Der schwärzeste Winter - Carlo Lucarelli - E-Book

Der schwärzeste Winter E-Book

Carlo Lucarelli

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Beschreibung

Bologna 1944: Commissario De Luca muss Mordfälle für rivalisierende Auftraggeber lösen. Ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die besetzte Stadt im Klammergriff der Eiseskälte und ausgeblutet von den Bombenangriffen. Wehrmacht und SS werden flankiert von Mussolinis "Schwarzen Brigaden", die äußerst grausam auf Partisanenaktionen reagieren. De Luca ist jetzt Teil der politischen Polizei und steht damit an der Seite der Folterer. Als in der Sperrzone im Zentrum drei Leichen gefunden werden, soll er für drei Auftraggeber ermitteln: für die Faschisten, die Nazis und die Kollegen des geheimen "antifaschistischen Polizeipräsidiums" – ein führender Kopf des Widerstands wird nämlich zu Unrecht beschuldigt. De Luca wittert die Chance, seine Sünden zu sühnen.

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CARLO LUCARELLI

DER SCHWÄRZESTE

WINTER

EIN COMMISSARIO-DE-LUCA-KRIMI

AUS DEM ITALIENISCHEN VON KARIN FLEISCHANDERL

Wir wurden besiegt, doch etwas sagt mir, dass es noch nicht zu Ende ist, dass unsere Idee, unser Wesen überleben wird. Denn die Sieger, die neuen Herrscher werden mich bald brauchen. Solange die Menschen aus derselben Scheiße gemacht sind. Ich zähle auf euch.

CARLO CASTELLANETA, Notti e nebbie

Inhalt

Teil eins: Die Morde

Teil zwei: Die Ermittlungen

Teil drei: Die Mörder

Danksagung

Teil einsDie Morde

„Il Resto del Carlino“, Freitag, 1. Dezember 1944, XXIII, Italien, Reich und Kolonien, 50 Centesimi.

DER GEGNER VERAUSGABT SICH IM KAMPF GEGEN DIE UNERSCHÜTTERLICHE VERTEIDIGUNG DER WEHRMACHT – TÖDLICHE DEUTSCHE WAFFEN STEHEN FÜR DEN SEEKRIEG BEREIT – BATAILLONE VON KRIEGSVERSEHRTEN UND FREIWILLIGEN ZUR FLUGABWEHR UND DER ABWEHR VON FALLSCHIRMJÄGERN. Kriegsversehrte und Invalide treffen nach wie vor im Norden Italiens ein, um den Bataillonen beizutreten, auf deren Fahnen das Motto „Ehre und Opfer“ steht.

Lokales aus Bologna: MATRATZEN UND WEISSWÄSCHE GESTOHLEN. Matratzen und Weißwäsche im Wert von zwanzigtausend Lire wurden aus der Wohnung des geschädigten dreiundfünfzigjährigen Dario Guizzardi, Sohn des Andrea, gestohlen. VERDUNKELUNG: Beginn um 17.10, Ende um 7 Uhr.

ALLES GENAUSO WIE IN ITALIEN. Lesen Sie die Briefe der italienischen Arbeiter, die in Deutschland Dienst leisten. Im Großen und Ganzen werden euch eure Kameraden erzählen, dass sie sich, wo auch immer sie zum Einsatz kommen, nach wie vor wie in Italien fühlen. DAS SIND DIE TATSACHEN, DIE ENTSCHEIDUNG LIEGT BEI IHNEN.

Der Deutsche riss die Tür auf und steckte den Kopf ins Wageninnere, wobei er achtgab, mit dem Helm nicht gegen den Dachholm zu stoßen. Den Handschuh, den er ausgezogen hatte, trug er wie ein Hund im Mund, denn mit der anderen Hand hielt er den Griff der Maschinenpistole. Der Zeigefinger im dicken Wollhandschuh lag auf dem Bügel des Abzugs. Er nahm die bereitgehaltenen Papiere, die Franchina ihm reichte, und blickte die beiden lange reglos an: Der junge Mann am Steuer hatte noch Pickel im Gesicht und Brillantine in den gewellten Haaren; De Luca daneben, im Sitz des Fiat 1100 vergraben, trug einen hellen Trenchcoat, der viel zu leicht für den bereits kalten Wintertag war.

Franchina deutete ein Lächeln an, doch der Deutsche erwiderte es nicht. Er reckte den Hals, um nach hinten unter den leeren Sitz zu spähen, das halbmondförmige Abzeichen der Feldgendarmerie baumelte auf dem groben Stoff seines Mantels, wie ein Anhänger an einer Kette. Dann riss er die Tür noch weiter auf, während er sich aufrichtete, nicht, weil er, ein großer, kräftiger Bursche, nicht hineinpasste, sondern um ihnen zu verstehen zu geben, dass sie sie offen lassen sollten, und ging weg.

Vicebrigadiere Aurelio Franchina blickte ihm nach, während er zu einem nicht minder kräftigen Kameraden ging, der auf dem Fahrgestell eines Beiwagens hockte, mit den Handgelenken auf den Enden der Maschinenpistole, eine Zigarette zwischen den behandschuhten Fingern.

– Verdammt, diese Deutschen, Comandante!, sagte Franchina, – was für Mordskerle! – Und er gab einen kurzen bewundernden Seufzer von sich, der einen kleinen Hauch vor seinem Mund erzeugte.

De Luca schaute in die andere Richtung. Zwei Milizsoldaten der Schwarzen Brigaden hockten auf einem Haufen Schutt neben einem der zwei kleinen Bogen der Porta Saragozza, direkt unter dem Schild, das den Eingang zur Sperrzone in Bologna bezeichnete, und einem kleineren, das bei der letzten Bombardierung von einem Splitter halb zerfetzt worden war und auf dem verboten stand. Auch sie rauchten in aller Ruhe, mit den Maschinenpistolen quer über den Knien.

De Luca betätigte die Kurbel, um das Fenster zu öffnen, und klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tür, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Mit einem Kopfnicken zeigte er auf eine Frau, die mit den Papieren in der Hand und einer Tasche unter dem Arm vor ihnen stand und mit den Füßen auf einen schmutzigen Schneehaufen stampfte. Es war noch früh am Morgen, die Ausgangssperre war gerade vorbei und außer ihr war niemand da.

Die Milizsoldaten sahen ihn an, und der mit dem Spitzbart im Stil Italo Balbos gebot dem anderen Einhalt – der, mit einem bösen Blick auf De Luca, gerade aufspringen wollte –, machte die Zigarette aus, indem er sie vorsichtig an einem Ziegel ausdrückte, steckte sie in die Jackentasche, stand auf und kontrollierte die Papiere der Frau. Er warf bloß einen zerstreuten Blick darauf, er forderte sie nicht einmal auf, die Einkaufstasche zu öffnen, auf der sich seitlich ein weißer Mehlstreifen befand, geschmuggeltes Mehl, das sie sicher auf dem Schwarzmarkt bei einer Mühle außerhalb der Stadt gekauft hatte. Das konnte De Luca sogar von hier, mitten auf der Straße, sehen.

Auch der Deutsche, der am Beiwagen lehnte, hatte den Kopf gehoben, als er das Klopfen an der Tür hörte. Offenbar hatte De Lucas Geste ihn überzeugt, denn er gab seinem Kollegen die Papiere zurück, obwohl der noch immer Franchinas Ausweis kontrollierte. Der murmelte noch einmal, verdammt, die Deutschen, was für Mordskerle.

– Pass auf, Franchí, sagte De Luca, – ich habe in Rom gelebt und kenne den Ausdruck, doch wenn sie hier in Bologna hören, dass du die Deutschen als Mordskerle bezeichnest, verstehen sie dich vielleicht falsch.

Franchina wurde bleich.

– Um Gottes willen, Comandante, ich wollte doch nur … Sie wissen doch, was ich sagen wollte, oder? Es war als Kompliment gemeint, ich schwöre!

Er stotterte, und als der Soldat aufs Neue seinen Kopf ins Wageninnere steckte, schluckte er hart. Er nahm die Papiere und reichte sie eilig De Luca, damit er die Rechte frei hatte, um sie zum Gruß auszustrecken, doch der reagierte nicht.

– Sie haben mich doch hoffentlich nicht gehört?, flüsterte er und legte in aller Eile einen Gang ein, sodass das Getriebe knirschte. De Luca hielt sich am Griff fest, während das Auto über die Straßenbahnschienen rumpelte.

– Langsam, Franchí … war nur ein Scherz. Wo genau fahren wir hin?

– In die Via … wie heißt sie doch schnell … Senzanome. Das ist kein Witz, Comandante, sie heißt wirklich so, Namenlos.

– Ich weiß, sie ist hier in der Nähe. Schau, da ist sie schon.

Im Arkadengang befanden sich nur drei Personen, doch er war so eng, der engste in ganz Bologna, dass die drei wie ein Menschenauflauf wirkten.

Einer war Kommissar der Kriminalpolizei, De Luca kannte ihn aus der Zeit, als er selbst noch bei der Polizei gewesen war, Doktor Soundso, er erinnerte sich nicht. Auch der Zweite war Polizist, De Luca kannte auch ihn, Maresciallo Soundso, er trat aus dem Arkadengang, und als er das Auto kommen sah, legte er die Muskete an.

Der Dritte war tot, er saß auf dem Boden, lehnte mit dem Rücken an einer Säule und seine Füße berührten die Säule gegenüber, mit angezogenen Knien, so eng war der Arkadengang.

– Nur mit der Ruhe, sagte der Kommissar zum Maresciallo, – das ist die Staatspolizei. Du bist De Luca, nicht wahr? Warum bist du hier? Ist das euer Fall? Wir gehen gleich.

– Wir haben euch beim Vorbeifahren zufällig gesehen, sagte De Luca. Ihm fiel ein, dass der Kommissar Santi hieß, er war klein und dick, steckte in einem grauen Mantel, in dem er noch dicker aussah, und hatte eine Stupsnase wie ein Ferkel. War aber tüchtig.

De Luca ging um die Säule herum, an der der Tote lehnte, und betrat mit dem Rücken zu Santi den Arkadengang. Der wich ein paar Schritte zurück, um ihm Platz zu machen.

– Gestatten?, fragte er. – Polizistenneugier, und dabei dachte er: Dabei bin ich gar kein Polizist mehr.

Santi zuckte mit den Schultern. – Natürlich. Ich habe ihn nicht berührt, wir warten auf den Gerichtsmediziner. Wir sind auch gerade gekommen. Man hat uns schon gestern Nacht gerufen, aber wir haben gewartet, bis es hell wurde, du weißt ja, im Dunkeln, bei den vielen Deutschen und den anderen, man kann nie wissen. Ich meine nicht die deutschen Kameraden, um Gottes willen, auch wenn immer wieder etwas passiert, ich meine vor allem die Partisanen, die Gesetzlosen der antinationalen Banden, du weißt ja, wie es ist, oder? Nicht, dass wir Angst hätten, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, oder?

Er sprach zunehmend hektisch und schnell, doch De Luca hörte ihm gar nicht zu. Er beugte sich über den Toten, kniete sich hin, noch immer mit dem Rücken zum Kommissar. Er wartete, bis Franchina, der mitten auf der Straße neben dem Auto, neben dem Maresciallo, stand und rauchte, Santi rief, der froh war, weggehen zu können. Da streckte De Luca eine Hand aus und knöpfte den Mantel des Toten auf, einen schönen Kamelhaarmantel, der seinen Besitzer zu Lebzeiten gewiss gewärmt hatte. Dann zog er ein gefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seines Trenchcoats und steckte es in die Manteltasche des Toten. Schnell und fast mühelos, denn wegen der Kälte hatte die Totenstarre noch kaum eingesetzt.

Er stand auf, wobei seine vom Rheuma steifen Kniegelenke knackten, rief Santi!, ging ein paar Schritte weg und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Mauer.

– Vielleicht kannst du seine Papiere sicherstellen, schlug er vor. – Nur damit wir wissen, wer es ist.

Der Kommissar machte dem Maresciallo ein Zeichen, der sich das Gewehr umhängte und sich mit gespreizten Beinen über den Toten stellte. Er war zu groß, um unter dem Arkadenbogen aufrecht stehen zu können, bückte sich und griff mit den Fingerspitzen langsam in die Manteltaschen. Er zog eine Geldbörse und das gefaltete Blatt heraus und reichte beides dem Kommissar.

– Tagliaferri, Francesco, Sohn des Giuseppe. Er ist … beziehungsweise war Ingenieur. Er wohnte hier in der Gegend. – Der Kommissar öffnete die Geldbörse, die bis auf einen Ausweis und das Porträtfoto einer lächelnden Frau mit krausen Haaren und rot geschminkten Lippen leer war. Eine schöne Frau.

– Kein Geld, sagte er, – doch eindeutig ein eleganter Herr. Womöglich ein Raubüberfall. Er hat sich gewehrt und sie haben ihn erschossen.

Er hielt das Blatt Papier zerstreut in den Händen, als hätte er es vergessen, und vielleicht hatte er es tatsächlich vergessen, denn er nickte überrascht, als De Luca mit dem Kinn darauf zeigte. Der Kommissar öffnete es und runzelte die Stirn, mit zusammengepressten und geschürzten Lippen, sodass er tatsächlich wie ein Ferkel aussah.

– So verrecken die Faschisten, las er, dann drehte er es um, um es De Luca lesen zu lassen, so verrecken die Faschisten, mit schiefer, zarter Schrift, eher schraffiert als geschrieben. Santi faltete es, legte es wieder in die Börse und reichte sie De Luca.

– Ein Fall für euch, sagte er, – die Staatspolizei. Wir gehen euch nicht länger auf die Nerven. War mir eine Freude, dich gesehen zu haben.

– Kommt gar nicht infrage, ihr wart als Erste am Tatort, es ist euer Fall. Ein Mord, dafür ist die Kriminalpolizei zuständig.

– Offensichtlich haben die Partisanen ihn erschossen. Ich meine, ich wollte sagen, die Feiglinge der antinationalen Banden.

De Luca seufzte. Santi war tüchtig, und dem schnellen Blick nach zu schließen, den er auf den Mantel geworfen hatte, wusste er, dass De Luca vergessen hatte, ihn wieder zuzuknöpfen. Doch er hatte nichts gesagt. Warum bestand er jetzt darauf, dass er erschossen worden war?

Der Mann im Arkadengang war ganz eindeutig erschlagen worden. Sein Kopf war nur noch blutiger Brei, die weißen Haare darunter waren kaum zu sehen, das Gesicht war voller blauer Flecken, so schwarz wie das eines Afrikaners, und der Mantel wies kein einziges Loch auf, er war zwar schmutzig, aber unversehrt. Man hatte ihn nicht erschossen, sondern erschlagen.

Er wusste, dass es so war. Es war jemand von der Guardia Nazionale Repubblicana oder den Schwarzen Brigaden oder sonst einer politischen Organisation gewesen, man hatte ihn in eine Kaserne gebracht, massakriert und dann hier abgelegt. Deshalb hatte Rassetto, der Leiter der autonomen Polizeigruppe, der De Luca angehörte, ihn geschickt, denn er wusste am besten, wie man so etwas vertuschte, vor einigen Wochen hatten die Schwarzen Brigaden auf ihren Toten Bekennerschreiben angebracht, die mit Bleistiften aus dem Büro auf beigen Karteikärtchen wie aus der Verbrecherkartei beschriftet waren. Tun wir unseren Freunden einen Gefallen, De Luca, dann haben wir was gut.

Gut, er wusste mit Sicherheit, dass er erschlagen worden war, doch auch Santi war es wohl nicht verborgen geblieben. Warum bestand er also darauf, dass er erschossen worden war?

Er fragte ihn: – Santi, warum sagst du immerzu, dass sie ihn erschossen haben?

– Weil die Person, die uns angerufen hat, gesagt hat, sie hätte Schüsse gehört.

– Wahrscheinlich hat eine Patrouille jemandem hinterhergeschossen, vielleicht wegen der Ausgangssperre.

Santi zuckte mit den Schultern. – Mag sein. Obwohl …

– Obwohl …

– Die Person hat von zwei kurzen Pistolenschüssen gesprochen. Dann ein Schrei und kurz darauf noch ein Schuss, wie ein Gnadenschuss.

De Luca nickte nachdenklich. Seine Arbeit war erledigt, er konnte wieder mit Franchina ins Auto steigen und in sein Büro fahren, zu seinem elektrischen Ofen und seinem Schreibtisch, auf den er seine Füße eines Vizekommandanten der Autonomen Gruppe der Staatspolizei legen konnte, er konnte so tun, als würde er arbeiten, und den Augenblick, in dem Rassetto ihn wegen einer neuen Aufgabe rufen würde, so lange wie nur möglich hinausschieben. Für gewöhnlich bestand die Aufgabe darin, jemanden aufzustöbern, den sonst niemand fand.

Doch er rührte sich nicht von der Stelle.

Er dachte nach, und Santis Blick nach zu schließen dachte dieser dasselbe.

– Das bedeutet, dass es noch einen Toten gibt.

Er fuhr nicht zurück ins Büro.

Santi war in ein Café gegangen, um im Kommissariat anzurufen und Verstärkung anzufordern, De Luca war ihm gefolgt, dann war er gemeinsam mit Franchina geblieben und hatte gefrühstückt. Nur Kaffeesurrogat aus Gerste und Zichorie und einen schwarzen Krapfen, der mehr aus Kleie als aus Mehl bestand, doch dann hatte der Vicebrigadiere den Ausweis gezückt, und sofort hatten echter Kaffee und Mehlspeisen auf dem Tisch gestanden.

– Bravo, sagte De Luca und Franchina grinste.

– Danke.

– Das war sarkastisch gemeint. Jetzt wissen alle, dass wir Polizisten sind. Tja, vielleicht hat man das auch davor gewusst, doch nun ist es offiziell.

Ein Paar lehnte an der Theke und trank eine schwarze Brühe, er hatte eine Ledertasche unter dem Arm und trug einen ehemals eleganten, an den Ellbogen abgewetzten Mantel, sie trug ein gewendetes Kleid mit einem ehemals schönen Pelzkragen, beide waren alt. Er zog eine Tüte aus Zeitungspapier aus der Tasche und sie nahm sie mit aneinandergelegten Händen entgegen, wie die Hostie bei der Kommunion. Sie sagte, Eier um neun Lire. Wenn die Alliierten nicht bald kommen, sterben wir vor Hunger! Dann hatte sie Franchinas Ausweis gesehen und war verstummt, ihr Gesicht wurde kalkweiß, weißer als ihre zu einem Knoten zusammengesteckten Haare. Deshalb hatte der Mann laut gesagt, die deutschen Alliierten mit ihren Geheimwaffen!, und beide waren schnell gegangen, ohne den Zichorienkaffee auszutrinken.

Aber nicht das beunruhigte De Luca. Jetzt, wo die Front aufgrund des Winters feststeckte, waren die Aktionen der Partisanen spärlicher geworden, doch davor, als es den Anschein gehabt hatte, dass die Alliierten die Linien durchbrechen und in Bologna einmarschieren würden, waren Anschläge auf die Guardia Nazionale Repubblicana, die Schwarzen Brigaden und die Deutschen an der Tagesordnung gewesen. Auch jetzt wären zwei Polizisten der Staatspolizei allein in einem Kaffeehaus für die Partisanen der „Temporale“-Gruppe ein gefundenes Fressen gewesen, auch wenn das Warten sie schon zermürbt hätte.

Als De Luca Franchina darauf hinwies, zuckte er mit den Schultern, zückte die Pistole und legte sie auf den Tisch.

– Sollen sie doch kommen! Auch ich habe eine Geheimwaffe!

De Luca schüttelte den Kopf, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bis er, auf zwei Stuhlbeinen schaukelnd, mit der Lehne die Wand berührte. Und schloss seufzend die Augen, genoss den echten, bitteren und heißen Kaffee, der auf seinen Lippen brannte.

Er wollte nicht ins Büro zurück.

Er wollte die Leiche sehen.

Er hatte herausgefunden, dass es noch ein zweites Verbrechen gab, er hatte es dank seiner Intuition vor allen anderen herausgefunden, auch wenn es nicht schwierig gewesen war, und er hatte dabei das leichte Fieber verspürt, das er schon so lange vermisste – seitdem er, der brillanteste Detektiv der italienischen Polizei, wie man ihn nannte, der die schwierigsten Mordfälle löste, sich darauf beschränkte, die Fehler anderer Mörder zu vertuschen.

Er wollte nicht daran denken. Also trank er rasch den Kaffee aus, verbrannte sich dabei die Zunge, zerbröselte langsam ein Zuckerstück zwischen den Fingern, während er wieder über den Toten nachdachte.

Ja, vielleicht war das wieder einer, dem man ein Kärtchen in den Mantel stecken musste, oder ein Soldat, der von Partisanen überrascht worden war, vielleicht war es etwas Politisches, etwas, das mit dem Krieg zu tun hatte. Doch von Anfang an, seitdem Santi von drei Schüssen gesprochen hatte, hatte er eine andere Vermutung, aufgrund des sechsten Sinns eines Polizisten hatte er einen anderen grundlosen, irrationalen Verdacht. Er hatte nie an das geglaubt, was in Kriminalromanen und im Chronikteil der Zeitungen, solange noch über Verbrechen berichtet wurde, als Gespür bezeichnet wurde, doch in diesem Augenblick, als ein Fieber in ihm brannte, das ihn wach machte wie der Kaffee auf nüchternen Magen und ihn von unangenehmeren Gedanken ablenkte, gefiel ihm der Gedanke, dass es doch so etwas wie Gespür gab.

Er wollte den Toten finden. Er wollte seine Lage, den Fundort, die Spuren auf der Leiche untersuchen, er wollte herausfinden, was passiert war. Er wollte Fragen stellen, ermitteln, nachdenken, sich konzentrieren, sich vom Fieber überwältigen lassen, vom Schüttelfrost, und den Mörder finden. Wer, wie und warum.

Er hatte den Zucker fertig zerbröselt und wollte schon einen zweiten Kaffee bestellen, als ein Polizist kam und sie rief.

Er keuchte, die Augen im totenbleichen Gesicht waren weit aufgerissen, mit einer Hand stützte er sich auf eine Sessellehne, die andere lag auf seiner Brust. Er brachte kein Wort hervor.

Sottotenente Attilio Stanzani hatte sehr genaue Angaben gemacht. Er war ein Veteran des Albanienkriegs, eine Granate hatte ihm ein vernarbtes Gesicht beschert und einen Arm abgerissen, und da er nicht schlafen konnte, verbrachte er die Nächte am Wohnzimmerfenster sitzend, mit einer Decke auf den Knien, und genoss den Luftzug, der durch die halb offenen Fenster drang und seine verbrannte Haut streichelte. Er lächelte, sogar als Franchina ihn darauf hinwies, dass die Lampen in seinem Zimmer nicht abgedunkelt waren. Und wenn das Flugzeug, wie nannten sie es hier doch gleich? – Pippo? –, das auf Lichter schoss, nachts an seinem offenen Fenster vorbeiflog?

Da drückte De Luca Franchinas Arm und der errötete, denn wie man an den leeren Augen des Sottotenente Attilio Stanzani sofort erkannte, war er blind.

Aber er hörte sehr gut. Und machte sehr genaue Angaben.

Drei Schüsse in der Stille der Nacht. Aus einer kleinkalibrigen Pistole, keiner Militärpistole. Kaliber 22, die ein ganz bestimmtes Geräusch verursachte, wie das Knacken eines brechenden Zweigs, er war sich ganz sicher, denn er war Ausbilder beim Heer gewesen.

Zwei Schüsse schnell hintereinander, dann der Schrei eines Mannes. Ein Angst-, aber auch Schmerzensschrei, heiser und kläglich, er kannte auch die Art von Schrei.

Nach ein paar Sekunden der dritte Schuss.

Stille? Nein. Keine Schreie mehr, aber kurz darauf Schritte im Laufschritt. Die Schritte einer Frau, das Klappern von Absätzen auf dem Pflaster des Vicolo della Neve, doch unterhalb seines Fensters, kurz davor, brachen sie plötzlich ab. Dann tatsächlich Stille.

Deshalb hatte er seine Frau aufgeweckt, und da sie ein Telefon hatten – tatsächlich lebten sie in einer schönen, beinahe herrschaftlichen Wohnung –, hatte er sie gebeten, im Präsidium anzurufen. Um genau 22.35 Uhr, er hatte sich den Zeitpunkt notiert. Warum hatten sie so lange gebraucht?

Sottotenente Stanzani hatte nach links, in die Richtung gezeigt, aus der die Schüsse und die Schritte gekommen waren, in Richtung Via Nosadella, doch dort hatten sie den Toten nicht gefunden.

– Welche Namen gibt man den Straßen hier? Wissen Sie, wie diese da früher hieß? Via Fregatette, Via Busengrapscher, sie war so eng, wenn eine Frau mit etwas Holz vor der Hütte vorbeiging, rieb man sich fast automatisch an ihr.

Franchina lachte und hielt sich die Hände mit gespreizten Fingern vor die Brust, doch De Luca achtete gar nicht auf ihn. Das Zentrum Bolognas war voller Evakuierter vom Land, die Zuflucht suchten und sich in jeder freien Bruchbude einnisteten, doch das Lager im oberen Teil der Via del Fossato stand leer, seitdem eine Bombe das darunter verlaufende Rohr beschädigt und der Keller sich mit schlammigem Brackwasser gefüllt hatte. Irgendwann würde man das Lager leer räumen und den Fußboden renovieren, der mitten im Zimmer eingebrochen war, doch fürs Erste beließ man es so, wie es war.

Vor der Tür stand eine Wache, die sich gerade erbrochen hatte, und etwas weiter weg unter den Arkaden saß ein Kind auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen, und schluchzte heftig. Auch Franchina hörte zu grinsen auf, sobald er drinnen war, während seine Hände noch immer den riesigen imaginären Busen betatschten.

– Wir haben Kinder schreien gehört, sagte Santi, – sie kommen her, um Ziegel aus dem Wasser zu fischen, und haben ihn gefunden. Bis auf den einen, der vor Schreck wie gelähmt ist, sind alle davongelaufen.

Das Kellerlokal war finster wie eine Grotte, nur ein paar schwache Sonnenstrahlen fielen durch ein Loch im Dach. Der Boden war zur Hälfte in den schwarzen Tümpel abgesunken, wie eine steinerne Rampe, und darauf lag der Tote.

Nackt, auf dem Rücken, klatschnass, Arme und Beine wie zum Kreuz geformt. Die Polizisten, die ihn aus dem Wasser gefischt hatten, in dem er getrieben war, hatten ihn so liegen lassen, einer von ihnen hatte sich eben auf der Straße erbrochen.

Der Tote hatte keine Nase mehr, keine Ohren und keine Lippen, und in dem dunkelblauen Loch des Mundes war auch keine Zunge mehr, sogar die Augenhöhlen waren leer.

– Das ist nicht unser Toter, sagte De Luca. Auch er hätte Ekel angesichts dieser Mumie empfunden, die in der zerbombten Ruine stumm schrie, doch er hatte sofort die bläuliche Färbung der Haut bemerkt und konzentrierte sich darauf. Santi blieb einen Schritt hinter ihm stehen, während er sich über den Körper beugte, mit vor Ekel geballten Fäusten, doch ebenfalls interessiert. Er war tüchtig.

– Er liegt wohl schon seit drei oder vier Tagen im Wasser, sagte er, – die Kälte konserviert zwar, aber …

– Vielleicht sogar seit einer Woche, sagte De Luca. Er zeigte mit dem Finger auf die leeren Augenhöhlen, die ihn anstarrten, und näherte sich bis auf ein paar Millimeter dem Gesicht, was Santi ein erschrockenes Seufzen entlockte. Rund um die Augenhöhlen waren winzige Male, Kratzer offenbar.

– Bisse, sagte De Luca. – Die Ratten haben ihn angefressen.

Tatsächlich schwammen zahlreiche Ratten im Wasser, wie Wasserschlangen, und einige saßen nicht weit entfernt auf der Rampe, aufrecht auf den Hinterpfoten, mit zitternden Schnauzen, doch furchtlos, und beschnupperten die Eindringlinge. De Luca stand auf, diesmal knacksten seine Knie nicht.

– Drehen wir ihn um, sagte er, dann hob er die Hände. – Entschuldige, sagte er zu Santi, – das ist dein Fall. Ich habe vergessen, dass ich kein Polizist mehr bin.

Er machte sogar einen Schritt zurück, doch wahrscheinlich dachte Santi dasselbe, denn abgesehen von den Rattenbissen wies der nasse Körper der Mumie keine Verletzungen auf, zumindest sah man in diesem Licht und unter diesen Umständen keine.

– Drehen wir ihn um, sagte Santi und machte dem Maresciallo mit dem umgehängten Karabiner ein Zeichen. Der blickte sich um, doch nur noch sie und ein deutscher Soldat waren im Keller, der an die Tür getreten war und neugierig auf der Schwelle verharrte, sodass fast überhaupt kein Licht hereinfiel. Der Maresciallo seufzte, griff mit den Händen unter die Achseln des Toten und drehte ihn mit einer schnellen Bewegung um, wie einen großen Fisch auf dem Tisch eines Fischladens, was ein schmatzendes Geräusch verursachte, das allen, auch De Luca, Brechreiz verursachte.

Dem Deutschen jedoch nicht. Er war weiter vorgetreten, um besser sehen zu können, und plötzlich beleuchtete das fahle Sonnenlicht, das von der Via Fregatette hereindrang, den unversehrten Rücken der Mumie, ihre glänzenden Hinterbacken und auch die rechte Hüfte, die man zuerst nicht hatte sehen können. Der Arm war wie zum Gruß ausgestreckt, und in der Achselhöhle, unter dem Bizeps, war ein Fleck. Keine Verletzung, sondern ein schwärzlicher, wie verblichener Schatten. Eine alte Tätowierung.

De Luca wollte schon neugierig hinzutreten, doch der Deutsche schrie plötzlich und stieß ihn mit der Schulter beiseite, damit er sich dem Toten nähern konnte. Er strich mit den Fingern über die Tätowierung, wie um sie wegzuwischen, dann riss er das Halfter auf, zog die Pistole und begann wieder zu schreien.

De Luca, der in der Kommandantur ein und aus ging, verstand ein wenig Deutsch, deshalb hob er die Hände, zuckte mit den Schultern, wich zurück und zog Santi und den Maresciallo hinaus.

– Gehen wir, sagte er. – Gleich kommen die Deutschen und werden fuchsteufelswild sein.

Er hatte gerade noch rechtzeitig die kleine, runde Tätowierung gesehen, in der Form eines O, doch er wusste, dass es eine Null war. Die Blutgruppe, die sich die SS unter der Achsel tätowieren ließ.

Die schreiende Mumie war ein Deutscher.

– Auch das ist nicht unser Toter.

– Ich habe Köpfe ohne Leiche gesucht und Leichen ohne Kopf, doch eine ganze Leiche habe ich noch nie verloren, sagte De Luca, und Rassetto grinste und bleckte die Zähne seines Wolfsgebisses.

– Als du noch Polizist warst, sagte er.

– Als ich noch Polizist war.

– Ein armseliger Polizist, der kleine Diebe, Schwarzhändler und Huren jagte. Jetzt hingegen verteidigst du das Vaterland vor Verrätern, Gesetzlosen und feindlichen Spionen, die seine unerschütterliche Kraft zum Gegenangriff untergraben möchten. Das ist echte Polizeiarbeit. Bist du damit zufrieden?

– Ich habe nicht nur kleine Diebe gejagt. Ich habe Mörder gejagt. Früher.

Rassetto zuckte mit den Schultern. Er saß auf der Kante von De Lucas Schreibtisch, ließ ein Bein baumeln und klopfte regelmäßig mit dem Absatz des Stiefels gegen das Holz. Er hatte die Anspielung auf Mörder verstanden, denn der schmale Schnurrbart über der Oberlippe verzog sich zu einem Strich. Wenn er so angespannt war wie jetzt, wurde sein Grinsen – wie De Luca wusste – bösartig. Aber er hatte keine Angst. Zumindest nicht mehr.

– Hast du der bewussten Person ein Kärtchen zugesteckt?

De Luca nickte und senkte den Blick, um irgendwohin zu schauen. Rassetto revanchierte sich für die Anspielung, denn er grinste noch bösartiger.

– Hast du dafür gesorgt, dass der Polizist es findet?

– Ja, stieß De Luca zwischen den Zähnen hervor.

– Bravo.

Das klang wie ein Lob für einen Hund, und als Rassetto den Arm hob, dachte De Luca, er wolle ihm wie einem Hund den Kopf tätscheln, und zog ihn instinktiv ein. Doch Rassetto wollte nur seinen Gürtel richten. Er stand auf und strich sich die glänzende, tiefschwarze Uniform glatt, deren Jacke sogar im Büro zugeknöpft war, sogar im Bett, wie die anderen der Gruppe lachend sagten, allerdings nicht in seiner Gegenwart.

De Luca lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch, er wusste nämlich, dass Rassetto das nicht mochte, und wollte sich, wenn auch auf kindische Weise, für das Gefühl revanchieren, wie ein Hund behandelt worden zu sein.

– Wer hat den Ingenieur umgebracht?, fragte er.

– Freunde.

– Und warum?

Rassetto beugte sich über den elektrischen Ofen, der in einer Ecke des Büros stand, und hielt die Hände über die Heizspirale unter dem Rost. Das Zimmer war klein, der Ofen reichte völlig, um es zu wärmen.

– Wen kümmert das? Er stand auf der Liste, oder? Er war ein Verräter. Kommst du nicht mit zum Essen?

De Luca schüttelte den Kopf. Die anderen waren bereits in die Kantine hinuntergegangen. In dem Flügel der Technischen Universität, in dem Rassetto und seine Autonome Gruppe der Staatspolizei nunmehr untergebracht waren, herrschte unnatürliche Stille. Davor hatte sich ihr Büro in der Via Dante befunden, die Fenster dort waren von Efeu umrankt gewesen, vor De Lucas Fenster hatte ein Baum gestanden, am Ende der Allee hatte sich sogar ein schmiedeeisernes Tor befunden.

Eigentlich war es im neuen Büro genauso wie im alten, aus dem Keller hörte man Schreie und vor dem Tor standen bewaffnete Wachen, doch als sie in den Viale del Risorgimento Nr. 20, in dieses supermoderne Gebäude, das noch so weiß war, dass es im Sonnenlicht blendete, umgezogen waren, hatte De Luca den Kontrast umso stärker empfunden. Schreie aus dem Kellergewölbe und Soldaten der Guardia Nazionale Repubblicana unter den Arkaden, sie hatten das ganze Gebäude in Beschlag genommen, nachdem die Deutschen der Kommandantur abgezogen waren.

„Der Tempel der Moderne“, hatte Rassetto gesagt, und sein Schnurrbart war dabei so dünn wie ein Strich gewesen, „dank der freundlichen Genehmigung des Rektors erproben wir hier die modernsten Verhörtechniken.“

Jetzt herrschte Stille, beinahe. Keine Salven von Vilmas Schreibmaschine, Vilma schrieb so schnell, dass es ratterte wie eine Maschinengewehrsalve, keine Stimme Maresciallo Massarons, der von einem Büro ins andere brüllte, kein Lachen Franchinas, der sich aus irgendeinem Grund vor Lachen bog, kein Rassetto, der De Lucabrüllte, wobei das L wie im sardischen Dialekt wie ein Doppel-L klang, wie immer, wenn er wütend war. Kein Laut, keine Schreie aus dem Labor des Instituts für Elektrotechnik im Stockwerk darüber, in dem die Verhöre stattfanden.

Stille. Beinahe. Nur ein ersticktes Husten aus einer Zelle im Stockwerk darunter, das zwar gedämpft, aber intensiv, durch den Fußboden drang. Und beständig.

– Ich habe keinen Hunger, sagte De Luca.

– Ich schon, ich gehe jetzt hinunter. Bilde dir ja nichts ein, du hattest deinen Spaß als altmodischer Polizist, doch jetzt reicht es. Du bist bei der Staats-, nicht bei der Kriminalpolizei. Hast du den Notar gefunden?

– Ich arbeite daran. Ich habe einen Informanten.

– Nur Polizisten haben Informanten. Wir von der Staatspolizei sagen Spion. Einen glaubwürdigen?

– Ich denke schon. Mal sehen.

– Beeil dich. Der Notar ist das Bindeglied zwischen den Banditen in der Stadt und den Alliierten, und jetzt, wo die Front weniger als zwanzig Kilometer entfernt ist … – Seine Miene verfinsterte sich, das Lächeln gefror auf seinen Lippen, bis es völlig verschwand. Dann zuckte er mit den Schultern. – Aber ich pfeife darauf, denn wir werden siegen. Bring mir den Kommunisten. Und nimm die Füße vom Schreibtisch.

De Luca gehorchte, während Rassetto ging. Auf der Schwelle schüttelte er den Kopf, weil das unterdrückte Husten durch die offene Tür noch besser zu hören war. Massaron, dieses Arschloch, schlägt sie immer auf den Rücken, flüsterte er, doch er sagte es zu sich selbst und schüttelte dabei den Kopf.

Auf dem Schreibtisch lag eine Akte. Eigentlich lagen viele Akten da, doch diese lag mitten auf dem Schreibtisch, auf den anderen, und auf dem beigen Karton stand mit schwarzer Tinte Notar, geschrieben mit einer Feder mit stumpfer Spitze.

De Luca öffnete sie, blätterte die Seiten durch, die Vilma mit Maschine geschrieben und auf die er von Hand Notizen gemacht hatte, die er auswendig kannte. Dann stützte er sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch, legte das Kinn auf die Hände und schaute aus dem Fenster, auf die graue Betonwand gegenüber, die unbeweglich und unversehrt war und eine hypnotische Wirkung hatte. Einen Augenblick lang dachte er, er solle sich rasieren, denn seine Wangen kratzten, doch dann überkam ihn eine derart tiefe Müdigkeit, die keine Schläfrigkeit war, sondern ein Gefühl von Leere, nur dichter Nebel, weich wie Watte, der beinahe das kranke Husten verschluckte, das kranke, verfluchte Husten aus dem Stockwerk darunter.

Das Klingeln des Telefons auf dem Schreibtisch weckte ihn, sofern er überhaupt geschlafen hatte, er fuhr hoch und zog die Hände unter dem schmerzenden Kiefer hervor.

– De Luca, bist du’s?

Santis Stimme klang am Telefon anders, schriller. Tatsächlich wie das Quieken eines Ferkels. Eines Spanferkels.

– Ja, ich bin’s.

– Hör zu, du hast gesagt, ich soll dich anrufen, weil du wissen wolltest … nun … Ich glaube, diesmal haben wir sie gefunden.

Ja, dachte De Luca, ja.

Sie war es.

Zuerst hatte er es nicht für möglich gehalten. Als sie mit dem Fiat 1100 in die Via Ca’ Selvatica eingebogen waren, die, obwohl sie im Zentrum Bolognas lag, mit den vielen Kühen, den Heugarben mitten auf der Straße und den Bauern mit Heugabeln in der Hand den Eindruck erweckte, eine Straße mitten auf dem Land zu sein, hatte er es nicht für möglich gehalten.

Kein Wunder. Da Soldaten zumindest theoretisch die Sperrzone nicht betreten und die Alliierten sie zumindest theoretisch nicht bombardieren durften, hatte sie sich in ein riesiges Getto mit umgekehrten Vorzeichen verwandelt, voller alteingesessener Bewohner, Evakuierter und Flüchtlinge, fünfhunderttausend Menschen, hatte der Bürgermeister gesagt. Ein Haufen Leute.

Aber vor allem weil die Deutschen und auch die Faschisten zumindest theoretisch nicht hinein und deshalb keine Tiere und keine Lebensmittel beschlagnahmen durften, hatte sich das Zentrum Bolognas in einen Freiluftstall verwandelt. Achtzehntausend Tiere, hatte der Bürgermeister gesagt, grob geschätzt.

In der Via Ca’ Selvatica kam man sich vor wie auf einem Bauernhof. Karren auf der Straße, Hühnerkäfige an den Hauswänden, angebundene Kühe, Ziegenställe, sogar ein Traktor stand da. Der Hauseingang, wo man den Toten gefunden hatte, ganz hinten, Richtung Via Frassinago, sah aus wie eine Scheune, an einem Ring an der Wand waren sogar zwei Ochsen mit langen Hörnern befestigt.

Deshalb hatte er es nicht für möglich gehalten. Die Schüsse hätten doch alle Tiere aufgeweckt, abgesehen von den mit Stöcken bewaffneten Wachen, die es hier wohl auch gab. Die Menschen – mit Ausnahme von Sottotenente Stanzani – hatten sich zwar angewöhnt, sich zu Hause einzuschließen, wenn sie Schreie oder Schüsse hörten, und niemandem davon zu erzählen, die Tiere jedoch nicht, sogar die Hühner hätten gekreischt wie Adler.

– Stimmt, sagte Santi, – deshalb haben wir gestern nicht nachgesehen. Dann haben wir erfahren, dass diese Menagerie gestern Nacht noch gar nicht da war, sie sind erst heute Morgen eingezogen.

Das änderte alles. Doch erst, als er die Leiche auf den Stufen sah, verrenkt wie eine Spirale und mit einem Loch anstelle des Auges, stellte er fest, dass das der richtige Tote war.

Die beiden Seiten des Hauses am Ende der Straße befanden sich auf unterschiedlicher Höhe. Der Flur führte durch das Haus hindurch wie ein Tunnel und am Ende des Flurs befanden sich zwei schmale, lange Treppen. Deshalb hatte man die Leiche nicht gleich gesehen, der Mann war über die Schwelle gestürzt, und wenn nicht ein Huhn davongelaufen wäre, hätte man ihn ewig lang nicht gefunden, der Verwesungsgestank hätte sich mit dem von Kuhscheiße und Mist vermischt. Er lag mit dem Kopf nach unten und mit den Beinen oben, ein Bein lag verrenkt unter dem anderen, der Oberkörper war auf die Seite, der Kopf nach hinten gedreht. Anstelle des Auges klaffte ein blutiges Loch, wie eine kleine rote, in der Sonne verwelkte Blüte.

– Er wurde erschossen, sagte Santi überzeugt, doch De Luca hörte ihm nicht einmal zu. Er war so fasziniert von der endlich gefundenen Leiche, dass er ganz darauf vergaß, dass nicht er der Polizist war. Er beugte sich über sie und hob den Schoß des Mantels an, der ihren Hintern bedeckte, um in die Hosentasche zu greifen. Dort war tatsächlich die Geldbörse, und da waren auch die Papiere.

Franco Maria Brullo. Universitätsprofessor, medizinische Fakultät. Ausgeherlaubnis aufgrund spezieller Erfordernisse. Dem Foto nach zu schließen ein gut aussehender Mann.

Er trug einen schwarzen Mantel aus gekämmter Wolle, der lediglich auf der rechten Schulter einen glänzenden Streifen aufwies, und einen grauen, sehr eleganten Anzug, der Krawattenknopf war trotz allem intakt.

Ein zarter Geruch, süßlicher als der des Todes und stechender als der von Mist, brachte ihn auf eine Idee. Er streckte den Arm aus und berührte mit dem Handrücken die Wange des Toten, wie um ihn zu streicheln.

– Was zum Teufel …, flüsterte Santi.

– Er hat sich sogar am Abend rasiert. Er ist stark behaart und dunkelhaarig, man würde den Bart spüren. Er hat gewissermaßen in Kölnischwasser gebadet, man riecht es noch immer. Entweder war er sehr eitel oder er hatte ein Rendezvous. Oder beides. Haben Sie den Gerichtsmediziner und die Spurensicherung angerufen?

– Ich habe Guarrasi geschickt.

So hieß der Maresciallo mit der Muskete, aber De Luca hatte auch das vergessen. Der Arm des Professors lag ausgestreckt auf den Stufen, die Finger waren gekrümmt und auf der Innenseite befand sich eine schwärzliche Verbrennung. Vorsichtig strich De Luca die Finger der Reihe nach glatt, dabei betrachtete er die Verbrennung, die sich auf der Höhe des zweiten Fingerknochens quer über die Hand zog.

– Willst du wissen, wie es gelaufen ist?, – und er fügte hinzu: – Meiner Meinung nach.

– Warum nicht?

– Jemand hat auf ihn geschossen, während er auf den Stufen stand, hat ihn aber nicht getroffen, allenfalls ein Streifschuss.

Er zeigte auf den Streifen auf der Schulter des Mantels und dann auf die Straße jenseits des Flurs, wo wahrscheinlich die Projektile lagen, und Santi schaute auch in diese Richtung, als ob das wichtig wäre. – Dann ist er gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. – Er zeigte auf das Knie des Mannes im grauen Anzugstoff, das so verrenkt war, dass es allein beim Hinsehen wehtat. – Das war der Schrei, den der Zeuge gehört hat. Zwei Schüsse, die nicht getroffen haben … – er zeigte mit der offenen Hand auf den unversehrten Mantel und den Anzug, – ein Schmerzensschrei. Der Schütze ist mit der Pistole näher gekommen, der Professor hat sie am Lauf gepackt, sich die Finger am Mündungsfeuer verbrannt und einen Schuss ins Auge abbekommen.

– Meiner Meinung nach, fügte De Luca noch einmal hinzu, und Santi, der der Bewegung seiner Hände in alle Richtungen mit dem Blick gefolgt war, nickte.

Hinter ihnen hatte sich eine kleine Menge angesammelt, eine kleine, aus Passanten und Bauern bestehende Menge, die von Maresciallo Guarrasi am Ende des Flurs im Zaum gehalten wurde. De Luca drehte sich um und sah Franchina, der an der Wand lehnte und mit angewidertem Blick die Schuhsohle an einem Stein rieb. Etwas näher, diesseits der vom Maresciallo errichteten Abgrenzung, stand noch ein Mann. Dünn, nicht sehr groß, mit den Händen in den Taschen eines grauen Mantels. Neugierig reckte er den Hals, doch er blieb abseits, als ob er nicht stören wolle. De Lucas Blick blieb an seinen Schuhen hängen, die zweifarbig waren, allerdings in dezentem Schwarz und Grau gehalten, als ob sie ebenfalls nicht auffallen wollten.

– Wer ist das?, fragte De Luca und nickte in Richtung des Mannes.

– Ein Kollege, sagte Santi hastig, denn ihn interessierte etwas anderes. – Ich stimme deiner Rekonstruktion zu. Also?

– Was also?

– Wer war es?

De Luca lächelte. Santi war zweifellos tüchtig, doch manchmal so naiv, dass er einem leidtat.

– Woher soll ich das wissen? Vielleicht ein eifersüchtiger Ehemann. Frag die Wachen, die gestern Abend Dienst hatten. Wenn du Glück hast, haben sie jemanden festgenommen, der den Toten kannte, und der Fall ist gelöst.

– Wenn ich das Glück habe, dass sie mir antworten, sagte Santi.

– Oder such die Pistole. Das Projektil steckt noch da drin, – er zeigte auf den Kopf des Mannes; hinter dem zerstörten Auge, zwischen den schwarzen Locken, war keine Austrittswunde zu sehen. – Wenn es wirklich eine Kaliber 22 ist, wie der Sottotenente sagt, – und das Loch anstelle des Auges war so klein, dass das durchaus glaubhaft war, – jemand, der eine Beziehung zum Toten hatte, usw. usw., eine 22er besitzt, der Drall übereinstimmt und der Test mit dem Paraffinhandschuh positiv ist, dann ist der Fall auch gelöst.

Er stand auf, nachdem er sich an diesem Vormittag zum dritten Mal über eine Leiche gebeugt hatte. Er wäre gern geblieben, hätte auf den Gerichtsmediziner und den Techniker von der Spurensicherung gewartet, ihm gesagt, was er fotografieren solle, er hätte gern seine Leute losgeschickt, damit sie die richtigen Fragen stellten, während er nachdachte und das erregende Fieber ihn verzehrte, doch es verzehrte ihn vergebens, deshalb war es besser, wenn er jetzt ging.

Er ging an dem Kollegen mit den zweifarbigen Schuhen vorbei und erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken.

Ja, er hatte ihn tatsächlich schon auf dem Präsidium gesehen.

In einem anderen Leben.

Teil zweiDie Ermittlungen

„Il Resto del Carlino“, Montag, 4. Dezember 1944, XXIII, Italien, Reich und Kolonien, 50 Centesimi.

TAKTISCHER EINSATZ VON V-WAFFEN. DIE FRONT DER 9. US-ARMY IM TÖDLICHEN BESCHUSS DER FLUGBOMBEN. DAS BELGISCHE VOLK VERMISST DIE DEUTSCHEN BESATZER

Lokales aus Bologna: DIE BOLOGNESER UND DER KRIEG. Man hat Bologna als eine trostlose Stadt von Märtyrern beschrieben, wo das Leben unmöglich geworden sei. Doch wir erleben Bologna als lebendige Stadt: Fahrradfahrer, Arbeiter, die gerade aufgestanden sind und zur Arbeit gehen, Frauen, die ihre Einkäufe erledigen. NAHRUNGSMITTEL: Wir erinnern die Nachzügler, die Buttermarken für Oktober und die Ölmarken für November einzulösen, denn wenn sie nicht binnen 5 Tagen eingelöst werden, gibt es schwere Strafen. Wir erinnern die Ladenbesitzer, dass Zucker nur mit dem Kupon Nr. 11 des Ausweises bestellt werden kann, der in roter Farbe abgestempelt wurde.

AUF WELCHE BEHANDLUNG HABE ICH ANSPRUCH? Der Arbeiter, der freiwillig Dienst in Deutschland leistet, kann mittlerweile mit einer perfekten Krankenversicherung rechnen.

DAS SIND DIE TATSACHEN, DIE ENTSCHEIDUNG LIEGT BEI IHNEN.

Die Luft roch nach Schnee. Der eiskalte, feuchte Geruch prickelte in der Nase, der schneidende Wind schmerzte im Gesicht. De Luca hatte sich einen Schal ausgeborgt, er bereute, dass er sich nicht auch ein Paar Handschuhe hatte geben lassen, er hätte die Hände gern in die Manteltasche gesteckt, doch er musste die Zeitung halten.

Die Via Duca d’Aosta war eine breite, schmucklose Straße. Bologna besaß zwar die meisten Arkaden auf der ganzen Welt, doch wenn man eine brauchte, war keine da. Er hätte sich gern in eine Arkade verkrochen, sich hinter einer Säule versteckt, und nicht hinter diesem schmalen Kiosk, der so spitz zulief wie die Schnauze eines Fisches. Er lehnte daran und tat so, als würde er den „Carlino“ lesen.

Das Auto, in dem Massaron, Franchina und der Tenente saßen und in dem sich die automatischen Waffen befanden, parkte in einer nahen Gasse, denn ein Fiat 1100 voller Menschen, vor allem solcher Menschen, wäre sofort aufgefallen. Auch er hielt sich von dem Tor auf Nr. 18 fern, und vor allem von dem Fenster darüber im zweiten Stockwerk, von dem aus man die Straße in beiden Richtungen beobachten konnte. Ein anonymes Gebäude, ein rötlicher, von Bombensplittern zerschrammter Würfel, der einsam dastand, wie ein Zahn im zahnlosen Mund eines Greises. Gewiss hatte man es nicht zufällig ausgewählt, und man hatte es gut ausgewählt.

Ein Stück weiter vorne befand sich ein Lebensmittelgeschäft, vor dem Frauen Schlange standen, denn an diesem Vormittag wurde Butter ausgegeben, und De Luca hatte Vilma eingeschleust, die sogar in dem alten Mantel, mit Kopftuch und Korb zu gut gebaut war und zu ungeduldig wirkte und mit ihren rot lackierten Nägeln und den neuen Stöckelschuhen fehl am Platz war. Sie trug sogar Strümpfe.

Sie warteten darauf, dass jemand ans Tor klopfte. Dreimal kurz und dann noch zweimal, hatte der Spion gesagt, der im Auto bei den anderen saß, damit er nicht auffiel. Wahrscheinlich war es der Notar, der jeden zweiten Montag zu dieser Uhrzeit in das Gebäude ging, um etwas anzuordnen, um sich mit jemandem zu treffen, sie wussten es nicht, und sie wussten auch nicht, mit wem und wo genau er sich da drinnen traf, denn es war unmöglich, die Via Duca d’Aosta Nr. 18 unauffällig zu beschatten.

Aber es war der richtige Montag, sagte der Spion. Ein sicherer Tipp, schwor er. Und wertvoll. Er war fünftausend Lire wert, eine Befreiung von Zwangsarbeit und sechs Kilo Salz.

De Luca spähte hinter dem Kiosk hervor und warf Vilma einen Blick zu, die den Mantel fester zuzog, dann las er weiter Zeitung. Er hatte sie sich vor die Augen gehalten, fast ohne sie zu sehen, doch als sein Blick zufällig auf den Lokalteil von Bologna fiel, sah er mitten auf der Seite den halbfett gedruckten Titel.

Der Fall Brullo dank des Scharfsinns eines brillanten Polizisten gelöst.

De Luca runzelte die Stirn und faltete die Zeitung, weil ein eisiger Windstoß sie ihm ins Gesicht gedrückt hatte, dann faltete er sie noch einmal rund um den Titel. Er lächelte halbherzig, weil er den Namen Santi gelesen hatte, „der scharfsinnige Doktor Santi vom Kommissariat San Francesco“.

Er hatte seine Ratschläge beherzigt und Glück gehabt. In der Nacht des Verbrechens hatte eine Patrouille in der Nähe der Via Ca’ Selvatica einen Mann angehalten, der nach der Ausgangssperre unterwegs war. Er war Arzt und hatte die Erlaubnis, auch nachts zu dringenden Fällen auf Visite zu gehen, doch er hatte nicht sagen können, um welchen Patienten genau es sich handelte. Er kannte das Opfer, es war sein Kollege an der medizinischen Fakultät, und er hatte eine wunderschöne Frau, von der es hieß, sie habe ein Verhältnis mit Brullo gehabt. Er besaß einen auf ihn zugelassenen Revolver Kaliber 22, der verschwunden war.

Doktor Professor Lorenzo Attanasio, augenblicklich in San Giovanni in Monte inhaftiert, angeklagt des Mordes, wahrscheinlich sogar des vorsätzlichen Mordes. Fall gelöst.

Bravo, Santi, dachte De Luca und lächelte erneut beim Gedanken an das Gesicht des Kommissars, das vor Zufriedenheit noch mehr glänzen und noch runder sein, noch mehr wie das eines Ferkels aussehen würde. Aber auch er war zufrieden, denn er hatte erraten, wer der Mörder war, und zwar augenblicklich, wie der Artikel feststellte, in dem „die Schnelligkeit der Ermittlungen“ gelobt wurde, „womit bewiesen war, dass die faschistische Kriminalpolizei selbst in schwierigen Kriegszeiten ihrer Aufgabe nachkommt, die Bürger zu schützen und die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten“.

– De Luca! Seit einer halben Stunde winke ich dir, um mich bemerkbar zu machen. Hast du mich nicht gesehen?

Vilma hielt sich an seiner Schulter fest, weil sie beinahe gestürzt wäre. Sie kam mit ihren Stöckelschuhen und dem zu engen Rock dahergelaufen, noch dazu war sie in einer Pfütze vor dem Kiosk ausgerutscht; um sich festzuhalten, krallte sie ihm die roten Nägel in den Hals.

– Ist jemand gekommen?, fragte De Luca.

– Ein Mann, er hat ans Tor geklopft.

– Was für ein Mann?

– Keine Ahnung, ich hab nicht lange hingesehen.

– Ein feiner Herr, ein Arbeiter, ein Junge …

– Ich habe nicht lange hingesehen! Er trug eine Ledertasche. Er hat so geklopft, wie du gesagt hast.

Sie klopfte mit der Faust in die Luft, dreimal und dann noch zweimal, und De Luca nickte. Er trat hinter dem Kiosk hervor und ging schnell über die Straße bis zur ersten Quergasse.

Das Auto stand genau hinter der Ecke, und kaum hatte Franchina De Luca gesehen, der mit der zusammengerollten Zeitung wie mit einem Stock fuchtelte, ließ er den Motor an und fuhr an ihm vorbei, bog auf die Via Duca d’Aosta ein. Mit heulendem Motor fuhr er ein paar Meter und blieb vor der Nr. 18 stehen, mit einem Reifen auf dem Gehsteig. Franchina, Massaron und der Tenente sprangen aus dem Auto, die Waffen unter den Mantelschößen verborgen, doch vergebens, denn inzwischen hatte man sie bemerkt. Auf der anderen Seite der Straße lösten sich viele Frauen aus der Schlange und liefen davon, doch manche blieben auch, drückten sich noch mehr an die Wand und drängten sich vor dem Tor, denn Butter war wichtig.

Der Tenente hatte die Faust erhoben, um in der bewährten Art und Weise ans Tor zu klopfen, doch Massaron schob ihn mit der Schulter beiseite. Er reichte Franchina sein Maschinengewehr, legte ihm eine seiner Riesentatzen auf die Schulter, um sich abzustützen, und hob ein Bein, um dem Schloss einen heftigen Fußtritt zu versetzen.

Die Tür sprang mit einem Knall auf, der auf dem engen, finsteren Gang widerhallte. Massaron nahm das Maschinengewehr wieder an sich und lief mit Franchina hinein, der Tenente folgte als Letzter. Er war ein großer, dünner junger Mann, sie nannten ihn so, weil er sagte, er sei vor dem 8. September Tenente der Bersaglieri gewesen. Rassetto vertraute ihm, und da er offenbar tatsächlich eine Zeit lang als Soldat gedient hatte, hatte er ihm die militärischen Operationen der Gruppe anvertraut, obwohl er noch so jung, blond und blass war und eine neue Lederjacke trug wie ein Schönling, doch niemand achtete darauf.

Der Flur führte auf einen kleinen Hof mit einem schmiedeeisernen Tor, das Massaron bereits mit einem mächtigen Schulterstoß aufgebrochen hatte. Auf den gegenüberliegenden Seiten des Hofes gab es jeweils eine Tür, der Tenente schrie, teilen wir uns auf, doch De Luca, der gerade mit der Pistole in der Hand gelaufen kam, hatte ausgerechnet, welches Fenster zu welcher Tür passte, und zeigte auf die rechte Seite.

Zu spät, dachte er, und zu viel Durcheinander, wenn sie tatsächlich so klug waren, wie es schien, dann hatten sie sich gewiss einen Fluchtweg offengelassen und waren schon über alle Berge.

Doch sie waren nicht so klug.

Sie befanden sich im zweiten Stockwerk, der Verdacht bestätigte sich, als ein Mann die Treppe heruntergerannt kam und zwischen ihnen durchlief, er stampfte heftig und unkontrolliert auf, um so schnell wie möglich zu laufen. Offenbar war das der Mann, den Vilma gesehen hatte, denn er drückte eine Ledertasche fest an die Brust. Der Tenente hob die Maschinenpistole und feuerte eine Salve ab, das Mündungsfeuer trat aus dem mit einem perforierten Kühlmantel umgebenen Lauf.

– Nein!, schrie De Luca, oder zumindest glaubte er, geschrien zu haben, sein Mund stand weit offen, doch man hörte nichts, die Schüsse übertönten alles.

Am Rücken getroffen, krümmte sich der Mann, mit ausgebreiteten Armen flog er die Stufen hinunter, ohne sie auch nur mit den Füßen zu berühren, als hätten die Projektile ihm einen Stoß verpasst. Mit der Brust knallte er an die Wand gegenüber und rutschte zu Boden, schlaff wie ein Sack Lumpen, den man auf den Boden geworfen hatte.

De Luca legte die Hände auf die Knie und beugte sich nach vorn, noch immer mit weit geöffnetem Mund. Der Geruch des Kordits in der Nase verursachte ihm nahezu Brechreiz, und er zitterte, der Tenente hatte sich umgedreht und blindlings geschossen, nur aufgrund eines Wunders hatte er sich nicht in der Schusslinie befunden.

Doch allmählich hörte er nicht nur das Sausen in den Ohren, sondern auch etwas anderes. Es waren Schreie aus dem Stockwerk darüber, zum Glück keine Schüsse, deshalb warf er einen Blick auf den Mann am unteren Ende der Treppe, schüttelte den Kopf und lief ebenfalls nach oben.

Nein, mit Ausnahme der Tür gab es keinen Fluchtweg. Nur das Fenster an der Fassade und noch eines, das in den Innenhof blickte, aber es war zu hoch, um hinunterspringen zu können. Eine Dreizimmerwohnung, eine merkwürdige Wohnung, denn alle Zimmer waren Schlafzimmer. Nach einem Blick auf die Waschschüsseln, auf die Fläschchen auf dem Tisch und auch auf die beiden Männer, die vor dem Lauf der Maschinenpistolen, mit mühsam erhobenen Händen, auf dem Boden knieten – einer hatte einen Verband auf dem Kopf und der andere einen Arm in der Schlinge –, wusste De Luca, dass es sich um eine illegale Krankenstation handelte.

– Hol den Spion, sagte De Luca zu Franchina. Dann fing er den Blick des Tenente auf, dessen Augen vor Erregung leuchteten.

– Wenn du den Notar umgebracht hast, knurrte er, – reißt dir Rassetto den Arsch auf, da sind die Deutschen nichts dagegen.

Der Spion kannte den Notar. Er hatte ihn einmal im Dunkeln und in aller Eile getroffen, er konnte ihn nicht gut beschreiben, doch er sagte, wenn er ihn sähe, würde er ihn wiedererkennen.

Der Mann am Ende der Treppe war nicht der Notar, das war wohl ein Arzt, der sich um die Verletzten gekümmert hatte, aus der Tasche, die sich beim Sturz geöffnet hatte, war ein Stethoskop herausgekullert. Und auch die beiden, die auf dem Boden knieten, waren nicht der Notar, der Spion betrachtete sie durch die Schlitze im Jutesack, den er auf dem Kopf trug, dann schüttelte er den Kopf.

– Das war wohl ein Schuss ins Leere, sagte De Luca. – Vielleicht war der Notar einmal hier, doch jetzt ist das eine Krankenstation, in der verletzte Partisanen behandelt werden.

– Zwei Gefangene und ein Toter, sagte der Tenente, noch immer erregt. – Wenn nicht gar drei, denn die beiden nehmen wir in der Technischen Universität in die Mangel, für den Fall, dass sie was wissen, und dann können sie sich in der Kuranstalt der Partisanen erholen.

Einer der beiden, der mit dem Arm in der Schlinge, begann zu weinen, denn alle wussten, dass man so die Ecke an der Piazza del Nettuno nannte, wo man die erschossenen Partisanen an Fleischerhaken aufgehängt hatte. Der andere hingegen, der mit dem Verband auf dem Kopf, lächelte. Es war ein nervöses Lächeln, mit Tränen in den Augen, eher wütend als ängstlich.

– Keine Sorge, ich halte dir den Platz frei, bis du dran bist, sagte er, und da schnellte De Luca herum und machte einen Schritt zur Tür, denn der Tenente hatte schon wieder den Lauf der Maschinenpistole gehoben.

An der Schwelle packte ihn der Spion am Arm und zog sich den Sack vom Kopf.

– Das Salz gebt ihr mir aber trotzdem, oder?, fragte er und hielt De Luca gerade lang genug fest, dass er einen dumpfen Schlag hinter sich hören konnte, der ihm unerträglichen Brechreiz bescherte.