Ist Fat Bob schon tot? - Stephen Dobyns - E-Book

Ist Fat Bob schon tot? E-Book

Stephen Dobyns

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Beschreibung

Connor Raposo wird zufällig Zeuge eines grässlichen Unfalls: Ein Motorradfahrer ist gegen einen Laster geprallt, die Identifizierung gestaltet sich schwierig. Ist der Tote tatsächlich Robert »Fat Bob« Rossi? Und war es tatsächlich ein tragischer Unfall? Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse, Morde geschehen, Leute verschwinden, die Polizei tritt auf den Plan – und mittendrin Connor, der von einer aberwitzigen Situation in die nächste stolpert, bis ihm dämmert, dass man auch hinter ihm her ist. Mit umwerfender Situationskomik und lakonischen Dialogen jagt Stephen Dobyns seine Helden durch eine höchst raffinierte Krimigeschichte, die in einem so furiosen wie unerwarteten Showdown mündet. Ein Lesevergnügen für alle Freunde des schrägen Humors.

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Zum Buch

Connor Raposo wird zufällig Zeuge eines grässlichen Unfalls: Ein Motorradfahrer ist gegen einen Laster geprallt, die Identifizierung gestaltet sich schwierig. Ist der Tote tatsächlich Robert »Fat Bob« Rossi? Und war es tatsächlich ein tragischer Unfall? Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse, Morde geschehen, Leute verschwinden, die Polizei tritt auf den Plan – und mittendrin Connor, der von einer aberwitzigen Situation in die nächste stolpert, bis ihm dämmert, dass man auch hinter ihm her ist.

Mit umwerfender Situationskomik und lakonischen Dialogen jagt Stephen Dobyns seine Helden durch eine höchst raffinierte Krimigeschichte, die in einem so furiosen wie unerwarteten Showdown mündet.

Zum Autor

Stephen Dobyns ist vielfach preisgekrönter Poet und Thrillerautor. Er lebt in Westerly, Rhode Island. Bekannt wurde er mit seinem Psychothriller »Die Kirche der toten Mädchen«. Zuletzt erschien bei C. Bertelsmann »Das Fest der Schlangen.

Stephen Dobyns

IST FAT BOB SCHON TOT?

Thriller

Deutsch von Rainer Schmidt

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Is Fat Bob Dead Yet?« im Verlag blue rider press, an imprint of Penguin Random House, New York.

1. AuflageCopyright © 2015 by Stephen DobynsCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017beim C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlag: bürosüd, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19599-1V002www.cbertelsmann.de

Für Betsy

EINS

Wir haben einen ersten Frühlingsmorgen im Spätwinter, ein willkommenes Oxymoron mit samtweichen Winden, das die Studenten des Connecticut College in ihre Wohnheime zurücklaufen lässt, um Shorts und Flip-Flops zu holen. Nackte Beine werden zahlreicher, Geschäftsleute lockern ihre Schlipse, und ein ganz verrückter Hund, der Eigentümer eines Coffeeshops, stellt zwei kleine Tische mit Stühlen auf den Gehweg. Motorräder kommen aus dem Winterquartier. Es wäre falsch, zu sagen, es sei ein guter Tag zum Sterben, aber gewiss kann man sich schlechtere vorstellen.

Dies ist die Bank Street in New London, Connecticut. Ihr Name bezieht sich nicht auf das kommerzielle Unternehmen, sondern auf das geschwungene Flussufer – the bank – des Thames, der hier so ausgesprochen wird, dass er sich auf »games« reimt, und dem die Straße folgt. Wir können den Fluss sehen, wenn wir über die Baugrube neben dem Trödelladen der Heilsarmee schauen, wo ein Dutzend rostrote Pfeiler aus dem Boden ragen. Das Grundstück ist vollgemüllt mit einer deprimierenden Sammlung aus Glasscherben, Plastiktüten, Plastikflaschen und vermodernden Pappkartons, aber die können wir ignorieren. Weiter hinten, unterhalb der Böschung, zwischen den Hintereingängen der Geschäfte an der Bank Street und den Bahngleisen, verläuft die Water Street, eher eine breite Gasse mit Ambitionen als eine Straße. Dann kommt der Fluss mit ein paar Vergnügungspiers und dem 290-Fuß-Dreimaster der Küstenwache, der unter vollen Segeln einen wunderbaren Anblick bietet. Die großen grauen, würfelförmigen, von gelben Kränen flankierten Gebäude auf der anderen Seite des Flusses gehören zur General Dynamics-Werft, wo U-Boote gebaut werden, allerdings heutzutage nicht mehr viele.

Die Bank Street ist ein Sammelsurium von Häusern aus dem achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, schönen und hässlichen, von neogotischen Granit- bis zu viktorianischen Backsteinbauten und der Blech-und-Klinker-Fassade des Heilsarmeeladens, einer Miniaturvariante des Kaufhauses neben dem Granitblock der Zollverwaltung. In einer frühen Version von Stadtsanierung fackelten Benedict Arnold und seine Hessen 1781 die ältere Bebauung der Bank Street ab.

Hinten am Firehouse Square beginnt das historische Viertel. Retro-Laternen lösen die moderne Straßenbeleuchtung ab, und die Bank Street wird in Richtung Stadtmitte zur Einbahnstraße. Das F. L. Allen Firehouse, die alte Feuerwache im Greek-Revival-Stil, ist heute eine Kunstgalerie, die Firehouse Art Gallery, und eine Tafel an Captain Benjamin Browns dreigeschossigem Granithaus auf der anderen Straßenseite gibt bekannt, dass sich hier eine Praxis für chinesische Medizin befindet. Ein Hublift-Laster hockt neben der Verkehrsinsel, und hoch oben auf der Arbeitsbühne ist ein Servicetechniker dabei, die Straßenbeleuchtung zu reparieren. Zwei Verkehrsampeln hängen an dem Arm, der vom Mast über die Straße reicht; sie schwingen leicht hin und her, während der Mann auf der Bühne seine Arbeit tut.

Wenn wir für einen Augenblick seinen Platz einnehmen könnten, hätten wir Gelegenheit, uns anzuschauen, wie dieser Montagmorgen Anfang März aussieht: Der Himmel ist wolkenlos, Männer und Frauen tragen ihre Mäntel über dem Arm, Kinder laufen schon in Shorts herum, und bei einem blauen Mazda Miata, der vor der Firehouse Art Gallery parkt, ist das Cabrio-Dach aufgeklappt. Die Leute begrüßen einander mit freundlichen Bemerkungen, während sie ihren Geschäften nachgehen, das Sonnenlicht blitzt auf dem Fluss, über dem wir Möwen sehen, und aus einem offenen Fenster hören wir einen dieser älteren Rocksongs, die meistens im Supermarkt laufen: die Eagles oder Fleetwood Mac. Ein Tag wie dieser fühlt sich an wie eine unerwartete Nachricht.

Unter uns wartet ein blauer Mini Cooper an der Ampel. Der Ellenbogen des Fahrers, umhüllt von einem brauen Lederärmel, ragt aus dem offenen Fenster. Er kommt aus der Tilley Street und biegt links in die Bank Street ein, wo er langsam weiterfährt und nach einem Parkplatz sucht. Da, jetzt hat er einen gefunden. Vorsichtig hält er hinter einem viertürigen Chevrolet Caprice, der sicher zwanzig Jahre alt ist. Der ursprünglich dunkelkirschrote Lack ist verblasst, und der große Wagen sieht fleckig aus. Der Kofferraum wird von einem Strick zugehalten, an der Fahrertür hängt ein kaputter runder Suchscheinwerfer herunter. Der Mann steigt aus dem Mini und wirft einen zurückhaltend interessierten Blick auf den Caprice, doch bevor er die Straße überqueren kann, lässt ihn eine ohrenbetäubende Eisenbahnsirene zusammenfahren. Ungefähr vierzig Personenzüge kommen täglich durch New London, und zwei Drittel davon halten an – Züge der Amtrak Northeast Regional und der Acela Express sowie der Pendlerzug zwischen New London und New Haven. Und jeder lässt seine Sirene gellen. Wie zur Antwort gibt der Mini ein biep-biep von sich, als die Zentralverriegelung klickt, und der Mann geht quer über die Straße zu einer Schuhmacherwerkstatt. Der griechische Eigentümer ist seit mehr als dreißig Jahren hier und zieht es vor, als Schuster bezeichnet zu werden.

Der Mann will seine Schuhe abholen: neue Sohlen und Absätze sowie eine ordentliche Politur für seine schwarzen Bruno-Magli-Slipper, ein Express-Auftrag, weil er sie erst gestern hier abgeliefert hat. Die Schuhe sind ein Geschenk von seinem Bruder Vasco. Genau gesagt, Vasco hat sie weitergereicht, weil sie ihm zu eng waren. Vasco hat einen kostspieligen Geschmack, und im Laufe der Jahre hat sein Bruder schon oft davon profitiert. Von Vasco hat er auch den zielstrebigen Gang übernommen: Vorwärtsgeneigt und mit schnellen Schritten, hat dieser Gang unserem Freund als Teenager so gut gefallen, dass er ihn kopiert hat, weil er jedes Ziel als das einzig mögliche erscheinen lässt.

Der Mann heißt Connor Raposo, obwohl seine portugiesischen Eltern ihn auf den Namen Juan Carlos getauft und ihn bis ans Ende seines Teenageralters alle nur Zeco genannt haben. Kurz vor dem College hat er sich für eine neue Identität entschieden und den Namen Connor angenommen. Er ist jetzt Mitte zwanzig – dünn, eins achtzig groß, mit gerader Nase und kastanienbraunen Augen, halbwegs gut aussehend. Schwarzes Haar berührt den Kragen seiner Jacke, aber wenn wir wirklich von einem Hublifter hinunterspähen würden, sähen wir die Anfänge einer kahlen Stelle, die sich in zwanzig Jahren über seinen ganzen Schädel ausgebreitet haben wird, falls er so lange lebt. So zielstrebig wie sein Gang ist auch sein Blick. Connor sieht sogar ernst aus, wenn er einen Witz erzählt. Doch dieser Ausdruck ist eine Folge der Schüchternheit, die er als Kind empfand; er sollte die Leute davon abhalten, ihn anzusprechen. Sie kennen die Plattitüde »Er lacht äußerlich, aber innerlich weint er«? Auf Connor trifft das Gegenteil zu.

Im Gegensatz zu den bleichen Wintergesichtern der anderen Leute in der Bank Street ist Connor sonnengebräunt, was nicht verwundert, denn er ist vor einer Woche aus San Diego gekommen, und gestern, als er seine Schuhe abgegeben hat, war er zum ersten Mal in New London. Was noch? Er trägt Jeans, Sneakers und eine braune Lederjacke, die er schon auf dem College hatte.

Aber damit es weitergeht: Connor hat dem alten Schuster seinen Abholschein gegeben, und der Schuster hat die schwarzen Bruno Maglis hochgehalten, damit Connor sie begutachten kann. Er stellt sie auf die Theke, wo sie glänzen wie Anthrazit. Die Ledersohlen sind eine Abwechslung für Connor. Meistens trägt er Schuhe mit weichen Gummisohlen, lautlos wie Katzenpfoten – ob zum An- oder zum Davonschleichen, weiß er selbst nicht genau. Der Schuster zählt eine Hand voll Ein-Dollar-Scheine ab – Connors Wechselgeld – und entschuldigt sich, weil er es nicht größer hat.

»Brauchen Sie eine Tüte?« Aus seinen Ohren wachsen graue Haarbüschel, wollige Knäuel, in denen jedes an ihn gerichtete Wort einzeln hängen bleibt.

»Schon gut, mein Wagen steht gegenüber.« Connor stopft die Scheine in seine Jackentasche.

Ein Geräusch wird hörbar, ein fernes Brummen, und der Schuster schüttelt den Kopf. »Die Ersten des Jahres, genau wie bei den Rotkehlchen«, sagt er. Als er Connors verständnisloses Gesicht sieht, fügt er hinzu: »Harleys. Im Frühling, im Sommer und im Herbst kommen sie vorbeigedonnert.«

Das ferne Schnurren wird zu einem leisen Grollen, das immer lauter wird und von den Hausfassaden widerhallt. Es ist ein Angriff, der den Geist aus seinen bisherigen Gedanken reißt. Empörte Möwen flattern in Richtung Wasser davon.

»In Kalifornien haben wir Lärmbeschränkungsvorschriften.« Auf dem College hatte Connor eine laute Harley, die er liebte. »Können Sie sich nicht beschweren?«

Bevor der Schuster antworten kann, fährt die Harley blitzend draußen vorbei: Doppelscheinwerfer, ein verschwommener Lichtstreifen in Bonbonorange, Tommy-Gun-Auspuff, jede Menge Chrom und ein Brüllen wie von einem Brontosaurus. Ein Schnappschuss, der am Schaufenster vorbeifliegt. Die Scheibe bebt.

Dann geht alles noch schneller: Das Dröhnen eines zweiten Motors übertönt das Donnern der Harley, eine Frau schreit, und kreischende Reifen lassen Connor zusammenfahren. Als Nächstes eine dicht gedrängte Kombination von Geräuschen: der Zusammenprall von Metall auf Metall, das schrille Reißen von Stahl, klirrendes Glas, das knirschende Prasseln von hundert kleinen Trümmern auf dem Asphalt. Ein Fenster zersplittert, und zwischen den Variationen des Krachens verborgen das Geräusch eines rasenden Motorrads, das gegen ein unnachgiebiges Objekt prallt.

Connor stürzt hinaus auf den Gehweg. Ein großer grüner Kipplaster ist rückwärts aus einer Einfahrt gekommen und quer über die Bank Street gerollt, hat einen parkenden BMW 300 plus gerammt und ihn über den Randstein in die Schaufensterscheibe einer Musikalienhandlung geschoben. Der Typ mit der Harley ist breitseits gegen den Laster geknallt.

Aber es ist noch schlimmer. Die Mulde des Kippers liegt hoch auf den Achsen, und der untere Teil der Harley – Räder, V-2-Motor, Getriebe, der verchromte Auspuff – ist darunter hindurchgefahren, doch der obere Teil – Doppelscheinwerfer, Lenker, Benzintank und die Hälfte des Bikers – nicht. Sie wurden getrennt. Der Fahrer wurde entzweigerissen, sodass der blutige Oberkörper auf der Straße liegt. Unter dem Truck, am Ende einer blutigen Schmierspur, liegen die Beine, das eine mit, das andere ohne Stiefel. Der Kopf ist vom Hals gerissen und verschwunden. Connor wendet sich ab, um sein Frühstück bei sich zu behalten.

Die Autos und Schaufenster in der Umgebung sind mit Blut und Körperfetzen bespritzt. Die Straße ist ein Brei von Farbe. Der Truck hat noch weitergedröhnt; dann stellt der Fahrer den Motor ab und klettert aus seiner Kabine, die Stirn erstaunt in Falten gelegt. Ein junger Mann in einem ehemals weißen Hemd steht Connor gegenüber auf der anderen Straßenseite, an seiner Schulter läuft Blut herunter. Es ist kurz nach zehn. Connor riecht Benzin, vermischt mit dem Geruch des Flusses bei Niedrigwasser. Eine Nanosekunde lang ist die Szene starr und still, und man hört nur, wie jemand sich übergibt.

Dann, als sei ein Hebel umgelegt worden, verwandelt sich alles in Lärm und Bewegung. Leute schreien auf. Eine junge Frau in Shorts schlägt die Hände vor das Gesicht. Wenn Connor näher bei ihr stünde, könnte er Blutspritzer an ihren weißen Beinen sehen. Ein paar Leute rennen davon, andere laufen mit gierig aufgerissenen Augen auf das Trümmerfeld zu. Es kommt zu einem Strudel von Planlosigkeit und Instabilität, und alle versuchen, ihn irgendwie zu ordnen. Eine andere junge Frau spuckt auf ihr Taschentuch und betupft damit die roten Flecken auf ihrer Bluse. Ein Mann in einem blauen Anzug sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Gehweg und putzt seine Brille mit der Krawatte. Autos hupen, als sie gezwungen sind, weiter hinten am Firehouse Square anzuhalten, und die Fahrer den Grund für die Blockade noch nicht erkannt haben. Bald darauf hört man Sirenen. Möwen kreisen am Himmel.

Connor steht gut fünf Meter weit von der Unfallstelle entfernt. Er starrt weder den Lastwagen noch die zahlreichen blutigen Fetzen des Motorradfahrers an, sondern eine schwarzlederne Harley-Kappe, die am Randstein liegt. Er bückt sich, hebt sie auf und rechnet halb damit, darin eine Schädeldecke zu finden. Aber da ist nichts außer ein paar Schweißflecken, ein paar schwarzen Haaren und einem fettigen Zeug, das der Tote sich auf den Kopf geschmiert hat. Ach ja, die Harley-Kappe hat ein rotes Satinfutter, und darauf steht in schwarzer Tinte ein Name: Marco Santuzza.

Eine zerbrochene Pilotenbrille liegt in der Gosse. Näher am Laster liegt der abgerissene schwarze Ärmel einer Lederjacke zwischen Glassplittern und Blechfetzen. Eine Hand ragt aus dem Ärmel. Silberne Ringe schmücken Finger und Daumen, einer mit einem blauen Stein, ein anderer mit einem Totenschädel. Wieder wendet Connor den Kopf ab, damit ihm nicht schlecht wird, und schaut in die Gesichter von zwanzig Männern und Frauen, die an ihm vorbeiglotzen. Fassungslosigkeit vergrößert ihre Gesichtszüge.

Connors Sinnesnerven sind massiv überlastet, als die Straße seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, aber die Anspannung ist wie ein Nebel, und er muss die Augen halb schließen, damit er sehen kann. Jetzt schüttelt er den Kopf, um sich von den blutigen Bildern zu befreien. Er möchte in sein Auto steigen und wegfahren, doch die Straße ist von Autos verstopft, und er kann seinen Mini Cooper erst frei bekommen, wenn sie geräumt ist. Jenseits der Straßenkreuzung ist die Feuerwache, ein zweigeschossiger Backsteinbau mit zwei großen Einfahrtstoren. Aus dem einen ragt die rote Nase eines Leiterwagens. Dies ist die Feuerwehrdirektion, aber wegen des Verkehrschaos können die Feuerwehrleute nicht ausrücken, es sei denn, sie gingen zu Fuß.

Ein paar Leute versuchen, den Verkehr zu dirigieren. Sie schwenken die Arme, um die Autofahrer dazu zu bringen, in die Tilley Street zurückzusetzen, doch einige sind ausgestiegen und nach vorn gelaufen, um das Drama zu sehen. Andere halten ihre Smartphones hoch, um Fotos zu machen. Ein Polizeiwagen drängt sich, zwei Räder auf dem Gehweg, mit ohrenbetäubenden Fanfarenstößen an den Autos vorbei. Für Connor ist es, als käme der Lärm aus seinem Kopf. So reagiert sein Hirn auf dieses Grauen. Er klemmt sich die Harley-Kappe unter den Arm und lehnt sich an das Schaufenster des Schusterladens. Die Tür ist offen, und der Schuster ist vorn bei der zerschmetterten Harley und starrt auf etwas Abscheuliches vor seinen Füßen. Connor holt seine Bruno Maglis von der Ladentheke und schlängelt sich zwischen den aufgestauten Autos hindurch, um sie in seinen Mini Cooper zu legen.

Dies wäre der richtige Augenblick, um unseren Hublifter wieder zu benutzen, aber was ließe sich sagen? Wenn wir einen Punkt jenseits des Fassbaren erreicht haben, sind Worte unzuverlässig. »Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist!« Mindestens ein Dutzend Leute sagen das. Klischees wirken in solchen Augenblicken beruhigend, sie verbinden das Schreckliche mit dem Banalen und machen es erträglich. Ein paar Möwen picken blutige Gewebefetzen auf. Connor hat den Kopf des Bikers noch nicht gesehen, doch das ist auch gut so. Er ist in tausend Stücke zerschmettert, oder er liegt irgendwo auf einem Dach, oder er dümpelt im Fluss.

Uns mit der nächsten Person bekannt zu machen, wird schwierig. Auf der anderen Straßenseite, bei dem zerdrückten BMW, steht ein älterer obdachloser Mann mit einem Schwanz. Nein, nein, er hat keinen echten Schwanz, aber er ist sicher, dass er heute Morgen mit einem Schwanz aufgewacht ist, mit einem langen, grauen, schuppigen Schwanz ohne Fell. Vielleicht ist das Fell ausgefallen, vielleicht hatte er auch nie eins. Er kann sich nicht erinnern. Im Moment ist der Schwanz nicht mehr als ein sehniger dunkler Schatten, doch die Hände des Mannes haben angefangen zu zittern, und je mehr sie zittern, desto eher wird der Schwanz wieder da sein, es sei denn, er bekommt vorher etwas zu trinken.

Am Abend zuvor, im Gebüsch unter der Brücke der Interstate 95, hat er eine 0,7-Liter-Flasche Primasprit der Marke Everclear mit fünf Beuteln Traubengelee gemischt, die er in einem griechischen Imbiss stibitzt hatte. Damit hat er den Alkoholgehalt von 95 auf ungefähr 93 Prozent verringert, was er immer noch stark fand. Für Traubengelee hat er sich entschieden, weil er so etwas wie Wein machen wollte. Vielleicht ist es ihm gelungen; er weiß es nicht mehr, denn er war beinahe sofort bewusstlos. Das findet er gut. Was er will, ist Auslöschung, je gründlicher, desto besser.

Der Mann heißt Fidget, was allerdings nicht sein richtiger Name ist. Er wird nur so genannt. Was Nachnamen angeht, so hatte er schon eine ganze Menge. Sein Alter kennt er auch nicht genau, aber er weiß, er ist über sechzig. Allerdings ist das schon seit einer Weile so, und deshalb kann es sein, dass er jetzt schon über siebzig ist. Er trägt eine Red-Sox-Baseballkappe, einen zerrissenen Regenmantel, der einmal beige war, eine Hose von einer undefinierbaren dunklen Farbe und lehmverschmierte Sneakers mit Paketkordel anstelle von Schnürsenkeln. Sein graues Haar ist kurz geschnitten, und wenn er die Kappe nicht hätte, würden wir sehen, dass es struppig aussieht. Ein Mädchen unter der Brücke hat es ihm für drei Zigaretten geschnitten. Und Fidget ist so dünn, dass sein Körper unter dem Regenmantel zu verschwinden scheint, als hinge der Mantel über einer Parkuhr. Sein langes Gesicht ist grau, unrasiert und sieht nach jahrelanger gewaltsamer Umgestaltung ein bisschen ungeordnet aus. Zum Beispiel ist sein Nasenrücken in der Mitte deutlich nach links gebogen und ähnelt einem Fragezeichen. Seine Augen erinnern an einen Mops: dunkelbraun und vorquellend. Das Gesicht ist nicht hässlich, aber ziemlich abgenutzt.

Der Schwanz jedoch ist ein Anlass zur Besorgnis. Einen anderthalb Meter langen Schwanz, der sich nicht zuverlässig um die Taille wickeln lässt, kann man nicht verstecken. Er schlägt gern hin und her wie der Schwanz einer missgelaunten Katze. Fidget würde solchen Gemeinheiten des Schicksals gern philosophisch begegnen, doch mit zunehmendem Alter nimmt seine Geduld ab. Vor ein paar Jahren hatte er Pfoten statt Hände und einmal auch die Hufe eines Pferdes, die sehr viel Lärm machten. Insofern ist ein Rattenschwanz ein Schritt nach oben, solange niemand ihn sieht. Fidget ist davon überzeugt, wenn er einen Alkoholtropf hätte, wie er einmal einen Morphiumtropf hatte, würde er nicht mehr von eingebildeten Anhängseln geplagt werden.

Er war auf dem Gehweg bei dem Musikalienladen unterwegs, als der Unfall passierte, und obwohl der Tod des Mannes ihm einen Schock versetzt hat – das Zerreißen und der allgemeine Horror –, sieht er sich doch nach einer Gelegenheit um, denn er sieht sich immer nach einer Gelegenheit um, und heute Morgen, glaubt er, hat er eine gefunden. Er ist sicher, er hat etwas gesehen, das er zu Geld machen kann, zu viel Geld, wenn er Geduld hat.

Im Moment konzentriert er sich auf die Frage, wofür er dieses Geld ausgeben wird, und diese Fantasien bereiten ihm ein lebhaftes Vergnügen. Er wird sich vom Schlafen unter der Brücke verabschieden. Er wird ein Ein-Zimmer-Apartment mieten, mit einem elektrischen Kamin und einem Sessel, in dem er abends sitzen und auf einer Zigarre herumkauen kann. Die Vorstellung macht ihn glücklich, und außerdem kommt sie ihm angemessen bescheiden vor – so bescheiden, dass er sicher ist, sie wird in Erfüllung gehen. Aber was Geduld angeht, kennt Fidget nichts dergleichen – es sei denn, es wäre die Open-End-Geduld, die man auch Vergessen nennt.

Fidget ist auf die Straße gegangen und hat sich dem Unfallort genähert, bis zu einer Stelle, die vermutlich frei von den Fleischstücken des Bikers ist. Er trägt ja keine Socken, und seine Sneakers haben Löcher. Unter keinen Umständen will er, dass Stücke von dem Toten unter seinen Fußsohlen kleben. Ein Detective der Polizei spricht mit dem Fahrer des Lastwagens. Sie stehen bei der geöffneten Kabinentür. Fidget will wissen, worüber sie reden. Der Schlüssel steckt im Zündschloss, und aus der Führerkabine kommt ein gleichmäßiges ding-ding-ding. Ein TV-Übertragungswagen ist hinter dem Kipplaster die Bank Street heraufgekommen, und ein Kameramann filmt die Füße des Toten, einen mit Stiefel, einen ohne. Nie im Leben werden die Abendnachrichten das zeigen.

Fidget geht noch einen Schritt näher heran und wendet sich dann ab, um sein Desinteresse zu demonstrieren. Auf dem Gehweg kommen zehn Feuerwehrleute auf ihn zu, die einen sehr langen Schlauch hinter sich herziehen. Sie grunzen und stolpern und eilen weiter, als zögen sie einen ausgewachsenen Elefanten am Rüssel hinter sich her. Von den Feuerwehrleuten verdeckt, macht Fidget noch einen Schritt auf den Detective zu. Er hat schon zu tun gehabt mit diesem Mann, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann, und er weiß, je wütender der Mann wird, desto leiser spricht er. In diesem Augenblick ist die Stimme des Detectives nicht lauter als ein Flüstern. Was den Fahrer angeht, der erzählt gerade irgendetwas über die Bremse oder dass er mit dem Fuß abgerutscht sei. Er hält die Hände mit vorwärts gewandten Handflächen vor sich, und an seiner Nasenspitze hängt ein Schweißtropfen. Er ist im mittleren Alter, hat einen dicken Bauch, und sein Gesicht ist rund wie ein Pokerchip.

Drei uniformierte Polizisten kommen auf den Truck zu und scheuchen Gaffer zur Seite. Fidget kennt diese Cops; er hat in der Vergangenheit schon oft genug Drohungen und Schläge auf den Hinterkopf bekommen. Als Freunde kann er sie alle nicht bezeichnen, aber er möchte gern noch etwas Nützliches hören, bevor er wieder angeschrien wird. Er steigt über den Feuerwehrschlauch und stellt sich an die Wand eines leeren Möbelgeschäfts, dem Musikalienladen gegenüber. Dort bleibt er still stehen. Nur gelegentlich gibt er seinem Schwanz einen Klaps, denn der fängt wieder an mit seinen Schlangenbewegungen.

Fidget hat gesehen, wie der Kipplaster rückwärts aus der Einfahrt kam, und geschrien: »Hey!« oder »Vorsicht!« – er weiß nicht mehr, was, aber im Lärm des Lastwagens und des herankommenden Motorrads war es sowieso nicht zu hören. Dann, eine Sekunde später, war es zu spät. Er hatte kaum Zeit, sich in die Türnische des Musikladens zu drücken, sich zu ducken und die Hände über den Kopf zu legen. Die Zerstörung der Harley, der Lastwagen, der gegen den BMW am Randstein geprallt ist, das Zerschmettern des Ladenschaufensters – das alles sind ernsthafte Verwüstungen, und wenn der BMW nicht dagestanden hätte, wäre der Truck durch das Schaufenster gerollt und hätte die glänzenden Trompeten und Posaunen zerquetscht.

Jetzt schreit ihn der Cop, der ihm am nächsten steht, an: »Verpiss dich hier, du Sackgesicht. Bist du pervers oder was?«

Fidget zieht sich zurück, die Bank Street hinauf. Er will auf keinen Fall mit dem Schlagstock in Berührung kommen. Sein Schwanz schnellt hin und her. Er schlägt darauf, um ihn zur Ruhe zu bringen, doch das regt ihn nur weiter auf. Im Laufe der Jahre hat er schon viele Demütigungen erfahren. Der Schwanz ist nur die neueste. Aber Fidget darf sich davon nicht von seinem kommenden Profit ablenken lassen.

Detective Benny Vikström starrt auf den Bauch des Lastwagenfahrers, der über den Ledergürtel hängt wie eine Schneewächte, die sich über die Traufe eines winterlichen Daches schiebt – nur, dass diese Wächte hier unter einem blauen Arbeitshemd steckt. Vikström versucht zu erraten, wie viele Gallonen Bier wie viele Jahre brauchen, um so einen Wanst zu produzieren.

»Ich begreife immer noch nicht, wieso Sie nicht bremsen konnten.«

Der Fahrer, Leon Pappalardo, tritt von einem Fuß auf den anderen. »Ich hab’s ja versucht, ich hab fest zugetreten, aber mein Fuß hat das Gaspedal getroffen. Ich sag Ihnen doch, ich hab diesen Laster noch nie gefahren, die Pedale sind anders, ich meine, die Lücken dazwischen, die sind irgendwie schmaler. Dann hat das Gaspedal geklemmt, und bevor ich es loskriegen konnte, hab ich den BMW gerammt.«

»Und der Typ mit dem Motorrad?«

»Wie ich sagte, der ist in mich reingerast. Das tut mir leid.«

Vikström hebt den Blick vom Bauch des Mannes zu dessen Gesicht und kommt zu dem Schluss, dass er nicht so aussieht, als ob es ihm leidtäte. Er sieht aus, als ob er Angst hätte. Vikström hat diesen Ausdruck schon oft gesehen: nach außen hin ruhig und zuversichtlich, aber die Angst tropft aus dem Gesicht des Mannes wie Wasser aus einer gewölbten Hand. Und Pappalardos schwarz gefärbtes Haar lässt auf eine Eitelkeit schließen, die – findet Vikström – nicht so recht zu der Wampe passt. Es lässt vielleicht sogar auf so etwas wie Ambitionen schließen.

Benny Vikströms Name ist schwedisch, was niemanden überraschen dürfte. Er mag seinen Namen, obwohl er es satthat, dass die Leute fragen: »Wie war das noch mal?« Und wenn er ihn für jemanden buchstabieren muss, fügt er hinzu: »Mit Umlaut«, was zu weiteren Fragen führt. Er ist in New London geboren und aufgewachsen, aber seine Eltern sind vor fünfzig Jahren aus Malmö gekommen, und kurz darauf fand sein Vater, Acke Vikström, einen Job bei Electric Boat.

Vikström ist lang und schlank, etwas mehr als eins achtzig groß und hat eins von diesen langen, kantigen Gesichtern, die aussehen, wie aus Granit gehauen. Seine hohen Wangenknochen haben alpine Konturen, und seine Augen sind leuchtend blau. Er hat schütteres blondes Haar, das langsam grau wird, kurz geschnitten und mit Ponyfransen über der Stirn. Er war fünfzehn Jahre lang Cop in New London, und Detective ist er seit fünf. Seiner Ansicht nach sollte er inzwischen Detective Sergeant sein, doch Frauen haben die Konkurrenz versaut. Er beklagt sich nicht, meistens jedenfalls nicht. So ist das mit der Chancengleichheit. Sogar der Polizeichef ist eine Frau, Herrgott noch mal.

»Ich begreife immer noch nicht, wieso Sie nicht bremsen konnten.«

Leon Pappalardo schüttelt den Kopf wie ein Wackeldackel und schaut Vikström blinzelnd an. »Hören Sie denn nicht zu, verdammt? Ich hab doch schon …«

Vikström streckt die Hand aus und klopft mit dem Fingerknöchel an den Bierbauch. Es ist kein sanftes Klopfen. Er ist fast einen halben Kopf größer als der Fahrer und überragt ihn bedrohlich. »Was hab ich gesagt? Sind Sie nett, bin ich nett. Hab ich das nicht schon gesagt? Aber ich muss nicht nett sein. Im Allgemeinen bin ich kein netter Mensch. Sagt jedenfalls meine Frau. Im Allgemeinen bin ich bösartig.«

Vikström hat heute Morgen eigentlich keinen Dienst, aber ein Kollege hat sich krankgemeldet. Nicht, dass Vikström ihm das glaubt. An einem prachtvollen Tag wie heute macht er höchstwahrscheinlich einen Strandspaziergang, wie Vikström es auch vorhatte, statt sich von dem Kerl mit dem Motorrad aus der Form bringen zu lassen. Nein, falsch, nicht von dem Kerl an sich, sondern von seinen vielen kleinen Einzelteilen. Die Ähnlichkeit mit Konfetti bringt ein flaues Gefühl in seinen Magen.

Vikströms grauer Anzug berührt Pappalardos Bauch. »Sie meinen, Sie waren so aufgeregt, dass Sie den Unterschied zwischen Bremse und Gas nicht mehr kannten? Was ist das für eine Kacke?«

Pappalardo wackelt wieder mit dem Kopf. Sein schwarz gefärbtes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der hin und her schwingt.

»Ich hab große Füße. Sehen Sie sich diese Füße an.« Die beiden Männer starren auf die Füße hinunter. Sie stecken in alten Arbeitsstiefeln. Die glänzenden Kanten von Stahlkappen brechen durch das Leder. »Sehen Sie so was oft? Fuck, das ist Größe sechsundvierzig. Ich bin froh, dass ich damit in die Kabine komme.«

»Sie haben diesen Typen also umgebracht, weil Sie große Füße haben?«

»Überhaupt nicht. Der kam an wie eine Rakete. Wir sind höchstens beide schuld.«

»Vielleicht haben Sie telefoniert und nicht aufgepasst.«

»Ich hab mein Handy verloren. Ich meine, es ist irgendwo zu Hause, ich verliere es ständig.«

Leon Pappalardo ist nüchtern, das kann Vikström erkennen. Er ist in Vikströms Alter, und er ist nervös. Aber er hat Grund, nervös zu sein. Vielleicht ist er ja auch nicht »schuldig«-nervös, vielleicht ist er »ich hab Scheiß gebaut«-nervös. Das ist die Hauptsache – für Vikström gibt es keinen erkennbaren Grund, absichtlich zurückzusetzen und mit dem Motorrad zusammenzustoßen. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht so war.

Feuerwehrleute stehen mit ihrem trockenen Schlauch in der Nähe, und inzwischen hat die Polizei die Gaffer zehn Meter weit die Bank Street hinauf zurückgedrängt. Vikström kennt ein paar davon, zum Beispiel Fidget und den Schuster und den schwarzen Schwulen, der eine Kunstgalerie hat – wie heißt er gleich? Maurice, und er mag es nicht, wenn Vikström ihn Mo-Pause-Riiis nennt, was aber gar nichts mit seiner Hautfarbe zu tun hat, wie der Typ glaubt, sondern auf die alte Zigarettenwerbung zurückgeht: »Verlangen Sie Philip Mo-Pause-Riiis!«

Vikström sieht seinen Partner Manny Streeter, der weiter hinten auf dem Gehweg mit einem Mann spricht und sich eine andere Version der Geschichte erzählen lässt. Vikström hat dem Lastwagenfahrer bereits einen Strafzettel wegen rücksichtslosen Fahrens mit Unfallfolge verpasst. Das ist ein dicker Strafzettel und könnte ihn den Job kosten, doch Vikström würde ihm gern ein noch dickeres Ding verpassen, und sei es nur, weil hier jemand getötet wurde. Obwohl, entzweigerissen wäre wohl zutreffender. Der Quatsch mit den großen Füßen, das ist Bullshit.

Vikström tätschelt Pappalardos Bauch. »Sind Sie ein Budweiser-Mann?«

Pappalardo schaut überrascht zu ihm auf. »Manchmal. Meistens aber Natsy-Gansett, das neue Natsy-Gansett.«

»Sind Sie aus Rhode Island?« Narragansett ist ein Bier aus Rhode Island.

Wieder macht der Fahrer ein überraschtes Gesicht. »Aus Brewster. Das liegt an der Küste, die erste Stadt, wenn man von Charleston raufkommt.«

»Ich kenne Brewster«, sagt Vikström. »Ich hab Freunde da.«

»Ist im Wesentlichen ruhig da«, sagt Pappalardo. »Wenn man es gern ruhig hat.«

ZWEI

Connor Raposos Mini Cooper steckt immer noch fest. Er kriegt ihn nicht raus, solange die vielen anderen Autos noch da sind. Mit der Motorradkappe des Toten in der Hand steht er vor dem Schusterladen am Randstein und bemüht sich, nicht sauer zu sein. Auf wen soll er denn auch sauer sein, auf den toten Harley-Fahrer Marco Santuzza? Aber Connor hat zu arbeiten, er muss Geld aus den Taschen anderer Leute befreien, ob ihm das passt oder nicht, und er wird keinen Cent machen, wenn er hier nur auf der Bank Street herumsteht.

Ein paar Schritte weiter links von ihm ist die Straße mit gelbem Flatterband versperrt, und auf der anderen Seite des Kipplasters stehen die Feuerwehr mit einem roten Lösch- und einem Leiterwagen sowie ein weißer Fernseh-Übertragungswagen. Aus dem aufgerissenen Tank der Harley ist Benzin auf die Straße gelaufen, und der Löschwagen soll den Asphalt abspritzen, doch da gibt es ein ethisches Problem, sagt der Fire Marshal. Da ungefähr neun Kilo von Marco Santuzza kleinteilig auf der Straße kleben, würde »abspritzen« bedeuten, dass man zehn Prozent des Toten in den Gully spült. Also möchte der Fire Marshal die Erlaubnis dazu haben, aber er weiß nicht genau, von wem: vielleicht vom Bürgermeister, vielleicht von einem Priester. In Wahrheit will er keine Erlaubnis, sondern jemanden, der die Verantwortung mit ihm teilt. Doch der sollte besser schnell kommen, denn der viele Brandbeschleuniger da ist eine Katastrophe, die nur darauf wartet, zu passieren.

Connor hat schon zwei Detectives berichtet, was er gesehen hat, nämlich nichts außer einer vorbeirasenden Harley. Der eine war Benny Vikström, der andere sein Partner, Manny Streeter. Ungefähr zwanzig Leute stehen bei Connor, und noch einmal dreißig auf der Straße und auf dem Gehweg gegenüber. Die Hälfte davon sind die Fahrer der Autos im Stau, die übrigen sind Gaffer. Connor beobachtet einen alten Penner mit einer Red-Sox-Kappe, der nach etwas schlägt, das hinter ihm ist, obwohl Connor hinter ihm nichts sieht. Die Schlagbewegungen wirken verstohlen und wütend. Besonders seltsam ist es, dass der alte Knabe immer wieder zu ihm herüberschaut, wobei Connor sicher ist, dass er ihn noch nie gesehen hat.

Die Spezialisten der Spurensicherung heben mit Pinzetten kleine, nicht identifizierbare Stückchen auf und lassen sie in Plastikbeutel fallen. Zwei Kamerateams vom Fernsehen interviewen Zuschauer. Zeitungsreporter halten ihre Notizblöcke bereit, und eine junge Reporterin hat einen Fotografen im Schlepptau. Als die Fernsehleute Connor fragten, was er gesehen habe, hat er geantwortet, er habe gar nichts gesehen, sondern nur ein Paar Schuhe abgeholt.

Rettungssanitäter stehen hinter dem Absperrband und warten darauf, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen. Nicht, dass eine Trage hier etwas nützen würde. Ein Wischmopp und eine Schaufel wären schon praktischer. Connor fällt auf, wie schnell er sich an das Grauen gewöhnt hat, aber die Harley liegt verborgen hinter den Polizisten und Kriminaltechnikern, und Connor kann sich fast schon einbilden, dass der Leichnam nicht mehr da ist. Der Umstand, dass die Straße mit Blut, Gewebefetzen und Körperteilen gesprenkelt ist, hat etwas Grausiges, doch aus dieser Entfernung ist das eine intellektuelle Einsicht.

Viele Gesichter sind immer noch verzerrt von Abscheu, Entsetzen und intensivem Interesse. Manche halten die Augen halb geschlossen, als wäre der Anblick zu grell, andere machen Glotzaugen, als könnten sie nicht genug bekommen, und wieder andere nehmen Videos mit ihrem Smartphone auf. Am Nachmittag werden sie auf Youtube sein, wo die ganze Welt sie sehen kann.

Connor kratzt an einem Fleck, einem kleinen Klumpen, vorn an seiner Lederjacke. Es könnte sich um einen Klecks von geronnenem Blut handeln, aber das kommt ihm unwahrscheinlich vor, denn er war ja im Schusterladen, als der Unfall passierte, auch wenn er dann hinausgelaufen ist, so schnell er konnte. Vielleicht hat die Wucht des Unfalls Teile des Motorradfahrers hoch in die Luft geschleudert, wo sie einen Augenblick lang hängen blieben, bevor sie wieder abwärtssausten. Nach ein bisschen mehr Kratzen begreift er, dass es sich um eine Haferflocke vom Frühstücksmüsli handelt, und er lacht.

»Schön, dass jemand das hier komisch findet«, sagt ein Mann, der nicht weit hinter ihm steht. »Ich will hier nur weg, verdammt.«

Connor dreht sich um und sieht glänzendes schwarzes Haar, das aus der Stirn nach hinten gekämmt ist, in einer Tolle, die ein bisschen an Elvis erinnert. Der Besitzer der Tolle ist kleiner als Connor, und das Haar, das ihn um ein paar Fingerbreit größer erscheinen lässt, befindet sich für Connor auf Augenhöhe. Connor wird klar, dass er ihn kennt, aber er bewahrt sein ausdrucksloses Gesicht, bis er sicher ist, dass der Mann nicht Teil eines mit seiner Arbeit verbundenen Problems ist, das ihn und seine Freunde überhaupt erst veranlasst hat, aus San Diego zu verschwinden.

Connor erklärt, warum er verwirrt ist – dass das, was er für einen Blutklumpen hielt, sich als Müsliklecks entpuppt hat. Er lacht noch einmal, doch vor allem will er wissen, wo er diesen Mann schon mal gesehen hat. Nicht an der Westküste, da ist er sicher, und auch nicht kürzlich. Genau genommen sind es die Haare, an die er sich erinnert, und erst nach und nach fällt ihm auch der Rest ein: schwarze, raupenähnliche Augenbrauen, eine Nase, flach wie eine Schaufel, schmale Lippen, ein eckiges Kinn und rastlose Schulterbewegungen, die den Eindruck machen, er wolle gleich jemanden schlagen.

Das schwarze Hemd des Mannes ist oben offen, sodass ein paar goldene Ketten zu sehen sind. Seine beige Jacke hängt zusammengefaltet über dem Arm. Als er sie hochhält, sieht man seine goldene Rolex. »Die Jacke hat an die zwanzig Flecken, Blut und anderen Scheiß. Ich könnte sie reinigen lassen, aber die Erinnerung würde mir nicht gefallen.«

Connor sieht Blutspritzer auf dem Revers und nimmt die Rolex zur Kenntnis. »Sie müssen dicht daneben gestanden haben.«

»Dicht genug.«

»Steckt Ihr Wagen hier fest?«

»Scheiße, ja.« Der Mann deutet hinüber. »Die Schrottkarre da vor dem Spielzeugauto.«

Connor zögert einen Herzschlag lang und sagt dann: »Das ist zufällig mein Auto.«

»Ja, okay, ich wollte Ihr Fahrzeug nicht beleidigen. Sorry.«

»Macht nichts. Wie es aussieht, hat Ihr Wagen schon eine Menge durchgemacht.« Bei dem Chevy Caprice sind offensichtlich die Stoßdämpfer kaputt: Jede der vier Ecken hat eine andere Höhe.

»Was mein Wagen hat, ist Größe. Ist die Polizeiausführung. Jede Menge Power.«

»Das hat sicher seine Vorteile.«

»Yeah, klauen wird den keiner, nur ist im Moment die Batterie leer. Sie entlädt sich schnell, wenn der Wagen steht. Ich dachte nicht, dass ich so lange hier sein würde. Ist das die Kappe des Toten?«

Connor setzt sie auf. »Ein Souvenir. Passt ziemlich gut.«

»Totenkappe. Ich hab ihn vorbeifahren sehen. Das bringt Unglück.« Der Mann berührt sein Haar mit der flachen Hand für den Fall, dass eine Strähne nicht an ihrem Platz liegt. Mehrere Goldnugget-Ringe funkeln.

Connor lacht. »Das Risiko geh ich ein. Kannten Sie den Fahrer?« Der Mann spricht nicht mit neuenglischem Akzent. Wenn überhaupt, hat er einen Midwest-Tonfall. Er quetscht Wörter zusammen und spricht andere zweisilbig aus.

»Nein, aber ich hab die Maschine erkannt. Fat Bob.«

»Hieß er so?«

»Nein, so heißt das Motorrad. Das Modell.«

Die Tatsache, dass das Motorrad einen Namen hat, macht es wieder real. Es ist, als wären zwei Leute gestorben. »Haben Sie den Unfall gesehen?«, fragt Connor.

Wieder nähert sich ein Zug, und das Sirenengeheul erzwingt ein paar Sekunden Schweigen. Dann sagt der Mann: »Ich hab ins Schaufenster des Musikalienladens geschaut. Mein Junge wünscht sich eine Posaune, damit er in der Schulkapelle mitmarschieren kann. Sie wissen, wie Kinder sind. Deshalb stand ich mit dem Rücken zur Straße. Ich hab mich umgedreht, als der Laster aus der Einfahrt kam und der Motorradfahrer bremste.«

»Das muss scheußlich gewesen sein.«

»Ja, kann man wohl sagen.«

Während dieses Gesprächs versucht Connor immer noch, den Mann unterzubringen. Es ist ein wachsendes Fragezeichen, das er nicht beiseiteschieben kann. Im letzten Jahr hatte Connor einen schwarzen Schnurrbart, den er behalten hat, um seiner Freundin eine Freude zu machen. Als sie sich trennten, bevor er San Diego verließ, hat er ihn abrasiert. Er hatte sich angewöhnt, ihn mit Daumen und Zeigefinger glatt zu streichen, und diese Geste hat er beibehalten, auch wenn der Schnauzer weg ist. Jetzt tut er es auch. Es ist eine Geste, die das Nachdenken begleitet.

»Waren Sie schon mal in Detroit? Da gibt es jemanden, an den Sie mich erinnern.«

»Wie heißt er?«

»Hab ich nie erfahren. Ich hab ihn meist im Casino gesehen. Vielleicht ein Verwandter von Ihnen.« Doch Connor ist klar, dass ein Verwandter möglicherweise die gleiche Größe, die Augenbrauen und die Nase haben würde, aber nicht die Haartolle.

»Ich weiß von keinen Verwandten in Detroit. Ich bin aus St. Louis.«

»Da war ich noch nie. Ich bin aus Minneapolis«, sagt Connor, der eigentlich aus Cleveland ist. Er streckt die Hand aus. »Connor Raposo.«

Der Händedruck des Mannes ist beinahe schmerzhaft. »Sal Nicoletti. Sind Sie Italiener?«

»Pork and Cheese.«

Die Raupenaugenbrauen rutschen einen Zentimeter nach oben. »Was? Schwein und Käse?«

»Mein Dad war Portugiese. Er nannte es gern ›Pork and Cheese‹.«

»Lustig, der Mann.«

»Yeah. Manchmal.«

Connor ist sicher, dass er den Namen Sal Nicoletti noch nie gehört hat, trotzdem ist er sich ziemlich sicher, dass er diesen Mann in einem Casino in Detroit gesehen hat, wahrscheinlich im MGM Grand, wo Connor ein Jahr lang gearbeitet hat. »Ich hatte früher eine Harley, eine kleine. Ein paarmal bin ich knapp an einem Unfall vorbeigerauscht, und ich fühlte mich nicht mehr wohl auf dem Ding. Da hab ich sie verkauft.«

Connor plaudert weiter, entspannt und unbeteiligt, wie Männer es tun, wenn sie auf etwas anderes warten – auf eine Autoreparatur, auf den Beginn eines Baseballspiels. Sal hat ein Büro mit Blick auf den Fluss, was gut ist, aber es ist auch nur zwanzig Meter weit von den Bahngleisen entfernt, und das ist schlecht. »Die verschissene Sirene hat mich die ersten paarmal vom Stuhl geworfen.« Doch Connors Hirn rackert weiter und sucht nach einer klareren Erinnerung. Sal ist Mitte dreißig. Er trägt Jeans, das schwarze Hemd und Stiefel aus echtem Aalleder, die ihn ebenfalls um ein paar Fingerbreit größer machen. Connor weiß nur eins: Mit dem Mann, an den er sich zu erinnern versucht, stimmt etwas nicht. Er ist destruktiv.

»Das soll kein Unfall gewesen sein? Machst du Witze? Natürlich war das ein Unfall.« Detective Manny Streeter steht mit seinem Partner Benny Vikström neben dem Kipplaster. »Was hast du für Beweise?« Manny ist stämmig wie ein Backstein auf Beinen. Kinn, Mund und Nase, ja, sogar Augenbrauen und Ohren wirken übergroß, und er rasiert sich den Schädel, um seinen Haarausfall zu kaschieren, hat seine Glatze aus freien Stücken, statt sich »von den launischen Lüsten der Lady Fortuna ficken zu lassen«, wie er schon mehr als einmal gesagt hat. Er trägt einen blauen Anzug, und unter dem offenen Jackett sieht man eine faustgroße silberne Gürtelschnalle mit einer Kopie von James Earl Frasers »End of the Trail«, die einen sterbenden, mit einem Speer bewaffneten Indianer auf einem abgemagerten, stolpernden Pony zeigt. Die Schnalle ist so auffällig, dass die meisten Leute zuerst sie und dann Manny anschauen.

»Ich habe keine Beweise«, sagt Vikström. »Aber wir werden weitersuchen.« Er trägt das Jackett inzwischen über der Schulter, weil es so warm geworden ist. Sie sind seit zwei Stunden an der Unfallstelle, und es ist nach Mittag. Sie haben mit mehreren Leuten gesprochen und möglichst viele Informationen zusammengetragen, und jetzt sind sie reif für eine Mittagspause. Doch die Informationen sind spärlich. Ein Kipplaster ist rückwärts aus einer Einfahrt gekommen, und ein Motorrad ist dagegengeprallt. Das Unfallopfer heißt anscheinend Robert Rossi. Das ist jedenfalls der Name, den Vikström erhält, als er das Kennzeichen durchgibt. Aber die Brieftasche des Opfers ist nicht zu finden, und das gefällt den Detectives nicht. Sie war mit einer Kette an einer Gürtelschlaufe befestigt, und jetzt ist nur noch ein Stück Kette da. Vermutlich ist die Kette gerissen, und die Brieftasche ist irgendwohin geflogen. Genau wie der Kopf. Sie haben ein paar Polizisten auf die Suche geschickt.

»Angenommen, es ist mit Vorbedacht passiert«, sagt Manny. »Was wäre das Motiv? Und wieso kommt er diese Straße hinuntergebrettert und nicht irgendeine andere? Und der Lastwagenfahrer, wie heißt er gleich, Poppaloppa – glaubst du, der hat genug Verstand, um so was zu planen? Nie im Leben.«

»Lardo.«

»Was?«

»Pappalardo.«

»Von mir aus.«

Vikström ist mit den Gedanken schon beim Lunch und lehnt sich an den Laster. Gerade macht er es sich bequem, da verändert sich sein Gesichtsausdruck. Ihm ist etwas eingefallen. Rasch dreht er sich um. »Hab ich jetzt überall was von dem Toten an mir?«

Manny inspiziert Vikströms weißen Hemdrücken. »Na ja, vielleicht, hier und da. Ein paar rote Flecke, und vereinzelt auch irgendwie grau. Aber sie sehen nicht schlimm aus. Ich meine, sie sehen nicht aus, als ob sie zu einem Toten gehörten.« Manny verzieht keine Miene, und Vikström kann sehen, wie sehr er sich bemüht, keine Miene zu verziehen.

»Fuck, was soll das heißen?« Vikström verrenkt sich den Hals, um seinen Hemdrücken zu sehen. Er glaubt einen verdächtigen Klecks zu erkennen, der vorher nicht da war. »Du hättest was sagen können, als du gesehen hast, wie ich mich anlehne.«

»Ich dachte, du wüsstest Bescheid.«

»Du dachtest, ich lehne mich absichtlich an die Reste von dem Toten?«

»Ich hab angenommen, du hättest dir den Laster schon angesehen, verstehst du?«

»Nein«, sagt Vikström. »Versteh ich nicht.«

Wir sollten einen Schritt zurücktreten und uns diesen Wortwechsel ansehen, denn er repräsentiert das Zentrum ihrer Beziehung. Manny versucht, Vikström in den Wahnsinn zu treiben, und Vikström versucht, es zu ignorieren. Sie reden oft so miteinander, und es endet jedes Mal damit, dass Vikström sich ein kleines bisschen herabgesetzt fühlt. Vikström ist sicher, dass Manny das absichtlich tut, wenn auch nicht hundertprozentig sicher, und natürlich bestreitet Manny es. In Vikströms Augen schaffen solche Wortwechsel nur noch mehr überflüssige Anspannung und Misstrauen. Für Manny sind sie Augenblicke der Freude.

Vikström und Streeter arbeiten seit zehn Monaten zusammen, aber sie sind einander nie nahgekommen. Vikström findet Manny zu konkurrenzorientiert – das heißt zu ehrgeizig. Manny findet, Vikström arbeitet zu locker vom Hocker – Hocker? Locker? Was das eigentlich heißt, weiß er nicht genau, doch es soll bedeuten, dass Vikström seiner Intuition folgt, während Manny gern alles schriftlich hat. So war es am Anfang. Dann wurde es schlimmer.

Vikström würde am liebsten sein Hemd ausziehen und nach Spritzern suchen. Stattdessen verzieht er das Gesicht zu einer Maske der Gleichgültigkeit. Er ist ziemlich sicher, Manny hat es absichtlich unterlassen, ihn zu warnen, und er ist ganz sicher, Manny weiß, dass er es weiß, und das ist Mannys Ehrgeiz.

»Ich sage nicht, der Unfall sei mit Vorbedacht herbeigeführt worden«, fährt Vikström fort, als wäre nichts vorgefallen. »Aber ich sage auch nicht, dass kein Vorbedacht im Spiel war. Der Lastwagenfahrer hat nicht die Wahrheit gesagt, jedenfalls nicht die ganze Wahrheit, und ich würde gern noch ein bisschen weitergraben.«

»Woher wusste er denn, dass die Fat Bob kam, und wie hat er das Timing hingekriegt?«

Vikström zuckt die Achseln. Manny kann es nicht ausstehen, wenn Vikström sagt: IchhabeinfacheinkomischesGefühldabei. Also sagt er: »Ich hab ein komisches Gefühl dabei.«

Sie gehen die Bank Street hinauf, zurück zu den eingeklemmten Autos, die nach und nach freikommen. Vikström wischt sich verstohlen über den Hemdrücken und inspiziert dann seine Hand. Nichts. Zwei Cops regeln den Verkehr. Autos hupen. Gleich wird man den Laster in eine Werkstatt schleppen, um Brems- und Gaspedale zu überprüfen. Im Moment ist die Spurensicherung noch dabei, Stücke von Roberto Rossi aufzusammeln, und formal gesehen, meint Vikström, sollte man den Laster zusammen mit einem umfangreichen Stück Asphalt ins Leichenschauhaus bringen. Manny lacht nicht; außerhalb seines eigenen Heims beschränkt er sein Lachen auf Ironie, Sarkasmus und Spott. Sie haben beide erwogen, sich in eine andere Abteilung versetzen zu lassen, wollen aber beide gern bei der Kriminalpolizei bleiben, und so wartet jeder darauf, dass der andere den ersten Schritt tut.

Weiter oben sehen sie Fidget, der bei den Leuten, die immer noch mit ihren Autos festsitzen, Kleingeld sammelt. Dabei schlägt er nach etwas, das sich hinter ihm auf der Höhe seines Steißbeins befindet.

»Ich wette, der hat Flöhe«, sagt Manny, der ihm nicht allzu nah kommen möchte.

»Hey, Fidget«, ruft Vikström, »warte mal. Ich will mit dir reden.«

Ohne sich umzuschauen, läuft Fidget hastig weiter, doch seine Knie sind wacklig, und wenn er sie steif hält, sieht es aus, als ginge er auf Stelzen.

Vikström holt ihn ein und legt ihm die Hand auf die Schulter. »Wirst du taub?«

»Himmel, Detective, das hier ist ’ne erstklassige Gelegenheit zum Kassieren. Wenn ich mich jetzt nicht an die Leute ranmache, sind sie weg.«

Vikström schüttelt Fidgets Arm. »Was hast du gesehen, als das Bike gegen den Laster gerauscht ist?«

»Bike?«

»Das Motorrad«, sagt Manny. »Das Motorrad!«

»Ja, ich hab gesehen, wie die Harley gegen den Truck geprallt ist. Meinen Sie das? Es war scheußlich. Ich hab Blut auf den Mantel gekriegt.«

Vikström und Manny betrachten die verschiedenen Schichten von Grau, die den ehemals beigen Regenmantel bedecken und einen Impasto-Effekt hervorrufen. Blutflecke sind nicht zu erkennen, was nicht heißt, dass sie nicht Bestandteil des Breis sind.

»Ich meine, hast du irgendetwas gesehen, wovon du uns erzählen solltest?«, fragt Vikström.

Fidget schlägt mit der Hand hinter sich, um den Schwanz zur Ruhe zu bringen, der hin und her zuckt wie eine fünf Meter lange Bullenpeitsche. Er weiß, was Vikström meint, doch er weiß auch, wenn er dieses Ereignis in Bargeld verwandeln möchte, muss er den Mund halten. »Was gibt’s da zu erzählen? Ich hab gesehen, wie eine Harley in einen Kipplaster gekracht und ein Motorradfahrer zermatscht worden ist. Was gibt’s sonst noch zu sagen?«

DREI

Die Schotterstraße zum Hannaquit Breachway ist ein Opfer monatelangen schlechten Wetters und gleicht in Connors Augen einer lang gezogenen Ravioli-Form mit eingekerbten Rändern. Die Hälfte der Kerben ist mit Wasser gefüllt, um die Connor seinen Mini Cooper auf dem Weg zum Strand herumsteuert. Ab und zu wird er gegen den Sicherheitsgurt geschleudert, dann wieder stößt er holpernd mit dem Kopf ans Dach. Als Schutz trägt er die schwarze Motorradkappe vom Unfall. Das hilft ein bisschen.

Auf einem Grat oberhalb des Wassers steht ein älterer weißer Winnebago Journey in einem Teil des Campingplatzes, der für autarke Wohnmobile reserviert ist. Der Campingplatz selbst hat natürlich noch Winterpause, aber Connor wurde erzählt, es seien bestimmte Versprechungen und verschiedene Deals gemacht, die Wahrheit diverser Lügen beschworen und gelobt worden, erdachte Vorschriften einzuhalten, die ihnen erlaubten, hier illegal zu parken. Als er das infrage stellte, wurde ihm mitgeteilt, die Küste von Rhode Island sei voll portugiesischer Landsleute und dass enge Verbündete die Sache geregelt hätten. Jedenfalls kommt es auf die Einzelheiten kaum an, denn jetzt ist der knapp zwölf Meter lange Winnebago mit den beiden ausfahrbaren Erkern hier zwischen Salztümpel hinten und dem Meer vorn das einzige Fahrzeug weit und breit, und so mögen es Connors Freunde.

Es ist halb fünf, und Connor hat noch nichts gegessen. Die Blockade der Bank Street hat viele Pläne über den Haufen geworfen. Trotzdem hat er in New London noch ein Postfach gemietet, einen Eilauftrag aus einer Druckerei abgeholt, diverse Einkäufe getätigt und mehrere Telefonbücher erworben.

Zu sagen, Connor sei immer noch wuschig im Kopf von dem Unfall am Morgen, wäre unzutreffend, aber er leidet an einer Art Doppelsichtigkeit. Das blutige Bild des Bikers, zerrissen und konfettiartig auf die Seite des Lasters gespritzt, projiziert sich immer wieder auf die Szene ringsum: blauer Himmel, Sand und hohe Kiefern. Eine Brise kräuselt die Oberfläche des Salzwasserteichs, und das Meer reicht bis zum Horizont. Connor schreckt immer wieder zusammen, und seine Hände umklammern das Steuer.

Er parkt hinter dem Winnebago neben einem grauen Ford-Focus-Mietwagen. Der Winnebago steht am Ende des Damms. Links davon gibt es ungefähr zwanzig freie Stellplätze für Wohnmobile, und weiter hinten steht eine Reihe Sommerhäuser auf Stelzen. Connor bleibt stehen und bewundert einen schneeweißen Reiher, der am Rand des Salztümpels steht und so tut, als wäre er ein Busch. Dann nimmt er seine Bruno-Magli-Slipper vom Beifahrersitz und die Pakete vom Rücksitz. Die Telefonbücher wird er später holen. Mit vollen Armen geht er um den Winnebago herum zur Eingangstür, die offen steht. Es ist Ebbe, und das Meer schwappt nur ein bisschen an die Böschung. An der Wasserlinie suchen Möwen nach Essbarem. Von irgendwo kommt ein rhythmisches wump-wump-quietsch, immer wieder.

In einem Liegestuhl vor der Tür sitzt ein Mann oder ein Junge in einem übergroßen schwarzen Sweatshirt. Er ist klein, und sein strohblondes Haar besteht zum größten Teil aus Wirbeln. Er sitzt vorgebeugt da und konzentriert sich auf einen gelben Schreibblock auf seinen Knien.

Viele fragen sich, ob er ein Mann oder ein Junge ist. Auf seinen rosigen Wangen ist kein Gesichtshaar zu erkennen, und wenn wir sie berühren könnten, wären wir überrascht, wie glatt die Haut dort ist. Wenn er aufstünde, würden wir sehen, dass er knapp eins sechzig ist, aber er wirkt weniger klein als vielmehr unfertig, als wartete er noch auf zwei oder drei Wachstumsschübe, bevor er fertig ist. Auch wenn er geht, erscheint er nicht klein, denn sein Gang ist zielstrebig, und er hält sich gerade. Selbst wenn er planlos am Strand entlangschlenderte, würde er geschäftsmäßig aussehen. Wie wir vermuten könnten, hat er das von Connor, den er bewundert, genau wie dieser es seinem Bruder Vasco abgeschaut hat, doch der Junge oder junge Mann übertreibt diesen Gang so sehr, dass er dabei aussieht wie ein Roboter.

Wenn wir ihn so betrachten, könnte er dreizehn, aber auch dreißig sein. Sein Schädel ist lang wie ein Brotlaib, er hat eine hohe, rosarote Stirn, eine Stupsnase und ein rundes Kinn. Zu seinem Sweatshirt trägt er Jeans und spitze schwarze Stiefel. Ach ja, und seine Fingernägel sind sauber und kurz geschnitten. Das brauchte man nicht zu erwähnen, aber Connor hält es für ein Resultat obsessiven Verhaltens. Der Kerl ist stundenlang damit beschäftigt, sie in makellosem Zustand zu halten, sie zu feilen und mit klarem Lack zu überziehen. Noch etwas: Sein linkes Auge ist blau, das rechte grün, und manchmal ist es, als schaute er einen mit dem blauen Auge an, dann wieder mit dem grünen. Das blaue Auge lässt seine Gefühle anders erscheinen als das grüne, doch niemals sehen sie gleich aus.

Alles in allem ist der Mann oder der Junge ein geheimnisvoller Typ, und Connor, der ihn seit einem Monat kennt, hat ihn noch nicht durchschaut – das heißt, er weiß nie, was er denkt, falls er überhaupt denkt. Connor kann allenfalls sagen, er ist ziemlich sicher, dass der Junge Asperger oder so was hat. Andererseits ist er vielleicht auch nur schräg. Seinen Namen, seinen richtigen Namen, kennt Connor nicht, aber er und das Paar im Winnebago nennen ihn Vaughn, denn seine Stimme hat die gleiche samtig gekräuselte Bariton-Tonlage wie die des verstorbenen Sängers Vaughn Monroe, und wenn Vaughn spricht, spürt Connor das gleiche leise Kribbeln wie vor Jahren, als er Vaughn Monroe zum ersten Mal »Riders in the Sky« singen hörte, was ein Lieblingssong seines Dad war. Doch Vaughn, oder wie immer er heißen mag, hat von Vaughn Monroe noch nie gehört. Sagt er jedenfalls.

Vaughn hat noch ein Talent: Zahlen sind für ihn, was Farben für van Gogh waren. Er ist ein Mathegenie, was für uns bedeutet, er ist ein Genie am Computer und ein ehrfurchterregender Hacker. Vielleicht kann er nicht in die Pentagon-Rechner oder in die Rechner dieser lästigen Russkis eindringen, aber die Computer mittelgroßer Unternehmen oder Organisationen sind kein Problem. Er ist ein Peeping Tom des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Bis vor Kurzem hat er dieses Talent um seiner selbst willen ausgeübt, nicht gegen finanziellen Lohn. Das hat sich geändert.

Im Augenblick zeichnet Vaughn Quadrate auf ein gelbes, liniertes Blatt. Es gibt drei verschiedene Sorten, und sie sind präzise wie mit dem Lineal gezogen. Drei große Quadrate stehen waagerecht nebeneinander auf dem Blatt, und in der Senkrechten sind es jeweils sechs. In jedem der großen Quadrate befinden sich drei mittlere, und in jedem mittleren sind drei kleine. Das sind nur die Quadrate von heute. In seinem Koffer hat er noch viele Blätter mit Quadraten in verschiedenen Größen und Anordnungen. Wenn man ihn fragt, wozu sie gut sind, sagt Vaughn, sie stellen seine Gedanken dar.

Als Connor herankommt, fragt er: »Wo ist Didi?«

Vaughn dreht sich um und starrt in Connors Richtung, sieht Connor jedoch nicht richtig an. Sein grünes und sein blaues Auge schauen auf einen Punkt hinter Connors Schulter. Noch nach einem Monat findet Connor das verstörend, aber er dreht sich nicht mehr um und will sehen, wer hinter ihm steht. Allerdings kribbelt es manchmal immer noch in seinem Nacken. Wenn es eine Stunde oder länger her ist, seit sie zusammen waren, tut Vaughn so, als habe er Connor noch nie gesehen. Das tut er auch jetzt, während Connor seinen abwesenden Schnurrbart glatt streicht, den er nach der Trennung von seiner Freundin abrasiert hat. Einen Moment lang bleiben Connor und Vaughn bewegungslos, dann deutet Vaughn mit dem Kopf auf die Tür des Winnebago.

Wieder hört Connor dieses wump-wump-quietsch, wump-wump-quietsch. »Eartha?«

Doch Vaughn interessiert sich hauptsächlich für die schwarze Motorradkappe, die auf Connors Hinterkopf sitzt. »Was ist das?«

Connor nimmt die Kappe ab und dreht sie in den Händen. Der rote Satin schimmert im Sonnenlicht. »Die hab ich in New London gefunden.«

»Kann ich sie haben?«

»Warum sollte ich sie dir geben?«

»Ich hab Geburtstag.«

»Ach ja? Wie alt wirst du?«

Vaughn schaut weiterhin über Connors Schulter. Sein Blick ist starr wie der einer Schlange, die einen Vogel hypnotisiert.

Connor fällt kein Grund ein, Vaughn die Kappe nicht zu geben. Also wirft er sie ihm zu. »Herzlichen Glückwunsch.«

Die Geräusche von drinnen gehen weiter. Wump-wump-quietsch.

Vaughn hält die Kappe in die Sonne. »Wer ist … Mar-Co San-Tuz-Za?«

»Der vorige Besitzer. Er braucht sie nicht mehr.« Genau genommen, denkt Connor, hat Santuzza keinen Kopf mehr, auf den er sie setzen könnte.

»Das sind Blutspritzer.«

Connor hatte sie noch nicht gesehen, aber als er sich vorbeugt, sieht er ein paar dunkle Flecken am Rand. Vaughn leckt einen Finger an, reibt damit über den Fleck und hält den Finger dann hoch. Die Fingerspitze ist rosarot.

»Willst du sie zurückgeben?«, fragt ihn Connor.

Vaughn setzt die Kappe auf. Sie ist ihm zu groß und wackelt ein bisschen, bevor sie auf seinen sommersprossigen Ohren zur Ruhe kommt. »Ich mag Blut.« Er nickt Connor zu und legt eine Hand auf sein Herz. »Ich bin innerlich dankbar.«

Connor öffnet den Mund, um etwas zu sagen, und sagt dann etwas anderes. »Ich habe Telefonbücher in meinem Wagen auf dem Rücksitz. Holst du sie mir bitte?« Dann steigt er die Stufen hinauf in den Winnebago und brüllt: »Okay, Schluss mit dem Krach! Ich bin zu Hause.« Er geht hinüber in den Essbereich und kippt eine Tasche mit Handys neben drei Laptops und einem Drucker auf dem Resopaltisch aus. Aus anderen Taschen nimmt er Kartons mit Briefumschlägen, Bestellformularen, Quittungen und Kopfbögen. Das Wohnmobil ist zwölf Jahre alt, und der Innenraum ist schäbig. Das Ahornfurnier an Schrankfronten und Zierleisten schält sich ab. Die Couch, das Zweiersofa und die Stühle am Esstisch sind mit schmutzig weißem Plastik bezogen, dessen graues Barockmuster Connor an Spinnen und Spinnennetze erinnert und Flecken, Kleckse und Schmierereien verdecken soll – die allwöchentlichen Malheurs. Der braune Linoleumboden hat ein Fliesenmuster und damit ebenfalls Tarnqualitäten: Er kann wochenlang ungeputzt bleiben, und der Winnebago sieht innen trotzdem noch präsentabel aus. Ein Propangastank versorgt den Herd und heizt das Wasser.

Connor schläft auf der Couch, die sich zu einem Doppelbett mit einer sehr dünnen Matratze ausklappen lässt. Vaughn hat das Zweiersofa. Die beiden anderen, Didi und Eartha, schlafen in einem Queensize-Bett im hinteren Schlafzimmer. Im Wohnbereich riecht es nach Fett und noch mehr nach Schimmel. Aus dem Badezimmer kommt ein unangenehmer Geruch, den Connor nicht identifizieren kann. Vielleicht hat sich ein Eichhörnchen im stählernen Labyrinth des Fahrgestells verirrt und ist dort verendet.

Die Schlafzimmertür fliegt krachend auf, und Didi erscheint. Er ist Connors Onkel. Das behauptet er wenigstens. Noch vor zwei Monaten wusste Connor nicht, dass er einen Onkel namens Didi hat. Didi ist die Abkürzung von Diogo, und der Mann könnte allenfalls ein Cousin von Connors Vater sein, denn mit Nachnamen heißt er Lobato und nicht Raposo. Allerdings hat sein Vater sechs Brüder, und Connor kann sie nie ganz auseinanderhalten. Möglicherweise ist Didi überhaupt nicht mit ihm verwandt, aber das bezweifelt Connor, denn ihr Geschäft ist seit vielen Jahren ein Familienunternehmen, und Didi behauptet, Portugiese zu sein. »Du bist Tugo, ich bin Tugo«, sagt er.

Didi ist um die fünfzig und, wie er sagt, »tipptopp in Form«. Er sagt auch, sein dichtes, silbergraues Haar sei »hundert Pro natürlich«. Er scheitelt es in der Mitte, sodass es silberne Schwanenflügel an den Seiten seines Kopfes bildet. Sein Gesicht ist ein nahezu perfektes Oval, und seine Nase ist lang und gerade. Die Ränder seiner Ohren haben hinten kleine Einkerbungen, als habe irgendetwas dort ein Stückchen herausgebissen. Didi stopft sich das T-Shirt in die Hose und zieht den Reißverschluss hoch. Er macht das selbstzufriedene Gesicht eines Mannes, der im Frieden mit seinen libidinösen Bedürfnissen ist.

»Wo zum Teufel bist du gewesen?«, fragte er ohne Feindseligkeit.

»In New London hat es einen Unfall gegeben. Mein Wagen saß fest.« Connor berichtet, was vorgefallen ist, während Didi zum Kühlschrank geht und ein Dos Equis herausholt.

»Du machst Witze«, sagt Didi immer wieder. »Du machst Witze.« Er hält Connor das Bier entgegen, aber der schüttelt den Kopf. Didi hebelt den Kronkorken herunter, legt den Kopf in den Nacken und trinkt.

Eartha kommt aus dem Schlafzimmer und unterbricht Connor bei seinem Bericht. Sie ist jung und schwarz und nackt bis auf ein rotes Bikinihöschen. Sie wirbelt das Oberteil im Kreis herum und hat ein zusammengerolltes Handtuch unter dem Arm. »Meinst du, es ist warm genug, um sich an den Strand zu legen?«

Connor wendet sich ab, obwohl er weiß, dass es egal ist. Eartha läuft oft nackt herum, während sie sich nach dem Duschen abtrocknet, sich Zöpfe flicht oder ein paar Eier auf dem Herd brät. Vaughn beachtet es nie, und Didi die meiste Zeit auch nicht, sodass Connor sich für einen überempfindlichen Langweiler hält. Doch Eartha ist eine »schwarze Granate«, was sie genauso oft wiederholt wie Didi, wenn er sagt, er sei »tipptopp in Form«. Tatsächlich hat ihre Haut einen satten Bronzeton, und sie ist schätzungsweise dreißig. Sie heißt in Wirklichkeit nicht Eartha, sondern wird nur so genannt, weil sie schnurrt wie Eartha Kitt. Das ist hilfreich bei ihrer Arbeit, zu der wir gleich kommen werden. Ihr richtiger Name ist Shaw-Nell, obwohl sie manchmal sagt, sie heiße Beatriz, und das sei ein brasilianischer Name. Und manchmal erzählt Didi, sie seien entfernte Verwandte.