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Weihnachtszeit 1953, mitten im Kalten Krieg. Im eiskalten, schneebedeckten Bologna geschieht ein Mord: Die schöne Professorengattin wird in der Badewanne der Stadtwohnung ihres Mannes ertränkt. Commissario De Luca, ehemals "bester Polizist Italiens", nimmt nach fünf Jahren unfreiwilligen Urlaubs die Ermittlungen auf. Doch nichts ist, wie es scheint. Die Nachforschungen und die Leidenschaft für eine junge, dunkelhäutige Jazzsängerin kosten De Luca fast Kopf und Kragen, und am Ende steht er vor einer schwerwiegenden Entscheidung.
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Seitenzahl: 267
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EIN COMMISSARIO-DE-LUCA-KRIMI
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
© Giliola Chisté
Carlo Lucarelli, 1960 in Parma geboren, lebt bei Bologna. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Journalist, Regisseur und Fernsehmoderator. International bekannt wurde er durch seine Kriminalromane, die in viele Sprachen übersetzt, mehrfach preisgekrönt und verfi lmt wurden. Mitbegründer des „Gruppo 13“ und Lehrer an der „Scuola Holden“ für kreatives Schreiben. Auf Deutsch liegen zahlreiche Bände vor, zuletzt erschien bei Folio Bestie (2014).
2. Januar 1954, Samstag
Davor
(21.–27. Dezember 1953)
21. Dezember 1953, Montag
22. Dezember 1953, Dienstag
23. Dezember 1953, Mittwoch
24. Dezember 1953, Donnerstag
25. Dezember 1953, Freitag
26. Dezember 1953, Samstag
(28. Dezember 1953 – 3. Januar 1954)
28. Dezember 1953, Montag
29. Dezember 1953, Dienstag
30. Dezember 1953, Mittwoch
31. Dezember 1953, Donnerstag
1. Januar 1954, Freitag
2. Januar 1954, Samstag
Danach
(4.–10. Januar 1954)
5. Januar 1954, Dienstag
6. Januar 1954, Mittwoch
7. Januar 1954, Donnerstag
24. Juli 1954, Samstag
Textnachweise
Danksagungen
Für Tecla, die Freundin,weil auch ich, wie viele,ohne sie – so – nicht hier gewesen wäre.
Die Nadel des Drehzahlmessers blieb stecken und vibrierte heftig im Rund auf der rechten Seite des Armaturenbretts. De Luca wurde in den Spalt zwischen Sitz und Tür gepresst. Der Wagen, eine Aurelia, hatte zu einem Überholmanöver angesetzt, gleich darauf jedoch scharf abgebremst, das Aufheulen des Motors war in ein leises Knurren übergegangen.
Giannino fluchte, das behauchte c von cane – Scheiße! –, das typisch für den toskanischen Dialekt war, klang wie Husten, dann zog er den Schalthebel zu sich und legte einen niedrigeren Gang ein.
– Entschuldigen Sie, Herr Ingenieur … Dieser Idiot auf dem Motorrad da vorne macht mich wahnsinnig.
De Luca warf einen Blick auf die dunkle Straße vor der Windschutzscheibe, die nur vom gelben Licht der Scheinwerfer erhellt wurde. Zwischen den glänzenden, vom Scheibenwischer verschmierten Regentropfen sah man eine geduckte Gestalt auf einem Motorrad und noch weiter vorne die Umrisse eines mit einer grauen Plane abgedeckten Lkws. Alles glänzte im Regen und im Mondlicht; immer, wenn Giannino zu überholen versuchte, fand sich De Luca fast am gegenüberliegenden Rand der engen und kurvigen Straße wieder.
– Du hast eine Saturno 500 unter dem Hintern, also gib gefälligst Gas!
Giannino sah De Luca an.
– Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Ingenieur, schnallen Sie sich bitte an, wenn Sie sich so an die Tür lehnen. Ich habe die Gurte extra dafür anbringen lassen.
De Luca gehorchte und knöpfte auch gleich den Mantel bis oben zu und steckte das Kinn in den Kragen. Er versuchte, mit der Hand den Knopf der Heizung auf dem Armaturenbrett zu erreichen, doch der Sicherheitsgurt nagelte ihn am Sitz fest, also verzichtete er darauf. Er lehnte sich wieder in seine Ecke.
Auch Giannino streckte den Arm aus, aber nicht in Richtung Heizung. Er drückte auf den Knopf des Autoradios, doch als ein unangenehmes, rhythmisches und verzerrtes Krächzen ertönte, machte er es sofort wieder aus. Auch davor, beim Klang einer unverständlichen Stimme – Teddy Reno, hatte er geflüstert –, hatte er den Sender einzustellen versucht, gleich darauf jedoch wieder abgedreht; danach hatte sich eine bleierne Stille ausgebreitet, durchbrochen nur von einem fernen Pfeifen. Aber er war nervös, er konnte nicht schweigen.
– È stata colpa mia, sang er, soltanto colpa mia, d’amarti alla follia … In nicht einmal einem Monat findet das Festival von Sanremo statt, Herr Ingenieur, ich weiß, das ist Ihnen völlig egal, aber ich bin süchtig nach Schlagern. Non mi lusingar, il romanzo finí … Verdammt, was macht der Idiot da!
Er versuchte es aufs Neue. Er packte den Hebel am Lenkrad, schaltete einen Gang rauf und drückte das Gaspedal durch, das Motorrad vor ihm war nämlich an den rechten Straßenrand gefahren und machte ihm Platz. Er schickte sich an, auch den Lkw zu überholen, der ihm den Blick versperrte, musste jedoch wieder jäh bremsen, weil das Motorrad dasselbe gemacht hatte und nun wieder in der Mitte der Straße fuhr. Die Reifen der Aurelia schlitterten über den feuchten Schneematsch auf der Bundesstraße, aber De Luca bemerkte es nicht einmal, denn Giannino war ein guter Fahrer.
– Nun, wir haben das Lenkrad rechts und die Sicht ist gleich null, noch dazu ist die Straße eng … Aber pfeif drauf, wie man in Bologna sagt. Was machen wir, wenn wir dort sind, Herr Ingenieur? Guter Cop, böser Cop, wie im Film? Wen spielen Sie? Ich würde gern den bösen Cop geben …
De Luca antwortete nicht und Giannino redete weiter. Er plapperte immer vor sich hin, vor allem im Auto, und in den letzten Tagen, während denen sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, hatte De Luca sich daran gewöhnt. Giannino plapperte in seiner toskanischen, wenn nicht gar florentinischen Mundart, und De Luca hing seinen Gedanken nach, eingelullt von der Stimme eines Zwanzigjährigen, die immer munter und heiter war, selbst wenn sie etwas gar nicht Heiteres sagte.
Er hing seinen Gedanken nach.
Er dachte an drei Dinge gleichzeitig, deren Reihenfolge infolge der Unterbrechung durcheinandergeraten war: an eine dumme und an eine wichtige Sache, und an eine, die er noch nicht verstanden hatte.
Zuerst mal die dumme. Die belegte Stimme des Commendatore D’Umberto, sein halb neapolitanischer und halb römischer Akzent: Hör zu, De Luca, um Polizist zu sein, braucht man ein Herz wie ein Hund, aber es gibt verschiedene Rassen. Es gibt ganz normale Verkehrspolizisten, die ein Herz wie ein Wachhund haben, und es gibt die von der Einsatzpolizei, die ein Herz wie ein Jagdhund haben. Du bist ein Trüffelhund, mein Junge. Doch solche wie wir brauchen das Herz eines Mischlingshundes, eines Bastards.
Die wichtige Sache: Warum war Crescas Frau nicht gleich umgebracht worden? Warum war sie nicht erdrosselt, ersäuft, sofort kaltgemacht worden, egal ob der Mörder methodisch oder in einem Anfall von Wut gehandelt hatte?
Und dann fiel ihm wieder die dritte Sache ein, die er noch nicht verstanden hatte und die alles durcheinanderbrachte.
Ein Gefühl, gar nicht so sehr ein Gedanke.
Angst. Aber nicht nur. Wut.
Mehr noch: Todesangst.
Er spürte etwas im Hals, als wäre er heiser, instinktiv räusperte er sich. Giannino drehte sich zu De Luca um.
– Was ist, Herr Ingenieur?
– Nichts, nichts.
Angst und Wut. Er spürte sie im Mund wie einen bitteren Geschmack. Er dachte an Claudia, an ihre langen Beine auf dem Foto, die Beine einer Reispflückerin, und da gesellte sich auch noch das Begehren dazu, aber das gehörte nicht hierher, hatte nichts mit dem zu tun, was zwischen seinem Magen und seinem Herz vibrierte.
Ein Warnzeichen.
Aber es war zu spät, denn der Motorradfahrer hatte beschleunigt, den Lkw überholt und war im Dunkel der eiskalten Regen- und Schneenacht verschwunden. Giannino hatte nur Ach, endlich gesagt, das Gaspedal durchgedrückt, die Aurelia hatte einen kräftigen Schluck Benzin gemacht und war beim Überholmanöver weit nach links ausgeschert, De Luca hatte Nein! geschrien, aber nur in Gedanken, lautlos.
Zu spät.
De Luca sah als Erster die Kurve, die so spitz wie ein Ellbogen war, instinktiv stemmte er die Füße auf den Boden des Wagens, die linke Hand umklammerte so fest die Klinke, dass es wehtat, sein Mund war weit aufgerissen.
Giannino bemerkte die Brücke einen Augenblick später, er bremste mit einem weiteren, zwischen den Zähnen hervorgestoßenen Fluch, der wie Husten klang, und riss das Steuer herum, um sich wieder rechts, hinter dem Lkw, einzureihen, doch es war zu spät.
Hinter ihnen war ein 1900er, der so kompakt war wie ein Bügeleisen, kaum hatte die Aurelia zum Überholmanöver angesetzt, hatte er sich auf den frei gewordenen Platz gedrängt, er fuhr ganz dicht auf den Lkw auf. Eine kompakte Mauer aus Glas, Reifen und Blech hinderte sie daran, sich wieder einzureihen, wie ein Projektil schossen sie auf die Kurve zu.
– Um Himmels willen, schrie Giannino, und dann Mama, nein!
Genau in dieser engen Kurve befand sich das Geländer einer Brücke. De Luca sah sie ganz schnell näher kommen, sie trat aus dem glänzenden Dunkel der Nacht, sie fuhren auf den weißen Strich auf den Ziegeln zu wie auf ein Ziel, die Bremsen, die die Reifen blockierten, kreischten, doch umsonst.
Kein Atemzug, kein Atemzug, sogar das Herz blieb stehen, De Luca war einen Augenblick lang wie versteinert, dann wurde er aufgrund des Aufpralls nach vorn geschleudert, der Gurt presste ihm den Atem aus dem Bauch, die Hand auf der Klinke schien am Handgelenk abgeschnitten zu werden, der Hals dehnte sich wie ein Gummiband kurz vor dem Reißen, und das Gesicht versank in einer Wolke aus kaltem Glas.
Kein Schmerz.
Dann beförderte ihn ein harter Schlag wie von einem Hammer mitten auf die Stirn in eine derart schwarze und tiefe Dunkelheit, dass er nichts mehr wahrnahm.
„Oggi“
Wochenzeitschrift für Politik, Vermischtes und Kultur, Jahrgang IX, Nr. 52, 60 Lire.
Auf dem Cover: MARIA LUISA, ERSTGEBORENE TOCHTER VON JOHANNA VON BULGARIEN, HEIRATET EINEN HOLLÄNDER (Fotoreportage im Blattinneren, auf den Seiten 12–13).
Im Blattinneren: ZWEI SKORPIONE IN DER FLASCHE, Eisenhowers „Atomrede“ läutet eine neue Phase in der Beziehung zweier alter Gegner, UdSSR und USA, ein • AUSSAGEN GEGEN DIE ROTEN, Detroit: In den USA werden große Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um die Immunität der Zeugen zu gewährleisten, die im Prozess gegen die Kommunisten aussagen • PROPHEZEIUNGEN FÜR 1954, Astrologen und Wahrsager sagen allgemein ein gutes neues Jahr für Italien voraus • IM FLUGZEUG BESTEHEN AFFEN AUF FÜNF-UHR-TEE, Ansprüche, Gewohnheiten und Launen von Tieren beim Fliegen • DAS UNSTETE HERZ DER HARTEN PCI-FÜHRER, fast alle führenden PCI-Politiker haben sich aufgrund der Liebe zu einer jüngeren Frau von ihrer Gattin scheiden lassen.
„Le Ore“
Fotozeitschrift mit politischem und kulturellem Schwerpunkt, Nr. 33, Jahrgang I, 60 Seiten, 60 Lire.
Auf dem Cover: ZWISCHEN HOLLYWOOD UND DER KASBA ENTSCHEIDET SICH GINA LOLLOBRIGIDA FÜR DIE LIEBE (Fotoreportage im Blattinneren).
Im Blattinneren: DER SPRECHER AMERIKAS, Foster Dulles, kündigt bei der letzten Sitzung des Nordatlantikrats an, dass die amerikanischen Hilfsleistungen für Europa sofort ausgesetzt werden, sollte die Ratifizierung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft aufgeschoben werden • DREIZEHNJA-WORTE 1953, Traum-Hochzeiten Ende des Jahres • RASCEL UND NICHT CORSARO, der römische Schauspieler bringt eine neue Revue auf die Bühne, diesmal tritt kein Pferd, sondern ein Schimpanse auf.
Werbung: CYNAR, gegen den Stress des modernen Lebens.
„Tempo“
Jahrgang XV, Nr. 52, 56 Seiten, 60 Lire.
Im Blattinneren: DIE SOWJETS MÜSSEN JETZT DIE KARTEN AUF DEN TISCH LEGEN, nach der Rede Präsident Eisenhowers muss Russland seinen Friedenswillen unter Beweis stellen • 1962 FLIEGEN WIR ZUM MOND, endlich kennt man das Datum der großen interplanetarischen Reise, die eine Gruppe von Wissenschaftlern mit Unterstützung der US-Regierung vorbereitet.
Werbung: AMARO CORA, der wahre Magenbitter schmeckt süß.
„La Settimana Incom Illustrata“
Jahrgang VI, Nr. 52, 80 Seiten, 60 Lire.
Auf dem Cover: LUCIA BOSÈ KAUFT WEIHNACHTSGESCHENKE FÜR IHREN KLEINEN FREUND ROBERTINO.
Im Blattinneren: EINE ALLIANZ REICHT NICHT, UM DIE KOMMUNISTEN AUFZUHALTEN, die Ungewissheit der aktuellen Situation im Parlament begünstigt die Regierung Pella, aber der dynamische Aktivismus der Linken verlangt der Mehrheitspartei ein klares politisch-soziales Programm ab • MODE-FRISUREN FÜR 1954, kurz, aber nicht allzu kurz, für untertags: italienischer Schnitt, wenige Locken, Ohren frei • NIEMAND LIEST DIE BRIEFE AN DAS JESUKIND, seit mehr als fünf Jahrhunderten bitten Gläubige aus aller Welt die Statue im Ara Coeli um Gnade.
Werbung: COCA-COLA, seit mehr als einem halben Jahrhundert köstlich und einzigartig.
„Sorrisi e Canzoni“
Wochenzeitschrift für Radiomusik und Revuetheater, Jahrgang II, Nr. 32, 30 Lire.
Auf dem Cover: BRUNO PALLESI ERSETZT LATILLA IM ANGELINI-ORCHESTER (ab Seite 4) und ZWEI SCHLAGER FÜR GINA, die Lollobrigida spielt im Fernsehen Pane amore e fantasia und singt darin zwei schöne Schlager (siehe Seite 16).
Im Blattinneren: SCHLAGER IM RADIO: TRISTE SORRISO(che mai, o signora gentil vi rattrista …), NON TI POTRÒ SCORDARE(non mi lusingar, il romanzo finí, tu sei già stanca d’amar …), È STATA COLPA MIA(è stata colpa mia, soltanto colpa mia, d’amarti alla follia …), MALANOTTE(Oh … o-o-o-oh, luce del sol, oh … o-o-o-oh, si spegne nel ciel, la notte viene giú, e stende il suo vel, di sogni d’amor, di tristi pensier).
Er ging schneller, machte fast einen Sprung, um der Straßenbahn auszuweichen, die bimmelnd von der kleinen Piazza her kam, und suchte Zuflucht unter den Arkaden, quetschte sich zwischen zwei alten 110ern durch, die vor den Säulen parkten. Die ganze Fassade der Arena del Sole war von einem riesigen Plakat bedeckt, die roten Buchstaben schwebten über den Köpfen der Passanten, SALOMÉ, der Akzent über dem letzten Buchstaben kitzelte den schwingenden Rock von Rita Hayworth, wie um ihn zu lüpfen.
De Luca blickte instinktiv nach oben, dann steckte er das Kinn in den aufgestellten Mantelkragen, die Arkaden Bolognas schützen zwar vor Regen und Schnee, im Dezember war es darunter dennoch eiskalt.
– Wenn was runterfällt, dann Schnee, sagte ein vermummter Alter, der hinter einem Becken mit gerösteten Kastanien saß, aber er sagte es im Dialekt und De Luca war an Bolognesisch nicht mehr gewöhnt.
Er ging weiter über die Via Indipendenza, bis er unter Arkaden mit geschwungenen Jugendstilsäulen das Schild des Cafés sah, das er suchte, und ging schnell hinein. Auch an die Pistole in der Tasche war er nicht mehr gewöhnt, er zuckte zusammen, als sie gegen den Pfosten der Glastür schlug. Er war zur Seite getreten, weil eine Dame schnellen Schritts herauskam.
Es war weniger ein Café als eine Konditorei und gesteckt voll. De Luca hatte eine anonyme Bar in einem düsteren Winkel erwartet, doch hier, mitten im Zentrum, zwischen Pelzmänteln und Pelzkragen, Pralinenschachteln und glitzernder Weihnachtsdekoration, fühlte er sich fehl am Platz. Er blickte sich um, ohne zu wissen, wen er suchte.
– Herr Ingenieur! Herr Ingenieur Morandi!
Ein junger Mann lehnte am Glastresen, im Gastronomiebereich des Ladens. De Luca bemerkte ihn, weil er mit dem Arm winkte, um ihn zu sich zu rufen, in diesem Augenblick hatte er sogar vergessen, dass er Ingenieur Morandi hieß.
– Giannino, sagte der junge Mann. – Sehr erfreut.
De Luca drückte ihm die Hand. Auf den ersten Blick ein Junge, der älter wirken wollte. Schnurgerader Scheitel und pomadisierte Haare, gelber Seidenschal mit Kaschmirmuster unter dem Kragen eines zugeknöpften Mantels. Krawattenknopf auf weißem Hemd. Lächeln wie auf einer Werbung. Er behauchte das t und verschliff das g von Giannino, daran erkannte er, dass er Toskaner war. Er fragte ihn nicht, ob das sein Vor- oder sein Nachname war, und auch nicht, ob es sein wirklicher Name war, der andere fragte ihn ja auch nicht, ob er wirklich Ingenieur war.
– Bei Majani gibt es die beste heiße Schokolade auf der ganzen Welt, darf ich Sie zu einer einladen?
– Nein, danke …
– Sie haben ja keine Ahnung, was Sie sich entgehen lassen. Noch dazu bei dieser Kälte …
– Nein, danke …
– Dann einen Kaffee?
De Luca spürte, wie sein Magen sich knurrend zusammenzog, er schluckte.
– Ja, sagte er, – lieber einen Kaffee.
– Haben Sie schon gefrühstückt? Nehmen Sie ein Croissant, Herr Ingenieur, oder besser noch ein Törtchen …
De Luca schüttelte den Kopf und Giannino rief, einen Kaffee, und zeigte mit einem kerzengeraden Finger auf den Tresen vor ihnen. Der Kaffee wurde augenblicklich serviert und Giannino hatte gerade noch Zeit, einen Löffel Zucker in die Tasse zu werfen, denn De Luca rührte schon um und nahm einen Schluck von dem Getränk, das so heiß war, dass er sich die Zunge verbrannte. Er hatte noch nicht gefrühstückt, doch am Vormittag aß er nie etwas. Er hatte zwar kurz davor am Bahnhof, kaum war er ausgestiegen, einen Kaffee getrunken, doch er war schon wieder auf Entzug.
– Wissen Sie, Herr Ingenieur, ich habe Sie auf dem Foto wiedererkannt. Es war ein Foto vom Prozess, Sie trugen einen Trenchcoat wie diesen, genau so einen.
De Luca gab keine Antwort. Er konzentrierte sich auf den Löffel, mit dem er den Zucker vom Grund der Tasse schabte.
– Klar, es ist erst vier Jahre her, aber damit ich Sie sicher erkenne, hat man mir auch ein Foto gegeben, auf dem Sie Uniform tragen, Kappe und schwarzes Hemd, das war zwar im Krieg und ist schon zehn Jahre her, aber Sie sehen noch immer so aus, unverändert.
De Luca hörte auf, am Löffel zu lutschen. Giannino sprach jetzt ganz leise und er spürte, dass sein hinterhältig lächelnder Blick auf ihm ruhte, wie der eines spielenden Kindes. In letzter Zeit hatte er viele solche Blicke ertragen müssen, und er hatte immer den Blick gesenkt, vor dem Staatsanwalt, vor dem Richter, auch vor seinem Verteidiger, ganz zu schweigen von jenen, die danach gekommen waren.
Aber das war nur ein Junge, der erwachsen wirken wollte, und theoretisch war er auch sein Untergebener, nicht nur theoretisch, sondern wirklich, und deshalb hob De Luca den Blick und sah ihn an.
– Bist du mit der heißen Schokolade fertig?, sagte er. – Können wir gehen?
Einen Augenblick lang hörte Giannino auf zu lächeln. Doch gleich darauf setzte er wieder sein boshaftes Werbelächeln auf, diesmal war es allerdings etwas vorsichtiger.
– Ich bin fertig, Herr Ingenieur. Lassen Sie nur, lassen Sie nur … Ich zahle. Das wäre ja noch schöner.
Das Auto parkte etwas weiter vorne, im Halteverbot, denn gleich davor, unter den Arkaden, befand sich eine Bank. Das Auto war funkelnagelneu, es glänzte, als wäre es aus Silber. Als sie noch unter den Arkaden gingen, zeigte es Giannino schon De Luca, er nickte vor Stolz.
– Lancia Aurelia B20, Herr Ingenieur, aber die, die gerade auf den Markt gekommen ist, die Zweieinhalb-Liter-Version. Man war mir einen Gefallen schuldig, was Besseres hätten sie uns nicht geben können, nicht wahr?
Er streichelte sie und klopfte zweimal auf den abgerundeten Kofferraum. – Was für ein Hinterteil … Man hat das Heck des alten Modells verändert, jetzt schaut sie viel besser aus … Finden Sie nicht, dass sie erotisch ist, Herr Ingenieur?
De Luca öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Auf dem Armaturenbrett lag eine Kelle der Straßenpolizei. Er nahm sie in die Hand und warf Giannino einen fragenden Blick zu, der riss sie ihm aus der Hand und schmiss sie nach hinten, auf die schmale Rückbank dicht unter dem niedrigen Coupédach.
– Die Leihgabe eines Kollegen, sagte er, – ich habe einen Anschiss von der Verwaltung bekommen, weil ich zu viele Strafzettel kassiere.
Er betätigte den Anlasser, drehte den Schlüssel im Schloss und stieg vorsichtig aufs Gaspedal. – Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, ob Sie hören, wie der Motor schnurrt … Sie wären wohl auch zufrieden, wenn sie uns einen alten Topolino mit einer Gasflasche auf dem Dach gegeben hätten, nicht wahr, Herr Ingenieur?
Diesmal musste er lächeln. De Luca rutschte auf der Sitzbank hin und her, kauerte sich in den Spalt zwischen Sitz und Tür, presste die Arme an den Körper, weil er plötzlich so fror, dass er bibberte. Wenn er im Winter in ein Auto einstieg, hatte er immer ein Gefühl, als ob der eiskalte Sitz die ganze Wärme aus seinem Körper saugte. Beim intensiven Stoff- und Metallgeruch eines neuen Autos wurde ihm auch immer ein wenig übel, aber wenn er das Fenster geöffnet hätte, hätte er noch mehr gefroren, also beschloss er, die Zähne zusammenzubeißen.
Giannino war losgefahren und rechts auf die Via Ugo Bassi eingebogen.
– Autos interessieren Sie nicht, Herr Ingenieur … Wie ist es mit Fußball? Schauen Sie sich Fußballspiele an? Ich bin ein Fan von Fiorentina, eh klar, ich bin so gut wie auf der Piazza della Signoria zur Welt gekommen, aber Sie? Juve? Milan?
De Luca schüttelte den Kopf, und er schüttelte ihn aufs Neue, als Giannino sagte: Sie werden doch kein Inter-Fan sein, oder?
– Nein, ich wollte sagen, nein, ich schaue mir keine Fußballspiele an.
– Kino? Musik? Ich liebe Musik, moderne Musik, Schlager, mit einem Wort. Aber auch Jazz. In einem guten Monat, Herr Ingenieur, ist das Festival von Sanremo. Nilla Pizzi, Teddy Reno, Flo Sandon’s … Oder gefällt Ihnen Claudio Villa?
Er warf ihm einen Blick zu und schaltete einen Gang höher, um zu beschleunigen und vor der Straßenbahn in die Via Marconi einzubiegen.
– Interessiert Sie auch nicht, stimmt’s? Ist nicht gerade einfach, Konversation mit Ihnen zu machen, Herr Ingenieur.
– Vielleicht sollten wir uns über den Fall unterhalten.
Giannino nickte. Er hupte, um einen Fußgänger von der Straße zu scheuchen, dann holte er eine Akte aus dem Handschuhfach und reichte sie De Luca. Es war eine cremefarbene Mappe mit dem Stempel des Polizeipräsidiums Bologna darauf, Einsatzkommando. De Luca presste die Lippen aufeinander, sog die Luft ein, als ob ihm das Wasser im Mund zusammenliefe.
Das erste Foto war eine Nahaufnahme, der nackte Körper einer Frau auf dem Rand einer Badewanne, von hinten aufgenommen, sie lag mit den Schultern und dem Kopf im Wasser. Es war nicht einfach, den Körper zu erkennen, denn das Schwarzweißfoto war fast einheitlich grau, nur die Hinterbacken im Vordergrund waren deutlich zu sehen.
Dann waren da noch ein paar schärfere Fotos, die dunkle Masse der Haare trieb unbeweglich in dem seifigen Wasser wie ein Medusenkopf, Details des Körpers und des Badezimmers, der blutige Abdruck eines nackten Fußes auf dem Boden, Ausschnitte eines anderen Zimmers, ein schwarzes Telefon an einer Wand, der Hörer hing an der Schnur.
De Luca blätterte die Fotos schnell durch, fast ohne sie anzusehen, dasselbe machte er mit den maschinengeschriebenen Seiten, Dienstbericht der herbeigerufenen Streife, Kommentare des Beamten der Einsatzpolizei, Obduktionsbericht des Polizeiarztes, und da war auch ein kurzer Bericht der Carabinieri, und außerdem Zeitungsausschnitte, seltsamerweise wenige, obwohl das Ganze vor zwei Tagen passiert war.
Die Beschreibung des Opfers hatte er bereits im Zug von Rom nach Bologna gelesen, wohin er aufgebrochen war, um den Mord an Stefania Mantovani, verehelichte Cresca zu lösen, er hatte sie mehrmals gelesen und mit einer Hingabe, die ihm den Atem geraubt hatte. Stefania Mantovani, geboren am 23. August 1922 in Ferrara – also einunddreißig Jahre alt –, ein Meter siebzig groß, fünfundfünfzig Kilo schwer, hellhäutig, grüne Augen, rote Haare, keine besonderen Merkmale. „Witwe“, stand ganz unten, De Luca wusste, dass ihr Gatte, Professor Mario Cresca, zwei Monate davor bei einem Autounfall umgekommen war.
– Vielen Dank, Herr Ingenieur. Ich dachte, ich hätte gute Arbeit geleistet, sagte Giannino enttäuscht.
– Sehr gute Arbeit sogar. Aber jetzt will ich die Akte nicht lesen. Ich weiß nicht, wer … – er blätterte die Dokumente durch – dieser Kommissar D’Orrico ist, ich weiß nicht, wie er und sein Team arbeiten, und ich will mich nicht von ihren Überlegungen in die Irre führen lassen. Ich würde lieber selbst den Tatort besichtigen und mir eine eigene Meinung bilden.
Giannino zuckte mit den Achseln. Er bog nach links in die Via Riva di Reno ein, fuhr am Kanal entlang, überquerte die kleine Brücke, fuhr rechts ran und machte den Motor aus. Er beugte sich über das Steuer und zeigte durch die Windschutzscheibe auf ein kleines Fenster, die Fensterläden waren geschlossen, verriegelt, wie bei einem Bordell.
– Da ist es, Herr Ingenieur. Crescas Absteige.
– Wie würden Sie es nennen? Pied à terre? Junggesellenwohnung? Nun, wenn einer kein Junggeselle mehr ist, dann nennt man es Absteige, mit einem Wort, ein Liebesnest.
Giannino stand ganz oben auf der Treppe, auf dem letzten schmalen Treppenabsatz, von dem aus man ins Treppenhaus hinter einem niedrigen Geländer blickte. Am Türpfosten waren Klebestreifen angebracht, mit der Aufschrift „Polizei“, mit Bleistift geschrieben, und dem Stempel des Polizeipräsidiums. De Luca wies Giannino mit einer Bewegung des Kinns darauf hin, er hatte nämlich die Hände in den Manteltaschen, die cremefarbene Aktenmappe hatte er unter den Arm geklemmt. Die ganze feuchte Kälte von der Straße schien durch das Treppenhaus heraufgesaugt zu werden.
Giannino riss die Siegel ab, zog einen Dietrich heraus und öffnete die Tür. Er grinste De Luca an, doch der schaute woanders hin. Er starrte in das Dunkel hinter der Schwelle, sein Herz hatte heftig zu schlagen begonnen, und diesmal lief ihm wirklich das Wasser im Mund zusammen, ein Überschuss an Speichel zwang ihn zu schlucken.
Der Sicherungskasten war gleich neben der Tür. De Luca schraubte die Sicherung rein und machte das Licht an, dann hob er den Arm, um Giannino aufzuhalten.
– Hast du einen Fotoapparat?
– Sicher, Herr Ingenieur, im Auto. Ich hole ihn.
De Luca blieb auf der Schwelle stehen, vor seinem Mund bildete sich Hauch. Er schloss die Augen, kniff sie zusammen, dann machte er sie wieder auf.
Eine kleine, quadratische Mansarde, das Fenster an der hinteren Wand, dicht unter der Dachgaube, war geschlossen.
Zur Linken ein nicht gemachtes Ehebett. Nein, nicht zerwühlt, ungemacht. Jemand hatte darin geschlafen, eine Seite war abgedeckt und ein Kissen war nicht an seinem Platz, ein einsamer Schlaf. Neben der Tür ein kleiner zweiteiliger Schrank, er war offen. Auf dem Bett und auf dem Boden rundherum lagen Bücher, Hefte und Dokumente, die eigentlich in ein kleines Regal an der Wand gehört hätten, auch der Inhalt der Kommode war auf den Boden geleert worden.
Links.
Rechts ein kleiner Tisch, der Stuhl stand gerade davor, eine Schreibmaschine, eine Lampe, ein Papierkorb, alles sauber und ordentlich. Allerdings: ein Telefon auf dem Boden, die Schnur des Hörers, der nicht auf der Gabel lag, zusammengerollt wie eine Schlange. An der Wand hinten, neben einem Kohleofen, ein weiterer Tisch mit einem Plattenspieler darauf und ein Plattenständer. Die Platten lagen am Boden, sie waren aus den Hüllen gerissen worden, zerbrochen.
Und in diesem Teil des Zimmers war überall Blut am Boden, im Blut war herumgetrampelt worden, Blutspuren führten zu einer kleinen offenen Tür, offenbar der Badezimmertür.
Giannino kam keuchend in die Wohnung, er war die Treppe heraufgelaufen. Er trug eine kleine Leica, mit bereits montiertem Parabolblitz.
– Wir beginnen dort, wo die Leiche gefunden wurde, und gehen dann retour, sagte De Luca. – Gib acht, dass du auf nichts drauftrittst.
– Himmel, ist es hier kalt. Und auch noch feucht. Spüren Sie das nicht, Herr Ingenieur?
Nein, er spürte es nicht. Kaum hatte er das Licht im Bad angemacht, hatte De Luca einen Schauer unterdrückt, aber er wusste, er kam von der Erregung und nicht von der Kälte. Er nahm ein paar Fotos aus der Akte und reichte Giannino die restlichen, er verzog das Gesicht, weil dieser sich, mit der Leica unter dem Arm, ein Paar Handschuhe anzog.
Die Badewanne war leer, noch feucht, auf der weißen Resopalplatte am Rand befanden sich Blutspuren. Eine Dose Badesalz lag umgestürzt auf dem Boden neben dem Abfluss, eine lange Spur glänzender Körnchen führte zum Abflussloch. Der Duschvorhang war aus den Ringen gerissen und auf den Boden unter das Waschbecken geworfen worden.
In den Blutspuren vor der Badewanne befanden sich viele Fußabdrücke, Abdrücke von glatten Sohlen und von Sohlen mit tiefem Profil, längliche Abdrücke von kleinen Frauenfüßen, und ein ziemlich deutlicher Abdruck von einem Vorderfuß mit gespreizten Zehen, wie plattgedrückt. De Luca bedeutete Giannino mit einer Geste, er solle ihn fotografieren.
– Ohne Blitz. Es gibt genug Licht. Was sagt der Polizeiarzt?
– Herr Ingenieur, flüsterte Giannino, – ich habe nur zwei Hände, dennoch begann er zu lesen: Ich habe eine Leiche vor mir …
– Nur welche Verletzungen festgestellt wurden.
– Gut, also … Hämatom auf der rechten Seite der Stirn, Schnitt auf der linken, gebrochene Nase, Abschürfung auf dem Wangenbein … dann, dann … auf dem Hals: langes kreisförmiges Hämatom, schmales Hämatom, weitere fleckenförmige Hämatome. Großes Hämatom vorne, unterhalb der Brust, eine Quetschwunde angeblich. Tod wahrscheinlich durch Ertränken, ungefähr zwölf Stunden vor dem Leichenfund.
De Luca stellte sich die Szene vor. Er betrachtete die Badewanne, dann die Fotos aus der Akte, bleiche Farben aufgrund des künstlichen Lichts der Badezimmerlampe, leuchtendes Schwarzweiß aufgrund des Fotopapiers.
Er ging zum Schrank über dem Waschbecken und öffnete ihn. Einen Augenblick lang sah er sein Spiegelbild im Schrankflügel, ein schmales, langgezogenes Gesicht, das auftauchte und auch gleich wieder verschwand. Er sah ganz kurz die Augenringe und den Bart, den er sich schon seit geraumer Zeit wegrasieren hätte sollen, danach konzentrierte er sich auf den Inhalt.
Kamm, Bürste, Zahnbürste, Zahnpasta, elektrischer Rasierapparat und Rasierwasser. Brillantine. Mundwasser. Männersachen. Am Rand des Waschbeckens eine kleine Toilettetasche. Frauensachen. De Luca nahm den Männerkamm und untersuchte ihn im Gegenlicht: sauber, aber fettig. Er nahm einen Lippenstift aus dem Beutel am Waschbecken und öffnete ihn: dunkelrot, fast aufgebraucht.
– Haben Sie das da gesehen?, sagte Giannino und zeigte auf ein Körbchen.
Ja, de Luca hatte es gesehen und ging hin. Ein Päckchen Kondome der Marke Gold One, noch geschlossen, Giannino nahm es in die Hand und schüttelte es mit belustigtem Blick.
– Wenn du alles fotografiert hast, gehen wir rüber. Hier sind wir fertig.
De Luca verließ das Bad und sah einen Augenblick lang Giannino zu, der hatte das Brillantinefläschchen genommen, einen Handschuh ausgezogen, einen Tropfen Brillante auf die Handfläche geleert und zerrieb ihn zwischen den Fingern. Er führte sie zur Nase, um daran zu schnuppern.
– Angeblich verhindert Tricofilina Haarausfall. Aber mich überzeugt das nicht. Ich bleibe Linetti treu, es riecht auch besser.
De Luca musste lächeln und er lächelte auch noch, als Giannino in die Blutflecken rund um den kleinen Tisch neben der Wohnungstür trat, bevor er ihn davon abhalten konnte. Aber er hatte sie ohnehin schon gesehen.
– Los, fotografier auch das.
Glatte Sohlen, Sohlen mit tiefem Profil und zwei weitere Abdrücke von nackten Füßen. Ein weiterer vor dem Telefon an der Wand, fast vollständig, es fehlte nur die Ferse. Der andere unter dem Tisch, vollständig, von der großen Zehe bis zur Ferse, aber gekippt, die rote Linie brach unterhalb des Fußgewölbes ab. Frauenfüße.
De Luca beugte sich über die Schreibmaschine, eine kleine, schwarze tragbare Remington, so nah, als wolle er an ihr riechen. Er öffnete die Tischlade: Briefpapier und Kuverts mit dem Namen des Absenders, einfach „Mario Cresca“, ohne Titel, nur die Wohnadresse, „Via Oberdan“, nicht die der Absteige. Aber durcheinander, als ob eine Hand darin gewühlt hätte.
Eine blutige Hand.
Er warf einen Blick in den Papierkorb unter dem Tisch. Er war leer, bis auf einen Papierfetzen, der von einem elfenbeinfarbenen Kuvert wie jenen in der Lade abgerissen worden war. Er holte ihn aus dem Papierkorb, stellte fest, dass er am Rand rötlich gefärbt war, Blut, das vom Papier aufgesaugt worden war, und darüber befanden sich drei Blockbuchstaben, auch sie rot, aber das war nicht Blut, sondern das rote Farbband der Schreibmaschine.
DOTT, das letzte t fehlte, es war weggerissen worden.
Dann kniete er sich hin und betrachtete das Telefon auf dem Boden, einen großen Apparat aus schwarzem Bakelit. Er nahm den Hörer, blies den weißen Staub weg, mit dem man die Fingerabdrücke abgenommen hatte, und betrachtete ihn lange.
– Haben Sie die Liste der Beweisstücke, die man der Spurensicherung übergeben hat?, fragte er.
Giannino blätterte die Dokumente in der Mappe durch, zog mühselig eines heraus, er hatte sich nämlich wieder die Handschuhe angezogen. Da war sie.
– Haare?
– Ja, drei. Lange, rote. Klebten mit Blut am Hörer. – Er zeigte darauf.
De Luca nickte. – Sonst was?
– Ein Herrenschlafmantel, mit den Initialen MC auf der Tasche, blutverschmiert. Sonst nichts.
De Luca seufzte. Er hatte gut daran getan, den Bericht des Kommissars von der Einsatzpolizei nicht davor gelesen zu haben. Er sagte es.
– Warum?
– Der Kollege D’Orrico nimmt es bei der Arbeit nicht allzu genau.
– Ex-Kollege.