vorgenommen habe.«
Beinert hörte interessiert zu. Der Täter wollte unbedingt auf Nummer sicher gehen. Womöglich war das Opfer nach dem Schlag auf den Kopf nur bewusstlos gewesen und wurde deshalb noch erwürgt. »Womit wurde der Schlag auf den Hinterkopf ausgeführt?«
»Der Hinterkopf weist fünf spitze Löcher auf, die in regelmäßigem Abstand von etwa zwei Zentimetern angeordnet sind. Wie tief der Gegenstand in den Schädel eingedrungen ist und aus welchem Material er war, das teile ich Ihnen morgen mit. Die Haare sind stark vom Blut verklebt, und es befindet sich auch Erde in der Wunde. Aber ob die hier von dem Kompost stammt oder von anderswo, müssen wir erst analysieren.«
»Könnte es sich um eine Harke handeln?«, fragte nun seine Kollegin.
Dr. Sonnenmeyer betrachtete den Toten. »Sie meinen so eine kleine Friedhofsharke? Durchaus, das könnte ich mir vorstellen. Aber wie gesagt …«
»… morgen erfahren wir Genaueres«, ergänzte Analyn.
»Genau.« Frau Dr. Sonnenmeyer lächelte und trat einen Schritt zur Seite, um zu telefonieren.
»Niklas, komm mal her.« Beinert winkte den uniformierten Kollegen zu sich. »Sorge dafür, dass alle Harken, die hier irgendwo rumliegen oder hinter den Grabsteinen deponiert sind, eingesammelt werden und ins Labor kommen. Wir müssen wissen, ob sich auf einer von ihnen Blutspuren und verwertbare Fingerabdrücke befinden.«
»Geht klar.«