Jagd - Claudia Starke - E-Book

Jagd E-Book

Claudia Starke

0,0

Beschreibung

Ich Er hatte erwartet, mehr Zeit zu haben, doch der Schmerz in ihm ließ sich nicht länger im Zaum halten. Stöhnend krümmte er sich, flüchtete vor den rücksichtslosen Rempeleien der unzähligen Passanten in einen Hinterhof. Habe Einem scharfen Messer gleich wühlte es in seinen Eingeweiden. Er biss sich auf die Unterlippe. Wieso jetzt schon? Es war viel zu früh. Hunger Er holte tief Luft, versuchte den Schmerz noch einmal zurückzudrängen, als jemand zu ihm trat. Ein nicht menschlicher Jäger unterwegs, um seinen Hunger zu stillen. Sein Opfer: Menschen. Was aber, wenn die Beute sich wehrt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 226

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin:

Gute Geschichten sind überall, man muss nur aufmerksam hinhören.

Claudia Starke ist Mutter von drei Kindern, geduldete Mitbewohnerin von zwei Katzen und leidenschaftliche Schreiberin, die den Nachtschlaf gern einer guten Geschichte opfert.

Als Rikki Marx schreibt sie Geschichten für das jüngere Publikum.

Mehr auf: claudiastarke.com

Weitere Bücher der Autorin:

Die Bestie – Bad Moon Rising

Verborgen

Jenseits der Dunkelheit

Wolkenreise (als Rikki Marx)

Mia mitten in Mitternacht (als Rikki Marx)

Ich sah des Sommers letzte Rose steh’n sie war, als ob sie bluten könne, rot: da sprach ich schaudernd im Vorübergehen: So weit im Leben ist zu nah am Tod!

Es regte sich kein Hauch am heißen Tag, nur leise strich ein weißer Schmetterling; doch ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag bewegte, sie empfand es und verging.

(Friedrich Hebbel, Sommerbild)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fuenf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwoelf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fuenfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Epilog

PROLOG

Mitternacht.

Er saß auf einer Felskante oberhalb des Gullfoss und genoss dessen kraftvollen Lärm. Die Gischt benetzte sein Gesicht, Eiskristalle glitzerten in seinem Haar, auf seiner Kleidung, Wind umtoste ihn, doch der alte Mann verspürte nur friedvolle Wärme in seinem Inneren. Er lächelte.

In einiger Entfernung löste sich eine Gestalt aus den Schatten und kam behutsam näher.

Dunkelheit.

Die Polarlichter schwiegen in dieser mondlosen Nacht, dicke Wolken verbargen den Sternenreichtum des Nachthimmels und selbst das Eis an den Felswänden hatte seine Leuchtkraft verloren.

Das Tosen des Wassers umtrieb die Gedanken des Alten und mehr und mehr verspürte er Gewissheit. Noch vor dem Morgengrauen würde er seine Entscheidung kundtun. Er atmete tief durch und erhob sich.

»Ich dachte schon, du willst hier festfrieren«, erklang kaum vernehmlich eine Stimme hinter ihm.

Das Herz des alten Mannes setzte einen Schlag aus, er schloss die Augen. »Du.« Mehr vermochte er nicht zu sagen.

Der andere nickte. »Ja, ich.« Er lachte leise. »Hast du allen Ernstes geglaubt, niemand von uns hätte dein Fehlen in so vielen Neumondnächten bemerkt?«

»Nun«, langsam drehte der Alte sich um, »zumindest scheint keiner deiner Brüder sich daran zu stören.«

»Ja, weil sie dumm sind. Sie vertrauen dir blind in allem, was du tust oder auch nicht tust, und übersehen dabei, dass ihr feðgar ein alter Narr ist.«

»Was erdreistest du dich?«, entrüstete sich der Alte. »Die Tradition gebietet …«

»Tradition.« Der andere spuckte dem alten Mann das Wort entgegen. »Was kann Tradition schon einem Volk bedeuten, dessen Geschichte in den Strudeln der Zeit verloren gegangen ist?«

»Alles, mein Sohn, denn mehr haben wir nicht.«

»Falsch! Wir haben die Zukunft. Es gibt einen Grund, warum wir anders sind. Warum wir besser sind.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein«, beharrte er, »das Warum ist nicht wichtig. Es ist, wie es ist, und es ist an uns, das Beste daraus zu machen. Damit das Zusammenleben mit den Menschen harmonisch erfolgen kann.«

»Ich sagte doch, du bist ein alter Narr. Wenn es nach dir ginge, würden wir auf ewig hier in diesem unfreundlichen Land dahinvegetieren, aber ich weiß, dass andere Länder auf uns warten. Und dort werden wir Könige sein.«

»Ohne die fjör können wir nicht lange genug überleben. Wir können nicht fort«, entgegnete der alte Mann seufzend.

»Irrtum.«

Der feðgar schrak zusammen. »Was …«

»Ich weiß, was nötig ist.«

Angst glomm in den Augen des Alten auf. »Das kannst du nicht tun.«

»Ich habe immer gewusst, dass du nicht der richtige Mann in deiner Position bist«, höhnte der andere. »Ein feðgar kennt keine Angst. Zeit für einen Wechsel an der Spitze.« Rasch trat er auf den Alten zu.

Dieser wich langsam zurück. »Du machst einen großen Fehler. Ich allein habe zu entscheiden und deshalb …«

»Nein, alter Mann«, zischte der andere, »dieses Mal nicht. Du bist längst Vergangenheit.« Er trat näher. »Zeit zu sterben.«

»Unsinn, wir können nicht …« Der Alte versuchte auszuweichen, doch der andere trieb ihn beharrlich auf die Felskante zu.

»Doch, wir können. Ich weiß um das Geheimnis des Gullfoss …« Ein Flüstern im Rauschen des Wasserfalls, dann stießen zwei Hände kraftvoll zu.

Der feðgar taumelte rückwärts, vergeblich suchten seine Füße Halt auf dem vertrauten Boden. Noch ehe er über die Felskante stürzte, warf er dem anderen einen letzten Blick zu. Dann stürzte er lautlos in seinen Tod.

Der Mörder runzelte die Stirn. Er hatte mit deutlich mehr Gegenwehr gerechnet. Und dieser Blick … darin hatte keine Angst mehr gelegen, eher Zufriedenheit … Für einen Moment befielen ihn Zweifel. Hatte er wirklich alles bedacht? Oder … er schüttelte den Kopf. Der feðgar war tot, nun war es an ihm, das Schicksal seiner Brüder in die Hand zu nehmen. Er lächelte.

EINS

Ich

Er hatte erwartet, mehr Zeit zu haben, doch der Schmerz in ihm ließ sich nicht länger im Zaum halten. Stöhnend krümmte er sich, flüchtete vor den rücksichtslosen Rempeleien der unzähligen Passanten in einen Hinterhof.

habe

Einem scharfen Messer gleich wühlte es in seinen Eingeweiden. Er biss sich auf die Unterlippe. Wieso jetzt schon? Es war viel zu früh.

Hunger

Er holte tief Luft, versuchte den Schmerz noch einmal zurückzudrängen, als jemand zu ihm trat.

»He, Kumpel, geht’s dir nicht gut?«, hörte er eine heisere Stimme mit einem leichten Lispeln fragen und sah auf.

Ein wettergegerbtes Gesicht, strubbelige blonde Haare, stoppeliger Bart, ein müder Blick aus warmen braunen Augen.

»Ja, alles gut, ich …« Er keuchte, denn der Schmerz wütete in ihm, unbezähmbar und tödlich. »Ich … muss essen«, stieß er hervor. Ein Blick aus wasserhellen Augen tauchte ein in braune Augen, die kaum wahrnehmbar schielten.

Ein Lächeln huschte über Lippen, die beinahe im gleichen Moment in einem Kuss verschmolzen.

Wenig später lag ein alter Mann mit strubbeligen weißblonden Haaren hinter einer der Mülltonnen und seine braunen Augen erblickten die Ewigkeit.

ZWEI

Josef Oepen stand am Schlafzimmerfenster im ersten Stock und sah hinaus auf die Straße, wo soeben ein weißer SUV einparkte.

Seine Frau Nelli trat hinter ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Schwelgst du in Erinnerungen?«, fragte sie.

»Da kommt sie endlich wieder nach Hause und dann bringt sie so einen …«

»He!« Sie knuffte ihn in die Seite. »Du weißt überhaupt noch nicht, was für einer er ist. Zumindest liebt sie ihn, sonst würde sie ihn überhaupt nicht ins Haus ihrer gestrengen Eltern bringen«, sagte sie lachend. »Und da er Medizin studiert, kann es doch wohl nicht so schlimm sein, Herr Doktor.«

»Doch, gerade deshalb. Ich weiß, dass ich wegen meiner Arbeit immer viel zu wenig Zeit für euch hatte, und Leona soll es bessergehen als dir.«

Nelli nahm sein Gesicht in ihre Hände und zwang ihn, sie anzusehen. »Du Dummkopf! Mir ging es immer gut mit dir, denn auch wenn du nicht da warst, so hab’ ich immer gewusst, dass du mich liebst. Und dadurch warst du doch immer irgendwie bei mir.«

Josef legte seine Arme um sie und küsste sie sanft. Dann sah er wieder hinaus und betrachtete seine Tochter und deren Freund.

Der Anblick des Hauses verschlug Thomas Schultz den Atem. Er wusste, dass es in diesem Stadtteil etliche Villen gab, doch diese übertraf alle. Inmitten eines parkähnlichen Gartens lag ein zweistöckiges Gebäude, weiß und von relativ schlichter Bauweise. Dafür war das Drumherum bemerkenswert. Vor dem Haus lag eine Terrasse, von Säulen begrenzt, mit wildem Wein umwachsen. Offene Flügeltüren führten ins Innere. Zwischen Terrasse und dem gepflasterten Weg, der zum Haupteingang führte, plätscherte der Wasserfall einer Teichanlage. Hecken verbargen das Haus, von der Straße aus war lediglich das Obergeschoss zu sehen. Eine abgeschiedene, beinahe perfekte Welt.

»Gefällt es dir?« Leona Oepen hakte sich bei ihm unter und schmiegte sich an ihn. »Warte nur, bis du es von innen siehst.«

Thomas nickte, seine Gedanken überschlugen sich. Leonas Vater war Pathologe und wenn dieser es sich leisten konnte, in so einem Haus zu leben, schien dieser Zweig der Medizin tatsächlich einträglicher zu sein, als er es für möglich gehalten hatte. Gleichzeitig eröffneten sich vollkommen neue Möglichkeiten für ihn, denn wenn Josef Oepen so erfolgreich war, wie viel mehr war da für ihn selbst drin? Er besaß genug Ehrgeiz, um es mindestens genauso weit zu bringen.

Leona stupste ihn in die Seite. »He, heute Abend gehörst du mir – also denk nicht ständig an …«

»Keine Sorge.« Er verschloss ihre Lippen mit einem Kuss. »Heute gehöre ich ganz dir und deiner Familie.« Er legte einen Arm um Leonas Schultern und ging langsam mit ihr auf das Haus zu. Pathologe. Warum nicht?

Der Sechsundzwanzigjährige hatte sein Examen mit Bestnote bestanden und musste sich nun entscheiden, in welchem Bereich er seinen Facharzt machen wollte. Trotz seiner Unentschlossenheit war er sich einer Tatsache absolut sicher: Keinesfalls würde er als Allgemeinmediziner in einer Praxis versauern. Sein Ziel war es, sich mit seinem Können und seinem Wissen einen Namen zu machen, der noch nach seinem Tod bedeutsam sein würde. Und wenn er dabei auch noch jede Menge Geld verdienen könnte, wäre sein Leben umso erfolgreicher. Vielleicht sollte er Schönheitschirurg der Reichen und Hässlichen werden oder sich der Forschung zuwenden. Oder eben der Pathologie. Er lächelte.

»Zehn Cent für deine Gedanken.« Leona hob eine Augenbraue. »Du siehst aus wie eine Katze, die gerade eine fette Maus verspeist hat.«

»Ich freue mich einfach nur darauf, endlich deine Eltern kennenzulernen. Und wenn sie nur ein bisschen so sind wie du, wird es ein schöner Abend mit interessanten Gesprächen.« Er zog sie an sich und küsste sie. Dabei wanderten seine Augen wieder zu dem Haus. Ein Traum.

»Ist ‘n Netter, dein Thomas.« Nelli stellte das abgeräumte Geschirr auf die Arbeitsplatte in der Küche und sah durch den gemauerten Türbogen hinüber ins Wohnzimmer. »Papa ist auch ganz begeistert.«

»Ach was.« Leona verzog das Gesicht.

»Was ist denn los mit dir, Kleines? Ich dachte, du freust dich, wenn Papa nicht mit dem Fleischerbeil auf ihn losgeht.« Nelli strich ihrer Tochter über die Wange.

Leona atmete tief durch. »Ach, ich weiß auch nicht. Solange wir in Mainz waren, hatten wir seine Freunde und meine – Mediziner, Germanisten und auch noch ein paar andere Fachidioten. Da waren die Gespräche nie einseitig. Und wir waren … ich dachte immer, Thomas und ich gegen den Rest der Welt. Und jetzt …«

»Jetzt hast du das Gefühl, Papa schnappt sich deinen Freund und du bleibst außen vor.«

»Nein.« Leona sah ihre Mutter an und biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe das Gefühl, jetzt erst zu erkennen, dass ich dabei bin, meine Liebe und mein Leben an einen Mann wie Papa zu verschwenden.«

Nelli schnappte nach Luft. »Leona, wie kannst du so etwas sagen? Dein Vater …«

»Geschenkt.« Leona winkte ab. »Du wirst dich in diesem Leben nicht gegen ihn stellen, obwohl er nie Zeit für dich gehabt hat und du trotz Ehemann alleinerziehende Mutter gewesen bist. Ich hab’ dich lieb, Mama.« Sie nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie fest. »Aber ich werde nie deine Fehler machen.« Sie drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte schief. »Wo ist jetzt dein sagenhafter Nachtisch? Vielleicht bringt der ja die Männer zum Verstummen.«

Trotz einer ausgezeichneten Mousse au Chocolat hatte sich die Stimmung verändert. Leona schmollte, umso mehr, als von den Männern keiner zu bemerken schien, dass sie in ein unheilvolles Schweigen verfallen war. Nelli warf ihr hin und wieder traurige Blicke zu, doch die junge Frau reagierte nicht, sondern rührte in ihrer Mousse, ohne einmal davon zu probieren. Schließlich erhob sie sich und ging ohne ein Wort hinaus in den Garten. Josef und Thomas nutzten die Gelegenheit, sich ebenfalls zu erheben. Der Jüngere sah hinüber zur Flügeltür.

»Laufen Sie ihr besser nicht nach.« Josef stellte sich neben ihn. »Das ist eine Machtprobe. Das kenne ich, beinahe seitdem sie auf der Welt ist. Wenn Sie ihr jetzt nachgeben, wird sie Ihnen Ihr weiteres Leben erbarmungslos diktieren.« Er lachte. »Meine Nelli und ich waren auch einmal an diesem Punkt, nicht wahr mein Engel?«

»Du bist ein Esel, wenn du tatsächlich meinst, dass Leona mir ähnelt. Sie hat deinen sturen Schädel.« Nelli nahm sich noch etwas von der Mousse. »Und wenn Sie, Thomas, klug sind, und dafür halte ich sie, weil Leona oft genug am Telefon von Ihrer Intelligenz geschwärmt hat, wenn sie also klug sind, dann überlegen Sie sich, ob Sie dem Rat eines alten Esels so viel Gewicht beimessen. Oder ob Sie Leona in den Garten folgen.« Sie sah abwechselnd beide Männer an, bevor sie sich achselzuckend ihrem Nachtisch widmete.

Josef bedeutete Thomas, ihm zu folgen, und nach einem nur kurzen Zögern und einem letzten Blick in Richtung Garten tat dieser auch, wie ihm geheißen, und beide begaben sich ins Arbeitszimmer des Pathologen.

Dort öffnete der Ältere einen Sekretär aus dunklem Mahagoni, holte Gläser und eine Kristallglaskaraffe hervor und stellte sie auf einen runden Beistelltisch.

»Nichts geht über einen guten Whiskey nach einem guten Essen«, meinte Josef. »Irischer. - Mit Eis?« Er sah Thomas an.

Dieser schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Oepen, pur, bitte.«

Josef nickte und schüttete ihnen beiden ein.

»Ich heiße Josef«, sagte er und reichte Thomas eins der Gläser.

»Thomas.«

Der Ältere lächelte. »Auf du und du.« Er nahm einen Schluck. »Und willkommen in der Familie.«

Auch Thomas nahm einen Schluck. Der Whiskey war mild und hinterließ eine wohltuende Wärme. »Danke.« Er hätte plappern mögen, irgendetwas sagen, um seine Unsicherheit zu überspielen, doch er beschloss zu schweigen und darauf zu warten, dass der Ältere eröffnete.

Der ließ sich Zeit, betrachtete den Studenten genauer und fühlte sich an seine eigenen Anfänge erinnert. Umso mehr, da er in Thomas’ Augen dasselbe entdeckte, dass auch seine Karriere ausgemacht hatte: Ehrgeiz.

Einen flüchtigen Moment lang empfand er Bedauern für seine Tochter, denn auch dieser Mann mochte sie noch so sehr lieben, er würde stets seine Berufung über sie stellen. Und entgegen seiner Worte von vorher, freute er sich über Leonas Wahl, denn sie bedeutete einen weiteren Mann in der Familie, der seine Leidenschaft teilte.

Apropos … er nahm noch einen Schluck Whiskey. »Während des Essens haben wir ja reichlich über den Freund meiner Tochter erfahren – jetzt möchte ich wissen, wie es mit dem Mediziner aussieht«, sagte er dann. »Hast du dich schon für einen Facharzt entschieden?«

Obwohl Thomas die Frage erwartet hatte, wollte er nicht überhastet antworten und sich so womöglich eine Chance verbauen. Am besten ließe er es aussehen, als käme die Idee ihn, den aufstrebenden Studenten, zu protegieren vom Alten selbst. Er trank ebenfalls noch einen Schluck Whiskey und musterte ein weiteres Mal verstohlen das exquisite Interieur des Arbeitszimmers. Antike Mahagonimöbel gesellten sich zu zeitgemäßen, weißen Polstersesseln, Alte Meister hingen neben modernen Drucken an der Wand, der Teppich erinnerte ihn an einen chinesischen Läufer, den er mal in einem Schaufenster gesehen und dessen Preis ihn tief hatte durchatmen lassen. Und dazu der Blick durch die hier ebenfalls offenstehenden Flügeltüren.

»Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden«, antwortete er schließlich, »aber die Pathologie rangiert in meinen Überlegungen ziemlich weit vorne.«

Josef nickte. »Eine Wahl, die ich nur begrüßen kann.« Versonnen schwenkte er den Whiskey in seinem Glas. »Die Pathologie ist mein Leben – wenn ich dir helfen kann, lass es mich wissen. Wenn es dazu beiträgt, dass wir einen fähigen Pathologen mehr bekommen.« Er lächelte.

Thomas lächelte ebenfalls. Der Ältere hatte angebissen, jetzt galt es, die richtige Frage zu stellen. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, er rief sich die möglichen Gesprächsverläufe, die er daheim durchgespielt hatte, ins Gedächtnis. Was hatte er für besonders klug befunden? Welche Frage schien am aussichtsreichsten? Dann, mit einem Mal, wusste er, was er fragen musste. »Sie …« Josef runzelte die Stirn und Thomas geriet ins Stocken. Er hatte doch noch gar nichts gefragt, wieso … Dann begriff er und unterließ es gerade noch, sich vor die Stirn zu schlagen. »Du bist ja nun schon so lange Jahre Pathologe – gab es in all der Zeit einen Fall, der bemerkenswerter war als andere? Der dir, aus welchen Gründen auch immer, in Erinnerung geblieben ist?«

Sein Gegenüber wurde bleich und senkte den Blick in sein Glas. Schweigen breitete sich zwischen den beiden Männern aus, einzig unterbrochen von leisem Blätterrascheln, dass der Wind aus dem Garten ins Zimmer trug. Thomas ohrfeigte sich in Gedanken. So was passierte immer dann, wenn man besonders clever sein und alles besonders gut machen will. Er brauchte dringend einen Einfall, wie er am elegantesten das Thema wieder vom Tapet bekommen könnte, doch just in diesem Moment herrschte in seinem Hirn die große Leere. Mist!

Josef schloss die Augen und holte ein paar Mal tief Luft. »Nun«, begann er schließlich mit belegter Stimme, hielt wieder inne, räusperte sich kurz und führte mit zitternden Fingern das Whiskeyglas an den Mund, um den Inhalt mit zwei großen Schlucken zu leeren. Dann stellte er das Glas mit übertrieben langsamen Bewegungen auf den Couchtisch, wie um Zeit zu schinden.

Er seufzte und sah Thomas überraschend direkt ins Gesicht. »Du legst deinen Finger in eine dreißig Jahre alte Wunde«, sagte er leise. »Und diese Wunde konnte nie verheilen, weil der Fall bis heute nicht aufgeklärt wurde.«

Kai Bruckner stand am Fenster und sah hinunter auf die Mannheimer Straße. Hinter ihm standen sein gepackter Koffer und drei Umzugskartons. Man lernte, sein Leben mit wenig Dingen zu belasten. Vor allem, wenn man so häufig wie er die Stadt wechselte.

»Wie sicher bist du dir?« Es war stets nur diese eine Frage, die Thure Haussmann stellte, und nur, wenn die Antwort ihn zufriedenstellte, machte er seinen Einfluss geltend. So auch letzten Monat.

»Auf einer Skala von eins bis zehn liegt die Wahrscheinlichkeit bei neununddreißig. Mindestens.«

»Gut.«

Nur einen Tag später hielt er seine Versetzung in Händen.

Er atmete tief durch. Eigentlich hatte er Thure belogen. Die Wahrscheinlichkeit lag nicht bei neununddreißig, sie war längst keine Wahrscheinlichkeit mehr. Der Jäger war in Gelsenkirchen aktiv und er, Kai, war der einzige, der davon wusste. Und der ihm Einhalt gebieten konnte. Musste. Für Madsen, Ellie und all die anderen. Und um endlich zur Ruhe zu kommen.

Zeit zu gehen.

Thomas saß in seinem Arbeitszimmer und tippte eifrig in sein Laptop. Seit einer Woche arbeitete er schon, dank Josef Oepens Vermittlung, bei der Pathologie in Essen, und obwohl er mittlerweile desillusioniert war, was die Verdienstmöglichkeiten eines Pathologen anbelangte – das Haus, in dem Leonas Familie lebte, war das Erbe der Großeltern mütterlicherseits – so hatte er doch Feuer gefangen. Und das lag allein an einem dreißig Jahre alten Fall.

»Ich arbeitete damals seit beinahe genau einem Jahr als Pathologe, als ich die merkwürdigste Leiche meines Lebens auf den Tisch bekam.« Mit bebenden Händen goss sich Josef Whiskey nach. Der Flaschenhals verursachte am Glasrand ein leises Klirren, welches Thomas’ Nackenhaare sich aufrichten ließ. Während er die Whiskeytropfen beobachtete, die neben dem Glas auf der polierten Mahagoni-Tischplatte perlten, strich ein eisiger Schauer quälend langsam seinen Rücken entlang.

»Es handelte sich um eine weibliche Tote, dem äußeren Erscheinungsbild nach mindestens siebzig Jahre alt, wenn nicht älter.« Josef gab seiner Stimme einen bemüht sachlichen Klang, aber gerade dieser Umstand, gepaart mit dem gequälten Gesichtsausdruck des Älteren, machte Thomas klar, dass er jetzt etwas zu hören bekam, von dem nur wenige wussten. Und dass es grauenhaft war.

»Die Haut war trocken, faltig und ohne Spannkraft. Doch die Frau war nicht nur alt, sie war quasi eine Mumie, vollkommen ausgetrocknet – es war kaum noch Wasser im Körper, außer …« Josef stockte und drehte das Glas in seinen Händen.

Obwohl Thomas seine Ungeduld nur schwer zügeln konnte, wusste er, dass jede zu diesem Zeitpunkt gestellte Frage die Erzählung abrupt beenden würde. Also sah er betont gleichmütig zu Josef hinüber und wartete darauf, dass dieser endlich fortfuhr.

»Die wenige Flüssigkeit, die wir noch in ihrem Körper vorfanden, war Fruchtwasser.« Josef stand abrupt auf und ging hinüber zu einer der Flügeltüren. Ungeachtet der rabenschwarzen Nacht, die mittlerweile die Außenwelt verhüllte, schien er draußen etwas zu sehen, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte und ihn verstummen ließ.

Thomas schluckte schwer und wälzte die zuletzt gehörten Worte in seinen Gedanken umher. Eine über siebzig Jahre alte Frau und Fruchtwasser? Er betrachtete Josef, wie er mit eingesunkenen Schultern in die Dunkelheit starrte, und sah eine Fassade bröckeln, entdeckte dahinter Verzweiflung und auch eine Spur von Angst. Und so stand er auf, trat zu dem Älteren und legte ihm eine Hand auf die Schulter – und spürte das Zittern, das diesen großen, kräftig gebauten Mann gefangen hielt. »Du musst nicht darüber sprechen, wenn …«, sagte er leise, »wir können auch …«

»Schon gut, Thomas.« Josef drehte sich um und sah ihn an, seine Augen glänzten feucht, und Thomas’ Herzschlag beschleunigte. »Leona hat so viel von dir erzählt, dass ich dich schon kannte, ehe du hier angekommen bist. Und nun, da ich dir persönlich gegenüberstehe, finde ich so vieles von mir selbst in dir wieder. Und dann fragst du auch noch nach diesem alten Fall ...« Er atmete tief durch. »Es wird Zeit, mein Schweigen zu beenden. Und vielleicht bist du es, der mir helfen kann, die Sache endlich zu einem Abschluss zu bringen.«

Auf dem Revier wurde Kai als neuer Kollege zwar freundlich begrüßt, doch ihm blieb auch nicht verborgen, dass sein Auftauchen für Irritationen sorgte, zum einen, weil er gebürtig aus Buer war und niemand verstehen konnte, dass man freiwillig hierher zurückkehrte, zumal eine Rückkehr aus dienstlichen Gründen nicht gegeben war, zum anderen, weil ein anderer Kollege für ihn gehen musste. So jedenfalls war der allgemeine Tenor unter den alteingesessenen Kollegen, und Kai beließ es dabei. Er hatte vor seinem Dienstantritt noch nichts weiter in Erfahrung bringen können, somit vertraute er niemandem. Einzig der Revierleiter war in Kenntnis gesetzt worden, dass Kais Versetzung eine dienstliche Notwendigkeit war, die allerdings noch unter Verschluss gehalten werden musste. Was nicht dazu beitrug, dass der Revierleiter seinerseits frei von Skepsis war. Und wie so viele Male zuvor fragte Kai sich, ob sein Handeln je Erfolg haben würde.

Bei der Einteilung in Teams gab es heimliches Aufatmen, als Kai dem anderen »Neuen« zugeteilt wurde, auch wenn dieses Vorgehen unüblich war. Jan Regnitzer war selbst erst seit einem halben Jahr in Buer und blieb deutlich auf Distanz gegenüber den Kollegen, einerlei ob es Fragen nach seinem Hintergrund oder gemeinsame Aktivitäten in der Freizeit betraf.

Doch davon war Kai nichts bekannt, als er Jan vorgestellt wurde. Beide schüttelten sich die Hand und Kai traf ein Blick aus eismeerblauen Augen, der ihn frösteln ließ, trotz des sympathischen Lächelns und des kaum merklichen Schielens. Dieser Blick! Sein Herzschlag beschleunigte, er wischte seine feuchten Handflächen an den Hosenbeinen ab und bemühte sich, ruhig weiter zu atmen. Erinnerungen wirbelten durcheinander. Die verführerische Madsen mit ihrem Schlafzimmerblick. Die liebevolle Ellie mit ihren lachenden Augen. Und Jans kalter Blick aus wasserhellen Augen … Endlich.

Thomas arbeitete wie besessen. Er hatte es geschafft, nicht nur den Namen der Toten von damals herauszufinden, sondern auch Einsicht in den Fall »Elisabeth David« zu bekommen und sich Kopien der gesamten Akte anzufertigen – und war fasziniert darüber, was er im Autopsie-Bericht nachlesen konnte. Das meiste hatte Josef Oepen zwar bereits erzählt, aber Thomas hatte die Erschütterung hinter seinen Worten gespürt und wurde von dem Gefühl abgelenkt, einen alten Mann trösten zu müssen. Jetzt allerdings, in der unmissverständlichen Sprache der Medizin, teilte sich ihm der Fall als das mit, was er war: eine Sensation.

»Thomas?« Leona erschien im Türrahmen. »Wir müssen gleich los.«

Irritiert sah Thomas von seinen Notizen auf. »Los?«, fragte er verständnislos. »Wohin?«

»Zum Italiener und ins Kino. Schon vergessen?« Leona presste die Worte zwischen den Zähnen hervor, deutliches Anzeichen eines bevorstehenden Wutanfalls.

»Das war heute?« Thomas schüttelte entschieden den Kopf. »Heute kann ich nicht. Geh doch mit Nina.«

Leonas Blick gefror. Doch Thomas bemerkte nichts davon, weil seine Gedanken schon wieder bei Elisabeth David waren.

Nur mühsam hielt Leona sich und ihre Wut unter Kontrolle. Wieder war sie das kleine Mädchen, das darauf wartete, dass ihr Papa mit ihr in den Zoo ging, zum Schwimmen, zum Eis essen. Aber ihr Papa war nun mal nicht von dieser Welt. Er war Pathologe, und dieses kleine Mädchen hatte nie verstanden, warum tote Menschen wichtiger sein konnten als ein lebendiges Mädchen, das ihren Papa liebhatte – und dessen Herz zu zerspringen drohte, weil er sie wohl gar nicht liebhatte. Und nicht selten musste Nelli Oepen ihre Tochter aus Situationen herausholen, an deren Ende sie sonst wohl einer von Josefs toten Menschen geworden wäre.

Diese Wut brodelte jetzt wieder, nur von neuer Qualität, denn Leona war erwachsen und die Liebe war eine andere. Nur das Ergebnis war letztendlich dasselbe.

Nun – Leona zog ihren Büstenhalter aus und ein enges, tief dekolletiertes Oberteil an – sie würde schon dafür sorgen, dass sie heute nicht lange allein blieb.

Elisabeth David war zum Zeitpunkt ihres Todes sechsundzwanzig Jahre alt gewesen – und schwanger. Als man ihre Leiche fand, war der Fötus noch am Leben, und nur, weil der Notarzt, ungeachtet des äußeren Anscheins, einen raschen Kaiserschnitt durchgeführt hatte, konnte das Baby gerettet werden.

Für die beteiligten Personen war das Ganze ein Wunder und zunächst auch ein gutes Omen, denn das Baby hatte nicht nur überlebt, sondern sein Zustand war stabil und besserte sich zusehends, so dass es nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte.

Die Mutter dagegen war bis heute ein medizinisches Rätsel. Vor dreißig Jahren war die Wissenschaft noch nicht so weit wie heute und DNS-Abgleiche schiere Utopie. Alle vorgenommenen Untersuchungen – Blut, Gewebeproben, Skelettanalysen – zeichneten dasselbe Bild, nämlich das einer jungen Frau, Mitte bis Ende zwanzig, organisch völlig gesund – und gestorben an den Folgen einer vollständigen Dehydrierung. Daher das äußere Erscheinungsbild einer Mumie. Zu solch einer Austrocknung konnte es nicht innerhalb so kurzer Zeit gekommen sein, doch es gab etwa ein Dutzend glaubwürdiger und unabhängiger Zeugenaussagen, die übereinstimmend bestätigten, dass Elisabeth noch am frühen Nachmittag, nur wenige Stunden vor ihrem seltsamen Tod, gesund und jugendlich wie immer gewesen war. Das blühende Leben. Und als man sie um 18:30 Uhr fand, war sie das genaue Gegenteil: welk, vertrocknet, verblüht.

Kai und sein Kollege Jan hielten mit dem Streifenwagen vor einer Imbissbude auf der Cranger Straße. Es war bisher ein ruhiger Abend gewesen, angenehm kühl nach der Hitze des Tages und einem kurzen Regenschauer. Selbst der Asphalt brannte nicht mehr, und so hatte Kai vorgeschlagen, eine kurze Pause einzulegen, vielleicht eine Kleinigkeit zu essen und ein wenig Ruhe zu tanken, ehe die Nacht wieder das Ruder übernahm mit all ihren das Tageslicht scheuenden Bewohnern.

Wie immer fiel kaum ein Wort zwischen den beiden Polizisten, aber Kai bemerkte eine Unruhe bei Jan, die ungewöhnlich war. Er hielt öfter inne, als lauschte er auf etwas, das außerhalb Kais Wahrnehmung lag. Oder als nähme er Witterung auf. Dann glänzten seine Augen für einen Moment wie im Fieber und zeigten eine abgründige Tiefe, die Kai schaudern ließ.

Thomas schaltete den PC aus und lehnte sich zurück. Bereits nach einer nur oberflächlichen Recherche im Internet hatte er etwa zwanzig Berichte von dehydriert aufgefundenen Leichen