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Erwachsenwerden ist einer der krassesten, komischsten und verrücktesten Erfahrungen, die wir überleben müssen. Manchmal tut es gut, zu wissen, dass es jemanden gibt, der das alles schon durchgemacht hat und dir versichert: so schlimm ist es gar nicht, du schaffst das schon! Lisa Sophie ist wie die große Schwester, die du dir immer gewünscht hast! Ob es um Liebe, Probleme in der Schule oder Stress mit den Eltern geht, Lisa Sophie spricht auf ihrem YouTube-Kanal ›ItsColeslaw‹ aus eigener Erfahrung – und das nicht immer ohne Fremdschämfaktor! Sie ist (gefühlt) schon in jedes Fettnäpfchen getreten und hat die peinlichsten Situationen erlebt! Aber hey – genau das kann doch jedem mal passieren, oder? Lisa Sophie erzählt von ihrer Zeit als Teenager und den Problemen, die sie zu bewältigen hatte. Sie zeigt dir, dass am Ende doch noch alles gut wird!
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Seitenzahl: 313
Lisa Sophie
ItsColeslaw: Wie ich aufhörte, perfekt sein zu wollen
Ein Leitfaden zum Umgang mit peinlichen Situationen aller Art
FISCHER E-Books
Für alle, die beim Völkerball auch immer als letzte gewählt wurden
Hallo, mein Name ist Lisa Sophie. Auf meinem YouTube-Kanal ›ItsColeslaw‹ lade ich Videos hoch, in denen ich unter anderem regelmäßig über Geschichten aus meiner Schulzeit spreche. Oft geht es dabei um Probleme oder peinliche Situationen, mit denen ich mich als Teenager herumschlagen musste. Da ich damals oft das Gefühl hatte, mit diesen Dingen allein dazustehen, finde ich es heute sehr wichtig, über sie zu sprechen. Ich hoffe, dass ich somit vielleicht einigen Leuten, die sich ähnlich allein fühlen, zeigen kann, dass sie keineswegs »seltsam« sind, sondern dass viele andere Jugendliche mit den gleichen Themen zu kämpfen haben. Von meinen Zuschauern bekomme ich täglich Nachrichten, in denen sie mich fragen, ob ich ihnen vielleicht Tipps geben kann, wie sie am besten mit dieser oder jener Situation umgehen könnten. Lange habe ich auf jede dieser Nachrichten geantwortet, doch inzwischen sind es so viele geworden, dass ich das leider nicht mehr schaffe. Da ich aber trotzdem gern die Dinge weitergeben möchte, die ich aus dieser Zeit mitgenommen habe, habe ich beschlossen, dieses Buch hier zu schreiben. Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und weit davon entfernt, ein professioneller Coach zu sein, der genau weiß, wie man andere Leute im Leben weiterbringt. Daher stammen meine Tipps auch nur aus meiner persönlichen Erfahrung. Aber vielleicht gibt es ja den ein oder anderen Teil meiner Geschichte, mit dem ihr euch identifizieren könnt und der euch ein wenig weiterhilft. Das würde mich zumindest sehr freuen. In diesem Buch geht es um meine Teenager-Zeit, um die peinlichen Situationen, in die ich geraten bin, die Fehler, die ich gemacht habe, und was ich aus ihnen gelernt habe.
Bevor es losgeht, möchte ich euch gern noch kurz darauf hinweisen, dass die Namen, die im Buch vorkommen, nicht denen der real existierenden Personen entsprechen. Außerdem habe ich die Orte ein wenig verändert und teilweise mehrere Leute zu einem Buchcharakter zusammengefasst. Die Geschichte verändert sich dadurch nicht, aber mir war es wichtig, die echten Personen zu schützen. Außerdem wollte ich es euch gern ein wenig leichter machen, weil ihr euch so beim Lesen keine zu große Anzahl verschiedener Namen merken müsst.
Ich wurde in einer Stadt in Bayern geboren, die eigentlich gar nicht mal so klein ist. Da sich aber fast meine gesamte Kindheit in nur einer einzigen Straße abspielte, fühlte es sich oft so an, als würde ich in Wahrheit in einem Dorf leben, das sich nur als Stadt verkleidet hatte. In »meiner« Straße lagen die Wohnung meiner Familie, ein Kindergarten, eine Grundschule und ein Gebäude, in dem ich fast so viel Zeit verbrachte wie zu Hause. Es war ein Kinder- und Jugendzentrum, und noch bevor ich laufen konnte, lernte ich dort die Freunde kennen, die in den nächsten fünfzehn Jahren eine Art zweite Familie für mich waren. Bevor ich mit elf auf die weiterführende Schule kam, wäre schüchtern garantiert kein Wort gewesen, mit dem man mich beschrieben hätte. Ich war offen, lachte gern und hatte immer eine große Gruppe an Freunden um mich herum. Im Kindergarten und in der Grundschule geriet ich nie in unangenehme Situationen. Jedenfalls abgesehen von dem einen Mal, als ich den liebevoll mit Wasserfarben gemalten Eisbären meiner Freundin Saskia als Schneeball mit Augen bezeichnete. Deswegen bekam sie einen dieser furchtbaren Heulkrämpfe, bei denen man irgendwann nur noch pfeifend nach Luft schnappt, weil einem sonst vor lauter Schluchzen der Sauerstoff ausgeht. Oder dem Mal, als ich mich geweigert habe, am Planschbeckentag Badeklamotten anzuziehen, worüber sich meine Freunde noch Jahre später lustig machten. Einige ihrer Eltern hatten nämlich Fotos davon gemacht, wie ich als einzig nacktes Kind trotzig neben den anderen stand und dabei aussah, wie eine vierjährige FKK-Aktivistin, die verbissen gegen die Badeanzug-Mafia kämpft. In der ersten Klasse gelang es mir dann, meine Lieblingslehrerin so stürmisch zu umarmen, dass sie den kompletten Inhalt ihrer Kaffeetasse über ihren Pulli schüttete. In der zweiten Klasse erzählte ich dem Freund meiner Cousine, dass ich ihn auch heiraten würde, falls sie ihn irgendwann nicht mehr haben wollte. Und in der dritten Klasse … Okay, okay. Machen wir uns nichts vor. Sogar in der Zeit, in der es mir selbst noch nicht so wirklich bewusst war, war ich wirklich gut darin, in unangenehme Situationen zu geraten. Es war, als wären sie wunderbar hell leuchtende Glühbirnen und ich eine besonders verstrahlte Motte, die wieder und wieder auf sie zutorkelte, egal wie oft sie davor schon mit dem Kopf voran gegen den Lampenschirm geknallt war. Zum Glück hatte ich damals noch den Bonus, ein Kind zu sein. Bei Kindern finden die meisten Leute das noch süß, und niemand verurteilt sie dafür, dass sie diese Dinge noch nicht so ganz auf die Kette kriegen. Blöd nur, dass man nicht für immer ein Kind bleiben kann.
Lange Zeit war ich überzeugt davon, dass sich mein Leben an meinem zwölften Geburtstag komplett auf den Kopf stellen würde. Wie ich darauf kam, kann ich heute nicht mehr so genau sagen. Aber ich war als Kind ein wahnsinniger Bücherwurm, und jedes Mal, wenn ich eine Geschichte las, in der ein Charakter zwölf Jahre alt war, fand ich das ganz schön beeindruckend. In meinen Augen war man mit zwölf schon fast erwachsen, und irgendwie war das gleichzeitig cool und gruselig. Denn ich war wie Peter Pan. Ich wollte für immer ein Kind bleiben. Als sich mein zwölfter Geburtstag dann allerdings trotz meines innigen Wunschs weigerte auszufallen, bekam ich es ein wenig mit der Angst zu tun. Einer der Gründe dafür war, dass meine Mutter immer wieder betonte, ich würde jetzt ein Teenager werden, und die sorglose Zeit als Kind sei damit endgültig vorbei. Meine letzten Wochen als Elfjährige verbrachte ich damit, ihr zu erklären, dass die Endung »teen« im Englischen ja erst bei dreizehn hinzukam und ich mit zwölf noch eindeutig fein raus war. Doch meine Mutter beeindruckte das leider nicht im Geringsten. Da der Tag der Wahrheit nun also unvermeidbar näher rückte, musste ich mich wohl oder übel mit meinem Schicksal abfinden. Ruhiger machte mich das nicht gerade, und als ich am Abend vor meinem zwölften Geburtstag im Bett lag, schwirrten in meinem Kopf tausend Fragen umher. Was würde wohl um Mitternacht passieren? Würde mit einem Schlag meine Pubertät beginnen und dafür sorgen, dass ich am nächsten Morgen mit Brüsten aufwachte? Und würde ich meinen Lieblingsteddy aus meinem Bett verbannen müssen, weil ich nun zu alt für ihn war? Der Gedanke, den Teddy nachts nicht mehr im Arm halten zu dürfen, machte mich ziemlich traurig, denn ich hatte ihm ein paar Jahre zuvor mein Indianerehrenwort gegeben, dass wir für immer die allerbesten Freunde bleiben würden. Ob Indianerehrenwörter in der Welt der Erwachsenen wohl überhaupt noch gelten? Ich rollte mich im Bett hin und her und spürte ein nervöses Ziehen in meinem Bauch. Es wurde 22 Uhr, 23 Uhr, und dann, um Mitternacht, passierte … überhaupt nichts. Beziehungsweise, wenn etwas passierte, dann bekam ich es nicht mit. Ich war nämlich trotz meiner Aufregung tief und fest eingeschlafen. Als am nächsten Morgen mein Wecker klingelte, fühlte ich mich kein bisschen anders als am Abend zuvor. »Puh«, sagte ich zu meinem Teddy. »Ich glaube, wir haben noch mal Glück gehabt!« Vielleicht hatte mich das blöde Teenager-Ding ja übersehen, und ich würde doch für immer ein Kind bleiben. Auch wenn ich wusste, dass das nicht stimmen konnte, beschloss ich, es einfach trotzdem zu glauben. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stand ich auf und ging ins Wohnzimmer, um meine Geschenke auszupacken. In den Monaten danach stellte sich heraus, dass mich das blöde Teenager-Ding keineswegs übersehen hatte. Es hatte sich nur so langsam an mich herangeschlichen, dass ich es nicht gleich bemerkt hatte. Daher sitze ich heute hier, zehn Jahre später, mit Brüsten und einem ganzen Haufen nerviger Erwachsenenprobleme. Aber immerhin habe ich mein Indianerehrenwort gehalten, denn der Teddy hat bis heute einen Platz in meinem Schlafzimmer. Für manche Dinge wird man eben nie zu alt.
Ich konzentrierte mich damals so sehr auf meinen zwölften Geburtstag, dass ich ein viel wichtigeres Ereignis fast vergessen hätte: meinen ersten Tag an der neuen, weiterführenden Schule. Der stand bereits einige Wochen vorher auf dem Programm und war ein ganz schön abenteuerlicher Schritt hinaus in die große, weite Welt. In die neue Schule zu gehen bedeutete, meine Straße zu verlassen und jeden Morgen eine halbe Stunde lang mit der Straßenahn zu fahren, in der mich ältere Schüler, genervte Geschäftsleute und die dröhnenden »Türen freimachen!«-Durchsagen schlechtgelaunter Fahrer erwarteten. Ich hatte früher schon häufiger die Straßenbahn genommen, um mit meinen Eltern in die Innenstadt zu fahren. Jetzt allerdings stand ich zum ersten Mal allein an der Haltestelle und musste darum kämpfen, nicht nur mich, sondern auch meinen neuen Schulrucksack in das Fahrzeug zu quetschen. Das war gar kein so leichtes Unterfangen. Mein kleiner, mit flauschigen Hasen bestickter Ranzen aus der Grundschule hatte einem Exemplar weichen müssen, das so riesig war, dass meine Mitschüler es später als »Lisas fette Ziehharmonika« bezeichneten. Außerdem gehörte ich zu den Jüngsten, die morgens mit der Straßenbahn fuhren, und stand damit in der inoffiziellen Nahrungskette der öffentlichen Verkehrsmittel an unterster Stelle. Während ich diese Rolle akzeptierte und brav die nächste Bahn abwartete, als ich sah, dass in der ersten nichts mehr frei war, beobachte ich fasziniert einen Jungen, der nicht viel älter als ich zu sein schien. Er warf sich mit dem Rucksack voran in den vollgestopften Waggon, um sich dort noch einen Platz zu sichern. Das hätte ich mich nie getraut, denn ich wollte auf gar keinen Fall irgendjemandem im Weg herumstehen, und die Vorstellung, dass ich versehentlich einem seriösen Anzugmenschen auf die polierten Schuhe treten könnte, war mir wirklich unangenehm. Dass ich mit dieser Einstellung vermutlich nie zur Schule kommen würde, begriff ich recht schnell, denn die nächste Bahn war mindestens genauso voll. Nach einem schnellen Blick auf die Uhr atmete ich tief durch und ging dann auf eine der Türen zu, die sich bereits wieder schloss. Auch wenn ich beim Betreten der Bahn ganz sicher niemandem auf die Füße getrampelt war, hatte ich trotzdem das Gefühl, von bösen Blicken durchbohrt zu werden. Also sah ich schnell aus dem Fenster und gab mir Mühe, so zu tun, als sei ich unsichtbar. Hoffentlich würde das jetzt nicht jeden Morgen so ablaufen.
Die Straßenbahn hatte Verspätung, und als ich endlich in der neuen Schule ankam, wartete Alex schon auf mich. Sie gehörte nicht zu meinem Freundeskreis aus dem Jugendzentrum, war aber in meiner Grundschulklasse gewesen. Als gerade alle überlegt hatten, in welche weiterführende Schule sie gehen wollten, hatte Alex mir eines Tages in der Pause von dem Gymnasium erzählt, für das sie sich entschieden hatte. »Das ist voll toll«, hatte sie mir erklärt. »Weil man dort kein blödes Latein lernen muss.« Auch wenn ich damals noch nicht so genau gewusst hatte, was genau dieses »Latein« eigentlich sein sollte, klang es für mich wie etwas, das ich auf keinen Fall näher kennenlernen wollte. Ich meldete mich also ebenfalls dort an und ignorierte dabei geflissentlich die Tatsache, dass es sich bei der Schule um ein reines Mädchengymnasium handelte. Wer brauchte schließlich schon Jungs? Als ich dann einige Wochen später feststellte, dass keine meiner Freundinnen auf diese Schulen gehen würde, bereute ich meine Entscheidung zutiefst. Zwar würde ich nicht ganz allein sein, weil Alex ja da war und ich somit schon mal eine Mitschülerin aus meiner neuen Klasse kannte. Aber es war für mich etwas völlig Neues, niemanden aus meiner »zweiten Familie« an meiner Seite zu haben. Als ich an unserem ersten Tag in der Pausenhalle der neuen Schule auf Alex zuging, sah ich sofort an ihrem genervten Blick, dass irgendetwas nicht stimmte. »Du bist zu spät, Lisa«, rief sie vorwurfsvoll, sobald ich in Hörweite war und deutete dann in Richtung einer Treppe. »Da oben ist unser neues Klassenzimmer, komm mit!« Als wir vor einer Tür mit der Aufschrift »5c« angekommen waren, wollte ich gerade meine Hand auf die Klinke legen, als mich jemand anrempelte. Wütend drehte ich den Kopf und wollte die Person fragen, ob sie denn nicht besser aufpassen könne. Doch dann sah ich, dass es ein älteres Mädchen war, und fühlte mich zum zweiten Mal an diesem Tag so, als befände ich mich am unteren Ende der Nahrungskette. Das Mädchen grinste mich schief an und beugte sich dann zu meinem Ohr hinunter. »Willkommen in der Mädchenschulenhölle«, zischte sie mir zu und lief dann weiter, ohne sich noch mal umzudrehen. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, in der schlechten Verfilmung des dämlichen Internatsromans gefangen zu sein, den ich in der Woche zuvor gelesen hatte. Aber ehe ich näher darüber nachdenken konnte, was das Mädchen gesagt hatte, riss Alex bereits die Tür auf und schob mich ins Klassenzimmer. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen, und alle redeten wild durcheinander. Niemand schien uns zu bemerken, und mir fiel mir ein Stein in der Größe des Mount Everest vom Herzen. Schon am ersten Tag zu spät dran zu sein und deswegen von allen angestarrt zu werden wäre mir wirklich peinlich gewesen. Als ich dann allerdings bemerkte, dass es im ganzen Raum keine zwei freien Plätze mehr nebeneinander gab, versetzte das meiner Euphorie einen kleinen Dämpfer. Wir würden uns also trennen müssen. Alex lief auf einen Platz ganz links in der ersten Reihe zu, während ich mich wohl oder übel, weit weg von ihr, rechts in die zweite Reihe setzen musste. Neben ein fremdes Mädchen. Dieses Mädchen sah zwar nett aus, aber irgendetwas ließ mich zögern. Sie lächelte mich freundlich an und sagte: »Hi«, doch als ich ihr antworten wollte, war es, als hätte sich meine Kehle plötzlich in eine Wüste verwandelt. Ich brachte kein vernünftiges Wort heraus, und so krächzte ich nur etwas Unverständliches und ließ mich dann auf den Stuhl neben ihr fallen. Bevor ich mich räuspern und es noch mal versuchen konnte, begrüßte uns bereits unser neuer Klassenlehrer. Er bat uns, unsere Namen auf ein Schild zu schreiben und es vor uns aufzustellen. So erfuhr ich, dass das Mädchen neben mir Hannah hieß. Während ich mit einem blauen Buntstift ein großes »L« auf mein eigenes Namensschild malte, dachte ich darüber nach, dass heute wirklich ein seltsamer Tag war. Zuerst hatte ich mich so unwohl gefühlt, als ich allein mit der Straßenbahn gefahren war, und nun das. Was war denn bloß los mit mir? In der Grundschule war ich doch nie so schüchtern gewesen. Ganz im Gegenteil, ich war sogar meist diejenige gewesen, die auf schüchterne Kinder zugegangen war, um sie zu ermutigen, mit meinen Freunden und mir zu spielen. Warum war das mit Hannah also plötzlich anders? Hatte ich vielleicht Angst davor, etwas Blödes zu sagen, oder davor, dass sie mich nicht mögen würde? Was hatte das Mädchen auf der Treppe noch mal gesagt? Dass das hier die Mädchenschulenhölle sei. Was, wenn das stimmte und Hannah mich bis zum Abi für eine eingebildete Zicke halten würde, die sich für zu cool hielt, um sie zu begrüßen? Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich gar nicht mitbekam, dass mein neuer Klassenlehrer wieder zu reden begonnen hatte und nun die Anwesenheit überprüfte. Als er »Lisa Sophie« sagte, musste Alex mir mit einem »Sie sitzt da drüben« aus der Patsche helfen, weil ich sonst nicht reagiert hätte. Nun starrten mich tatsächlich alle an. Wow, was für ein toller Start.
Meine neue Schüchternheit, die mich damals total überraschte, kann ich heute ganz gut verstehen. Es war überhaupt nicht seltsam, dass ich so reagierte, denn die ganze Situation war etwas komplett Neues für mich. Bevor ich aufs Gymnasium kam, hatte ich immer die gleichen Leute um mich herum gehabt. Die Kinder, mit denen ich schon in der Krabbelgruppe und im Kindergarten gewesen war, gingen später auch in die gleiche Grundschule wie ich. Das war eine ziemlich praktische Sache, denn so wusste ich immer ganz genau, wer meine Freunde waren und mit wem ich mich nicht so gut verstand. Über meine neuen Mitschülerinnen wusste ich gar nichts. Daher war ich, als ich das neue Klassenzimmer voller fremder Gesichter betreten hatte, auch so unsicher. Genau das Gleiche galt für die Straßenbahn. Es waren zwei ungewohnte Situationen, und ich wusste einfach noch nicht, wie ich mich darin am besten verhalten sollte. Zwar hatte ich an meinem ersten Tag in der Grundschule auch nicht alle anderen Kinder gekannt. Aber es waren so viele meiner Freunde dort gewesen, dass es gar nicht nötig gewesen war, sofort aktiv auf neue Leute zuzugehen. Ich wusste ja ganz sicher, dass ich in der Pause nicht allein dastehen würde, sondern mit den Leuten, die ich schon kannte, Fangen spielen würde. Ganz genau so, wie wir das auch jeden Tag im Kindergarten getan hatten. Die ganze Situation war also viel entspannter. Es gab keinen Druck, und neue Freundschaften ergaben sich einfach im Laufe der Zeit, ohne dass ich mich groß darum hätte bemühen müssen. Auf dem Gymnasium hatte ich das Gefühl, diese Zeit nicht zu haben. Bereits in der ersten Pause beobachtete ich, wie sich einige meiner neuen Mitschülerinnen verabredeten, um nach der Schule etwas zusammen zu unternehmen. Das machte mich ein wenig unruhig, weil es mir das Gefühl gab, zu lange zu zögern und die Sache mit den neuen Freunden nicht schnell genug anzugehen. Was wäre denn, wenn sich in ein paar Tagen schon alle Freundesgruppen gefunden hatten und dann keiner mehr mit mir befreundet sein wollte? Natürlich verbrachte ich auch gern Zeit mit Alex und war froh, dass sie da war. Aber ich war es gewohnt, nicht nur eine Freundin, sondern einen großen Freundeskreis zu haben. Um den zu bekommen, würde ich mich wohl zusammenreißen und auf andere zugehen müsse. Ich könnte mich doch beispielsweise mit Hannah anfreunden. Klar, unsere erste »Unterhaltung« war nicht so toll gelaufen, aber vielleicht könnte ich es ja einfach noch einmal versuchen. Als ich mich auf dem Pausenhof nach ihr umsah, stellte ich dann allerdings fest, dass sie inmitten einer Gruppe anderer Mädchen stand. Auch wenn ich mich gern dazugestellt hätte, traute ich mich nicht so richtig und blieb lieber mit Alex am Rande des Geschehens stehen. Wir verbrachten unsere erste Pause also zu zweit und beobachteten die anderen nur. »Super Lisa«, dachte ich sarkastisch. »Genauso wirst du bestimmt neue Freunde finden.«
Nach der Pause riss ich mich dann endlich zusammen und stellte mich Hannah vor. Als ich »Ich bin übrigens Lisa« sagte, spürte ich die Wüste in meinem Hals immer noch ein wenig. Aber je länger Hannah und ich sprachen, desto weniger krächzte meine Stimme, bis sie am Ende schließlich wieder ganz normal klang. Wir unterhielten uns über unsere alten Grundschulen, was wirklich ein gutes Gesprächsthema war. Aber irgendwann hatten wir alles gesagt, was es dazu zu sagen gab. Fieberhaft überlegte ich, was ich noch erzählen könnte. Ob es Hannah wohl interessieren würde, dass ich in der Pause früher am liebsten Fangen gespielt hatte? Oder war man, sobald man auf dem Gymnasium war, zu alt für solche Dinge, und wir sollten lieber über etwas anderes reden? Vielleicht über unsere Geschwister oder über unsere Hobbys? Ich hatte mich gerade für das zweite Thema entschieden, als unsere neue Deutschlehrerin zur Tür hereinkam. Sie bat uns, leise zu sein, und so hatten Hannah und ich den teuflischen Smalltalk fürs Erste besiegt. In den Wochen danach hatte ich häufig nicht so viel Glück und geriet regelmäßig in Situationen, in denen die Gespräche mit meinen neuen Mitschülern schon nach zwei oder drei Sätzen ins Stocken gerieten. Meist versuchte ich dann, die unangenehme Stille durch ein nervöses Lachen oder Husten zu durchbrechen, was leider nicht ganz so gut funktionierte. Da mich meine eigene Schüchternheit total nervte, fragte ich häufiger mal meine Eltern um Rat. Doch wenn ich ihnen erzählte, dass es mir schwerfiel, auf andere zuzugehen, bekam ich meist nur Dinge zu hören wie: »Ach, das ist doch gar nicht so schlimm! Bleib einfach ganz locker und entspannt, dann kann gar nichts schiefgehen!« Damit konnte ich leider herzlich wenig anfangen, denn einfach war das mit dem Entspanntbleiben absolut nicht. Ich hatte immer das Gefühl, so ungefähr die Smalltalk-Fähigkeiten einer Kartoffel zu besitzen. Diesen Gedanken hatte ich ständig im Hinterkopf, und es machte mich so nervös, dass ich es teilweise nicht einmal mehr schaffte, drei Wörter vernünftig aneinanderzureihen. Immer, wenn das passierte, verspürte ich das dringende Bedürfnis, sofort nach Timbuktu auszuwandern, und irgendwann störte mich das so sehr, dass ich beschloss, endlich mal etwas dagegen zu unternehmen. Dass man nicht einfach mit einem Fingerschnippen locker und entspannt wurde, wusste ich. Aber man konnte es doch bestimmt lernen, in Unterhaltungen ruhiger zu bleiben, oder?
Nachdem ich eine Weile lang darüber nachgedacht hatte, kam mir plötzlich eine Idee. Was wäre denn, wenn ich es einfach so machte wie die Figuren aus dem Computerspiel ›Die Sims‹? Die sprachen doch immer mit ihrem Spiegelbild, wenn sie eine Rede üben mussten, und denen schien das total zu helfen. Vielleicht funktionierte das ja auch bei echten Menschen, und ich konnte mich damit auf Gespräche vorbereiten. Ich beschloss, es zumindest mal auszuprobieren, aber als ich mich dann am Nachmittag vor den Spiegel stellte, kam ich mir ganz schön bescheuert vor. »Na, bist du öfter hier?«, fragte ich die zweite Lisa und grinste halbherzig. Doch dann versuchte ich es eine halbe Stunde lang ernsthaft und hatte danach das Gefühl, dass es vielleicht doch gar keine so blöde Idee gewesen war. In den nächsten Wochen »trainierte« ich regelmäßig. Dabei musste ich feststellen, dass man solche Übungen am besten nur dann machte, wenn man allein zu Hause war. Denn wenn meine Eltern (natürlich mal wieder ohne vorher anzuklopfen) genau dann durch die Tür spaziert kamen, wenn ich gerade Selbstgespräche führte, dann war das alles andere als cool. Zuerst erzählte ich dem Spiegel nur von meinem Tag, weil mir das weniger seltsam vorkam als eine Unterhaltung zu führen, bei der nur ich redete und keiner antwortete. Aber irgendwann gewöhnte ich mich an die ganze Situation und übte einige Sätze ein, mit denen ich in der Schule gern ein Gespräch beginnen würde. Ich merkte, dass es half, wenn sie nicht ellenlang und verschachtelt waren, sondern möglichst kurz und einfach. Denn bei komplizierten Sätzen war es mir schon häufiger mal passiert, dass ich mich so sehr verhaspelt hatte, dass die andere Person überhaupt nicht mehr verstehen konnte, was ich eigentlich sagen wollte. Als ich ein paar Sätze gefunden hatte, die ich gut fand, wiederholte ich sie so oft, bis ich mich damit wirklich sicher fühlte. Es war wichtig, sie nicht nur stumm im Kopf aufzusagen, wenn ich vor dem Spiegel stand, sondern sie laut auszusprechen. Schließlich konnten meine Mitschülerinnen ja keine Gedanken lesen. Ich hatte festgestellt, dass ich meist viel schneller redete als sonst, wenn ich mit ihnen sprach. Einige Male war mein Gehirn auch mitten im Gespräch auf die grandiose Idee gekommen, dass jetzt doch der perfekte Moment für ein Blackout wäre. Dann vergaß ich, was ich gerade sagen wollte und stand mit verwirrtem Gesichtsausdruck in der Gegend herum, während die anderen mich fragend ansahen und sich vermutlich ziemlich darüber wunderten, dass ich meinen Satz nicht zu Ende sprach. Je öfter ich das, was ich sagen wollte, zuvor schon laut ausgesprochen hatte, desto leichter konnte ich diese Blackouts später verhindern. Durch das Training hatte ich es geschafft, mein Unterbewusstsein auf meine Seite zu ziehen, und es ließ mich die Sätze auch dann noch fehlerfrei sagen, wenn mein Gehirn vor lauter Nervosität ein wenig am Rad drehte.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Sätze gefunden hatte, die wirklich gut als Gesprächsanfang funktionierten. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es keine so tolle Idee war, einfach nur auf jemanden zuzugehen, »Hi, ich bin Lisa« zu sagen und zu denken, dass sich das Gespräch schon irgendwie entwickeln würde. In den meisten Fällen entstand aus diesem Satz nämlich nicht direkt eine wundervolle Freundschaft. Zwar stellten sich meine Mitschülerinnen ebenfalls vor, warteten danach aber darauf, dass ich ihnen erzählte, warum genau ich sie angesprochen hatte. Wenn ich dann nichts auf Lager hatte, folgte eine sehr lange und unangenehme Stille. Das wollte ich natürlich auf jeden Fall vermeiden. Ich hatte mir fest vorgenommen, keine Smalltalk-Kartoffel mehr zu sein, und was mir dabei half, waren Kekse. Was nicht bedeutete, dass ich total viele davon aß, um mir Mut zu machen, oder sie meinen neuen Mitschülerinnen unter die Nase hielt, um sie so davon zu überzeugen, meine Freunde zu werden. Es hätte zwar gut sein können, dass auch das geklappt hätte. Aber eigentlich sah mein Keks-Plan ein klein wenig anders aus. Er begann damit, dass ich meine Mitschülerinnen fragte, ob sie wüssten, wo man im Schulgebäude Kekse kaufen könne. Sie sagten mir dann entweder, dass sie auch keine Ahnung hätten, oder sie beschrieben mir den Weg zum Süßigkeitenautomaten. Egal wie die Antwort ausfiel, bedankte ich mich, lächelte freundlich und hatte mein erstes Gespräch geschafft. Die nächste Unterhaltung würde dann schon viel leichter werden, das hatte ich bereits gelernt. Manchmal ergab sich aus meiner Keks-Frage auch noch eine längere Unterhaltung. Dabei sprachen wir natürlich nicht gleich über unsere dunkelsten Geheimnisse, sondern eher über die Frage, ob Schoko- oder Vanillekekse besser schmeckten. Aber es war immerhin ein Anfang. Natürlich konnte ich diese Taktik nicht auf Dauer anwenden, denn irgendwann hätte sich bestimmt herumgesprochen, dass ich dauernd über Kekse redete und irgendwie auch nach der zehnten Erklärung noch nicht verstanden zu haben schien, wo der Automat steht. Damit mich die Leute also nicht für total bekloppt hielten, wechselte ich irgendwann zu anderen Fragen. Beispielsweise erzählte ich, dass ich im Unterricht nicht genau zugehört hatte und daher nicht wusste, welche Hausaufgaben wir aufhatten. Ich fragte die anderen dann, ob sie es mir vielleicht sagen könnten, und das funktionierte wirklich gut. Ich kam mit allen möglichen Leuten darüber ins Gespräch, wie nervig Mathe doch war und dass ich auch keine Lust hatte, bis morgen den ganzen langen Text für den Englischunterricht zu übersetzen. Je mehr ich mich mit meinen neuen Mitschülerinnen unterhielt, desto sicherer wurde ich, und irgendwann hatte ich ein paar Leute gefunden, mit denen ich mich wirklich gut verstand. Das machte mich sehr glücklich. Später erfuhr ich dann, dass ich nicht die Einzige war, die sich anfangs so unsicher gefühlt hatte. Zwar hatte niemand außer mir mit einem Spiegel geredet, aber viele der anderen hatten sich auch wahnsinnig viele Gedanken darüber gemacht, was sie sagen sollten. Wir alle wollten unbedingt schnell neue Freunde finden. Schließlich wussten wir, dass wir einige Jahre zusammen verbringen würden, und da Schule ja ziemlich nervig sein kann, wollte jeder Leute an seiner Seite haben, mit denen man das alles gemeinsam durchstehen konnte. Mit manchen meiner späteren Schulfreundinnen verstand ich mich schon nach wenigen Tagen so gut, dass es sich anfühlte, als würden wir uns schon ewig kennen. Andere Freundschaften brauchten ein wenig mehr Zeit, um sich zu entwickeln, und es gab auch Leute, mit denen ich mich von Beginn an überhaupt nicht verstand. Aber das war okay, denn auch wenn ein Gespräch einmal nicht so gut lief, sah ich es als Training, denn jedes Mal, wenn ich auf jemanden zuging, wurde ich ein klein wenig sicherer und fühlte mich weniger unwohl.
Als Kind war ich der festen Überzeugung, dass es ganz wichtig sei, eine beste Freundin oder einen besten Freund zu haben. Es könnte daran liegen, dass die Figuren in meinen Lieblingsserien immer zu zweit unterwegs waren. Bibi Blocksberg hatte Tina, Benjamin Blümchen hatte Otto, und Kim Possible hatte Ron Stoppable. Da ich Jungs zu dem Zeitpunkt noch für eklige, furzende Aliens hielt, kam für mich natürlich nur eine beste Freundin in Frage. Allerdings war es gar nicht so einfach, jemand Passenden zu finden, und so hatte ich immer eher eine Gruppe guter Freundinnen. Mal hatte ich mit der einen und mal mit der anderen mehr zu tun. Ich mochte sie alle sehr gern, aber eine richtige beste Freundin war nicht unter ihnen. Vielleicht lag das auch daran, dass ich ein wenig zu anspruchsvoll war. Aber in den Büchern und Serien sah es immer so aus, als dürfte diese beste Freundin eben nicht nur irgendein Mädchen sein, mit dem man sich ganz gut verstand. Nein, sie musste die eine sein, mit der man für den Rest seines Lebens befreundet sein würde. Schließlich sagte Kim Possible ja auch nicht nach zehn Folgen zu Ron: »Sorry, aber das mit deiner rutschenden Hose geht mir echt auf die Nerven. Ich suche mir einen neuen besten Freund.« Alex hatte schon eine beste Freundin, und meiner Ansicht nach war es gegen die Regeln, zwei davon zu haben. Zu meiner großen Freude fragte Hannah mich gleich in unserer ersten Schulwoche aus heiterem Himmel: »Hey, wollen wir Freundinnen sein?« Ich war davon total überrumpelt, denn ich war es nicht gewohnt, dass jemand das so direkt ansprach. Meine erste Reaktion war also vermutlich ein ungläubiges Starren. Aber ich fand Hannah ziemlich cool und freute mich daher sehr darüber, dass sie meine Freundin sein wollte. Ich fing mich also schnell wieder und antwortete mit einem begeisterten »Ja!«. Ich konnte es kaum fassen. Da machte ich mir tausend Gedanken darum, wie zur Hölle ich auf andere zugehen könnte, und Hannah klärte das einfach in einem simplen Satz. Die Smalltalk-Kartoffel war schwer beeindruckt. Hannah und ich verbrachten immer mehr Zeit miteinander, und da ich wusste, dass sie im Gegensatz zu Alex keine beste Freundin hatte, nahm ich irgendwann all meinen Mut zusammen und stellte ihr die alles entscheidende Frage. »Sag mal Hannah, sind wir eigentlich beste Freundinnen?« Ich sah sie dabei nicht an, denn ich hatte Angst vor ihrer Antwort, und mein Bauch fühlte sich an, als würden ein paar richtig große Steine darin hin- und herpoltern. Als Hannah »Na klar!« antwortete und lächelte, war es, als würden die Steine zu einem Berg Zuckerwatte werden, der nach und nach in sich zusammenfiel, bis nichts mehr von ihm übrig war. Ich war so glücklich, das zu hören. Früher war ich oft die Einzige ohne beste Freundin gewesen und hatte mich manchmal gefragt, ob mit mir vielleicht irgendetwas nicht stimmte. Aber jetzt fühlte ich mich so, als wäre ich ganz normal, so wie alle anderen auch. Hannah und ich waren ab diesem Tag wie Pech und Schwefel. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander und das sowohl in der Schule als auch in unserer Freizeit. Wir gingen schwimmen, machten Ausflüge und nähten sogar zusammen Klamotten. Das war eine ziemlich verzwickte Sache, bei der Hannah sich viel geschickter anstellte als ich. Am Ende sahen ihre Sachen also richtig schön aus, während mein selbstgenähtes Top so unförmig war, dass ich es direkt ganz tief in meinem Kleiderschrank vergrub und mir schwor, es nie zu tragen. Trotzdem fühlte ich mich in dieser Zeit sehr gut. Ich hatte zwei Freundinnen an meiner neuen Schule, und eine davon war sogar die beste Freundin, die ich mir immer gewünscht hatte. Doch dieses Zuckerwattegefühl hielt leider nur ein paar Wochen an. Denn dann fand mein berühmt-berüchtigter zwölfter Geburtstag statt und veränderte alles.
Okay, ich gebe zu, dass das vielleicht ein wenig dramatischer klingt, als es tatsächlich war. Aber für mich war mein zwölfter Geburtstag wirklich ein sehr besonderes Ereignis. Zwar enttäuschte er mich ein wenig, was die großen, weltbewegenden Veränderungen anging. Aber zumindest wurde meine kleine Welt doch ein wenig mehr durcheinandergewirbelt, als ich gedacht hatte. Der Grund dafür war ein Buch von Cornelia Funke, das den Titel ›Die Wilden Hühner‹ trug. Darin ging es um Sprotte, ein Mädchen, das nicht nur seine beste Freundin Frieda hatte, sondern auch zusammen mit ihr und drei anderen Freundinnen in einer Bande war. Sobald ich das Buch fertig gelesen hatte, stand für mich fest, dass ich unbedingt auch eine solche Bande haben wollte. Es war ganz typisch für mich, eine Sache, die ich gelesen hatte, in mein eigenes Leben einzubauen. Ich lebte damals gefühlt nur zur Hälfte in der realen Welt und verbrachte viel zu viel Zeit mit Büchern. Hannah und Alex kannten das schon von mir, daher waren sie nicht sonderlich überrascht, als ich ihnen noch am selben Tag von meinem Plan, eine Bande zu gründen, erzählte. Die beiden fanden die Idee gut und halfen mir dabei, nach zwei weiteren Mitgliedern zu suchen. Die ›Wilden Hühner‹ waren zu fünft, also mussten wir das natürlich auch sein. In unserer Klasse war mir schon länger ein Mädchen mit einer wilden, schwarzen Lockenmähne aufgefallen. Sie hieß Friederike und schien ziemlich lustig zu sein, denn wann immer sie sich mit Yvonne, dem blonden Mädchen, das neben ihr saß, unterhielt, konnte diese sich vor lauter Lachen gar nicht mehr einkriegen. Wir fanden, dass das ein gutes Argument war, um Friederike in unsere Bande aufzunehmen, und waren uns einig, dass auch Yvonne gern mitmachen könnte. In der Pause gingen Hannah, Alex und ich also zu ihnen und stellten ihnen eine hochoffizielle Banden-Beitritts-Anfrage. Die beiden schienen sich darüber zu freuen und nahmen sie sofort an. Nun waren wir also zu fünft. Wie bei jeder vernünftigen Bande bestand unsere erste Amtshandlung darin, uns einen geheimen Treffpunkt auf dem Pausenhof zu suchen. Dort sprachen wir fortan über unsere Bandengeheimnisse und schrieben in Geheimschrift in unser geheimes Bandenbuch. Es war alles so geheim, dass ich keine Ahnung mehr habe, was genau wir damals eigentlich taten. Aber wir hatten eine tolle Zeit. Im Gegensatz zu den ›Wilden Hühnern‹ lösten wir uns dann leider schon wenige Monate später wieder auf. Eventuell lag das daran, dass einfach keine Jungsbande auftauchen wollte, der wir Streiche spielen konnten. Kein Wunder, schließlich waren wir ja an einer Mädchenschule, und der Pausenhof der gemischten Schule von nebenan war durch eine hohe Mauer von unserem getrennt. Es war ein bisschen wie bei Romeo und Julia. Nur dass wir unsere Romeos nie zu Gesicht bekamen und bis heute nicht wissen, ob sie überhaupt existiert haben. Eine wirklich tragische Geschichte. Das Ganze war ohne Jungs irgendwie doch nicht so spannend, daher musste ich wohl oder übel akzeptieren, dass das Leben einfach kein Buch war. Vielleicht waren ja auch beste Freundinnen und Banden viel weniger wichtig, als ich bisher geglaubt hatte. Ich nahm mir vor, Freundschaften künftig einfach auf mich zukommen zu lassen und mir keinen so großen Stress mehr damit zu machen. Wichtig war doch eigentlich nur, dass man Leute hatte, die man mochte und auf die man sich verlassen konnte. Wie viele es waren und ob sie sich nun genauso verhielten wie die Charaktere in meinen Lieblingsbüchern, war doch eigentlich egal. Trotz dieser großartigen Erkenntnis las ich natürlich auch noch die anderen Teile der ›Wilden Hühner‹-Reihe. Dabei verknallte ich mich Hals über Kopf in Fred von den Pygmäen, dem es sogar gelang, meiner ersten großen Liebe, Fiete von den Pfefferkörnern, den ersten Platz auf der Liste meiner fiktionalen Freunde abzuluchsen. Das sollte schon was heißen! Trotzdem zeigt es, dass ich, was Jungs anging, anscheinend immer noch ein wenig an meinen Traumvorstellungen aus Büchern festhielt.
Auch nach dem Ende unserer Bande blieben Hannah, Alex, Friederike, Yvonne und ich Freundinnen. Die meiste Zeit verbrachte ich weiterhin mit Hannah, auch wenn ich unsere Treffen inzwischen manchmal ein wenig anstrengend fand. Hannah und ich hatten es uns angewöhnt, aus allem, was wir taten, einen Wettkampf zu machen. Es ging nicht nur darum, wer das schönere Oberteil nähte, sondern auch um alles andere. Wer bekam die besseren Noten? Wer konnte ein Klavierstück schneller lernen? Wer schaffte es im Sportunterricht, schneller zu laufen? Diese ständige Konkurrenz strengte mich an und setzte mich ganz schön unter Druck. Nach und nach verlor ich den Spaß an Dingen, die ich zuvor sehr gern getan hatte. Ich spürte wieder die Steine in meinem Bauch, wenn ich zum Klavierunterricht ging, da ich befürchtete, unsere Lehrerin könnte mir mitteilen, dass Hannah besser spiele als ich. Wenn wir Schularbeiten zurückbekamen, fragte Hannah mich sofort, welche Note ich hatte. Wenn ich besser oder genauso gut war wie sie, fühlte ich mich wahnsinnig erleichtert. Doch an den Tagen, an denen ich schlechter abschnitt, war es so, als würde mir jemand einen Eimer voll Eiswasser über dem Kopf ausschütten. Ich glaube, Hannah ging es andersherum genauso. Wir waren es beide aus der Grundschule gewohnt, die Klassenbesten zu sein, und zumindest mir machte der Gedanke, diese Position zu verlieren und damit vielleicht auch meine Eltern zu enttäuschen, ganz schön Angst. Ich war es einfach nicht gewohnt, in etwas nicht die Beste zu sein. Das war ein völlig neues Gefühl für mich, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Hannah und ich übertrieben es mit unserem Konkurrenzkampf irgendwann so sehr, dass unsere Klavierlehrerin sich weigerte, uns von den Fortschritten der jeweils