Ist Gott ein Symbol? - Dieter Schnocks - E-Book

Ist Gott ein Symbol? E-Book

Dieter Schnocks

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Beschreibung

Die massenhafte Abkehr von den institutionellen Kirchen zeigt: Religion hat für zunehmend mehr Menschen ausgedient. Doch gleichzeitig beginnt für viele eine Suche nach spirituellen Erfahrungen, die zu den religiösen Vorstellungen anderer Kulturen oder esoterischen Strömungen führen kann. C. G. Jung nähert sich dem Thema Religion mit seiner Tiefenpsychologie und entwickelt einen verstehenden Zugang. Die Vorstellungen, Bilder und religiösen Rituale der verschiedenen Religionen und des einzelnen Menschen werden mit dem Zugang seiner Symbolpsychologie verstanden. Bekanntlich ist die Symbolsprache die Sprache unserer Seele. Sie selbsterfahrend zu verstehen ist der psychologische Weg zu den göttlichen Quellen im eigenen Selbst.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einleitung

1 Religionsverständnis in der Analytischen Psychologie

1.1 Was bedeutet Religion/Spiritualität in der Analytischen Psychologie

1.2 Religion, ein menschliches Grundprinzip: Abgrenzung zur Psychoanalyse

1.3 Die Analytische Psychologie stellt die Glaubensfrage nicht (Exkurs: Bewusstsein und Religion)

1.4 Suche nach Sinn und Spiritualität: eine Individuationsaufgabe

2 Das Unbewusste als Quelle

2.1 Die Konzepte der Analytischen Psychologie als Grundlage für Jungs Religionsverständnis

2.2 Die Archetypenlehre als Verständnisbasis

2.3 Ein neuer, zeitgemäßer Zugang zum Religiösen

2.3.1 Die persönliche spirituelle Erfahrung verstehen

2.3.2 Archetypische Bilder spiritueller Art

2.3.3 Der tiefenpsychologisch-symbolische Zugang

2.4 Spirituelle Aspekte von Therapie und Heilung

2.4.1 »Psychotherapeutische Hilfen« aus dem christlichen Heilssystem

3 Die psychoenergetische und die symbolische Sichtweise

3.1 Die psychoenergetische Betrachtungsweise

3.1.1 Die Lebensenergie Libido – die treibende Kraft in uns

3.1.2 Psychoenergetische Betrachtung religiöser Phänomene

3.2 Die symbolische Betrachtungsweise

3.2.1 Die Symboltheorie der Analytischen Psychologie

3.2.2 Die tiefenpsychologische Sicht religiöser Symbolik

3.3 Der Ablauf und Symbolik in der katholischen heiligen Messe

4 Der Gottesbegriff bei C. G. Jung

4.1 Das personale männliche Gottesbild im christlichen Mythos

4.2 Die Frage nach der Dunkelseite Gottes

4.2.1 Die Betonung des »summum bonum« und die Problematik mit dem Dunklen im Göttlichen

4.2.2 Jungs Schattenkonzept als Hintergrund zu seinem Verständnis des Bösen

4.2.3 Die hell-dunkle Ganzheit des Göttlichen

4.3 Die Wandlung der Gottesbilder

4.4 Das innere Bild der Gottheit – ein Archetyp

4.5 Die »Gott in uns«-These – und ihre Gefahren

4.6 Das Gottesbild – eine Imagination?

5 Das Christusbild in C. G. Jungs Werken

5.1 Christus als psychologische Gestalt

5.1.1 Die Lehre vom historischen Jesus und die Christus-in-uns-Vorstellung

5.1.2 Das archetypische Christusleben

5.2 Das Jesus-Christus-Bild als archetypisches Symbol des Selbst

5.2.1 Aufruf der archetypischen Selbstkräfte

5.2.2 Vollständigkeit und/oder Vollkommenheit des Selbst-Symbols Christus

5.3 Die Frage nach einer Dunkelseite der Christusfigur

5.3.1 Der archetypische Schatten / Schatten und Gottesbild

5.3.2 Einige Gedanken zur hell-dunklen Ganzheit des Göttlichen

5.3.3 Der Antichrist als Kompensationsfigur

5.4 Die Kreuzigung Christi als ein dramatisches Symbolgeschehen

5.4.1 Zur Symbolik des Opfers und des Kreuzes

5.4.2 Zur Symbolik des Kreuzweges und der Kreuzigung

5.4.3 Christi Opfertod und Erlösung

Nachwort – C. G. Jungs persönlicher Glaube

Literatur

Zitierte Quellen

Literatur von C. G. Jung

Der Autor

Dieter Schnocks ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent und Lehranalytiker. Er war langjähriger Vorsitzender der C. G. Jung-Gesellschaft Köln und des C. G. Jung-Instituts Stuttgart.

Dieter Schnocks

Ist Gott ein Symbol?

Mit C. G. Jung Spiritualität tiefenpsychologisch verstehen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-026048-1

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-026049-8epub:ISBN 978-3-17-026050-4

Einleitung

»Religionen stehen nach meiner Ansicht mit allem, was sie sind und aussagen, der menschlichen Seele so nahe, dass am allerwenigsten die Psychologie sie übersehen darf.«(GW 11, § 172)

Ein neuer Zugang zur Religion und zum Spirituellen?

In unserer heutigen, säkularisierten Welt wird immer stärker nach einem überzeugenden inneren Gottes- und Religionserlebnis gesucht, das unabhängig von Dogmen und Glaubensbekenntnissen ist.

Der tiefenpsychologische Zugang C. G. Jungs zur Religion stößt dabei auf wachsendes Interesse und Zustimmung. Seine Betonung der persönlichen religiösen Erfahrung scheint dem modernen, spirituell orientierten Menschen entgegenzukommen. Anders als Freud und Adler, die in Religion eine Art sekundäre seelische Aktivität sehen, wertet Jung die Religion als eine höchste Form geistiger Betätigung und nennt religiöse Einstellung »eine psychische Funktion von kaum absehbarer Wichtigkeit«. (GW 6, § 99)

C. G. Jung wendet sich mit seinem psychologischen Zugang an die nicht mehr »glücklich Besitzenden des Glaubens«. Nach seinen Erfahrungen erkranken viele von ihnen an Neurosen. Unübersehbar ist, dass das Fehlen eines religiösen Bezugs für immer mehr Menschen zum tiefgreifenden Problem wird. Das archetypische Bedürfnis nach religiöser Sicherheit bleibt unbefriedigt, Unruhe und Ängste sind die Folge.

Dazu ein Zitat von C. G. Jung:

»Ich wende mich ja auch nicht an die noch glücklich Besitzenden des Glaubens, sondern an jene Viele, für die das Licht erloschen, das Mysterium versunken, und Gott tot ist. Für die Meisten gibt es kein zurück, und man weiß auch nicht genau, ob der Rückweg immer der Bessere sei. Zum Verständnis der religiösen Dinge gibt es heute wohl nur noch den psychologischen Zugang, weshalb ich mich bemühe, historisch festgewordene Denkformen wieder einzuschmelzen und umzugießen in Anschauungen der unmittelbaren Erfahrung.« (GW 11, § 148)

Wegen seiner Sichtweise den religiösen Phänomen gegenüber wurde Jung zur damaligen Zeit von einigen Theologen stark kritisiert und des Psychologismus verdächtigt. Heute kommt diese tiefenpsychologische Herangehensweise vielen spirituell Suchenden sehr entgegen. Viele erleben die symbolpsychologische Sichtweise der religiösen Bilderwelt als »krampflösend«. Dies bezogen auf eine einseitige rationale Kritik an den religiösen Phänomenen, die sich uns modernen Menschen des 21. Jahrhunderts immer wieder aufdrängt und eine differenzierte Beschäftigung mit den numinosen spirituellen Inhalten verbaut.

Vielleicht gelingt es manchen Einzelnen mit Hilfe oder Unterstützung der psychologisch-symbolischen Sichtweise auf ihrem Individuationsweg ihre individuelle Spiritualität zu finden.

Überblick über die Themen des Buches

Jungs Analytische Psychologie und die Religion (▸ Kap. 1)

Die Analytische Psychologie betrachtet Religion über die christlichen Konfessionen hinaus als Einstellung der Psyche gegenüber dem Göttlichen und Heiligen, dem Numinosen, als persönliche Erfahrung des Überpersönlichen. Sie ist eine der allgemeinsten Äußerungen der menschlichen Seele.

C. G. Jung meint dazu:

»Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten oder stärksten Wert, sei er nun positiv oder negativ. Die Beziehung ist sowohl eine freiwillige als auch eine unfreiwillige, das heißt man kann von einem Wert, also einem energiegeladenen psychischen Faktor auch unbewusst besessen sein, oder man kann ihn bewusst annehmen. Diejenige psychologische Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt, wirkt als Gott, weil er immer der überwältigende psychische Faktor ist, der Gott genannt wird.« Es ist eine »eine psychische Funktion von kaum absehbarer Wichtigkeit.« (GW 16, § 99)

Allerdings erhebt die Analytische Psychologie nicht den Anspruch, über die Existenz Gottes oder eines anderen religiösen Faktums urteilen zu wollen. Die Wirklichkeit des Glaubens ist als solche der Psychologie nicht zugänglich. Die Analytische Psychologie befasst sich also nicht mit der Frage nach der Wirklichkeit Gottes, sondern mit der Tatsache eines seelischen Erlebnisses, das als Gott verstanden wird. Somit geht die Beschäftigung der Analytischen Psychologie mit Religionen über die christlichen Konfessionen hinaus und bezieht sich auch auf Buddhismus, Islam, Konfuzianismus usw.

Die reflektive, bewusste Haltung des Menschen bedeutet Unterscheidung und Unterscheidung bedeutet Trennen und Auswählen. Bewusstsein ist deshalb ebenso sehr ein Fluch wie ein Segen. Ein wichtiger Aspekt der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist nach C. G. Jung die Zurückziehung der Projektionen:

»Wenn der historische Prozess der Weltentseelung, eben der Zurücknahme der Projektionen so weitergeht wie bisher, dann muss alles, was draußen göttlichen oder dämonischen Charakter hat, zur Seele zurückkehren, in das Innere des unbekannten Menschen, von wo es anscheinend seinen Ausgang genommen hat.« (GW 11, § 141)

Unübersehbar ist, dass das Fehlen eines religiösen Bezugs für immer mehr Menschen zum tiefgreifenden psychischen Problem wird. Das archetypische Bedürfnis nach religiöser Sicherheit bleibt unbefriedigt, Unruhe und Ängste sind die Folge. Nach Jungs Erfahrungen erkranken viele von ihnen an Neurosen.

Die Analytische Psychologie bietet als Hilfe für den Einzelnen die psychologisch-symbolische Sichtweise an. Mit ihr kann eine individuelle Religiosität gefunden werden, was oft eine große Bereicherung durch Selbst-Erfahrungen im Sinne einer persönlichen Spiritualität bedeuten kann.

Die Bilder der Gottheit (▸ Kap. 2)

Religiöse Bilder und Symbole entspringen der Urschicht unserer Seele. Echtes, religiöses Gefühl ist – wie die Kunst – immer in dieser tiefen Schicht unserer Seele verwurzelt. Große Beispiele für die sprudelnde innere Quelle sind die Offenbarungen, die in den großen Weisheitsbüchern der Menschheit aufgezeichnet sind. Große Religionsstifter (z. B. Mohammed) erfuhren über Visionen und Auditionen ihre Weisheit und ihre Lehren aus den Tiefen ihrer Seele. Im Alten Testament wiederum wird von Träumen berichtet, in denen sich für den Träumer Gottes Wille oder seine Gegenwart kundgab. Neben diesen großen Träumen, Visionen und Offenbarungen gab es zu allen Zeiten die Erfahrung der vielen Einzelnen. Sie kommen aus der instinktiven Schicht des Unbewussten, sammeln sich zu kollektiven Träumen und kommen gebündelt in Märchen, Legenden und Mythen zum Ausdruck. In ihnen spielen Bilder und Symbole eine wichtige Rolle.

Die Menschheit hat seit jeher Bilder der schöpferischen Kraft der Gottheit hervorgebracht. Diese Bilder weisen überraschenderweise überzeugende Gleichförmigkeiten auf. Jung nannte die gemeinsame Struktur der menschlichen Seele das kollektive oder überpersönliche Unbewusste. Aus ihm tauchen Urbilder auf: die Archetypen. Die stärkste archetypische Erfahrung des Menschen ist die der Gottheit. Es ist die Erfahrung eines überindividuellen Zentrums des Daseins und einer Macht, die Leben gibt und Leben nimmt.

Tiefenpsychologisch betrachtet findet im archetypischen Erlebnis der Gottheit eine Synthese zwischen bewusster und unbewusster Psyche statt. Die Spannung wird in einer vollkommenen Vereinigung der Gegensätze gelöst. Diese psychische Tatsache nennt C. G. Jung den »Archetyp des Selbst«. Verkörperungen des Selbst finden sich in den großen Gottfiguren wie Jahwe, Christus, Buddha, aber auch in Ganzheitsbildern, die Orientierung und Heilwerden symbolisieren (z. B. Mandala, Kreis, Lingam Yoni).

Religiöse Erfahrungen (▸ Kap. 3)

Mit religiösen Erfahrungen ist der Mensch mehr oder weniger in der Lage, sich dem Numinosen bis an die Grenze zur letzten Erfahrung zu nähern. Jedes wahre Ritual erhebt den Anspruch, auf Offenbarung zu beruhen. Psychologisch ausgedrückt bedeutet dies das Auftauchen der numinosen archetypischen Bilder im Ich-Bewusstsein.

Die Gefahr des Rituals liegt darin, dass es formalistisch wird. Seine Funktion als Abwehr gegen das zu beängstigende Numinose kann am Ende die persönliche Erfahrung ersticken. Das Ritual wird dann steril, wirkt nur noch als Abwehrmagie und dient den Menschen nicht mehr als Möglichkeit, an den offenbarten numinosen Inhalten teilzuhaben, ohne der übergroßen energetischen Macht zu verfallen. Wir müssen also die Tatsache erkennen, dass der Mensch, der sich zutiefst nach Offenbarung der göttlichen Macht sehnt, gleichzeitig vor der Erfahrung des Numinosen zittert, da er Angst, hat davon verzehrt zu werden.

Von ältesten Zeiten an bis zu den Erlebnissen moderner Mystiker ist die Erfahrung des lebendigen Gottes immer wieder als überwältigend, unerbittlich und beängstigend ergreifend beschrieben worden. Bei Jeremia finden wir in Kapitel 23,9: »Mein Herz will mir im Leibe brechen, alle meine Gebeine zittern, mir ist wie ein trunkener Mann und wie einem, der vom Wein taumelt vor dem Herrn und vor seinen heiligen Worten«. Paulus schreibt im Hebräerbrief (Kap. 12,29): »Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.«

Psychologisch gesehen handelt es sich also um eine Überwältigung des Menschen von der Macht des Archetypus der Gottheit. Dies bedeutet als subjektive Erfahrung zuerst einmal potentiell Tod und jede Rückkehr aus dieser Erfahrung wird als Wiedergeburt aus den Tiefen völliger Vernichtung erlebt. Die mystische Kernerfahrung der Leere und des Nichts bedeutet Hingabe und Verlöschen des Ichs vor der Gottheit.

Gottesbild als Imagination (▸ Kap. 4)

Vom tiefenpsychologischen Standpunkt aus kann das Selbst als Erlebnis des Gottes in uns formuliert werden, während für die Religionen das Selbst eine Manifestation des Gottes an sich wäre (Gottesbild innen, Gottfigur draußen). Die Analytische Psychologie kann das Dasein Gottes weder beweisen noch belegen. Was sie beweisen kann, ist jedoch die Existenz eines archetypischen Bildes Gottes, des Selbst. Mit Jung könnte man sagen, dass der Ausdruck Religion eine besondere Einstellung eines Bewusstseins bezeichnet, welches durch die Erfahrung des Numinosen verändert wurde. Starke Mächte wie Geister, Dämonen, Götter, Gesetze, Ideen und Ideale wurden vom Menschen seit jeher als gefährlich, mächtig oder hilfreich genug erfahren, um sie sorgfältig zu beachten oder anzubeten und zu lieben.

Im Jung'schen Sinne wäre letztlich das Gottesbild, das sich die Menschen in ihrer Vorstellung machen, ein Werk der Imagination. An dieser Nahtstelle zwischen Tiefenpsychologie und Religion nimmt sich die Analytische Psychologie das Recht, die Möglichkeit anzuerkennen, dass der »Gott in uns« einer transzendentalen Realität entspricht.

Das grundsätzliche Problem der bösen beziehungsweise der dunklen Seite des Gottesbildes hat in den Überlegungen Jungs breiten Raum eingenommen. Unsere Einstellung und unseren Umgang mit dem Dunklen und dem Bösen sieht Jung ursprünglich in den religiösen Mythen und im Gottesbild dargestellt.

Christus als psychologische Gestalt (▸ Kap. 5)

In Band 9/II Aion, § 414 sagt Jung:

»Psychologisch betrachtet stellt Christus als Urmensch (der Menschensohn und zweite Adam) eine den gewöhnlichen Menschen überragende und umfassende Ganzheit dar, welche der bewusstseinstranszendenten totalen Persönlichkeit entspricht. Diese bezeichnen wir (...) als das Selbst.«

Das Leben Christi sieht Jung vom psychologischen Standpunkt aus als ein persönliches und einmaliges Leben. Es habe aber in wesentlichen Zügen archetypischen Charakter. Wie andere große Gestalten der Geschichte begegnen wir im Christus-Mythos dem Archetypus des heldischen Lebens mit seinen charakteristischen Anteilen. Das Mythologem der Geburtslegende zeigt beispielhaft, dass die Geburt des Gotteskindes auch die Geburt des psychologisch neuen Zeitalters bedeuten kann. Unendlich viele Träume mit Neugeburten beweisen diese archetypische Idee der psychologischen Neugeburt.

Nicht zuletzt schließlich sehen wir Christus auf seinem Kreuzweg und als sterbender Gott am Kreuz. Wir sehen hier mit Jung den Zusammenhang mit uralten Mythologemen bzw. den archetypischen Ideen von Gottestod und seinem Verschwinden sowie seine Auferstehung zur Höhe des Bewusstseinshimmels.

C. G. Jung – Leben und Wirken

Abb. 0:Carl Gustav Jung (1875 – 1961) (© akg-images / Fototeca Gilardi)

Die Person C. G. Jung (▸ Abb. 0) gilt zu Recht als umstritten. Seine Biografie ist ausgefallen, widersprüchlich und teilweise provozierend. Jung wirkte auf manche seiner Zeitgenossen arrogant, andere verehrten ihn als eine geniale und zutiefst menschenfreundliche Persönlichkeit. Seine Liebesaffären, seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, manche antisemitischen Äußerungen sowie sein angebliches »religiöses Ketzertum« ecken an.

Jung hat mit ungeheurem Eifer und Arbeitsaufwand sein Lebenswerk geschaffen. Mit Sicherheit war er ein besonders begabter, herausragender Mensch. Und es scheint so, als ob gerade dieses Leben der Extreme das Besondere hervorbringen konnte, das sein Werk ausmacht. So gilt Jung heute vielen als psychologisches Genie. In jedem Fall aber ist er Wegbereiter vieler moderner psychologischer Richtungen und auch einer Religionspsychologie, die den Gottsuchenden ein neues Verständnis und neue Wege aufzeigt (vgl. L. Müller in Müller & Müller, 2003, S. VI).

Wie sein Leben lässt sich auch Jungs Werk in keine einheitliche Form gießen. Die Widersprüchlichkeit scheint essenzielle Grundlage seines Schaffens zu sein. Oft gibt es in Jungs Schriften keine klaren Definitionen. Um dies – und generell die immer wieder auftretende scheinbare Unlogik oder Widersprüchlichkeit in der Argumentation Jungs – zu verstehen, ist es notwendig, sich einmal die typische Sprache und Argumentationsweise Jungs zu verdeutlichen.

Jung verstand sich zwar als Empiriker, jedoch nicht im positivistischen Sinne. Er lehnte eine strenge logische Beweisführung mit abgeleiteten Schlüssen ab, weil er wohl der Ansicht war, diese seien viel zu begrenzt, um einen Sachverhalt angemessen erfassen zu können.

Jungs eher dialektische Methode ist daher nicht logisch gradlinig, sondern als »symbolisch« zu verstehen. Der Inhalt wird umkreist und aus immer wieder leicht veränderten Blickwinkeln betrachtet. Somit entsteht (oft unbemerkt) eine weit größere Wahrheit, die umkreisend Vieles, auch Widersprüchliches, in sich aufgenommen hat.

Der Jung-Nachfolger John Freeman hat dies treffend so beschrieben:

»Jungs Argumente bewegen sich spiralförmig über ihrem Gegenstand aufwärts, wie ein Vogel, der über einem Baum kreist. Zunächst, in Bodennähe, sieht er nur ein Gewirr von Blättern und Zweigen. Wenn er aber allmählich höher steigt, bilden die immer wiederkehrenden Aspekte des Baumes ein Ganzes und verbinden sich mit ihrer Umgebung.« (Freeman in Jung, 2009)

Diese spiralförmige Vorgehensweise im Denken und der Argumentation ist für manche sicherlich zunächst verwirrend. Dennoch gelingt es offensichtlich vielen, sich mit dieser Art des suchenden Denkens anzufreunden. Sie stellen bald fest, dass sie auf überzeugende Weise mitgezogen werden. Für die Lektüre und das Verständnis der Bücher C. G. Jungs ist es sicherlich hilfreich, sich diese spezielle Denk- und Vorgehensweise Jungs immer wieder zu vergegenwärtigen.

Die Frage, wo C. G. Jungs Analytische Psychologie als Wissenschaft heute steht, wird seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Zu diesem Thema kann man sich sehr gut bei Christian Roesler (2010) kundig machen. Insbesondere die wichtige Frage, welche Forschungsansätze sinnvollerweise zur Überprüfung von Jungs intuitiv entwickelten Theorien und Hypothesen eingesetzt werden können, wird in Roeslers Buch kompetent bearbeitet. Er kommt zu dem Schluss, dass wesentliche Bereiche der Analytischen Psychologie empirisch gut bestätigt sind (Roesler, 2010).

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Lehre der Analytischen Psychologie C. G. Jungs einen großen tiefenpsychologischen Wissensschatz anbietet. Die psychologischen Konzepte können als Lebenshilfe an Schwellensituationen der Entwicklung sowie bei Lebenskrisen sehr hilfreich sein. Insbesondere als Erwachsenenpsychologie für die zweite Lebenshälfte bietet sie einen spezifischen Weg zum Ganzwerden und zur Selbstverwirklichung der menschlichen Existenz an. Anziehend ist für viele die Einbeziehung der gewichtigen »Sinnfrage«, der Frage nach dem Sinn des Lebens. Wichtig ist zu sehen, dass der Schwerpunkt der psychologischen Betrachtungen C. G. Jungs vorrangig bei der Normalpsychologie liegt, erst zweitrangig geht es um eine Lehre der Neurosen und deren Behandlung.

Entwicklung der Jung'schen Tiefenpsychologie

Der Terminus Tiefenpsychologie wurde von Eugen Bleuler, einem Lehrer Sigmund Freuds, eingeführt. Er geht davon aus, dass unter der Oberfläche des Bewusstseins ein seelisches Leben mit Tiefendimension vorhanden ist. Heute wissen wir aus den Forschungen der Hirnphysiologen, dass die vorbewussten und unbewussten Aktivitäten des seelischen Lebens eigentlicher Hintergrund der bewussten Ereignisse und Verhaltensweisen sind.

Lange Zeit wurde der Begriff »komplexe Psychologie« für die Jung'sche Psychologie verwendet. Insbesondere Toni Wolff, die 40 Jahre mit Jung zusammenarbeitete, führte diesen als Präsidentin des Psychologischen Clubs in Zürich ein. Auch im universitären Bereich wurde er bevorzugt, da er den theoretischen Aspekt der Lehre Jungs betont. Durchgesetzt hat sich schließlich, in Abgrenzung zur Freud'schen »Psychoanalyse«, der Begriff »Analytische Psychologie«. In ihm klingt mit dem Begriff »analytisch« der therapeutische Aspekt stärker an.

Die Psychoanalytiker, die sich schwerpunktartig an der Analytischen Psychologie C. G. Jungs orientieren, bilden eine relativ kleine Gruppe im Vergleich zu den Freudianern, die den Großteil der psychoanalytischen Psychotherapeuten in Deutschland stellen.

Aus den Anfängen der Schule C. G. Jungs in Zürich entstand eine weltweit organisierte internationale Gesellschaft, in der mittlerweile Jung-Institute aus ca. 40 Ländern weltweit organisiert sind. Wenn auch die Anzahl der Jungianer vergleichsweise klein ist, so ist doch der Einfluss auf das tiefenpsychologische Denken ganz allgemein nicht zu unterschätzen. Der Wissensschatz der Jung'schen Psychologie ist eben nicht nur in der tiefenpsychologischen Psychotherapie wirksam, sondern wird von vielen Menschen als Lebenshilfe und als Impulsgeber auf dem Individuationsweg in Anspruch genommen.

Zudem wirkt das Denken der Analytischen Psychologie in vielen kulturellen, gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Zusammenhängen. Beispiele hierfür sind das Symbolverstehen in der bildenden Kunst, der Literatur und Musik sowie das Verständnis des Phänomens Religion. In verschiedenen Wissenschaften wirken Jungs Hypothesen anregend und herausfordernd. So zum Beispiel fordert Jungs Konzept der Synchronizität schon lange zum wissenschaftlichen Diskurs heraus.

Nach Jungs Tod hat sich in den vergangenen 50 Jahren die Analytische Psychologie stetig weiterentwickelt. In den 1980er Jahren werden von Andrew Samuels verschiedene Schulrichtungen beschrieben (vgl. Samuels, 1985). Die Konzepte Jungs fordern zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung heraus. Da es keine festgelegte, »reine« Lehre gibt, ist es meines Erachtens für jeden eine persönliche Herausforderung, die Konzepte zu verstehen bzw. sich auf den Weg zu machen, eine eigene Sichtweise zu entwickeln.

Jungs lebenslange Forschung zu Spiritualität mit Religion