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Ein preisgekrönter Ermittler-Krimi der Extraklasse von Skandinaviens Starautor Jørn Lier Horst Ungemütliche Zeiten für Hauptkommissar William Wisting: Wegen des Vorwurfs, Beweise manipuliert zu haben, wird er vom Dienst suspendiert. Der Fall, um den es geht, liegt schon siebzehn Jahre zurück. Damals war die junge Cecilia Linde erst verschwunden und dann ermordet aufgefunden worden. Wisting hatte den Täter überführen können, doch nun stellt sich heraus, dass die Beweise gefälscht waren. Ein gefundenes Fressen für die Medien, unversehens findet sich der Hauptkommissar in der Rolle des Gejagten wieder. Ihm bleibt nur ein Ausweg: Er muss so schnell wie möglich herausfinden, was damals wirklich geschah. "Ein Skandinavier, der ohne blutige Greuel auskommt - herrlich!" Neue Presse
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Seitenzahl: 490
Jørn Lier Horst
Jagdhunde
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
Knaur e-books
Ein preisgekrönter Ermittlerroman der Extraklasse von Skandinaviens Starautor Jørn Lier Horst
Ungemütliche Zeiten für Hauptkommissar William Wisting: Wegen des Vorwurfs, Beweise manipuliert zu haben, wird er vom Dienst suspendiert. Der Fall, um den es geht, liegt schon siebzehn Jahre zurück. Damals war die junge Cecilia Linde erst verschwunden und dann ermordet aufgefunden worden. Wisting hatte den Täter überführen können, doch nun stellt sich heraus, dass die Beweise gefälscht waren. Ein gefundenes Fressen für die Medien, unversehens findet sich der Hauptkommissar in der Rolle des Gejagten wieder. Ihm bleibt nur ein Ausweg: Er muss so schnell wie möglich herausfinden, was damals wirklich geschah.
»Ein Skandinavier, der ohne blutige Greuel auskommt – herrlich!« Neue Presse
Kräftige Regenschauer peitschten gegen das Fenster. Das Wasser lief an den Scheiben herab und tropfte vom Dachvorsprung auf die Tische draußen. Heftige Windböen ließen die nackten Äste der Pappeln über die Hauswände kratzen.
William Wisting saß an einem der Fenstertische und starrte hinaus. Festgeklebtes Herbstlaub wurde von den feuchten Gehwegen losgerissen und mit dem Wind fortgetrieben.
Draußen im Regenwetter stand ein Umzugswagen. Ein junges Paar lud ein paar große Pappkartons ein und eilte zurück in den Hauseingang.
Wisting mochte Regen. Wieso genau, wusste er nicht, aber irgendwie schien er alles abzudämpfen. Bei Regen konnte er die Schultern entspannen, und sein Pulsschlag beruhigte sich.
Weiche Jazztöne mischten sich unter das Geräusch des Niederschlags. Wisting drehte sich zum Tresen. Die Flammen der vielen Kerzen warfen zuckende Schatten auf die Wände. Suzanne lächelte zu ihm herüber, streckte die Hand nach dem Regal an der Wand aus und drehte die Musik etwas leiser.
Das länglich geformte Lokal war nicht völlig leer. Drei junge Männer saßen an einem Tisch vor dem Tresenende. Das intim und gleichermaßen urban wirkende Café war für viele Studenten der neu eröffneten Abteilung der Polizeihochschule zu einem Stammlokal geworden.
Wisting drehte sich wieder zum Fenster. Zum Goldenen Frieden verkündete ein bogenförmiger Schriftzug mit seitenverkehrten und vereisten Buchstaben. Galerie und Kaffeebar.
Das war immer Suzannes Traum gewesen. Wie lange sie ihn schon geträumt hatte, wusste er nicht. An einem kalten Winterabend hatte sie ihr Buch beseitegelegt und erzählt, es handele von einem Fährmann auf dem Hudson River. Sein ganzes Leben war er zwischen New York und Jersey hin- und hergefahren, immer wieder. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Eines Tages dann hatte er eine große Entscheidung getroffen. Er hatte das Schiff gewendet und es mit vollem Tempo aufs Meer hinausgesteuert, auf das große Meer, von dem er sein ganzes Leben lang geträumt hatte. Am nächsten Tag hatte Suzanne das Café gekauft.
Sie hatte ihn gefragt, was sein Traum sei, aber er hatte nicht geantwortet. Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht wusste, welchen Traum er hatte. Er mochte sein Leben so, wie es war. Er war Polizist und hatte nicht den Wunsch, dass irgendetwas anders sein sollte. Seine Arbeit als Ermittler gab ihm das Gefühl, etwas Wichtiges und Bedeutsames zu tun.
Er griff nach seiner Kaffeetasse, zog die Sonntagszeitung zu sich heran und warf einen erneuten Blick in die herbstliche Dämmerung. Normalerweise saß er ganz hinten im Lokal, wo er von anderen kaum bemerkt wurde. Doch bei diesem Wetter waren nicht so viele Menschen unterwegs. Er konnte in Frieden am Fenstertisch sitzen, ohne dass einer der Passanten ihn erkannte und hereinkam, um sich mit ihm zu unterhalten. Nach einer Weile hatte er sich daran gewöhnt, auf der Straße angesprochen zu werden. Immer häufiger hatte er sich überreden lassen, in einer Talkshow im Fernsehen aufzutreten und über einen der Fälle zu sprechen, an denen er gearbeitet hatte.
Einer der jungen Männer am Tisch vor dem Tresen hatte zu ihm hingesehen, als er hereingekommen war, und die anderen angestoßen. Wisting hatte auch ihn erkannt. Er war einer der Polizeistudenten. Zu Beginn des Semesters war Wisting eingeladen worden, einen Vortrag über Ethik und Moral zu halten. Der junge Mann war einer von denen, die in der ersten Reihe gesessen hatten.
Wisting zog die Zeitung noch näher heran. Auf der Titelseite waren Tipps zum Abnehmen, ein Wetterbericht, der noch mehr Regen ankündigte, und ein Artikel über Intrigen bei einer Realityshow im Fernsehen. Die Sonntagszeitungen brachten nur selten ganz aktuelle Nachrichten. »Konservendosenstoff«, so nannte Line die Sachen, die Tage und Wochen in der Redaktion gelegen hatten, bevor sie gedruckt wurden.
Seit fast fünf Jahren war seine Tochter jetzt Journalistin bei VG. Ein Beruf, der zu ihrer Neugier und dem kritischen Bewusstsein passte, über das sie verfügte. Sie hatte verschiedene Abteilungen durchlaufen, arbeitete zurzeit jedoch für die Kriminalredaktion. Mitunter geschah es, dass die Redaktion, zu der sie gehörte, über Fälle berichtete, an denen Wisting arbeitete. Das versetzte ihn in eine Doppelrolle, die er allerdings gut zu handhaben wusste. Was ihm an der Berufswahl seiner Tochter weniger gefiel, war der Gedanke, dass sie bei diesem Job mit allen Grausamkeiten des Alltags konfrontiert wurde. Wisting war seit einunddreißig Jahren Polizist. Das hatte ihm nicht nur Einblick in alle erdenklichen Formen der Brutalität und Verdorbenheit gewährt, sondern auch zahlreiche schlaflose Nächte beschert. Er wünschte sich, dass seine Tochter von so etwas verschont bliebe.
Wisting überblätterte die Kommentarspalten und durchstöberte die aktuellen Meldungen. Er rechnete nicht damit, einen Artikel von Line zu finden. Erst vor dem Wochenende hatte er mit ihr gesprochen und wusste daher, dass sie ein paar Tage freihatte.
Im Laufe der Zeit war es ihm immer wichtiger geworden, aktuelle Nachrichten mit Line zu erörtern. Es war ihm nicht leichtgefallen, das zuzugeben, aber die Unterhaltungen mit Line hatten etwas daran geändert, wie er seine eigene Rolle als Polizist begriff. Sie hatte einen unvoreingenommenen Blick auf ihn und seine Berufsgruppe, der ihn mehr als nur einmal dazu gebracht hatte, ein paar starre Ansichten über sich selbst zu hinterfragen. Spätestens bei seinem Vortrag vor Polizeistudenten, als er darüber gesprochen hatte, wie wichtig es für die Sicherheit und das Vertrauen der Menschen war, dass die Polizei mit Integrität, Anständigkeit und gutem Benehmen auftrat, war ihm klar geworden, dass Lines Ansichten einen wertvollen Aspekt darstellten. Er hatte versucht, seinen zukünftigen Kollegen zu erklären, wie wichtig die Grundwerte für die Rolle der Polizei waren. Dass es hierbei um Sachlichkeit und Objektivität ging, um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sowie eine stetige Suche nach der Wahrheit.
Als er zur TV-Programmübersicht ganz hinten in der Zeitung kam, standen die Studenten vom Tisch auf. Sie blieben vor der Tür stehen und knöpften sich die Jacken zu. Der Größte von ihnen blickte zu Wisting herüber. Wisting lächelte und grüßte mit einem Nicken.
»Heute frei?«, fragte einer der beiden anderen.
»Einer der Vorteile, wenn Sie erst mal so lange dabei sind wie ich«, erwiderte Wisting. »Arbeit von acht bis vier und an den Wochenenden frei.«
»Danke übrigens für den tollen Vortrag.«
Wisting nahm seine Kaffeetasse. »Freut mich, dass Sie das sagen.«
Der Student wollte noch etwas hinzufügen, doch Wistings Telefon klingelte. Er zog es hervor, sah, dass Line anrief, und nahm das Gespräch an.
»Hallo Papa«, sagte sie. »Hat dich irgendwer von der Zeitung angerufen?«
»Nein«, sagte Wisting und nickte den drei Studenten zu, die auf dem Weg nach draußen waren. »Warum sollten sie? Ist was passiert?«
Line antwortete nicht sofort.
»Ich bin gerade in der Redaktion«, erklärte sie schließlich.
»Hast du nicht frei?«
»Doch, aber ich war beim Training und hab nur mal kurz vorbeigeschaut.«
Wisting trank einen Schluck Kaffee. In seiner Tochter erkannte er viel von sich selbst wieder. Die Wissbegier und den Wunsch, immer dort zu sein, wo die Dinge passierten.
»Morgen wird was über dich in der Zeitung stehen«, sagte Line. Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: »Aber diesmal bist du es, hinter dem sie her sind. Sie wollen dich fertigmachen.«
Line hörte den Atem ihres Vaters im Hörer. Ziellos zog sie den Mauszeiger über den Bildschirm. Der Artikel über ihren Vater war bereit zum Publizieren. Sein Gesicht prangte auf der Titelseite.
»Es geht um den Cecilia-Fall«, erklärte sie.
»Den Cecilia-Fall?«, wiederholte Wisting am anderen Ende der Leitung.
Seine Stimme klang zögernd. Das war einer der Fälle, über die er nie hatte sprechen wollen. Eine schwierige und schmerzhafte Sache.
»Cecilia Linde«, präzisierte Line, wusste aber genau, dass ihr Vater keine Auffrischung seiner Erinnerung benötigte. Damals war er ein junger Ermittler gewesen, und die Sache hatte zu den meistdiskutierten Mordfällen des Jahrzehnts gehört.
Sie hörte ihren Vater schlucken und vernahm das Geräusch einer Tasse, die auf den Tisch gestellt wurde.
»Ja, und?«, sagte er schließlich.
Line blickte vom Bildschirm auf. Der Redaktionsleiter erhob sich vom Newsdesk und ging auf die Treppe zu, die in die darüberliegende Etage führte. Es war Zeit für die abendliche Redaktionssitzung, auf der die letzten Feinheiten für die morgige Ausgabe abgestimmt wurden und entschieden werden sollte, was auf die Titelseite kam. Der Artikel über ihren Vater füllte zwei ganze Seiten und sollte offenbar auf der Titelseite beginnen. Der Mord an Cecilia Linde war den Lesern immer noch gut in Erinnerung und würde sich auch jetzt noch, siebzehn Jahre später, gut verkaufen.
»Haglunds Anwalt hat einen Antrag bei der Wiederaufnahmekommission eingereicht«, erläuterte Line, nachdem der Redaktionsleiter gegangen war.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.
Der Nachrichtenchef schob einen Stapel Papiere zusammen und folgte dem Redaktionsleiter in die Sitzung. Line überflog den Artikel noch einmal. Eigentlich erhielt er mehr Fragen als Antworten, und sie begriff, dass diese Sache als unterhaltsamer Feuilletonstoff gehandelt werden würde, nicht nur in ihrer Zeitung.
»Ein Privatdetektiv hat an dem Fall gearbeitet«, fuhr sie fort.
»Was hat das eigentlich mit mir zu tun?«, fragte Wisting, doch Line hörte an seiner Stimme, dass er genau wusste, was nun passieren würde.
Damals, vor siebzehn Jahren, hatte ihr Vater die Ermittlungen geleitet. Inzwischen war er zu einem profilierten Polizeibeamten herangereift. Ein bekanntes Gesicht, das zur Verantwortung gezogen werden konnte und es einfacher machte, die Tagesordnung zu bestimmen.
»Sie behaupten, es hätte manipulierte Beweise gegeben«, erklärte Line.
»Welche Beweise?«
»Die DNA-Probe. Sie glauben, die Polizei hätte sie gefälscht.«
Line konnte ahnen, wie sich die Finger ihres Vaters um die Kaffeetasse auf dem Tisch vor ihm krallten.
»Und womit begründen sie das?«, wollte er wissen.
»Der Anwalt hat die Beweisstücke erneut analysieren lassen und glaubt, dass die Zigarettenkippe, auf der die Probe gefunden wurde, vertauscht war.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Der Anwalt meint, er könne es beweisen, und hat die ganze Dokumentation an die Wiederaufnahmekommission geschickt.«
»Ich verstehe nicht, wie er da was beweisen will«, murmelte Wisting.
»Sie haben auch einen neuen Zeugen«, fuhr Line fort. »Er kann Haglund ein Alibi geben.«
»Und wieso hat der Zeuge dann damals nicht ausgesagt?«
»Das hat er«, sagte Line und schluckte. »Er soll angeblich damals angerufen und mit dir geredet haben, aber dann sei nichts mehr passiert.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still.
»Ich muss jetzt ins Abendmeeting«, sagte Line. »Aber irgendwer wird dich noch anrufen und um eine Stellungnahme bitten. Du solltest dir genau überlegen, was du sagst.«
Wisting schwieg weiter.
Line ließ den Blick auf dem Bildschirm ruhen. Das Foto ihres Vaters nahm fast den ganzen Platz ein. Sie hatten ein Bild gewählt, das ihn in dieser Talkshow vor fast einem Jahr zeigte. Die Studiokulissen waren leicht wiederzuerkennen und betonten auf subtile Weise, dass es sich um einen bekannten Ermittler handelte, dem nun ein Gesetzesbruch vorgeworfen wurde.
Auf dem Bild war sein dichtes schwarzes Haar leicht in Unordnung geraten. Ein verkniffenes Lächeln spielte um seinen Mund, und die Falten in seinem Gesicht verrieten, dass er schon einiges erlebt hatte. Seine dunklen Augen blickten bedächtig in die Kamera. In der Fernsehsendung war er als rechtschaffener und erfahrener Polizist aufgetreten, aber auch als fürsorglicher und rücksichtsvoller Ermittler mit einem ausgeprägten Sinn für gesellschaftliches Engagement. Morgen würde ihn die Bildunterschrift in den Augen der Leser völlig anders erscheinen lassen. Sein Blick könnte als kalt, sein verkniffenes Lächeln als falsch aufgefasst werden. Die Macht der Medien würde zu Ohnmacht führen.
»Line?«
Sie hielt den Hörer dichter ans Ohr.
»Ja?«
»Das ist alles nicht wahr. Nichts von dem, was sie sagen, ist wahr.«
»Ich weiß, Papa. Das brauchst du mir nicht zu sagen, aber ungeachtet dessen wird es morgen in der Zeitung stehen.«
In den Redaktionsräumen hatte sich abendliche Stille ausgebreitet. Die Meldungen der ausländischen Nachrichtenkanäle huschten über die stummen Fernsehbildschirme, nur unterbrochen von einzelnen, leise geführten Telefonaten und dem Geräusch geübter Finger, die über Tastaturen flogen.
Line wollte sich gerade aus dem Computer ausloggen, als der Redaktionsleiter vom Abendmeeting zurückkam. Er hieß Joakim Frost, wurde aber von allen nur Frosten genannt.
Er blickte über die Redaktionsräume, bevor er zu ihr herüberkam. Sein Blick war kalt, so als würde er durch sie hindurchsehen. Es wurde gemunkelt, dass er seine Stellung als Redaktionsleiter gerade deswegen bekommen hätte, weil er außerstande war, die menschlichen Tragödien hinter den Schlagzeilen zu sehen. Sein Mangel an Empathie hatte ihm mit anderen Worten also die passende Qualifikation verschafft.
»Tut mir leid«, sagte er und schien offenbar davon auszugehen, dass sie den vorbereiteten Artikel über ihren Vater gelesen hatte. »Eigentlich wollte ich dich anrufen und informieren, aber jetzt bist du ja hier.«
Line nickte. Sie wusste, dass er den Artikel maßgeblich vorangetrieben hatte, und kannte ihn zu gut, um jetzt eine Diskussion darüber zu beginnen. Er war ein standhafter Verfechter der kommerziellen Interessen der Zeitung. Für ihn ging es darum, Leitartikel zu produzieren, und sie hatte keinerlei Interesse, ihn jetzt womöglich über eine freie und unabhängige Presse schwafeln zu hören. Außerdem wäre er wohl ohnehin nicht an ihren Gegenargumenten interessiert. Frosten war jetzt schon fast vierzig Jahre bei der Zeitung. In seinen Augen war sie noch immer eine unbedeutende Anfängerin.
»Das ist eine Sache, die wir nicht aufhalten können«, sagte er.
Line nickte wieder.
»Hast du mit deinem Vater gesprochen?«
»Ja.«
»Und was sagt er?«
»Dazu wird er selbst einen Kommentar abgeben.«
Frosten nickte. »Er hat natürlich das Recht, sich zu äußern.«
Line gestattete sich ein schiefes Grinsen. Eine Erwiderung auf Beschuldigungen zu geben, die auf der Titelseite erschienen, war kaum einen feuchten Dreck wert. Außerdem war es ein hoffnungsloses Unterfangen, kurz vor Drucklegung der Zeitung am Telefon auf eine Sache einzugehen, an der die ganze Redaktion gearbeitet hatte.
»Hör zu, Line«, fuhr Frosten fort. »Ich verstehe, dass das nicht einfach ist. Das war es auch für mich nicht, aber bei dieser Sache geht es um weitaus mehr als Gedanken und Gefühle. Es ist sehr wichtig, dass die Presse als kritischer Beobachter auftritt. Das hier ist eine Sache von allgemeinem und nationalem Interesse.«
Line stand auf. Seine Argumente waren scheinheilig und konnten nur mühsam überdecken, was ihm wirklich wichtig war: die Höhe der verkauften Auflage. Die Integrität der Zeitung konnte sicherlich auch bewahrt werden, ohne eine Sensationsausgabe mit ihrem Vater als Hauptperson zu fabrizieren. Die Sache musste doch überhaupt nicht an eine bestimmte Person gebunden sein. Genauso gut hätten die Vorwürfe an die Polizei als Organisation und öffentliche Behörde gerichtet sein können. Aber so etwas würde sich natürlich nicht so gut verkaufen.
»Wenn du Zeit für dich brauchst, kannst du gern ein paar Tage freinehmen«, bot ihr der Redaktionsleiter an. »Meinetwegen kannst du auch erst zurückkommen, wenn das alles vorbei ist.«
»Nein, danke.«
»Ich glaube, das hätte alles noch viel hässlicher werden können, wenn wir da jemand anderen rangelassen hätten.«
Line schaute weg. Der Gedanke an das Gesicht ihres Vaters auf der Titelseite der morgigen Zeitung verursachte ihr Übelkeit.
»Lass es gut sein«, bat sie.
»Line!«
Der Ruf kam vom Nachrichtenchef. Er stand mit einer der Abendreporterinnen zusammen, riss ein Blatt von ihrem Notizblock ab und kam mit schnellen Schritten näher.
»Ich weiß, du hast frei, und es passt bestimmt ganz schlecht. Aber könntest du vielleicht eine Sache übernehmen?«
Line kam gar nicht zum Nachdenken, sondern fragte nur automatisch: »Um was geht’s denn?«
»Mord in Gamlebyen in Fredrikstad. Wir haben zwar noch keine Bestätigung von der Polizei, aber wir haben einen Tipp von jemandem bekommen, der neben einer blutigen Leiche steht.«
Line spürte, wie die Neuigkeit sie elektrisierte und gleichzeitig beruhigte. Es waren genau solche Sachen, mit denen sie gern arbeitete. Darin war sie gut. Sie hatte einen Riecher, um an Quellen heranzukommen, und eine ganz eigene Fähigkeit entwickelt, diese anzuzapfen und zu analysieren, sodass sie wusste, welche sie verwenden konnte und welchen eher nicht zu trauen war.
Frostens Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Er ruft uns vom Tatort an?«
»Erst die Polizei, dann uns.«
»Falsche Reihenfolge, aber okay. Wer besorgt uns denn Fotos?«
»In zehn Minuten ist ein Freelancer zur Stelle, aber wir brauchen einen Reporter.«
Joakim Frost drehte sich zu Line. »Wenn du keine freien Tage nehmen möchtest, dann solltest du jetzt besser aufbrechen«, sagte er und ging mit schnellen Schritten zu seinem Schreibtisch.
Line betrachtete seinen Rücken und begriff, dass es wohl wesentlich angenehmer für ihn und die anderen wäre, wenn sie die nächsten Tage in der Østfold-Provinz verbrächte, als hier in der Redaktion zu hocken.
Der Nachrichtenchef reichte ihr einen Zettel mit Namen und Telefonnummer des Anrufers, der die Leiche gefunden hatte. »Das könnte sehr interessant sein«, sagte er und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Die Titelseite geht erst in vier Stunden in Druck.«
Der Journalist rief kurz vor zehn an. Wisting verstand seinen Namen nicht, begriff aber sehr wohl, dass er für Verdens Gang arbeitete.
»Wir bringen morgen etwas über den Cecilia-Fall«, setzte er an. »Rechtsanwalt Sigurd Henden hat einen Antrag bei der Wiederaufnahmekommission eingereicht.«
»Aha.«
»Wir hätten gerne Ihre Stellungnahme zu den Vorwürfen, dass Sie die Beweise gefälscht haben, die zu Rudolf Haglunds Verurteilung führten.«
Wisting räusperte sich und fragte mit fester Stimme: »Wie war Ihr Name, bitte?«
Der Journalist zögerte, und Wisting bekam den Verdacht, dass er sich absichtlich so undeutlich vorgestellt hatte.
»Eskild Berg.«
Wisting räusperte sich erneut. Es musste sich um einen gewöhnlichen Nachrichtenjournalisten handeln und nicht um einen der Leute aus der Kriminalredaktion, mit denen er normalerweise sprach, wenn es etwas gab. Er glaubte, seinen Namen schon einmal gelesen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, dass er bereits mit ihm zu tun gehabt hatte.
»Wie lautet Ihre Stellungnahme zu den Vorwürfen, dass Sie Beweise gefälscht haben?«, wiederholte der Journalist.
Wisting spürte einen unangenehmen Schauer über Nacken und Rücken kriechen, schaffte es aber, seine Stimme ruhig zu halten. »Ich kann das nur schwer kommentieren …«, erwiderte er, »… da ich den Inhalt der Beschuldigungen nicht kenne.«
»Rechtsanwalt Henden behauptet, er könne beweisen, dass Rudolf Haglund aufgrund gefälschter Beweise verurteilt wurde.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie waren doch verantwortlich für die Ermittlungen?«
»Das ist richtig.«
»Und stimmen die Vorwürfe? Wurden Beweise gefälscht?«
Wisting schwieg, während er sich im Kopf eine Antwort zurechtlegte. Der Journalist konnte wohl kaum erwarten, eine Bestätigung der Vorwürfe zu bekommen, war aber anscheinend darauf aus, ihm einen Kommentar zu entlocken.
»Mir sind die Hintergründe der Behauptung Hendens nicht bekannt«, sagte er langsam, damit der Journalist mitschreiben konnte. »Und ebenso wenig ist mir bekannt, dass es irgendwelche Unregelmäßigkeiten bei den Ermittlungen gegeben hat.«
»Es soll auch einen Zeugen geben, dem es verwehrt wurde, eine Aussage zu machen«, fuhr der Journalist fort. »Einen Zeugen, der sich zugunsten Haglunds äußern wollte.«
»Das ist mir ebenfalls nicht bekannt, aber wenn dem so ist, dann bin ich sicher, dass sich die Kommission damit beschäftigen wird.«
»Aber finden Sie nicht, dass das hier ziemlich heftige Anschuldigungen gegen Sie als zuständigen Ermittlungsleiter sind?«
Offenbar versuchte der Journalist, persönliche Reflexionen aus ihm herauszuholen.
»Sie können gerne zitieren, was ich eben gesagt habe«, entgegnete Wisting. »Mehr habe ich heute Abend nicht hinzuzufügen.«
Der Journalist machte noch zwei neue Versuche, kam aber nicht weiter. Wisting legte auf. Er wusste, dass seine Äußerungen ohnehin nicht das Interessanteste an der Sache waren. Er hatte großes Verständnis für die Rolle der Presse als Wachhund. Schließlich war es ihre Aufgabe, Politiker, Machtmenschen und öffentliche Organe zu kritisieren und im Auge zu behalten. Die Presse sollte das Recht verteidigen und Betrug und Unrecht aufdecken. Das waren Prinzipien, die er gerne teilte. Jetzt allerdings schien ihm, dass das Recht sich gegen ihn selbst wendete.
Wistings Blick traf wieder auf die regennasse Fensterscheibe. Gedankenverloren starrte er sein eigenes Spiegelbild an. Das schummrige Licht verwischte die Konturen in seinem Gesicht und machte ihn zu einem Fremden.
Er kannte Rechtsanwalt Henden aus verschiedenen Zusammenhängen. Zwar war er während des Prozesses vor siebzehn Jahren nicht Haglunds Verteidiger gewesen, arbeitete aber als anerkannter und profilierter Anwalt in einer der größten und renommiertesten Kanzleien des Landes und hatte Erfahrungen aus seiner Tätigkeit als Staatssekretär und persönlicher Berater im Justizministerium gesammelt. Wann immer Wisting mit ihm zu tun gehabt hatte, war er ordentlich und korrekt aufgetreten. Er veranstaltete kein Schauspiel für die Zuschauerbänke und hatte für gewöhnlich solide Karten in der Hand, wenn er sich gegenüber den Medien äußerte.
Wisting wusste, dass Henden an dem Fall arbeitete. Vor zwei Monaten hatte der Anwalt darum gebeten, ein paar Dokumente ausleihen zu dürfen. Manchmal geschah es, dass Journalisten, Privatdetektive oder Rechtsanwälte die Polizei zum Öffnen der Archivschränke bewegen konnten, aber nur selten oder fast nie führte das zu irgendwelchen Konsequenzen.
Sigurd Henden war nicht der Typ Anwalt, der Briefe oder Anträge nur deswegen formulierte, um sich bei seinen Mandanten einzuschmeicheln. Er arbeitete auf hohem professionellem Niveau und musste in den alten Falldokumenten etwas gefunden haben, durch das er eine Wiederaufnahme des alten Mordverfahrens bewirken konnte. Wisting allerdings wusste nicht, was das sein könnte, und spürte eine gewisse Beunruhigung.
Suzanne riss ihn aus seinen Gedanken.
»Hilfst du mir mal?«, fragte sie und öffnete den Geschirrspüler. Der heiße Dampf traf ihr Gesicht, sodass sie einen Schritt zurücktreten musste.
Wisting erhob sich, lächelte ihr zu und trat hinter den Tresen, um die Gläser aus der Maschine zu räumen.
Suzanne ging zur Tür, schloss ab und drehte das Geschlossen-Schild so herum, dass es nach außen zeigte. Dann machte sie sich daran, die Kerzen auszublasen.
Wisting öffnete den Mund, um Suzanne von Cecilia Linde zu erzählen, wusste jedoch nicht, wo er beginnen sollte, und machte ihn wieder zu.
Der Regen prasselte auf die Frontscheibe, als Line die Tiefgarage verließ. Das Wasser lief in langen Streifen an den Fenstern hinab und verwischte die Welt außerhalb des Wagens.
Während der ersten Kilometer auf der Autobahn dachte sie nur an ihren Vater und die Ungewissheit, mit der er derzeit leben musste. Sie fühlte sich hilflos, so, als hätte sie ihn verraten.
Sie blickte auf den Beifahrersitz, sah den Zettel mit den Notizen des Nachrichtenchefs und spürte, wie sich andere Gedanken in ihrem Kopf zu formen begannen. Zwar hatte sie keine Möglichkeit zu verhindern, dass der Artikel über ihren Vater gedruckt wurde, konnte es aber vielleicht schaffen, ihn von der Titelseite zu verdrängen. Dabei kam es allerdings ganz darauf an, was sie aus der Sache machen könnte, zu der sie jetzt unterwegs war.
Die ersten Stunden nach einem Mordfall waren sowohl für Journalisten als auch die Polizei besonders wichtig. Sie trat etwas fester aufs Gaspedal, zog ihr Handy hervor und wählte die Nummer des Fotografen, der schon vor Ort war. Sein Name war Erik Fjeld. Ein kleiner, rundlicher und rothaariger Typ mit einer dicken Brille. Schon zwei Mal hatte sie mit ihm zusammengearbeitet.
»Was weißt du?«, fragte sie und kam gleich zur Sache.
»Mittlerweile wurde ein größeres Gebiet abgesperrt«, erklärte er. »Aber als ich herkam, war hier fast niemand.«
»Wissen wir, wer ermordet wurde?«
»Nein, und ich glaube auch nicht, dass die Polizei es weiß.«
Line schaute auf die Uhr. Die Deadline war um Viertel nach eins. Demnach hatte sie ungefähr drei Stunden. Sie hatte schon Titelseiten in kürzerer Zeit geliefert, aber es kam mehr auf den Fall als auf sie selbst an. Immer seltener erschienen Mordfälle auf den Titelseiten der Zeitungen. Das Interesse an derartigen Neuigkeiten sank, wenn die Onlinezeitungen schon über Fälle berichteten, während die Papierzeitungen noch im Druck waren. Da musste es schon etwas ganz Besonderes an einem Fall geben oder eine journalistische Perspektive, die von keiner anderen Zeitung so gebracht wurde.
»Aber es ist ein Mann?«, fragte sie, während sie an den Scheibenwischern vorbei auf die regennasse Fahrbahn schaute, die im Scheinwerferlicht der Autos glänzte.
»Ja, angeblich um die fünfzig.«
Line verzog das Gesicht. Das klang wie ein Fall, aus dem nur schwer etwas zu machen war. Junge Frauen brachten fette Schlagzeilen. So war es einfach. Und die Chancen, dass es sich bei dem Toten um einen Prominenten handelte, standen auch nicht besser. Auf die Schnelle fielen Line nur zwei bekannte Personen ein, die aus Fredrikstad kamen. Roald Amundsen und der Filmregisseur Harald Zwart. Amundsen war fast schon hundert Jahre tot, und Zwart hielt sich bestimmt nicht mal in Norwegen auf.
»Hast du eine Adresse oder eine Autonummer?«, fragte sie weiter.
»Sorry, nichts dergleichen.«
»Sind schon viele von der Presse da?«, wollte sie wissen.
»Nur die Lokalpresse. Demokraten und Fredriksstad Blad und dann noch ein Fotograf, der gewöhnlich für Scanpix arbeitet.«
»Was hast du an Bildern?«
»Ich bin frühzeitig hier gewesen«, erklärte der Fotograf. »War ganz dicht dran und konnte eine gute Serie machen. Der Tote wird zugedeckt. Sein Hund steht neben ihm und reckt den Hals. Tolle Beleuchtung mit Reflexionen von den Blaulichtern. Absperrband und Uniformen im Hintergrund.«
»Hund?«
»Ja, sieht so aus, als wäre er mit dem Hund draußen gewesen und dann überfallen worden.«
Line merkte, dass die Informationen ihre Stimmung aufhellten. Da draußen gab es eine Menge Hundebesitzer.
»Was für ein Hund ist das?«
»Irgend so was Langhaariges. Erinnert ein bisschen an Labbetuss im Kinderfernsehen, wenn du den noch kennst. Nur nicht so groß.«
Line grinste. Sie erinnerte sich an Labbetuss.
»Warte mit den Hundebildern, bis ich da bin«, sagte sie. »Aber schick alles andere rüber. Für die Internetausgabe brauchen sie in der Redaktion bestimmt was anderes als Leserfotos.«
»Die wollen bestimmt auch die Bilder von dem Hund«, wandte der Fotograf ein. »Die sind ziemlich gut.«
»Warte noch damit«, wiederholte Line. Sie brauchte die Bilder für ihren eigenen Aufmacher. Wenn die besten Bilder schon online zu sehen waren, reduzierte sich der Wert ihrer eigenen Arbeit.
Nachdem der Fotograf nichts mehr einzuwenden hatte, beendete Line das Gespräch. Dann warf sie einen Blick in den Rückspiegel und sah in ihre eigenen blauen Augen. Sie war ungeschminkt und hatte nach dem Besuch im Trainingsraum nicht mal ihr Haar richten können.
Ihr schien, als hätte sich innerhalb der letzten Stunde alles um sie herum auf den Kopf gestellt. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich abends aufs Sofa zu legen und einen guten Film herauszusuchen. Doch stattdessen fuhr sie jetzt mit leicht überhöhter Geschwindigkeit auf der E 6 in Richtung Østfold.
Nachdem sie an der Ausfahrt nach Vinterbro vorbeigekommen war, wechselte sie die Spur und griff nach dem Zettel mit der Nummer des Mannes, der die Zeitung angerufen hatte. Eigentlich hätte sie sich für ein Interview mit ihm verabreden sollen, doch dafür war es jetzt zu spät. Sie musste es am Telefon probieren.
Es klingelte lange, bevor jemand abnahm. Der Mann war von seinem Erlebnis offenbar ziemlich mitgenommen. Seine Stimme stockte beim Sprechen.
Line beugte sich vor, legte den Zettel aufs Lenkrad und steuerte mit dem Unterarm, während sie Stichwörter aufschrieb. Seine Geschichte gab nicht mehr her, als sie ohnehin schon wusste.
Der Anrufer hatte sich auf dem Heimweg befunden, als er auf den toten Mann gestoßen war.
»Das Blut floss noch aus ihm heraus«, erklärte er. »Aber ich konnte nichts tun. Sein Gesicht war völlig eingeschlagen.«
Line fuhr angeekelt zusammen. Doch fließendes Blut würde eine hervorragende Schlagzeile abgeben und könnte vielleicht dazu beitragen, den Fall näher an die Titelseite heranzubringen. Wie jemand umgebracht wurde, war immer ein wichtiger Punkt.
»Er wurde also totgeschlagen?«, fragte sie, um ganz sicher zu sein.
»Jaja.«
»Wissen Sie, womit er erschlagen wurde?«
»Nein.«
»Da lag nicht vielleicht irgendwas auf dem Boden? Eine Schlagwaffe oder so?«
»Nein … Also das hätte ich sicher bemerkt, wenn da ein Baseballschläger oder so was rumgelegen hätte. Aber es kann ja auch ein Stein oder etwas anderes gewesen sein.«
»Dann müssen Sie ihn ja gefunden haben, gleich nachdem es passiert ist«, fuhr Line fort und spielte auf das frische Blut an. »Haben Sie sonst irgendjemanden gesehen?«
Einen Augenblick war es still, so als dächte der Mann nach.
»Nein, ich war da ganz allein«, erwiderte er. »Ich und der tote Mann. Und sein Hund.«
Auch nach einigen anderen Fragen hatte Line nichts in der Hand, was sie weiterverwenden konnte. Sie beendete das Gespräch und spürte widersprüchliche Gefühle in sich aufkeimen.
In der Hoffnung, den Artikel über ihren Vater von der Titelseite zu verdrängen, jagte sie blutigen und bestialischen Details hinterher. Um ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen, wünschte sie sich nahezu, dass einem anderen Menschen möglichst viel Leid zugefügt worden war. Das waren Gedanken, in denen sie sich kaum wiederfinden konnte.
Vor ihr auf der Straße wirbelte ein Lastwagen Wasser von der regennassen Fahrbahn auf. Sie überholte ihn und wählte dann die Nummer der Auskunft.
Normalerweise dienten die Redaktionsmitarbeiter als eine Art Bodentruppe, wenn sie selbst irgendwo unterwegs mit einem Fall beschäftigt war. Ein Team, das sie laufend darüber informierte, was die Onlinezeitungen schrieben, und das aus eigenem Antrieb Informationen überprüfte und Dinge recherchierte, bei denen sie Unterstützung haben wollte. Jetzt allerdings hatte sie keine Lust, mit irgendjemandem im Haus zu sprechen.
Eine Frau mit schläfriger Stimme fragte, womit sie helfen könne. Line bat sie um die Nummer einer Tankstelle in Gamlebyen in Fredrikstad. Gerüchte über irgendwelche Geschehnisse in einer Kleinstadt hatten die Tendenz, sich schnell zu verbreiten. Schon oft hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Tankstellen, die auch abends und nachts geöffnet hatten, Orte waren, an denen über alles Mögliche gesprochen wurde.
Line wurde mit der Tankstelle Statoil Ostseite verbunden. Das Mädchen am anderen Ende der Leitung schien jung zu sein. Line stellte sich vor und nahm den Zettel mit den Stichwörtern des Nachrichtenchefs zur Hand.
»Ich arbeite für VG und bin unterwegs, um über den Mord in der Heibergs gate zu schreiben«, erklärte sie und überprüfte noch einmal den Straßennamen auf dem Blatt vor ihr. »Haben Sie davon gehört?«
Line merkte, wie das Mädchen ein Kaugummi in ihrem Mund beiseiteschob, bevor sie antwortete.
»Ja, hier sind schon ein paar Leute gewesen und haben darüber gesprochen.«
»Hat jemand gesagt, wer der Tote ist?«
»Nein.«
»Es soll sich um einen Mann handeln, der seinen Hund ausgeführt hat.«
»Da gibt’s viele, die am Wallgraben mit ihrem Hund rumlaufen.«
»Er hat einen langhaarigen Hund«, bohrte Line weiter. »So einen wie Labbetuss. War er vielleicht mal an der Tankstelle?«
»Labbetuss?«
Das Mädchen am Telefon war offensichtlich zu jung, und Line sparte sich weitere Erklärungen.
»Der Ermordete soll zwischen fünfundvierzig und fünfzig sein«, fuhr sie stattdessen fort.
»Ich glaube nicht, dass ich den schon mal gesehen habe«, sagte das Mädchen nach einigem Zögern. »Zumindest nicht heute, aber ich kann mich gerne mal ein bisschen für Sie umhören.«
»Gut. Könnten Sie meine Nummer notieren und mich anrufen, falls Sie etwas hören? Wir bezahlen auch für verwertbare Informationen.«
Normalerweise erwähnte sie das Honorar für Lesertipps nicht, wenn sie mit Leuten sprach. Aber es konnte ein entscheidender Faktor sein, der die Leute veranlasste zurückzurufen.
»In Ordnung«, erwiderte das Mädchen. »Ist das die Nummer, die hier im Display steht?«
Um sicherzugehen, dass es die richtige war, gab Line ihre Nummer durch und wiederholte die Bitte um Rückruf.
»Übrigens komisches Wetter, um da draußen rumzulaufen«, kommentierte das Mädchen. »Es gießt schon den ganzen Abend wie aus Eimern.«
Line gab dem Mädchen recht, dachte aber nicht weiter darüber nach.
Der nächste Anruf galt der Taxizentrale. Der Mann am Telefon sprach mit einem breiten, aber charmanten Akzent, etwas nasal und mit starker Betonung auf den L-Lauten. Er konnte ihr nicht helfen, verband sie aber mit einem Taxi, das im Tornesveien stand, ganz in der Nähe des Tatorts.
»Haben Sie vielleicht gehört, um wen es sich handeln kann?«, fragte sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
Der Fahrer schien sichtlich bemüht, konnte ihr aber auch nicht weiterhelfen.
»Aber abends laufen hier immer ’ne Menge Ausländer rum«, erklärte er. »Einer unserer Fahrer wurde letzten Sommer in Gudeberg mit einem Messer bedroht und ausgeraubt.«
»Ich glaube, darüber habe ich was gelesen«, erwiderte Line, ohne sich wirklich erinnern zu können.
Der Fahrer versprach ihr, sich bei Kollegen und Bekannten umzuhören. Line gab ihre Telefonnummer durch und erwähnte, dass brauchbare Tipps honoriert würden.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 22:19. Bis jetzt hatte sie nichts Verwertbares. Bis zur Deadline blieben weniger als drei Stunden.
Als Line über die Bogenbrücke fuhr, die das Zentrum Fredrikstads mit Gamlebyen verbindet, war die Deadline noch eine halbe Stunde näher gerückt. Sie kannte sich in der Stadt nicht aus und ließ sich vom Navigationsgerät leiten, das an der Frontscheibe haftete.
Die Heibergs gate lag in einer gut situierten Wohngegend. Auf beiden Seiten der Straße gab es großzügige Grundstücke mit Villen, gepflegten Obstgärten und weiß gestrichenen Lattenzäunen.
An der Einfahrt zu einer Sportanlage war die Straße abgesperrt. Ein Streifenwagen stand quer auf der Fahrbahn, und ein Absperrband trennte ein leidlich großes Areal vom Rest der Umgebung ab. Der Wind ließ das rot-weiße Plastikband hin- und herflattern. Vor der Absperrung standen ein paar Autos und zwei Personen unter einem Schirm.
Line fuhr auf den Parkplatz vor der Sporthalle, brachte den Wagen zum Stehen und spähte in die grauen Regenschleier. Saugte die ersten Eindrücke in sich auf. Zwei strategisch aufgestellte Scheinwerfer durchbohrten die Dunkelheit und den Regen mit ihren kräftigen Lichtstrahlen. Über die Stelle, bei der es sich offenbar um den Tatort handelte, war ein großes Zelt gespannt worden. Es zog sich bis über den Gehsteig und den Fahrradweg, die parallel zu dem abgesperrten Straßenabschnitt verliefen. Im künstlichen Licht konnte Line die Kriminaltechniker in ihren obligatorischen weißen, sterilen Overalls erkennen. Sie liefen umher und legten potenzielles Beweismaterial in mit Merkzetteln versehene Plastiktüten.
Zwei Männer in Regenkleidung mit NRK-Logo auf dem Rücken waren damit beschäftigt, Ausrüstungsgegenstände aus einem weißen Lieferwagen von der Lokalredaktion zu räumen.
Line beugte sich zum Rücksitz hinüber, kramte in ihrer Tasche und zog eine Regenjacke heraus. Sie brauchte eine Weile, bis sie sie übergestreift hatte, und stieg dann aus dem Wagen. Wind und Regen umtosten sie.
Von einem anderen Auto auf dem Parkplatz wurden Lichtsignale in ihre Richtung abgegeben. Mit schnellen Schritten lief Line zu dem wartenden Wagen hinüber. Sie erkannte Erik Fjeld hinter dem Lenkrad und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Die Fußmatte war mit leeren Flaschen, Würstchenpapier und anderem Müll übersät. Es raschelte, als sie die Beine ausstreckte.
»Irgendwas Neues?«, wollte sie wissen.
»Danke, ich find’s auch schön, dich wiederzusehen«, sagte Erik Fjeld und lächelte sie an.
Sie erwiderte sein Lächeln und begriff, dass der Fotograf nichts anderes getan hatte, als hier zu warten. »Kann ich die Bilder sehen?«, fragte sie.
Erik Fjeld stellte den Fotoapparat auf Wiedergabemodus und hielt ihr das Display entgegen.
Das Bild war besser, als sie sich vorgestellt hatte. Die Leiche war mit einer hellblauen Plane zugedeckt worden, aus der nur ein Paar Gummistiefel herausragten. Am Kopfende des toten Mannes saß sein Hund. Die Regentropfen glitzerten in seinem feuchten, zerzausten Fell. Er hielt den Kopf etwas schräg, was ihm ein missmutiges und verwundertes Aussehen verlieh. Gleichzeitig war seine Schnauze hochgereckt und der Mund geöffnet. Man konnte sein Heulen förmlich hören.
Line nickte zufrieden. Es war ein ergreifendes Bild. Der schwarze Asphalt im Vordergrund eignete sich perfekt dazu, von den Redakteuren mit Überschrift und Text versehen zu werden.
»Wo ist der Hund jetzt?«, fragte Line und blickte auf. Atemdunst und Kondenswasser hatten die Innenseite der Frontscheibe beschlagen lassen. Sie beugte sich vor und wischte mit dem Handrücken eine Sichtöffnung frei.
»Da kam ein Wagen von Falck und hat ihn abgeholt.«
»Von Falck?«
»Das ist die Firma, die sich hier in der Stadt um streunende Hunde kümmert. Ich glaube, alle waren froh, als sie ihn mitgenommen haben. Es tat richtig weh, ihn heulen zu hören.«
Plötzlich kam Line ein Gedanke. Sie öffnete die Tür, sodass sich die Innenbeleuchtung einschaltete.
»Wo haben sie ihn hingebracht?«
»Den Hund?«
»Ja. Wo ist er jetzt?«
»Na, ich nehme an, der ist jetzt in deren Aufnahmestation. Im Tomteveien in Lisleby.«
Bevor er zu Ende gesprochen hatte, war Line aus dem Wagen gesprungen.
»Wo willst du hin?«
»Ich will mir seinen Hund ansehen.«
»Soll ich mitkommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Warte hier. Die Leiche wird sicher bald abtransportiert. Davon müssen wir Bilder haben. Ich melde mich, wenn ich dich brauche.«
Sie knallte die Autotür zu, lief zu ihrem eigenen Wagen hinüber und gab den neuen Straßennamen in das Navigationsgerät ein. Die Adresse lag auf der anderen Seite der Glomma, gleich außerhalb des Zentrums. Elf Minuten Fahrtzeit, verkündete das elektronische Display. Nach neuneinhalb Minuten war sie da.
Ein Kranwagen stand mit laufendem Motor vor dem großen Gebäude, dessen Verkleidung aus grauen Stahl- und Aluminiumplatten bestand. Der Fahrer rollte einen Halteriemen zusammen und legte ihn in ein Fach unter die Ladeplane. Er blickte auf, als Line neben ihm anhielt.
Sie stieg aus dem Auto und lächelte ihn an. »Sind Sie von der Firma, die sich hier um entlaufene Hunde kümmert?«, fragte sie und fuhr mit der Hand durch ihre bereits zerzauste Frisur.
»Vermissen Sie einen?«, fragte der Mann und zog seine Arbeitshandschuhe aus.
»Eigentlich nicht«, gab Line zurück. »Aber ich wollte wissen, ob ich mir vielleicht den Hund ansehen könnte, den Sie aus der Heibergs gate abgeholt haben.«
Abwartend blieb sie im orangefarbenen Lichtschein stehen, der von den kräftigen Lampen an der Hauswand rührte.
Der Mann musterte sie vom blonden Kopf bis zu den Schuhspitzen. Als er wieder aufsah, ließ er den Blick in Brusthöhe verweilen und nickte. »Der Hund von dem, der ermordet wurde?«
Line nickte, nannte ihren Namen und erklärte, für wen sie tätig war. Erfahrungsgemäß gab es jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder wurden die Leute abweisend, wenn sie hörten, dass sie Journalistin war, oder sie traf auf jemanden, der eine positive Einstellung zu der Zeitung hatte, für die sie arbeitete. Jemanden, der die Zeitung jeden Tag mit einer Kaffeetasse neben sich las und sich freute, am Inhalt der nächsten Ausgabe mitwirken zu können.
Der Mann vor ihr strich mit der Hand über sein regenfeuchtes Haar. »Wollen Sie mit reinkommen und mal Guten Tag sagen?«, fragte er und blickte dabei auf die Garagenanlage hinter sich.
Line lächelte und folgte dem Mechaniker in eine Halle, wo zahlreiche Fahrräder von der Decke herabhingen.
»Fundsachen«, erklärte der Mann und machte eine ausladende Geste. »Drillo ist da drinnen.« Er zeigte auf eine Tür am anderen Ende der Halle.
»Drillo?«, fragte Line.
»Ja, so nennen wir ihn«, erwiderte der Mann mit einem Lächeln. »Ist ja genauso ein Hund wie der von Drillo.«
Das stimmte, dachte Line. Der Mann, der die bekannte Fußballmannschaft trainierte, hatte einen langhaarigen Hund, genau wie der, den sie auf dem Foto gesehen hatte. Soweit sie wusste, stammte auch der Trainer aus Fredrikstad. Es gab also noch einen Prominenten in der Stadt.
Der Mann schob die Tür auf, die in den angrenzenden Raum führte. Dieser war schwach beleuchtet und bestand aus vier Verschlägen mit Gittern und Drahtnetz vor den Türen.
Der Hund im ersten Verschlag war ein Deutscher Schäferhund mit grauen Barthaaren und leerem Blick. Seine matten Augen blinzelten kurz auf, bevor er den Kopf wieder auf die Pfoten sinken ließ.
Im letzten Verschlag saß der Hund, den die Mannschaft in der Falck-Station bereits auf den Namen Drillo getauft hatte. Sein düsterer Blick folgte aufmerksam allen Bewegungen im Raum. Seine Augen glichen Glasaugen, die durch Line hindurchzusehen schienen, sie aber gleichzeitig direkt fixierten.
Line trat ganz dicht an das Gitter heran. Der Hund stand auf und kam zu ihr, ruhig und abwartend. Line legte die flache Hand auf das Drahtnetz. Der Hund sah sie an und schnüffelte ein bisschen, ohne jedoch mit dem Schwanz zu wedeln.
Der Mann stellte sich hinter Line. »Wollen Sie näher ran?« Er wartete ihre Antwort nicht ab und zog den Splint heraus, der die Drahtnetztür verschloss.
Line ging hinein. Der Hund setzte sich und blickte sie erwartungsvoll an.
»Hallo, mein Großer«, sagte Line und kraulte ihn unter dem Kinn. Dann hob sie die Ohren des Hundes an und untersuchte sie. »Wissen Sie, ob er einen Chip trägt?«, fragte sie und drehte sich zu dem Mann im Overall.
Der Mann verzog das Gesicht. »Auf die Idee ist bisher überhaupt noch niemand gekommen«, sagte er und lief zu einem Schrank hinüber. »Aber wir haben hier irgendwo so ein Lesegerät.«
Bevor Line Kriminalreporterin geworden war, hatte sie einmal einen ausführlichen Artikel über die Identitätskennzeichnung von Hunden geschrieben. Dafür gab es zwei Möglichkeiten. Entweder eine Tätowierung auf der Innenseite des Ohrs oder eine elektronische Kennzeichnung mit einem Mikrochip, den der Tierarzt mit einer Spritze in die linke Halsseite oder oberhalb der linken Schulter injizierte. Dieser Chip enthielt eine Registrierungsnummer, über die man im Internet den Halter ausfindig machen konnte.
»Hier ist es«, sagte der Mann und zog einen Apparat hervor, der wie eines dieser Geräte aussah, mit denen Ladenangestellte den Strichcode der Waren ablasen.
Line versuchte, den Mikrochip zu ertasten, der gleich unter der Haut liegen musste, fand aber nichts. Der Mann trat neben sie und führte das Lesegerät am Hals des Hundes auf und ab.
Plötzlich erklang ein schwaches Signal, und eine fünfzehnstellige Nummer erschien im Display. 578097016663510.
»Lass sie brennen«, bat Wisting.
Suzanne stand über den hintersten Tisch gebeugt und wollte gerade die letzte Kerze ausblasen, als Wisting sie unterbrach. Fragend sah sie ihn an.
»Setz dich mal hin«, sagte er und trat auf den Tisch zu.
Suzanne blickte ihn verständnislos an, setzte sich aber. Die Kerzenflamme beleuchtete ihr Gesicht. Die Pupillen ihrer walnussbraunen Augen waren von hellgrauen Sprenkeln umkränzt, die ähnlich wie Quarzkristalle wirkten und das Licht zurückwarfen.
Wisting schloss die Augen und konzentrierte sich, bevor er ihr gegenüber Platz nahm. Als Suzanne es dem Fährmann auf dem Hudson River gleichgetan hatte, war es Wisting vorgekommen, als würde sie ihm davonsegeln. Nachdem sie das Café eröffnet hatte, das lange in ihrem Kopf herumgespukt war, schien es ihm, als wäre sie zu einer anderen Frau geworden als der, die er in sein Leben gelassen hatte. Am ehesten ging es dabei vielleicht darum, dass sie keinen Anteil mehr an seinem Leben nahm. Das Café war für sie das Wichtigste geworden und verlangte ihr einiges ab. Sechs Tage pro Woche war es geöffnet, jeden Tag zwölf oder vierzehn Stunden. Fast die ganze Summe, die ihr nach dem Verkauf ihres Hauses und ihrem Einzug bei Wisting geblieben war, hatte sie in das Café investiert. Zeit allerdings war die wichtigste Investition. Zwar beschäftigte sie ein paar Aushilfen, erledigte das meiste jedoch selbst, einschließlich Putzen und Buchhaltung. Als sie zusammenzogen, hatte sie eine Leere und einen Mangel ausgefüllt, die nach Ingrids Tod entstanden waren. Jetzt war viel von dieser Leere zurückgekehrt, und nur selten hatten sie Zeit, miteinander zu reden. Meist gab es nur ein paar kurze Stunden, so wie jetzt nach Geschäftsschluss.
Wisting streckte seine Hände über die Tischplatte und verschränkte sie mit Suzannes. Er war unsicher, wo er anfangen sollte. Noch immer konnte ihm der Cecilia-Fall schlaflose Nächte bereiten, aber nur selten sprach er darüber.
»Vor siebzehn Jahren verschwand ein Mädchen namens Cecilia Linde«, setzte er an.
»Ich kann mich daran erinnern«, unterbrach ihn Suzanne und blickte in dem leeren Café umher, so als wäre sie ungeduldig. »Damals bin ich gerade hierhergezogen. Sie war die Tochter von Johannes Linde.«
Wisting nickte. Johannes Linde war ein umtriebiger Immobilieninvestor und Geschäftsmann, der Mitte der Achtzigerjahre durch die Gründung eines eigenen Modelabels bekannt geworden war. Jeder zweite Jugendliche war mit einem von diesen unförmigen Canes-Pullovern herumgelaufen. Seine Tochter hatte auf den zahlreichen Werbeplakaten als Fotomodell posiert.
»Sie hatten draußen bei Rugland ein Landhaus«, fuhr Wisting fort. »Dahin fuhren sie jeden Sommer. Johannes, seine Frau und die beiden Kinder Cecilia und Casper. In jenem Sommer war Cecilia zwanzig. Eines Nachmittags, am Samstag, dem 15. Juli, verschwand sie einfach.«
Die Kerze auf dem Tisch flackerte. Das Wachs lief in dünnen Streifen am Kerzenstumpf herab und bildete schnell trocknende Pfützen auf der Tischdecke. Suzanne blickte ihn weiter an und wartete auf eine Fortsetzung.
»Kurz nach zwei machte sie sich auf zu einer Joggingtour«, erläuterte Wisting. »Kurz vor sieben meldete sie ihr Vater als vermisst.«
Ein Windstoß brachte das Haus zum Ächzen. Der Regen prasselte gegen die Fenster.
»Es war der Sommer, in dem es so heiß war«, erinnerte sich Wisting wie nebenbei. »Cecilia Linde trainierte fast täglich. Sie lief lange Touren, hatte aber keine feste Route. Es gibt da draußen ein Gewirr aus Wanderwegen und schmalen Pfaden, das sie gerne erforschte, und manchmal konnte sie zwei Stunden am Stück unterwegs sein. Die Suchaktion wurde dadurch ziemlich erschwert. Ihre Familie glaubte, sie hätte sich vielleicht den Fuß verrenkt oder wäre gestürzt und hätte sich dabei verletzt. Aber es war noch nicht die Zeit, in der alle ein Handy hatten, und demnach hätte sie auch nicht einfach anrufen und um Hilfe bitten können. Lindes suchten sie in der näheren Umgebung, doch als sie sie nicht fanden, riefen sie die Polizei. Ich war der Erste von der Fahndungsabteilung, der mit der Familie sprach, und so wurde es meine Aufgabe, sie zu finden.«
Wisting schloss für einen Moment die Augen. Vor siebzehn Jahren hatte er eng mit Frank Robbek zusammengearbeitet. Er war ein Jahr jünger als Wisting und hatte die Polizeischule kurz nach ihm beendet. Sie hatten gut harmoniert, doch während der Cecilia-Sache war irgendetwas geschehen. Robbek hatte sich zurückgezogen und mit anderen Fällen beschäftigt. Weder Wisting noch die Kollegen tadelten ihn deswegen. Denn sie alle wussten, was er durchmachte, und dass Cecilias Verschwinden ein persönliches Leid für ihn darstellte.
»Wir suchten den Abend und die ganze Nacht hindurch«, fuhr Wisting fort und schob die Gedanken an Frank Robbek beiseite. »Immer neue Mannschaften kamen hinzu. Hundestaffeln, Zivilschutz, Rotes Kreuz, Pfadfinder, Nachbarn und andere Freiwillige. Als es hell wurde, kam ein Helikopter zum Einsatz. Manchmal war Cecilia nach ihrer Joggingtour noch schwimmen gegangen, also wurde der Suchradius bis zum Meer hin ausgeweitet.«
»Ihr habt sie nach zwei Wochen gefunden«, erinnerte sich Suzanne.
»Zwölf Tage«, bestätigte Wisting. »Man hatte sie draußen bei Askeskogen irgendwo an den Straßenrand geworfen, aber schon lange davor hatten wir begriffen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.«
»Und wieso?«
Wisting löste seine Finger aus der Verschränkung mit Suzannes Händen. »Sie war verschwunden«, sagte er. »Aber niemand verschwindet einfach nur so.«
Er räusperte sich, wie um das zu lösen, was die Erinnerungen an die alte Ermittlung anscheinend zurückhielt.
»Es gab viele, die sie gesehen hatten«, fuhr er fort. »Nachdem sich die Nachrichten verbreitet hatten, meldeten sich Zeugen. Wanderer, Hüttenbewohner, Jugendliche und Bauern. Erst war sie in westliche Richtung gelaufen, hinunter nach Nalumstranda. Dann war sie dem Küstenweg nach Osten und bis zum Gumserød-Hof gefolgt. Dort endeten alle Spuren.«
Wisting erinnerte sich an die Karte, die an seiner Bürowand gehangen hatte, mit all den roten Markierungen, die jeden Ort kennzeichneten, an dem Zeugen sie gesehen hatten. Von Punkt zu Punkt hatten sie eine Linie ziehen können, ungefähr wie bei einem Malen-nach-Zahlen-Spiel in irgendeinem Zeichenheft, und waren so dem Lauf ihrer schicksalhaften Joggingtour gefolgt.
»Am Dienstagmorgen, drei Tage nach Cecilias Verschwinden, tauchte Karsten Brekke im Polizeipräsidium auf. Wie alle anderen hatte er über die Sache gelesen. Die Zeitungen hatten diese Reklamefotos für die Canes-Pullover verwendet, als sie die Vermisstenmeldung auf die Titelseiten setzten.«
»Und hatte er sie gesehen?«, fragte Suzanne.
»Nein, aber er hatte denjenigen gesehen, von dem wir annehmen mussten, dass es sich um den Mörder handelte«, erwiderte Wisting. »Brekke war auf einem Traktor über die Landstraße nach Stavern hineingefahren. An der Kreuzung, wo der Weg vom Gumserød-Hof auf den Helgeroaveien trifft, hatte er einen Opel Rekord mit Rostflecken stehen sehen. Der Kofferraum war offen, und ein Mann lief auf dem Kiesweg hin und her.«
Wisting konnte sich noch immer an die Beschreibung erinnern, die sie bekommen hatten. Von seinem Traktor aus hatte Karsten Brekke genügend Zeit gehabt, um den fremden Mann zu beobachten.
Weißes T-Shirt und Jeans. Breites Gesicht mit kräftigem Kinn. Dicht zusammenstehende Augen und eine von Falten zerfurchte Stirn, so als hätte er sich um irgendetwas Sorgen gemacht. Das Wichtigste allerdings waren zwei kleine Details. Der Mann hatte eine gebrochene Nase, und in seinem Mundwinkel hatte eine Zigarette gehangen.
Wisting hatte die Kriminaltechniker zu der Zufahrt zum Gumserød-Hof geschickt. Sie hatten nur darauf gewartet, mit irgendetwas arbeiten zu können, und durchkämmten die ganze Gegend an der Wegkreuzung. Neben allen Sachen, die sie in den Asservatenbeuteln mitbrachten, waren drei Zigarettenkippen.
»Da wurde doch auch noch was anderes gefunden«, warf Suzanne ein. Offenbar erinnerte sie sich an immer weitere Einzelheiten des Falls. »War das nicht ein Kassettenrekorder oder so was?«
»Cecilias Walkman«, bestätigte Wisting und musste daran denken, wie sich die Zeiten im Laufe der vergangenen Jahre geändert hatten. Heutzutage wurde die Musik drahtlos auf hosentaschengroße Mobiltelefone geladen, die eigentlich ziemlich avancierte Computer waren. Damals musste man noch ein Tonband abspielen.
»Wir bekamen das Gerät am selben Nachmittag herein«, fuhr Wisting fort. »Cecilia hörte beim Laufen immer Musik. Das hatte in den Zeitungen gestanden. Zwei kleine Mädchen hatten den Walkman im Straßengraben an der Landstraße 302 gefunden, nahe der Einfahrt zum Schloss Fritzøehus.«
»Das ist ja fast auf der anderen Seite der Stadt.«
»Das nicht unbedingt, aber eben auch kein logischer Fundort im Verhältnis zur Laufstrecke und dem Zigarettenmann.«
»Zigarettenmann?«
»So haben ihn die Zeitungen getauft, nachdem sie erfuhren, dass man ihn beobachtet hatte. Und so haben wir ihn dann auch genannt.« Wisting strich mit der Hand über die Tischplatte. »Aber genug davon. Es gab keinen Zweifel, dass es sich um Cecilias Walkman handelte.«
Er schluckte. Mit jedem Wort kamen immer mehr Details aus dem alten Fall an die Oberfläche. Eine gelbe Kassette der Firma AGFA. Neunzig Minuten Spielzeit.
»Sie hatte ihre Initialen draufgeschrieben«, fuhr Wisting fort. »CL, und den Namen der Sendung, die sie im Radio aufgenommen hatte. Poprush.«
Wisting schluckte erneut und sah, wie sich Suzanne auf ihrem Stuhl unruhig hin- und herbewegte. Sie erinnerte sich an den Fall und wusste, was er als Nächstes berichten würde. Die Schlagzeilen waren voll davon gewesen, nachdem sich die Neuigkeiten erst einmal verbreitet hatten.
»Die Kriminaltechniker hatten noch immer nicht viel zu tun und untersuchten den Walkman nach Fingerabdrücken. Aber sie fanden nur die Abdrücke einer einzigen Person.«
»Cecilias.«
Wisting nickte und schluckte noch mal.
»Der Walkman lag drei Tage in meinem Büro, bis ich überhaupt auf den Gedanken kam, das Band abzuspielen.«
In einem der Büroräume der Falck-Station standen vier Personen zusammen. Die verschmutzten Overalls der Männer neben Line rochen nach Öl und Metall. Alle Anwesenden waren gleichermaßen begierig herauszufinden, wer der tote Hundebesitzer war.
Einer der jüngeren Angestellten wusste, auf welcher Internetseite man in einer Datenbank nach gekennzeichneten Haustieren suchen konnte. Die Computertastatur vor ihm war durch viele Stunden Büroarbeit mit schmutzigen Arbeitshänden braun geworden. Er brauchte eine Weile, um sich einzuloggen.
Line schaute auf die Uhr. Sie zeigte 23:27. Sie gab sich noch eine Stunde, um alle Informationen einzuholen, bevor sie der Redaktion mitteilen könnte, wie viel Material sie hatte. Danach würde sie eine knappe halbe Stunde bekommen, um den Fall zu Papier zu bringen.
»So«, sagte der junge Mann, als er bereit war. »Haben Sie die Nummer?«
Er schrieb mit einem Finger und gab jede Zahl, die Line aus der Ziffernfolge vorlas, nacheinander einzeln ein. Anschließend drückte er auf Enter, und dann dauerte es nur einen kurzen Augenblick, bevor die Antwort auf dem Bildschirm aufleuchtete.
Jonas Ravneberg, W. Blakstads gate 78, 1630 Gamle Fredrikstad.
Line hatte schon ihren Notizblock gezückt und schrieb eilig alles auf. Dann sah sie wieder auf die Uhr. Sie hatte siebenundzwanzig Minuten gebraucht, um den vermeintlichen Namen des Mannes herauszufinden, der erschlagen worden war. Nichts an diesem Namen kam ihr bekannt vor.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Line in die Runde.
Die Männer schüttelten den Kopf.
Lines Hoffnung, es auf die Titelseite zu schaffen, sank beträchtlich. »Okay«, sagte sie und stopfte den Notizblock in ihre Handtasche. »Dann haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Der Regen hatte zugenommen, und obwohl sie sich auf dem Weg zum Auto ihre Jacke über den Kopf zog, wurde sie schnell klitschnass.
Sie setzte sich hinter das Lenkrad, startete den Wagen und gab W. Blakstads gate 78 in ihr Navi ein. Während das Gerät auf eine Satellitenverbindung wartete, suchte Line den Namen des Mannes, zu dem die Adresse gehörte, im Internet. Abgesehen von einem Eintrag im öffentlich zugänglichen Steuerverzeichnis, gab es keine Treffer. Bescheidene Einkünfte. Kein Vermögen.
Die W. Blakstads gate lag dreizehn Minuten entfernt. Line beugte sich zu dem kleinen Bildschirm vor und sah auf der Karte, dass die Adresse nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt lag, wo der tote Mann gefunden worden war.
Nachdem sie losgefahren war, rief sie erneut die Auskunft an. Um sich mit der möglichen Situation schon vorher vertraut zu machen, wollte sie wissen, welche Telefonanschlüsse unter der Adresse registriert waren. Gab es vielleicht eine Frau, Kinder oder irgendwelche Mitbewohner?
»Eine W. Blakstads gate 78 kann ich in Fredrikstad nicht finden«, erklärte die Frau am anderen Ende der Leitung.
»Und wie sieht es mit Jonas Ravneberg aus?«
Die Antwort erfolgte fast unmittelbar: »Kein Jonas Ravneberg.«
Ohne sich zu bedanken, legte Line auf und wählte die Nummer des Fotografen.
»Erik.«
»Hast du vielleicht schon mal was von einem Jonas Ravneberg gehört?«
Der Fotograf wiederholte den Namen und schien eine Weile zu überlegen, so als wolle er seine Hilfsbereitschaft unterstreichen. »Nein … Nie gehört«, antwortete er schließlich. »Wer soll das sein?«
»Das ist der Hundebesitzer.«
»Das Mordopfer?«
»Das wissen wir noch nicht, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß. Er wohnt in der W. Blakstads gate.«
»Das ist gleich hier vorne. Fährst du dahin?«
»Bin unterwegs.«
Die Scheibenwischer bewegten sich hektisch über die Frontscheibe. Line saß vornübergebeugt hinter dem Lenkrad und blickte angestrengt auf das unscharfe Straßenbild vor ihr. Sie war gespannt, ob die Polizei den Namen und die Adresse schon herausgefunden hatte.
»Was ist bei dir los?«, wollte sie wissen.
»Nichts. Willst du immer noch, dass ich hier auf den Leichenwagen warte?«
»Ja. Ich rufe dich an, wenn ich Bilder brauche.«
Gerade als sie auflegte, kam eine SMS herein. Es war der Nachrichtenchef. Wann kannst du liefern?, wollte er wissen, gefolgt von Du hast ein Zimmer im Quality Hotel Nygata. Bevor sie antworten konnte, kam eine weitere Meldung: Alles okay mit dir?
Eine Stunde. Circa., lautete ihre Antwort. Dann schickte sie eine Message hinterher: Kannst du einen Jonas Ravneberg überprüfen? Familie, Arbeit …
Die vom Navigationsgerät empfohlene Strecke war noch immer von einem Wagen der Spurensicherung blockiert. Line musste zurück auf die Landstraße und dann von der entgegengesetzten Seite in das Wohngebiet hineinfahren.
Auf der einen Seite der W. Blakstads gate lagen einige weiß verkleidete Reihenhäuser. Auf der anderen Seite zog sich eine Rasenfläche bis zum Wallgraben hinunter, der parallel zu der Straße verlief. Hinter dem Wallgraben konnte sie zwischen den kahlen Bäumen das Scheinwerferlicht am Tatort erkennen.
Jedes dieser kleinen Gebäude war von einem weißen Lattenzaun umgeben. Nummer 78 war das letzte Haus in der Reihe.
Sie wunderte sich, dass niemand von der Polizei hier aufgetaucht war. Das konnte zwei Dinge bedeuten. Entweder war sie auf der falschen Spur, oder sie lag der Polizei um Längen voraus.
Sie verlangsamte die Fahrt und blickte zu dem Haus hinüber, konnte aber nichts Auffälliges bemerken. Am Ende der Straße fuhr sie auf einen großen kiesbedeckten Platz. Auf einer kleinen Anhöhe gegenüber ragte eine alte Festung in den nächtlichen Himmel.
Die Reihenhauswohnung hatte zwei Stockwerke. In allen Fenstern brannte Licht, sogar in den schmalen Kellerfenstern. Line blieb sitzen und versuchte, irgendwelche Bewegungen auszumachen. Das Haus wirkte gepflegt und ordentlich und hatte einen separaten Bereich für die Mülltonnen. Auf der anderen Straßenseite stand ein roter Mazda. Line setzte ihren Wagen in Bewegung, fuhr an dem geparkten Auto vorbei und merkte sich das Kennzeichen, das sie daraufhin per SMS ans Straßenverkehrsamt schickte, um den Halter ausfindig zu machen.
Die Antwort kam, noch bevor sie wieder wenden konnte: Jonas Ravneberg.
Sie fuhr zurück zu dem Kiesplatz und wartete ein paar Minuten. An der Wohnzimmerwand konnte sie den oberen Teil einer Landschaftsmalerei erkennen und im anderen Fenster Teile der Kücheneinrichtung. Die einfache schmiedeeiserne Zaunpforte schwang im Wind hin und her. Das Haus wirkte vollkommen verlassen.
Gerade als sie die Autotür öffnete, kam die Antwort des Nachrichtenchefs. Unverheiratet. Keine Kinder. Eltern tot. Frührentner. Nichts im Textarchiv, keine Fotos. Mordopfer?
Unbestätigt, antwortete sie und stieg mit eingezogenen Schultern aus dem Wagen.
Der starke Niederschlag hatte nachgelassen und sich in einen feinen Nieselregen verwandelt. Die Luft war kühler geworden. Ein Windstoß fuhr durch die schwarzen blattlosen Bäume.
Line schüttelte sich und ging hinüber zu der Reihenhausanlage.
Falls der Mann wirklich keine Angehörigen hatte, machte das die ganze Sache in vieler Hinsicht einfacher. Gleichzeitig wurde Line immer neugieriger zu erfahren, wer Jonas Ravneberg eigentlich war. Ausgehend von ihren Recherchen, wirkte er ziemlich unbedeutend. Aber trotzdem hatte ihn jemand ums Leben gebracht. Wie es momentan aussah, wirkte der Mord zufällig, wie ein unvorhergesehener Überfall. Das könnte einen guten Ansatz für die Reportage abgeben. Bevor sie zu schreiben anfing, musste sie drei Dinge tun, wie ihr einfiel. Einen kurzen Blick in das Haus werfen, von der Polizei eine Bestätigung der Identität des Opfers bekommen und mit den Nachbarn reden.
Line schob die Eingangspforte auf. Am Zaunpfosten daneben war ein Schild mit der Aufschrift Hier wache ich und dem Bild eines Hundes befestigt. Die wackligen Steinplatten vor den Stufen ließen sich nur mit Vorsicht überqueren.
Line blieb auf der untersten Treppenstufe stehen. Die Außenbeleuchtung warf einen matten Lichtschein auf den Eingangsbereich. Die Einbruchspuren am Türrahmen waren trotzdem gut erkennbar. Zersplittertes Holz stand in allen Richtungen ab.