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Es ist kein guter Morgen als der junge Bademeister Marius die Leiche der erfolgreichen Kunstspringerin Sarah Müller im Schwimmparadies Main-Taunus findet. Und die Tatsache, dass der ruppige Kommissar und dessen hübsche Assistentin ihn als Hauptverdächtigen im Auge haben, macht die Sache nicht besser. Als Marius plötzlich ein zweiter Toter zu Füßen liegt, macht er sich notgedrungen selbst auf die Suche nach dem Mörder. Dabei unterstützt ihn die wunderliche alte Dame Rosalie. Scheinbar selbstlos und mit skurrilen Ideen ist sie dem jungen Mann nicht immer eine Hilfe. Bei ihrer Recherche offenbart sich ein Sumpf aus Korruption, Vetternwirtschaft Betrug und Eifersucht, der nicht nur Marius in einen Strudel unvorhergesehener Ereignisse zieht.
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Seitenzahl: 519
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Das Buch
»Bei jedem verdammten Toten in diesem Kaff bin ich der Erste, der ihn findet.« Langzeitstudent und Aushilfsbademeister Marius ist verzweifelt. Warum muss auch ausgerechnet er in seiner Frühschicht die bekannte Kunstspringerin Sarah Müller tot auf dem Dreimeterturm finden? Und kurz darauf liegt die Leiche des nächsten prominenten Ebbelheimer Bürgers quasi direkt vor seinen Füßen. Schnell gerät Marius in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen. Die rüstige Rentnerin Rosalie warnt ihn, sich besser nicht auf die Polizei zu verlassen, und hat gleich eine Handvoll gut gemeinter Ratschläge parat, um Marius bei seiner eigenen Recherche zu unterstützen. Hauptkommissar Beinert braucht Erfolgsmeldungen für die Presse und muss sich gleichzeitig mit seiner neuen Kollegin herumschlagen, einer absoluten Anfängerin. Aber er ist ein alter Fuchs und lässt sich in seinem Job nichts vormachen. Auch nicht, wenn es um einen angeblichen Serienmörder geht und vieles auf Korruption, Betrug und Vetternwirtschaft in der kleinen Taunusgemeinde Ebbelheim hindeutet.
Die Autorin
Iris Otto ist in Niedersachsen aufgewachsen und kam nach einem Umweg über Bayern 1992 in den Main-Taunus-Kreis. Nach einer mehrjährigen Phase als Familienmanagerin bildete sich die gelernte Reiseverkehrskauffrau zur Schriftstellerin weiter. Seither veröffentlicht sie Kurzgeschichten und Kurzkrimis. Mit »Mord kommt vor dem Fall« liegt nun ihr erster Kriminalroman vor.
Weitere Informationen unter: www.irisotto.de
www.tredition.de
© 2016 Iris Otto
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Lektorat: Dr. Hanne Landbeck, www.schreibwerk-berlin.de
Umschlag: Dipl. Grafikdesignerin Martina Otto, www.mo-keramik.de
ISBN
Paperback:
978-3-7345-1362-6
Hardcover:
978-3-7345-1363-3
e-Book:
978-3-7345-1364-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Mathias
Kapitel 1
Nur ein Wunder konnte diesen jungen Tag noch retten. Doch Marius war in letzter Zeit nicht mit Wundern verwöhnt worden. Kräftig trat er in die Pedale seines Fahrrads, während die Kälte sich in seinen Waden festbiss. Die kurze Sporthose war zu dünn für Ende September. Wütend dachte Marius an Sarah, die auf keinen seiner Anrufe, keine WhatsApp-Nachricht und auch nicht auf das Läuten an ihrer Wohnungstür reagiert hatte. Er schob den kleinen Hebel vor, doch die Gangschaltung hakte wie immer und rastete erst mit Verzögerung, dafür aber umso lauter, ein. Er hatte es auch gestern nicht geschafft, sie zu reparieren. Die Armbanduhr bestätigte seine Befürchtung: Er kam zu spät zur Arbeit. Zu lange hatte er vor Sarahs Wohnungstür gewartet. Was war er für ein Trottel, dass er sich auf diesen blödsinnigen Deal mit ihr eingelassen hatte! Sie scherte sich einen Dreck darum, ob er Schwierigkeiten bekam oder nicht. In halsbrecherischem Tempo jagte Marius den geteerten Feldweg entlang und bog auf die Landstraße ein, ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren. Das Hupen des Müllautos beantwortete er mit einer Handbewegung, die irgendwo zwischen einem Gruß und einem abfälligen Winken lag. Seine Armbanduhr zeigte bereits fünf nach halb sieben, als er schwungvoll auf den Parkplatz des Schwimmparadieses Main-Taunus einbog, die Schranke umfuhr und mit quietschenden Bremsen vor dem Fahrradständer zum Halten kam.
Eine Handvoll Badegäste wartete vor der Eingangstür, andere saßen in ihren geheizten Autos und stiegen erst aus, als Marius sein Fahrrad abgeschlossen hatte.
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, junger Mann«, grüßte ihn die alte Dame, die täglich um diese Zeit zum Schwimmen kam und den Kragen ihres abgewetzten Mantels hochgeschlagen hatte. Tadelnd pendelte ihr erhobener Zeigefinger von rechts nach links, während die Falten um ihre Augen tanzten.
»Guten Morgen. Besser spät als nie«, antwortete Marius und steckte den Schlüssel in das Schloss der Eingangstür. Mit einem Ruck zog er den Türgriff zu sich heran und drehte gleichzeitig den Schlüssel im Schloss herum. Dann bückte er sich nach dem Bündel Ebbelheimer Tageszeitungen, das ein fleißiger Austräger in den frühen Morgenstunden neben dem Eingang abgelegt hatte. Frisch gestempelt würden sie später im Sauna- und Fitnessbereich für die Besucher ausgelegt werden. Marius umfasste das schwere Paket mit beiden Händen.
»Vorsicht, das verrutscht«, wies ihn die ältere Dame darauf hin, dass Zeitungen heraus zu fallen drohten.
»Die könnten ja auch mal zwei Bänder spendieren, um die Zeitungen zusammenzuhalten«, erwiderte er und klemmte sich das Paket zwischen Unterarm und Hüfte, um mit der freien Hand die Tür aufzuziehen. Während er am Sicherungskasten die Beleuchtung einschaltete, gingen die Badegäste an ihm vorbei zu den Umkleidekabinen. Es waren ausnahmslos Dauergäste mit Jahreskarte, die entweder vor der Arbeit ein paar Bahnen schwammen, oder Rentner, die den Early-Morning-Tarif nutzten. Marius warf die Zeitungen auf den Kassentresen, von wo aus die Kollegin sie später verteilen würde, ging den Gang zwischen den Umkleidekabinen entlang und öffnete seine Jeansjacke. Aus einem der Spiegel schaute ihm sein verkatertes Gesicht entgegen. Die straßenköterblonden Haare waren vom Fahrtwind zerzaust und hatten ewig keinen Friseur mehr gesehen. Vor zwei Tagen hatte er sich das letzte Mal rasiert. Brad Pitt würde in diesem Look als ›Sexiest Man Alive‹ gelten, ihn hingegen würde man bestenfalls ungepflegt nennen. Seit Jennifer vor einem dreiviertel Jahr nach Deutschland zurückgekehrt war und seine Wiedersehensfreude mit der endgültigen Trennung beantwortet hatte, ließ er sich gehen. Dabei war er schlank, groß, athletisch und, wie er fand, durchaus attraktiv. Aber es gab zurzeit niemanden, den das interessierte. Frustriert betrat Marius die Schwimmhalle. Warme Temperatur, hohe Luftfeuchtigkeit und der Geruch von Chlor schlugen ihm entgegen. Die Wasseroberfläche des Erlebnis- und Spaßbeckens war spiegelglatt und würde sich erst kräuseln, wenn um neun Uhr die Strudel und Fontänen eingeschaltet wurden. Bis dahin war für die Frühschwimmer nur das Sportbecken freigegeben. Ein Glaskasten in tropisch anmutender Bambusverkleidung diente dem Personal als Beobachtungsposten und Büro. Lässig schmiss Marius seine Jacke auf das Sideboard, kickte seine Turnschuhe unter das Regal und angelte mit den Füßen seine Badeschlappen hervor. Routiniert griff er nach den Reagenzgläsern, um eine Wasserprobe zu entnehmen. In den Duschen plätscherte bereits das Wasser, als er die Bademeisterloge verließ, sich dem Sportbecken zuwandte und den Dreimeterturm erblickte. Abrupt blieb er stehen und starrte nach oben.
Sarah lag auf dem Rücken. Weit hingen ihre Arme und ihr Kopf von der Vorderkante des Sprungbrettes hinunter, als würde sie gleich die Beine heben und sich mit einem ihrer Saltos und jeder Menge Drehungen ins Wasser katapultieren. So wie sie es fast jeden Tag bei ihren Trainingseinheiten tat. Doch sie bewegte sich nicht. Stattdessen hatte sich ihr rechtes Bein leblos zwischen den seitlichen Gitterstäben verfangen, die die Badegäste vor einem Absturz schützten. Seine Badeschlappen quietschten, als Marius am Beckenrand entlang rannte. Hastig kletterte er die Leiter des Dreimeterturms hoch und hörte dabei das laute »Halleluja!« der alten Dame, die in die Schwimmhalle gekommen war und nun auf den Sprungturm starrte. Ihr altmodischer Badeanzug und die Badehaube mit den dicht aufgenähten weißen Rüschen konnten in keinem größeren Kontrast zu Sarah stehen, die nun mit ihrem knappen dunkelblauen Sportbadeanzug zu seinen Füßen lag. Ihre Haut schimmerte zartrosa und ließ sie unnatürlich gesund aussehen. Obwohl er ahnte, dass es vergeblich war, balancierte er an ihr vorbei, klammerte sich an das Geländer, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, und beugte sich über sie. Er wollte ihren Puls fühlen, doch ihre Arme hingen in die Tiefe, so dass ihre Handgelenke für ihn unerreichbar waren. Blieb noch die Halsschlagader, aber auch dazu musste er das Geländer loslassen. Vorsichtig hob Marius sein rechtes Bein und setzte es über Sarahs Hüfte, bis er einen schmalen Streifen des Gummibelags unter seiner Sohle spürte. Das Sprungbrett gab leicht nach, sobald er es mit seinem Körpergewicht belastete. Er wartete, bis die Schwingung nachließ und streckte seinen Arm aus. Wenige Zentimeter trennten seine Hand von Sarahs Hals. Obwohl er sich im Zeitlupentempo nach vorn beugte, hatte er das Gefühl, das Sprungbrett würde sich nach unten neigen. Vorsichtig beugte er seinen Rumpf und näherte seine Hand ihrem Hals. Gerade als er unter seinen Fingerspitzen ihre Haut spürte, verlor Marius das Gleichgewicht und stürzte in das Schwimmbecken.
Prustend tauchte er wieder an der Wasseroberfläche auf. Er wusste nicht, was ihm mehr den Atem nahm, das kalte Wasser, der unerwartete Sturz oder Sarah, die trotz seines Manövers unverändert auf dem Dreimeterturm lag. Mit wenigen Schwimmzügen erreichte Marius die Leiter und stieg aus dem Becken. Kurz vergrub er sein Gesicht in beiden Händen, schob dann die nassen Haare aus der Stirn und die Feuchtigkeit aus seinem Gesicht. Was sollte er nur tun? Was würde passieren? Seine Badelatschen trieben auf der Wasseroberfläche und blieben ihm eine Antwort schuldig. Langsam schlich er zur Bademeisterloge und griff nach dem Telefon. Der Gedanke an das, was auf ihn zukommen würde, schnürte ihm die Kehle zu, als er auf der Tastatur die Eins, Eins, Null drückte.
***
Rosalie zupfte an den Rüschen ihrer Badekappe, unter der ihre Kopfhaut juckte. Eine Leiche am frühen Morgen konnte einem auf den Magen schlagen. Dass sie der jungen Frau ausgerechnet auf diese Weise wieder begegnen würde, hätte Rosalie in ihren kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten. Das Leben ging manchmal seltsame Wege, aber das war ihr nicht neu. Für einen Moment hatte Rosalie gedacht, den jungen Mann hätte der Schlag getroffen, als er von dem Dreimeterturm gestürzt war. Beinah wäre ihm die schöne junge Frau gefolgt. Wie rettete man einen ertrunkenen Bademeister? Rosalie hätte es nicht gewusst und sie war erleichtert, als der Arme an der Oberfläche aufgetaucht war. Jetzt saß er in der Bademeisterloge und stammelte wirres Zeug ins Telefon, aus dem ein Polizeibeamter am anderen Ende der Leitung Rückschlüsse ziehen musste. Ein bleicher Mann mit langer, bunter Hawaii-Badehose kam um die Ecke und legte sein sorgfältig aufgerolltes Handtuch auf eine der Liegen. Da der Bademeister wie ein Häufchen Elend dasaß und offensichtlich zu keiner Handlung fähig war, beschloss Rosalie, die Sicherung des Leichenfundortes bis auf weiteres zu übernehmen. Mit fester Stimme sprach sie den Badegast an: »Entschuldigung, Sie können hier heute nicht schwimmen.«
Der Mann drehte sich zu ihr und schaute auf sie herab. »Sagt wer?«, fragte er mit einer unüberhörbaren Spur von Arroganz. Sicher warteten in seinem Spint Nadelstreifenanzug und Aktentasche auf ihn. »Ich«, antwortete Rosalie und deutete hinter ihn. Genüsslich beobachtete sie, wie er augenblicklich seinen bereits geöffneten Mund wieder schloss, als er die Frau auf dem Sprungturm entdeckte. Wortlos nahm er sein Handtuch und trat den Rückzug an. Inzwischen war ein durchtrainierter Adonis in der Schwimmhalle aufgetaucht. Seine stromlinienförmige Badekappe schmiegte sich so eng an seinen Kopf wie die knappe schwarze Badehose an seine Lenden. In den Ohren hatte er orangefarbene Schaumstoffstöpsel und seine Augen verschwanden gerade hinter einer neongrünen Schwimmbrille, als Rosalie ihm auf die Schulter tippte und mit dem Daumen zum Sprungturm zeigte. Mit einem herzhaften, aber knackig kurzen Fluch begrub der Mann die Hoffnung auf sein Schwimmtraining. Um weitere Badegäste fernzuhalten, versperrte Rosalie den Durchgang von den Duschen zur Schwimmhalle mit einigen Liegen. Einer Frau im geblümten Badeanzug empfahl sie kurzerhand das Erlebnisbecken. Dann betrat Rosalie den Glaskasten, nahm dem hilflosen Bademeister das Telefon aus der Hand und stellte es in die Aufladestation zurück. Vornüber gebeugt saß er auf dem einzigen Hocker und wühlte mit den Händen in seinen langen, struppigen Haaren, aus denen das Wasser ebenso auf den Boden tropfte wie aus seiner Kleidung.
»Kopf hoch, das wird schon wieder«, versuchte Rosalie ihn zu ermutigen.
»Mir ist schlecht«, antwortete er. »Ich habe noch nie eine Leiche gesehen. Und dann ausgerechnet Sarah!«
Aus einer Plastikbox mit der Aufschrift ›Fundsachen‹ zog Rosalie ein Frotteehandtuch und legte es dem jungen Mann über die Schulter.
»Sie sehen aus wie ein begossener Pudel. Hier nehmen Sie das erst mal.« Aufmunternd klopfte sie ihm auf den Rücken und ließ ihn dann allein.
In einem deckenhohen Regal stand eine verwaiste Badetasche mit dem blauen Logo des Deutschen Schwimmverbandes. Die leere Wasserflasche daneben nahm Rosalie mit. Es war unglaublich, wie achtlos viele Menschen ihre Pfandflaschen überall liegen ließen oder gar wegwarfen. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert, schoss es ihr durch den Kopf. Rosalie hatte lernen müssen, mit kleinen Beträgen auszukommen. Jetzt beeilte sie sich, ließ die Duschen links liegen, holte ihre Sachen aus ihrem Spint und verschwand in einer Umkleidekabine, um sich in Windeseile anzuziehen. Kurz darauf überquerte sie mit schnellen Schritten den Parkplatz und erreichte die Bushaltestelle, als eine Sirene die Ankunft von Notarztwagen und Rettungsfahrzeug ankündigte. Aus der entgegengesetzten Richtung bog die Polizei bereits auf den Parkplatz ein. Geschafft! Erleichtert ließ Rosalie sich auf die Bank des Wartehäuschens fallen. Mit schlurfendem Schritt näherte sich ein älterer Mann mit zotteligen Haaren, einer enormen Nase und derben, schmutzigen Schuhen. Die Ärmel seiner dicken Lodenjacke endeten deutlich oberhalb seiner Handknöchel. Der ehemals beige Pullover reichte dafür bis über den Handrücken. Wortlos wandte der Mann sich dem Mülleimer zu. Rosalie beobachte ihn, wie er erst eine alte Zeitung und dann zwei Tetrapackungen anhob, um sie resigniert wieder zurückzustopfen. Trotz der frühen Stunden kam er zu spät. Seine ärmliche Erscheinung rührte sie. Es gab Menschen, denen es noch schlechter ging, als ihr selbst. Wortlos öffnete sie ihre Tasche und entnahm ihr zwei der vier Flaschen, die sie selbst eingesammelt hatte, und streckte sie dem Mann entgegen. Dankbar schaute er sie an und griff zu.
***
Ob es Stunden oder Minuten waren, bis die Polizei eintraf, hätte Marius nicht sagen können. Irgendwann tauchten zwei uniformierte Polizisten in der Schwimmhalle auf, gefolgt von zwei Rettungssanitätern und einer jungen Frau, denen er wortlos mit einem Wink der Hand den Weg zum Sprungturm wies. Während die Sanitäter und die junge Frau in die gezeigte Richtung eilten, forderten die Polizeibeamten neugierige Badegäste auf, zurückzutreten. Der Mann mit der Hawaii-Badehose hatte sein Handtuch wie einen Schal um den Hals gelegt und machte Aufnahmen mit seinem Smartphone, bis sich ein Polizeibeamter vor seine Linse stellte. Alle wurden gebeten, ihre Beobachtungen am besten sofort zu Protokoll zu geben. Aber niemand hatte etwas gesehen. Einer der Sanitäter kehrte zu Marius zurück. Seine breiten Oberarme dehnten das weiße Poloshirt bis zum Maximum und mit einer Körpergröße von knapp zwei Metern füllte er den Türrahmen nahezu komplett aus.
»Brauchen Sie Hilfe? Wie geht es Ihnen?«
»Nein«, Marius räusperte sich. Sein Hals kratzte und die Stimme wollte nicht gehorchen. »Ich bin okay.«
»Sie sehen blass aus und haben Schweißperlen auf der Stirn. Es ist vollkommen normal, dass Sie unter Schock stehen. Ich würde gern Ihren Blutdruck messen.«
»Nicht nötig, alles okay soweit.«
»Sind Sie sicher?« Ungefragt griff der fremde Mann nach Marius’ Handgelenk und tastete nach dem Puls. Unwirsch entzog Marius seinen Arm und starrte auf die Pfütze zu seinen Füßen.
»Mir geht es gut.« Der Sanitäter würde ihm ohnehin nicht helfen können.
»Darf ich mal vorbei?« Eine weibliche Stimme ertönte hinter dem Riesen, der einen Schritt zurücktrat, um den Weg frei zu geben.
»Sind Sie der diensthabende Bademeister?«, fragte die Frau, die zu ihren Jeans rote Ballerinas trug. Marius nickte stumm.
»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Marius hatte seine Stimme nicht unter Kontrolle und beließ es bei einem Nicken.
»Sicher?« Die Frage galt wohl eher dem Sanitäter, denn dieser knurrte ein kurzes »Scheint so« und fragte dann: »Brauchen Sie uns hier noch, oder können wir wieder fahren?«
»Ich denke, für Sie gibt es hier nichts mehr zu tun. Vielen Dank für die schnelle Unterstützung«, sagte die Frau.
»Schönen Tag noch«, gab der Sanitäter zurück und entfernte sich. Marius starrte weiterhin die Härchen auf seinem großen Zeh an.
»Guten Morgen, mein Name ist Zettelmann. Ich bin Kommissarin der hiesigen Polizeidienststelle. Haben Sie uns angerufen?«
Dies galt eindeutig ihm. Mühsam riss Marius sich von dem Anblick seiner Füße los und hob den Kopf. »Ja.«
Die Kommissarin war eine zarte, eher klein gewachsene Frau mit tiefschwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen, deren mandelartige Form asiatische Wurzeln verriet.
»Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?« Ihre Stimme klang warm und freundlich. Aus ihrer Tasche förderte sie Notizblock und Bleistift zu Tage und sah ihn erwartungsvoll an.
»Hm«, brummte Marius.
»Wie ist denn Ihr Name, bitte?«, fragte sie.
»Marius Walkert.«
»Sind Sie hier der Bademeister?«
»Nein, ich bin ausgebildeter Rettungsschwimmer und jobbe hier. Die Bademeisterin ist Frau Langer.«
»Wo finde ich Frau Langer?«
»Sie hat heute frei.«
»Dann waren Sie heute Morgen als Erster hier und haben das Schwimmbad aufgeschlossen?«
Er nickte.
»Wann war das?«
»So kurz nach halb sieben.«
»Waren Sie allein?« Ihr Stift kratzte über das Papier.
»Nein, ich hatte mich etwas verspätet und einige Badegäste haben schon draußen vor der Tür gewartet.«
»Sie haben aufgeschlossen, sind gemeinsam mit den anderen hereingegangen – und was passierte dann?«
»Ich habe meine Runde gedreht und dann Sarah auf dem Sprungturm gesehen.«
»Sie kennen die Tote?« Sie hob eine Augenbraue.
»Ja, Sie nicht?« Es war ihm undenkbar, dass jemand Sarah nicht kannte. »Sarah Müller, die Kunstspringerin. Sie hat unglaublich viele Wettkämpfe gewonnen und eine großartige Karriere vor sich.«
»Hat sie hier regelmäßig trainiert?«
»Nein, normalerweise trainiert sie in Frankfurt. Aber manchmal kommt sie zu uns.«
»Wissen Sie warum?«
Noch bevor Marius antworten konnte, drängte sich ein korpulenter, grau melierter Herr an der Kommissarin vorbei und murmelte ein knappes »Guten Morgen. Was haben wir hier?«
Frau Zettelmann zuckte zusammen und trat einen Schritt zur Seite. »Guten Morgen, Chef. Herr Walkert ist Mitarbeiter des Schwimmbads und hat heute Morgen bei Dienstbeginn eine tote Kunstspringerin auf dem Dreimeterturm gefunden.«
Die buschig-borstigen Augenbrauen des Mannes näherten sich dem Nasenbein, als er Marius aus zusammengekniffenen Augen betrachtete.
»So, so, und Sie waren der Erste heute Morgen?«
»Ja.«
»Und wer war der Letzte, der hier gestern Abend abgesperrt hat?« Seine Augen fixierten Marius wie eine Schlange das Kaninchen. Jeder Quadratzentimeter seines opulenten Körpers verströmte die Aura eines Vorgesetzten, der alle um sich herum klein hielt.
»Ich.« Es gelang Marius nicht, so selbstbewusst und souverän zu klingen, wie er es gern gewollt hätte.
»Ach, das ist ja interessant. Wann war das?«
»Gegen Mitternacht.«
»Und um die Zeit war diese Kunstspringerin schon hier?«
»Ja.«
»Hat sie einen eigenen Schlüssel für das Schwimmbad?«
»Nein.«
»Wie sollte sie dann nach Ende ihres Trainings wieder abschließen? Oder hatten Sie die Eingangstür offen gelassen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Also, wie sollte das Opfer die Schwimmhalle verlassen?« Leugnen war zwecklos. So fügte sich Marius in sein Schicksal und gestand: »Ich habe ihr einen Zweitschlüssel gegeben.«
Der Dicke sog hörbar die Luft ein. »Ist das üblich? Ich meine, trainiert sie hier regelmäßig alleine?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Was heißt eigentlich?«
»Normalerweise ist ihr Trainer bei ihr und sie kommt während der regulären Öffnungszeiten.« Unbehaglich strich Marius mit einer Hand über seine Bartstoppeln. Er hätte sich in der Früh rasieren sollen, das hätte einen seriöseren Eindruck gemacht.
»Und wenn mal gerade nicht ›normalerweise‹ ist, bekommt sie einfach so einen Schlüssel vom Schwimmbad.«
»Nicht so direkt.« Marius wusste nicht wohin mit seinen Händen, die ruhelos über seine Beine strichen. Obwohl er gerade noch gefroren hatte, trieb ihm jetzt der Schweiß aus allen Poren und ließ das ohnehin feuchte T-Shirt an seinem Körper kleben. »Ich habe ihr ausnahmsweise einen Schlüssel gegeben.«
»Unberechtigterweise, nehme ich an«, ergänzte der Mann, was Marius mit einem knappen Kopfnicken bestätigte.
»Wer wusste außer Ihnen, dass die Frau hier am späten Abend trainierte?«
»Niemand, soweit ich weiß«, flüsterte Marius.
Als habe er bekommen, wonach er suchte, verlor der Mann augenblicklich das Interesse an Marius. Im Rausgehen wandte er sich an die Kommissarin, die ihm bereitwillig Platz machte.
»Nehmen Sie ihn mit. Er durchläuft das volle Programm. Ich will mich später auf dem Revier mit ihm unterhalten. Aber vorher brauche ich die Ergebnisse der Spurensicherung und eine erste Einschätzung vom Doc. Haben Sie sich die Leiche angesehen, Frau Zettelmann?«
Die Angesprochene drehte den Bleistift in ihrer Hand, als gelte es, einen Rekord in Stifterotation aufzustellen.
»Ja, selbstverständlich aus der Ferne.«
»Aus der Ferne? Sie betrachten eine Person aus der Ferne und kommen zu der Erkenntnis, dass es sich um eine Tote handelt?«
»Nun ja, die Frau ist in einer etwas schwierigen Lage.« Der Bleistift kreiste ohne Unterbrechung.
»Das glaube ich gern. Aber so werden Sie keine Verbrechen aufklären. Die Erfolgsquote bei der Verbrechensbekämpfung ist bei der Polizeidienststelle Ebbelheim überdurchschnittlich hoch. Aber bestimmt nicht, weil wir aus der Ferne ermitteln. Merken Sie sich das.«
Damit stapfte der Kommissar in Richtung Sportbecken davon.
***
Erst der dritte Arbeitstag auf der neuen Dienststelle und dann gleich ein Leichenfund. Dazu dieser Kotzbrocken von Chef. Warum war ihr letzteres beim Vorstellungsgespräch nicht aufgefallen? Analyn drehte den Bleistift zwischen ihren Fingern, unschlüssig, wie sie jetzt am besten weitermachte. Die Befragung des Bademeisters war zunächst abgeschlossen. Sollte sie ihrem Chef folgen? Auf weitere Belehrungen seinerseits legte sie keinen Wert. Die uniformierten Kollegen waren in einen lautstarken Wortwechsel verwickelt, den Analyn nur teilweise verstehen konnte. Gerade als sie aus der Bademeisterloge trat, schoss ein Mann in knallroten Jeans und schwarzer Lederjacke an der Absperrung vorbei. Sein breites Kreuz und der kräftige Nacken wiesen ihn für Insider sofort als Schwimmer aus. Einer der Polizisten folgte ihm und versuchte vergeblich, ihn am Weitergehen zu hindern. Analyn stellte sich dem Mann direkt in den Weg.
»Stopp! Sie können hier nicht weitergehen. Das ist ein Tatort!«
»Mir doch egal.« Mit einer kräftigen Armbewegung wurde sie zur Seite geschoben. »Ich muss zu Sarah.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, rief Analyn dem Rüpel hinterher, der sein Ziel nicht aus den Augen ließ.
»Wolfgang Gloucher«, kam die Antwort aus der Bademeisterloge.
»Wolfgang Gloucher? Und wer ist das, bitte schön?« Analyn rieb ihren schmerzenden Arm. Der Typ hatte sie ziemlich hart erwischt.
»Sarahs Trainer. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet«, informierte sie der Aushilfsbademeister.
»Und wie kommt der jetzt hierher? Haben Sie ihn verständigt?«
»Ich? Im Leben nicht!«
Analyn ließ es dabei bewenden. »Kommen Sie, Herr Walkert. Wir gehen.«
Barfuß trat Marius vor die Bademeisterloge. Geistesgegenwärtig bückte Analyn sich nach dem einzigen Paar Turnschuhe und reichte sie dem sichtlich verstörten jungen Mann. Gemeinsam blickten sie zu dem Sprungturm, wo der uniformierte Polizist versuchte, den Trainer von einer Besteigung abzuhalten. Ihr Chef hingegen stand oben auf der Plattform und betrachte genervt das Geschehen. Kaum hatte Wolfgang Gloucher sich aus den Klauen des Polizisten befreit, begann er, hastig die schmale Leiter emporzuklettern, dicht gefolgt von dem Beamten, der vergeblich nach seinem Fuß schnappte. Oben angekommen, kam es zu einer Rangelei mit dem Hauptkommissar, der mit seinem massigen Körper den Zugang zum Sprungbrett blockierte. Inzwischen hatte auch der uniformierte Polizist das Podest erreicht und überwältigte gemeinsam mit seinem Vorgesetzten den Trainer. In diesem Moment setzte sich Sarah Müller wie von Zauberhand in Bewegung und vollführte ihren letzten Sprung aus drei Meter Höhe in ein Schwimmbecken.
Kapitel 2
Der Aufprall des leblosen Körpers auf der Wasserfläche ließ die Männer auf dem Sprungturm auseinanderfahren. Hauptkommissar Beinert beugte sich über das Seitengeländer und starrte in die Tiefe. Das hatte gerade noch gefehlt! Wütend brüllte er zu dem Kollegen, der die neugierigen Gaffer zurückdrängte: »Sieh zu, dass die Leute von hier verschwinden. Und dann holt die Frau aus dem Wasser raus.« Der zweite Beamte kletterte bereits die Leiter des Sprungturms hinunter. Als er eine Bewegung hinter sich wahrnahm, löste Beinert seine Hände vom Geländer und drehte sich um.
»Was machen Sie da?«, fauchte er den Trainer an, der seine Jacke über das Geländer geworfen hatte und gerade aus seinen roten Jeans stieg.
»Lassen Sie das!«, befahl Beinert und bekam als Antwort ein T-Shirt in die Hand gedrückt. Mit kurzem Anlauf sprang Wolfgang Gloucher kopfüber in das Schwimmbecken. Mit gekonntem Griff zog er wenig später den leblosen Frauenkörper an den Beckenrand, wo er von den beiden Polizisten in Empfang genommen wurde. Zumindest diese Arbeit hatte sich quasi von allein erledigt. Beinert sammelte Kleidung und Schuhe von Wolfgang Gloucher ein und verließ dann ebenfalls den Sprungturm.
Mit hängenden Schultern stand der Trainer vor seiner erfolgreichsten Sportlerin, die er soeben aus dem Wasser gezogen hatte und doch nicht mehr retten konnte. Hauptkommissar Beinert zog sanft an dessen nassem Arm und drehte den Mann zur Seite.
»Kommen Sie, wir kümmern uns um Frau Müller. Ziehen Sie sich etwas an und hinterlassen Sie bitte bei den Kollegen Ihre Anschrift. Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.« Wortlos nahm Wolfgang Gloucher seine Kleidung entgegen und ließ sich von Beinert sanft in Richtung Umkleidebereich schieben. Nach wenigen Schritten schüttelte der Trainer Beinert ab und dieser ließ ihn gehen.
Beinert hasste unprofessionelles Verhalten, und dieses Chaos an einem Tatort ging ihm gewaltig gegen den Strich. Dass die Position eines Leichnams verändert wurde, bevor er zumindest fotografisch festgehalten wurde, rangierte auf seiner persönlichen Pannenstatistik an erster Stelle. Aber das war nun nicht mehr zu ändern.
Eine Sporttasche mit dem Emblem des Deutschen Schwimmverbands fiel Beinert ins Auge. Aus seiner Jackentasche zog er ein Paar Einweghandschuhe, die er sich mühsam über seine Finger streifte. Obwohl kein Namensschild an der Tasche befestigt war, ging Beinert davon aus, dass sie Sarah Müller gehörte. In einem der Außenfächer fand er einen Schlüsselbund sowie ein Smartphone. Das geräumige Hauptfach barg zwei Handtücher, Slip, BH, Jogginghose, Kapuzenpulli, eine angerissene Packung Schlaftabletten und, sorgsam in einem Plastikbeutel verpackt, ein paar Straßenschuhe. Ein hellblaues Kosmetiktäschchen und ein Föhn vervollständigten die Ausstattung.
»Guten Morgen, Herr Beinert«, sprach ihn eine heisere Frauenstimme von hinten an. »Danke für die Einladung zu früher Stunde.«
Lächelnd drehte Beinert sich um. »Hallo Frau Dr. Sonnenmeyer. Lange nicht gesehen.«
»Was ja an und für sich ein gutes Zeichen ist«, antwortete die Mittfünfzigerin und hob ihren Ellbogen vor den Mund, während sie hustete. »Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Anrufs?«
Beinert stopfte den Kosmetikbeutel zurück in die Sporttasche und nickte in Richtung Schwimmbecken. »Eine junge Frau, die Kunstspringerin Sarah Müller, ist letzte Nacht hier ums Leben gekommen.«
»Ertrunken?«, fragte Frau Dr. Sonnenmeyer und schaute in die Schwimmhalle.
»Nein. Sie lag tot auf dem Dreimeterturm.«
Während Frau Dr. Sonnenmeyer zur Leiche ging, drückte Beinert einem der Beamten die Sporttasche in die Hand. »Die Spurensicherung soll das untersuchen. Ich will vor allem schnellstmöglich die Handydaten haben.« Der Beamte nickte. »Ach so«, Beinert griff in die Außentasche und zog den Schlüsselbund hervor, »ich brauche die Privatadresse von Frau Müller. Ich fahr da gleich mal hin.«
Frau Dr. Sonnenmeyer stopfte gerade ein Taschentuch in ihre Jackentasche und streifte sich Einweghandschuhe über.
»Und?«, fragte Beinert.
Unwillig blickte sie ihn aus leicht verquollenen Augen an und rieb mit dem Handrücken über ihre gerötete Nase. »Sie erwarten jetzt aber nicht sofort ein ausführliches Gutachten, oder?« Ihr spitzer Unterton entging ihm nicht.
»Eine erste Einschätzung würde mir reichen.« Beinert grinste. Frau Dr. Sonnenmeyer machte ihren Job ungefähr genauso lange wie er seinen, und obwohl sie nur selten miteinander zu tun hatten, schätzte er ihre Professionalität und ihren trockenen Humor. Offensichtlich war letzterer ihrer Erkältung zum Opfer gefallen.
»Wenn Sie etwas schätzen lassen wollen, gehen Sie zum Pfandleiher oder in ein Auktionshaus. Von mir kriegen Sie ein fundiertes Ergebnis. Und zwar nach getaner Arbeit.« Damit kehrte sie ihm den Rücken zu und hockte sich vor die tote Sportlerin.
»Sie hatte Schlaftabletten in ihrer Sporttasche«, ergänzte er.
»Werde ich überprüfen«, knurrte Frau Dr. Sonnenmeyer und fuhr mit ihrer Untersuchung fort.
Beinert blieb unschlüssig stehen und beschloss dann, in die Wohnung von Sarah Müller zu fahren. Ihre Angehörigen mussten benachrichtigt werden, bevor sich die Nachricht über diverse Online-Portale verbreitete. Er war bereits im Gehen, als Frau Dr. Sonnenmeyer ihn zurückrief.
»Das ist jetzt nur ein ganz kleiner Anfangsverdacht«, sagte sie langsam. »Aber die Hautfarbe ist ungewöhnlich rosig. Das könnte, und die Betonung liegt auf könnte, Zeichen einer Vergiftung sein. Aber das muss ich, wie alles andere auch, genau untersuchen. Auf den ersten Blick gibt es jedenfalls keine Anzeichen äußerer Gewalt.«
»Also kein natürlicher Tod?«
»Möglich ist alles. Ich beeile mich und gebe Ihnen Bescheid.« Sein Dank ging in einer Niestirade unter. Beinert hob grüßend die Hand und verließ die Schwimmhalle.
***
Es war wie in einem mittelmäßigen Tatort, nur dass Marius nicht Sonntagabend vor dem Fernseher saß und wegzappen konnte, sondern sich selbst in einem kahlen Verhörzimmer der Polizeistation befand. Die verspiegelte Fensterscheibe, die nicht verriet, wer sich dahinter verbarg, das Mikrofon auf dem schlichten Resopaltisch und die altmodischen Holzstühle kamen ihm seltsam bekannt vor, obwohl er noch nie zuvor auf einem Polizeirevier gewesen war. Während seine Finger einen gleichmäßigen Rhythmus auf der Tischplatte trommelten, überlegte er, ob es Zufall oder Taktik war, dass man ihn seit anderthalb Stunden warten ließ. Sein Magen knurrte. Kommissarin Zettelmann hatte zwar versichert, dass es sich nur um eine Befragung handelte, aber in Ermangelung eines eigenen Autos war er mit einem der Streifenwagen zur Polizeidienststelle gefahren worden. Kaum hatte er auf der Rückbank Platz genommen, hatte irgendwo eine Kamera geklickt. So schnell war er zum Freiwild der Presse geworden. Die Jagd nach sensationellen Neuigkeiten hatte begonnen.
Marius schreckte aus seinen Gedanken auf, als sich die Tür öffnete. Der korpulente Kommissar betrat den Raum, gefolgt von seiner Kollegin Zettelmann. Er zog gegenüber von Marius einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich ächzend nieder. Seine hübsche Kollegin lehnte hinter ihm an der Wand.
»So, da wollen wir doch mal schauen.« Kurz fummelte der Kommissar mit seinen fleischigen Fingern an dem Mikrofon herum, bis er schließlich seinen Kopf hob und ihn nicht unfreundlich ansah. Irgendetwas an ihm erinnerte Marius an seinen Vater.
»Ich bin Hauptkommissar Hartwig Beinert und möchte Ihnen einige Fragen zu der Toten im Schwimmbad stellen. Wenn Sie sich mit einer Aussage belasten würden, dürfen Sie selbstverständlich schweigen. Haben Sie das verstanden?«
Marius nickte.
»Etwas lauter bitte, wir drehen hier keinen Stummfilm.« Der Hauptkommissar ruderte auffordernd mit den Armen und wiederholte: »Also, haben Sie das verstanden?«
Marius antwortete: »Ja.«
»Gut, dann brauche ich zunächst für das Protokoll einige Angaben zu Ihrer Person. Wenn Sie bitte laut und deutlich sprechen würden. Wie heißen Sie?«
»Marius Walkert.«
»Alter?«
»27 Jahre.«
»Geboren wann und wo?«
»Am 15. Februar 1988 in Hannover.«
»Beruf?«
»Student.«
Der Hauptkommissar verschränkte die Arme vor seiner Brust und lehnte sich zurück. Der Stuhl jaulte mit einem knarzenden Geräusch auf.
»Was studieren Sie denn?«, wollte er wissen.
»Ich habe erst Sport und Biologie studiert und vor drei Jahren mit Philosophie und dem Nebenfach Geschichte angefangen.«
Beinert guckte in etwa so wie Marius’ Eltern, als er ihnen eröffnet hatte, dass er ein zweites Studium beginnen wollte, statt ein geregeltes Berufsleben aufzunehmen.
»Sie finanzieren Ihr Leben mit dem Job in der Badeanstalt?«
»Nein, nicht nur«, räumte Marius ein. »Meine Eltern unterstützen mich.« Dass sie dies nur sehr widerwillig taten, obwohl sie es sich locker leisten konnten, behielt er für sich.
»Sie kannten Sarah Müller. Waren Sie befreundet?«
»Nein, befreundet wäre etwas zu viel gesagt. Wir haben manchmal ein paar Worte gewechselt, wenn wir uns getroffen haben.«
»Wo haben Sie sich getroffen? Im Schwimmbad?«
»Ja, meistens.«
»Erzählen Sie mir, was genau geschah.« Seine Hände machten eine auffordernde Bewegung und Beinert streckte seine Füße entspannt unter den Tisch, während Marius auf das Mikrofon starrte und überlegte, wo er beginnen sollte.
»Wie ist Sarah Müller an den Schlüssel gekommen?«, half ihm der Kommissar auf die Sprünge.
»Sie hat mich gestern darum gebeten. Sarah bereitete sich auf einen wichtigen Wettkampf vor und wollte ungestört trainieren. Ich habe ihr einen der Reserveschlüssel gegeben.«
»Geht das etwas genauer? Haben Sie miteinander telefoniert? Wo und wann haben Sie ihr den Schlüssel gegeben?«
»Sarah hat mir eine WhatsApp geschickt und gefragt, ob sie nach Feierabend noch eine Stunde trainieren kann.«
»Diese Kurznachricht würde ich gern lesen.«
Marius schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, die habe ich schon gelöscht.«
»Gelöscht? - Schade! Und dann?«
»Ich habe ihr geantwortet, dass sie um kurz nach elf im Schwimmparadies sein soll.«
»Und dort ist sie dann auch hingekommen?«
»Ja, sie war pünktlich um zehn nach elf dort.«
»Wer war außer Ihnen noch im Schwimmbad?«
»Niemand.«
»Hatten Sie allein Dienst?«
»Nein, ein Kollege hatte mit mir gemeinsam Spätschicht. Aber er hatte noch eine Verabredung, und als die letzten Badegäste um halb elf die Schwimmbecken verlassen hatten, ist er gegangen.«
»Wann ging der letzte Badegast?«
»Ungefähr um zehn vor elf. Ich habe den Haupteingang abgeschlossen und einen Kontrollgang durch alle Umkleidekabinen und die Duschräume absolviert. Es war definitiv niemand mehr im Schwimmparadies.«
»Bis Frau Müller kam.«
»Ja, sie schickte mir eine Nachricht, als sie vor dem Haupteingang stand.«
»Die Sie ebenfalls gelöscht haben, nehme ich an.«
»Ja, ich kann doch nicht jede verdammte WhatsApp aufheben«, brauste Marius auf.
»Natürlich nicht«, antwortete Beinert säuerlich. »Also weiter. Was haben Sie mit Frau Müller gesprochen? War sie irgendwie anders als sonst? Besonders euphorisch oder bedrückt? Aufgeregt oder verängstigt?«
»Nein, sie war wie immer.«
Frau Zettelmann hielt sich unverändert im Hintergrund und stellte ihre erste Frage fast schüchtern: »Warum ist Frau Müller zu so später Stunde ins Training gekommen und noch dazu ohne ihren Trainer? Tat sie das öfter?«
Marius blickte in ihre Richtung. »Wolfgang Gloucher ist karrieregeil, für ihn zählt nur der Erfolg. Und was er selbst als Kunstspringer nicht geschafft hat, sollte Sarah für ihn holen. Er triezte und knechtete sie bis zum Letzten. Das war nicht immer einfach für Sarah. Manchmal brauchte sie Abstand zu Gloucher und wollte in Ruhe trainieren.«
»Aber sie hätte sich doch einen anderen Trainer suchen können«, warf die Kommissarin ein.
»So einfach ist das nicht in der Liga, in der Sarah sprang. Außerdem ist sie letzten Endes mit Gloucher nicht schlecht gefahren, schließlich hat er sie zu Höchstleistungen und enormen Erfolgen geführt.«
»Waren die beiden privat ein Paar?«
»Das weiß ich nicht.«
Kommissar Beinert übernahm das Verhör wieder. »Kehren wir wieder ins Schwimmbad zurück. Sie standen also zu zweit im Eingangsbereich. Wie ging es weiter?«
»Sarah ist in die Umkleidekabine gegangen, um sich umzuziehen, und ich habe mich auf eine der Liegen gelegt und auf sie gewartet. Sie hat ein paar Aufwärmübungen gemacht und dann begann sie zu springen. Nach fünf oder sechs Durchgängen bin ich wohl eingenickt. Jedenfalls stand sie irgendwann vor mir und hat mich gefragt, ob ich an meinem Feierabend nichts Besseres zu tun hätte. Sie wollte noch länger trainieren und so habe ich ihr einen der Reserveschlüssel aus dem Büro von Frau Langer geholt.«
»Sie haben den Schlüssel Frau Müller persönlich übergeben?«
»Ja, sie machte eine Pause und hat etwas getrunken. Sie bat mich, das Licht auszuschalten, damit niemand von außen auf die beleuchtete Schwimmhalle aufmerksam wird.«
»Das heißt, sie war ganz allein in einer stockdunklen Schwimmhalle?« Die Kommissarin schien fassungslos.
»Völlig dunkel ist es dort nie. Es fällt immer Licht durch die großen Fensterfronten und die Glaskuppel. Außerdem sind die Notausgänge permanent beleuchtet. Wenn sich die Augen an das spärliche Licht gewöhnt haben, sieht man auch im Dunkeln recht gut.«
Hauptkommissar Beinert fasste zusammen: »Sie brachten ihr also den Schlüssel und verließen das Schwimmbad. Wann war das?«
»Etwa um Mitternacht habe ich von außen abgeschlossen.«
»Wo haben Sie den Rest der Nacht verbracht?«
»Ich bin nach Hause geradelt und habe mich schlafen gelegt.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Nein.«
»Dachte ich mir«, antwortete Kommissar Beinert. Er musterte Marius eindringlich und fragte dann: »Wer hat sonst noch einen Schlüssel für das Schwimmbad?«
Marius überlegte kurz: »Die Bademeisterin natürlich, jemand vom Reinigungspersonal und immer einer der Kollegen, die Spät- oder Frühschicht haben.«
»Wo genau werden die Schlüssel aufbewahrt?«
»In einem abschließbaren Fach im Büro der Bademeisterin.«
»Kann man also davon ausgehen, dass nicht einfach jede x-beliebige Person an den Schlüssel rankommen kann? Ein Badegast zum Beispiel?«
»Nein, das ist nicht möglich.«
»Hm«, der Hauptkommissar massierte sein Kinn. »Erstaunlich ist nur, dass Frau Müller in einem ordentlich abgeschlossenen Schwimmbad starb. Es gibt bisher keine Einbruchsspuren. Also gehen wir mal davon aus, dass ihr Mörder auch einen Schlüssel hatte. Sie wird ja kaum hinter ihm wieder abgeschlossen haben«. Er lachte über seinen eigenen Scherz.
Marius versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Sind Sie denn sicher, Herr Kommissar, dass es ein Mord war? Vielleicht war es ein Unfall.«
»Ein Unfall?« Er schmunzelte: »Eine erfahrene Kunstturmspringerin stolpert auf dem Dreimeterbrett, fällt auf den Rücken und verunglückt tödlich? Wohl kaum.«
»Kunstspringerin«, warf Marius ein.
»Sag ich doch«, erwiderte der Kommissar.
»Nein, Sie sagten Kunstturmspringerin. Aber Sarah ist, ähm war, eine Kunstspringerin.«
Beinerts Kollegin hüstelte hinter vorgehaltener Hand, bevor sie aus dem Hintergrund einwarf: »In der Sporttasche der Toten haben wir eine halb leere Packung Schlaftabletten gefunden. Vielleicht war es kein Unfall, sondern Selbstmord?«
»Sarah hat sich nicht umgebracht«, entgegnete Marius schroff. »Das hatte sie nicht nötig. Sie war schön, erfolgreich, selbstbewusst. Sie wusste genau, was sie wollte. So jemand bringt sich nicht um.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Herr Walkert«, pflichtete ihm der Hauptkommissar bei. »Aber, wenn Selbstmord ausscheidet, ein Unfall ebenso, dann bleibt immer noch die Frage nach dem Mörder und dem Mordmotiv. – Erzählen Sie mir ein bisschen von Sarah Müller.«
Marius rutschte auf seinem Stuhl hin und her, unsicher, was er preisgeben sollte. Solange Sarahs Handy nicht gefunden wurde, war er in Sicherheit. Er entschied sich für eine unverfängliche Version ihrer Bekanntschaft, so wie sie anfangs gewesen war: »Ich kenne Sarah seit etwa drei Jahren. Wir haben uns im Schwimmparadies Main-Taunus kennengelernt, als ich dort zu jobben anfing. Aber wir haben uns nur selten getroffen, denn ich arbeite überwiegend in den Semesterferien und manchmal am Wochenende. Wenn es meine Vorlesungen zulassen, auch mal zwischendurch in der Früh- oder Spätschicht. Aber genau dann trainiert Sarah meist anderswo oder ist auf Wettkämpfen.«
»Worüber haben Sie sich unterhalten?«
»Unterschiedlich: das Wetter, ihre Wettkämpfe, die Temperatur des Wassers … Alltägliches, nichts Besonderes.«
»Wissen Sie, mit wem Frau Müller befreundet war? Was hat sie beruflich gemacht?«
»Sie studierte Architektur. Sarah wollte ein Standbein haben, wenn es mit dem Leistungssport nicht mehr klappt.«
Hauptkommissar Beinert schien unzufrieden und machte einen erneuten Vorstoß: »Waren Sie verliebt in Frau Müller?«
»Wir waren kein Paar, das sagte ich doch schon«, antwortete Marius unwirsch.
»Das eine hat nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun. Haben Sie Frau Müller geliebt?«
Marius ignorierte die Schweißperle, die seine Schläfe entlang glitt, um die Aufmerksamkeit seines Gegenübers nicht darauf zu lenken. Was sollte er antworten? Er entschied sich für den Mittelweg. »Sarah ist, ich meine, war, eine wunderschöne Frau, mit einem sehr gewinnenden Lachen und einer sympathischen, offenen Art. Sicher habe ich sie gemocht. Warum auch nicht.«
Die Faust von Hauptkommissar Beinert donnerte auf die Tischplatte und Marius zuckte zusammen. Erschrocken und angewidert wich er mit seinem Oberkörper soweit zurück, wie es die Stuhllehne erlaubte, als ihm Speicheltropfen des brüllenden Hauptkommissars entgegenflogen. »Junger Mann, ich glaube Ihnen kein einziges Wort. Ich war vorhin in der Wohnung von Sarah Müller. Ein Mehrfamilienhaus mit mehreren Stockwerken. Und wissen Sie, was ich da so ganz nebenbei entdeckt habe?«
Marius schüttelte den Kopf, unfähig zu antworten.
»Unter dem bunten Sammelsurium an Klingelschildern befindet sich auch der Name Marius Walkert. Welch ein Zufall! Sie kennen Frau Müller lediglich von gelegentlichen Schwimmbadbesuchen, obwohl Sie im selben Haus wohnen? Eigenartig, oder nicht?«
Marius zuckte hilflos mit den Schultern. Der Hauptkommissar fuhr unbeirrt fort: »Sie waren der Einzige, der mit der Toten in diesem menschenleeren Schwimmbad war! Sobald die Untersuchung des Leichnams abgeschlossen ist, werden wir die Todesursache kennen, und dann sind Sie dran, das verspreche ich Ihnen. Dieser Todesfall stinkt zum Himmel, das sagt mir mein Instinkt. Wenn Sie Ihren Kopf retten wollen, packen Sie aus, und zwar jetzt!«
»Ich war es nicht«, stammelte Marius. Eine unsichtbare Schlinge raubte ihm die Luft. Sollte er nach einem Anwalt verlangen? Im Fernsehen würde jetzt ein Rechtsbeistand auftauchen, der den Hauptkommissar zurecht wies und ihn, Marius, triumphierend aus der Wache führte. Aber wollte er einen Anwalt? Spätestens dann würde er seine Eltern informieren müssen. Und genau das galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Marius war es so satt, immer der Versager zu sein. Der Loser, der nichts auf die Reihe kriegte. Der Kleine, dem man andauernd aus der Patsche helfen musste.
Gerade als Beinert zu einer Erwiderung ansetzen wollte, klopfte es an der Tür und ein uniformierter Polizist trat ein. Die beiden tuschelten und verließen gemeinsam den Raum.
»Was ist jetzt passiert?« Irritiert blickte Marius den Männern hinterher.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Frau Zettelmann.
»Ist der immer so unfreundlich?«
Die Kommissarin kam von ihrem Wandplatz zum Tisch und schaltete das Mikrofon aus.
»Er ist mitten in einer Befragung. Da kann er nicht immer nur nett und höflich sein.«
»Sie könnten es«, entgegnete Marius und sah zum ersten Mal an diesem verkorksten Tag in ein lächelndes Gesicht.
»Ich leite auch nicht die Ermittlungen.«
»Leider. Ich würde mich viel lieber mit Ihnen unterhalten.«
»Dann hätten Sie sich andere Umstände für unsere erste Begegnung aussuchen müssen. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.« Damit eilte Frau Zettelmann den beiden Männern hinterher und ließ ihn allein.
***
Analyn fand ihren Chef an seinem Schreibtisch. Das Büro war groß und dank seiner vielen Fenster sehr hell, aber schon ihr Vorgänger, oder war es Beinert selbst?, hatte dafür gesorgt, dass die beiden Schreibtische in maximaler Entfernung zueinander standen. Ein Benjamini-Baum fristete mitten im Raum sein karges Dasein in einem viel zu kleinen Blumentopf und verteilte seine welken Blätter auf dem Linoleumboden. Analyn versuchte, dem Telefonat ihres Chefs zu folgen, aber da dieser lediglich im Telegrammstil ›hm … ach so … ja … schade … wenn’s sein muss …‹ knurrte, wusste sie weder, worum es ging noch mit wem er sprach. Endlich legte er auf.
»Neuigkeiten?«, fragte Analyn, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen klingelte erneut das Telefon.
In einem Anfall von Hilfsbereitschaft bot sie an, das Gespräch zu übernehmen und ärgerte sich im nächsten Moment über ihre Freundlichkeit, die hier offensichtlich fehl am Platz war, denn die Abfuhr war deutlich.
»Solange ICH an diesem Platz sitze, bediene ICH dieses Telefon und sonst niemand. Verstanden?« Ohne sie eines Blickes zu würdigen, nahm er das Telefon an sein Ohr und sagte forsch: »Hauptkommissar Beinert.« Nach einem Moment der Stille fuhr ihr Chef verbindlicher fort: »Guten Morgen, Frau Müller. Lassen Sie mich Ihnen zunächst mein Beileid aussprechen. Ja, es ist richtig, wir haben Ihre Tochter heute Morgen tot im Schwimmparadies Main-Taunus aufgefunden.«
Erleichtert setzte sich Analyn an ihren eigenen Schreibtisch, der ihr bisher so wenig vertraut war wie ein neues Paar Schuhe, das im Laden hübsch und bequem erschienen war, aber beim ersten Tragen nicht passte. Gut, dass Beinert dieses Telefonat selbst übernommen hatte. Angehörige vom Tod eines Familienmitglieds zu informieren, war mit das Schwerste, was es in ihrem Job gab, vor allem, wenn Eltern über den Verlust ihres Kindes unterrichtet werden mussten. Ihr Chef führte ein solches Gespräch natürlich nicht zum ersten Mal, und er machte seine Sache verdammt gut, wie Analyn anerkennen musste. In dem Telefonat gab er sich freundlich, mitfühlend, wirkte beruhigend auf seine mit Sicherheit aufgewühlte Gesprächspartnerin ein und versprach, sie auf dem Laufenden zu halten. Zum Schluss ließ er sich einen der Polizeibeamten geben, die Sarah Müllers Mutter die Hiobsbotschaft im entfernten Osnabrück überbracht hatten, und vergewisserte sich, dass für medizinischen und seelsorgerischen Beistand gesorgt war. Dann beendete Beinert das Gespräch.
Während Analyn ihre Zettelbox auf dem Schreibtisch hin und her schob, grübelte sie darüber nach, ob sie Beinert sofort nach seinem ersten Telefonat fragen sollte, oder ob sie ihm besser etwas Zeit gab, um das zweite Gespräch zu verarbeiten. Doch ihr Chef war bereits aufgestanden und auf dem Weg zur Tür. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Wollen Sie hier Wurzeln schlagen oder machen wir weiter?«
Hastig sprang Analyn von ihrem Stuhl auf und eilte ihm hinterher. Als sie den Verhörraum betrat, hatte Beinert bereits gegenüber von Marius Walkert Platz genommen. Auf dem freien Stuhl neben ihrem Chef wollte Analyn nicht sitzen und lehnte sich stattdessen lieber wieder an die Wand. Von hier aus konnte sie beide Männer beobachten. Ihr Chef erschien lässig und entspannt, Walkert dagegen müde und verunsichert.
Ein selbstgefälliges Grinsen spielte um Beinerts Mundwinkel, als er das Mikrofon einschaltete.
»Nun, Herr Walkert, die Spurensicherung hat erste Ergebnisse. Ihre Fingerabdrücke befinden sich in der Wohnung der Toten. An nahezu allen Türgriffen, sogar vom Schlafzimmer.«
Der Gefragte starrte auf seine beigen Turnschuhe. Sie hatten schmutzige Ränder und am rechten Schuh löste sich der Stoff an der Gummikante. Lange würden sie nicht mehr halten, vermutete Analyn.
»Herr Walkert, ich warte auf Ihre Antwort. Was sagen Sie zu den Fingerabdrücken in der Wohnung?«
»Ich habe die Post rausgenommen und die Blumen gegossen, wenn Sarah nicht da war.«
»Was ja wohl ziemlich häufig vorkam«, warf Beinert ein.
»Ja.«
»Es gibt fast keine Blumen in der Wohnung, außer ein paar mickrigen Grünpflanzen.«
»Auch mickrige Pflanzen brauchen Pflege«, erwiderte Marius.
Hauptkommissar Beinert beugte sich wie eine Raubkatze auf der Pirsch über den Tisch. Gleich wird er sein Gegenüber fressen, schoss es Analyn durch den Kopf. Doch der Hauptkommissar sprach ruhig und gleichzeitig so schneidend, dass es selbst einem Unbeteiligten kalt den Rücken runterlaufen konnte: »Sieht so aus, als hätten Sie vorläufig noch mal Glück gehabt, Walkert. Das nachbarschaftliche Blumengießen ist kein Verbrechen, obwohl ich Ihnen das nicht abkaufe. Ich kriege Sie, das verspreche ich Ihnen.«
Marius Walkert starrte seinen Gegner an, blieb aber still.
Beinert fuhr fort: »Wir haben zwar erste Ergebnisse der Spurensicherung, aber die Forensiker brauchen länger. Bisher wissen wir nur, dass es keinerlei Gewaltanwendung von außen bei der Toten gab. Das Ergebnis einer Magenuntersuchung und damit die Gewissheit, ob Sarah Müller eine Überdosis Schlaftabletten intus hatte, ist nicht vor morgen zu bekommen. Ein Selbstmord ist damit nicht erwiesen, kann aber theoretisch auch nicht ausgeschlossen werden. Ich muss Sie leider fürs Erste gehen lassen.«
Die Erleichterung war dem jungen Mann deutlich anzusehen. Auf Analyn wirkte es, als habe jemand ein Ventil geöffnet. Marius Walkert sackte in sich zusammen, als die Anspannung nachließ. Dass der junge Mann keine Sekunde an einen Selbstmord glaubte, wie Analyn wusste, tat dabei nichts zur Sache.
Aber ihr Chef war noch nicht fertig. »Sie sagten vorhin, Sarah Müller hätte etwas getrunken, als sie Sie weckte und nach Hause schickte.«
»Ja, und?«
»Können Sie sich erinnern, welches Getränk es war?«
Walkert schüttelte den Kopf. »Wasser, glaube ich.«
»Geht das auch genauer? Trank sie aus einem Becher oder einer Flasche?«
»Sarah hatte eine Flasche, so eine kleine Plastikflasche vom Supermarkt.«
»Sprudelwasser oder stilles Wasser?«
»Keine Ahnung.«
»Frau Zettelmann, wurde irgendwo eine Wasserflasche gefunden?« Beinert blickte sie an und Analyn fühlte sich ertappt, wie früher in der Schule, wenn ein Lehrer sie unerwartet aufgerufen hatte. Fieberhaft dachte sie nach, schüttelte dann den Kopf.
»Nein.«
Kommissar Beinert nickte, als habe er nichts anderes erwartet, und wandte sich wieder an Walkert. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wir sehen uns wieder.«
Brüsk schob Beinert seinen Stuhl zurück, schaltete das Mikrofon aus und verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden.
Kapitel 3
Fröstelnd drückte Rosalie sich am nächsten Morgen in die kleine Nische am Haupteingang des Schwimmparadieses Main-Taunus. Dank des Busfahrplans war sie wie üblich zwanzig Minuten vor Öffnung des Schwimmbads eingetroffen. Der Zeitungsausträger hatte bereits zu nächtlicher Stunde den Stapel Tageszeitungen vor der Tür abgelegt. Der Aufmacher war, wie zu erwarten, der Tod der Kunstspringerin. Aus ihrer Manteltasche zog Rosalie eine kleine Nagelschere und durchtrennte eines der Kunststoffbänder, die das Bündel zusammenhielten. Etwa aus der Mitte des Stapels zog sie eine Zeitung heraus. Nie nahm sie das oberste oder unterste Exemplar, denn erstens rissen diese leicht beim Herausziehen und zweitens hielt sie nicht gern eine Zeitung in Händen, die bereits auf dem Boden gelegen hatte. Hastig überflog sie den Artikel und ließ anschließend die Zeitung mitsamt der Nagelschere und dem Kunststoffband in ihrer ausgebeulten Ledertasche verschwinden. Niemandem vom Personal war bisher aufgefallen, dass jeden Tag ein Exemplar weniger als bestellt auf die Zeitungsständer verteilt wurde. Zumindest hatte Rosalie es bis jetzt nicht mitbekommen. Frierend blickte sie auf ihre Armbanduhr. Noch sieben Minuten bis zur Öffnung des Schwimmbads. Der Parkplatz war leer. Nach den Vorfällen des gestrigen Tages war es natürlich fraglich, ob das Schwimmparadies überhaupt öffnen würde. Aber was hätte sie sonst tun sollen, als so wie jeden Tag mit dem Frühbus nach Unter-Ebbelheim zu fahren, um schwimmen zu gehen? Es war mehr als eine Macht der Gewohnheit, für Rosalie war es eine Notwendigkeit.
In etwa dreihundert Meter Entfernung schoss ein Radfahrer im halsbrecherischen Tempo über die Bundesstraße. Rosalie musste grinsen. Nun, immerhin würde der junge Mann heute ausnahmsweise nicht nur pünktlich, sondern sogar ein paar Minuten zu früh zur Arbeit erscheinen. Nur ein einziges Mal hatte sie erlebt, dass er so früh an seinem Arbeitsplatz gewesen war, um den Badegästen die Tür von innen zu öffnen. Heute war er wärmer gekleidet als am Vortag, statt Shorts trug er eine Jogginghose. Gerade als er ankam, öffnete sich die Schranke des Parkplatzes automatisch und der orangefarbene Kleinwagen seiner Chefin, Frau Langer, schlängelte sich durch das Einbahnstraßensystem des Parkplatzes. Rosalie kannte fast alle, die in diesem Schwimmbad arbeiteten. Zumindest alle, die regelmäßig Frühschicht hatten. Die Badegäste waren um diese Uhrzeit ohnehin meistens die gleichen. Inzwischen hatte auch Marius Walkert die Schranke erreicht und zwängte sich seitlich daran vorbei. Rosalie sah, dass er wie jeden Morgen die Richtung der Einbahnstraßen ignorierte und auf direktem Weg den Haupteingang anstrebte. Das Quietschen seiner Pedale war gut zu hören, als er noch einmal Schwung holte, um die letzte Kurve zu nehmen. Dabei verdeckten ihm die halbhohen Büsche zwischen den Parkreihen die Sicht auf die Fahrbahn und er sah das Auto, das ihm urplötzlich in der Kurve entgegen kam, zu spät. Der junge Mann vollführte einen Slalom, der ihn um Haaresbreite das Gleichgewicht gekostet hätte. Das wütende Hupen des Autos übertönte seinen Fluch, der sich zumindest von der Lippenbewegung her nicht wesentlich von dem seiner Chefin zu unterscheiden schien. Grimmig erreichte er den Fahrradständer und würdigte Rosalie entgegen seiner sonstigen Gewohnheit keines Blickes. Kaum hatte er sein Fahrrad abgeschlossen, kam Frau Langer über den Parkplatz gerannt. Lächelnd grüßte sie Rosalie und zwei weitere Damen, die sich ebenfalls dem Eingang näherten. Der zuckersüße Tonfall von Frau Langer verhieß nichts Gutes.
»Marius, guten Morgen, ich hatte nicht gedacht, dass Sie heute überhaupt zur Arbeit erscheinen. Und dann werfen Sie sich gleich vor mein Auto.«
»Guten Morgen, Frau Langer. Warum sollte ich denn nicht zur Arbeit kommen?«
Rosalie amüsierte sich über seine gespielte Arglosigkeit, die nur schlecht über die Anspannung hinweg täuschte, unter der der junge Mann stand. Unablässig trommelte seine rechte Hand auf der Tasche seiner Jogginghose.
»Nun, nachdem die Polizei Sie gestern mitgenommen hat, habe ich nichts mehr von Ihnen gehört«, sagte Frau Langer. »Sie hätten ja wenigstens mal reinschauen können, als Sie Ihr Fahrrad abgeholt haben.«
»Entschuldigung, die Befragung zog sich ewig in die Länge. Was die alles wissen wollten, Sie machen sich keinen Begriff davon. Aber egal, jetzt bin ich ja hier. Die verpassten Stunden von gestern kann ich nacharbeiten. Und das mit der Einbahnstraße eben, das kommt nicht wieder vor. Tut mir leid«, sagte er versöhnlich.
Sie schien wenig begeistert. »Danke, Sie müssen nichts nacharbeiten. Und das mit der Einbahnstraße kommt ganz sicher nicht mehr vor. Um genau zu sein, kommen Sie gar nicht mehr hier vor. Die unerlaubte Herausgabe eines Generalschlüssels an eine fremde Person, die sich dann allein bei Nacht im Schwimmparadies aufhält, reicht für eine fristlose Kündigung. Sie können wieder nach Hause radeln. Ihre Mitarbeit bei uns ist mit sofortiger Wirkung beendet. Den Schlüssel bitte.« Mit ausgestreckter Hand stand sie ihm gegenüber, und sobald sie den gewünschten Schlüssel in Händen hielt, verstaute sie ihn in ihrer Jackentasche. Ohne Marius eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sich Frau Langer um, schloss die Eingangstür auf und verschwand mit den beiden anderen Badegästen im Foyer.
Rosalie beobachtete, wie der frisch entlassene Bademeister einen Kieselstein in die Blumenrabatte kickte und ihm eine Litanei Schimpfworte hinterherschickte.
»Wer vor Wut kocht, kommt leicht in Teufels Küche. - Guten Morgen, junger Mann«, sprach sie ihn an. Sein geknurrter Gruß und die Art, wie er sich demonstrativ zu seinem Fahrradschloss beugte, zeigten überdeutlich, dass die Lebensweisheiten einer alten Frau das Letzte waren, was er hören wollte. Aber so schnell ließ sich Rosalie nicht abwimmeln. Zu groß war ihre Neugier. Vielleicht bot sich hier unverhofft eine Gelegenheit, über die tote Kunstspringerin Rosalies eigenem Widersacher ein Stück näher zu kommen. Rache war bekanntlich süß, und sie wartete schon lange darauf, diese Süße auszukosten. Freundlich wandte Rosalie sich an den ehemaligen Bademeister. »Wie ist denn Ihr Gespräch mit der Polizei verlaufen? Die Polizistin schien mir nett zu sein.«
»Nicht jeder nette Mitarbeiter hat auch einen netten Chef«, erwiderte Marius.
»Wie wahr, wie wahr«, schmunzelte sie. »Aber Sie sind ja nicht verhaftet worden, wie ich sehe. Also würde ich mal sagen: Eins zu null für Sie.«
»Ich habe selten in meinem Leben etwas gewonnen. Und aktuell habe ich gerade meinen Job verloren, falls Sie es nicht bemerkt haben. Ich bin der geborene Loser.«
»Ach, Sie sind viel zu pessimistisch. Sie sehen nicht so aus wie jemand, der hübsche junge Frauen umbringt.«
»Danke.«
»Außerdem hat bekanntlich jede Frau ein Geheimnis. Je schöner die Frau, desto dunkler das Geheimnis. Wer weiß, welches Geheimnis die Schwimmerin mit in ihr nasses Grab genommen hat.«
»Springerin.«
»Wie bitte?«
»Springerin, Sarah war Kunstspringerin.«
»Von mir aus auch das. Ich denke nur, Sie brauchen jetzt etwas Unterstützung.«
»Danke für den Tipp!«
»Gern geschehen. Haben Sie Familie?«
»Ja.«
»Na also, dann lassen Sie sich von Ihrer Mutter einen starken Kaffee kochen und suchen in Ruhe mit Ihren Eltern nach einer Lösung.«
»Meine Eltern sind auf Mururoa.«
»Wo ist das denn?«
»In der Südsee.«
Für einen Moment war Rosalie perplex. Wo manche Leute sich aufhielten. Aber ihre Sprachlosigkeit hielt nicht lange an. »Was machen Ihre Eltern in der Südsee?«
»Urlaub – eine Weltreise, um genau zu sein.«
»Aber das ist doch wundervoll«, flötete sie begeistert. »Dann verfügen Ihre Eltern über das nötige Kleingeld und Sie nehmen sich einen guten Anwalt. Der schafft Ihnen die Polizei vom Hals und sorgt dafür, dass Sie Ihren Job zurückbekommen.«
»Das ist eine nette Idee, aber so einfach ist das nicht.«
»Warum? Wo liegt das Problem?«
»Erstens, werde ich meine Eltern nicht anbetteln. Die haben eh schon keine hohe Meinung von mir. Was meinen Sie, wie froh ich bin, dass die von dem ganzen Schlamassel hier nichts mitbekommen. Und zweitens, wischt auch ein Anwalt die Tatsachen und Verdachtsmomente nicht einfach vom Tisch.«
»Und was wollen Sie jetzt tun?«
»Weiß nicht …«
Wie konnte ein junger Mensch nur so planlos sein? Rosalie begriff es nicht. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sich das Fahrradschloss und ihr Gesprächspartner richtete sich auf.
»Geben Sie nicht auf! Nehmen Sie Ihr Schicksal selbst in die Hand. Hier!« Sie zog aus ihrer Handtasche die Tageszeitung hervor. Ein kleines Papierstück segelte zu Boden. Marius bückte sich, hob es auf und reichte es Rosalie.
»Bekommen Sie immer Geld raus, wenn Sie einkaufen gehen?«, versuchte er zu scherzen.
»Manchmal«, antwortete sie vage, steckte den Kassenzettel mit der gestrigen Pfandflaschenrückgabe in ihre Tasche und drückte Marius dafür die Tageszeitung in die Hand. In Fettdruck prangte auf der Titelseite die Überschrift: TOTE KUNSTSPRINGERIN IM SCHWIMMPARADIES. Ein Foto zeigte Sarah Müller, die strahlend eine Medaille küsste. Auf einem kleineren Bild war Marius Walkert zu sehen, als er in das Polizeiauto stieg. Es war untertitelt mit der Frage: ›Erster Verdächtiger?‹ Während Marius den Artikel las, beobachte Rosalie, wie seine Augen über die einzelnen Zeilen glitten und das Zucken seines Augenlides zunahm. Hauptkommissar Beinert hatte sich gegenüber der Presse an die Fakten gehalten, den Eindruck hatte zumindest Rosalie beim Lesen gehabt. Die Polizei schloss weder Mord noch Selbstmord aus. Eine Beziehungstat sei möglich, aber nicht nachgewiesen, schrieb der Reporter. Es folgte eine Würdigung von Sarahs sportlichen Erfolgen. Als Rosalie die Zeitung zurück bekam, glänzten die Augen von Marius Walkert verräterisch. Ohne ein weiteres Wort warf er ein Bein über den Sattel und stemmte seinen Fuß auf die Pedale. Immerhin drehte er sein Fahrrad zur Seite, um sie nicht umzufahren, was Rosalie ihm in seiner Gemütslage hoch anrechnete.
»Verdammt!«, brüllte er unbeherrscht und stoppte abrupt.
»Was ist jetzt?«, fragte Rosalie mit der ihr eigenen stoischen Ruhe, die ihren verstorbenen Mann regelmäßig in den Wahnsinn getrieben hatte.
»Meine Ersatzklamotten sind noch im Schwimmparadies. So ein Mist!« Hart schlug seine Faust auf die Lenkstange. Rosalie verstand seine Wut auf Frau Langer, die ihn vor der Tür so rabiat abgefertigt hatte. Nur zu gut konnte sie seinen Zorn auf Sarah Müller nachvollziehen, die sich so still und leise davon gestohlen hatte und ihn mit ihrem Tod in einen Strudel von unüberschaubaren Ereignissen gerissen hatte. Die Trauer würde später kommen, das wusste Rosalie aus eigener Erfahrung. Im Moment mobilisierte er offensichtlich seine ganze Kraft, um nicht in aller Öffentlichkeit wie ein kleiner Schuljunge loszuheulen. Aber genau das gelang ihm nicht.
Rosalie ließ ihm einen Moment Zeit, bevor sie ihre Hand auf seinen Rücken legte. Durch den festen Stoff der Jeansjacke spürte sie ihn schluchzen.
»Wo finde ich denn die Sachen?«
»In meinem Regalfach in der Bademeisterloge. Aber Sie können da nicht so einfach reingehen. Frau Langer wird Sie hochkantig hinauswerfen.« Er schniefte und rieb seine Nase am Jackenärmel.
»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Wo wohnen Sie denn?«
»Gotenstraße 17.«
»Na, das passt doch prima. Dann radeln Sie sich jetzt den Kopf frei, und ich gehe schwimmen. Die Sachen bringe ich Ihnen später vorbei.«
Er schien erleichtert. Rosalie gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und sah ihm nach, wie er auf seinem Fahrrad davonfuhr. Er tat ihr leid. Sicher machte er sich vollkommen falsche Vorstellungen über die Kunstspringerin Sarah Müller. Oder wusste er ebenso viel, eventuell sogar mehr als sie selbst? Konnte dieser zart besaitete Jüngling ihr am Ende nützlich sein? Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, an Marius Walkert dranzubleiben. Zuversichtlich betrat sie das Schwimmbad, um endlich ihrer allmorgendlichen Beschäftigung nachzugehen.
***
Mit dem Ellbogen drückte Analyn die Türklinke hinunter, presste Zeitung, Blumentopf und Bäckertüte an ihren Oberkörper und betrat das Büro. Erleichtert stellte sie fest, dass Beinerts Schreibtisch noch verwaist war. Das gab ihr die Chance, in Ruhe anzukommen, sich einzurichten und die Emails abzurufen, bevor die Argusaugen ihres Chefs über ihr wachten. An ihrem Schreibtisch ließ Analyn vorsichtig die Ebbelheimer Tageszeitung fallen, dann legte sie die Tüte der Bäckerei ab. Mit der frei gewordenen Hand griff sie nach der Folie und befreite die zwischen Körper und Unterarm eingeklemmte Orchidee und stellte sie auf den Tisch. Zwei der zarten lila Knospen hatten den Transport vom Supermarkt bis hierher nicht überstanden. Während Analyn ihren Schreibtischstuhl mit dem Fuß nach hinten schubste, hängte sie ihre Handtasche über die Rückenlehne. Gerade noch rechtzeitig griff sie nach der Pflanze, bevor diese umfiel und weitere Blüten einbüßen musste. Seufzend ließ Analyn sich auf ihren Stuhl plumpsen und nahm die Orchidee aus der Verpackung. Um sich hier wohlzufühlen, musste sie unbedingt ihren Arbeitsplatz aufpeppen. Knisternd verschwand die zusammengeknüllte Folie im Mülleimer. Die Farbe des dunkellila Keramiktopfes passte perfekt zu den Blüten und auch zu dem neu erworbenen Bilderrahmen.
Analyn biss in ein frisches Croissant und angelte gleichzeitig in ihrer Handtasche nach der kleinen Plastiktüte. Kauend wischte sie ihre fettigen Finger an ihren Jeans ab, packte den Bilderrahmen aus und bestückte ihn mit dem Foto von Leonie, das sie aus dem Fundus an Leonie-Bildern auf ihrem Smartphone ausgesucht hatte. Die Kleine lachte direkt in die Kamera, kräuselte dabei ihr Näschen und hielt mit ihrem zierlichen Finger eine viel zu große Sonnenbrille fest, die ihr wenig später von der Nase gerutscht war. Aber da war die Kamera bereits ausgeschaltet gewesen. Foto und Blume wanderten einige Male über den Schreibtisch, bis Analyn mit dem Arrangement zufrieden war. Die lauwarme Marzipanfüllung des Croissants war ein Gedicht. Sie schleckte die letzten Krümel von ihrem Daumen und schaltete den Computer ein. Das Passwort war ungewohnt, verschaffte ihr aber den erwünschten Zugang auf den Server der Polizeidienststelle. In ihrem E-Mail-Account herrschte gähnende Leere. Dabei hatte sie gehofft, erste Ergebnisse der Gerichtsmedizin vorzufinden, die die Todesumstände von Sarah Müller erhellen würden. Eine Tasse Kaffee wäre nicht schlecht. Auf einem halbhohen Aktenschrank neben dem Schreibtisch ihres Chefs standen sowohl der Drucker als auch eine Kaffeemaschine. An den wenigen Tagen, die Analyn bisher in diesem Büro verbracht hatte, war die Maschine nicht im Einsatz gewesen. Ein Zustand, den sie zu ändern gedachte. Schließlich wartete auch ein Nugatcroissant darauf, verspeist zu werden. Trotz intensiver Suche fand sie zwar Filtertüten und Dosenmilch, jedoch kein Kaffeepulver. Enttäuscht kehrte sie an ihren Platz zurück und begann am PC eine Recherche über Sarah Müller.