Wisting und der ungewollte Verrat - Jørn Lier Horst - E-Book

Wisting und der ungewollte Verrat E-Book

Jørn Lier Horst

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Wenn die eigenen Überzeugungen Leben gefährden Nach tagelangen Regenfällen kommt es zwischen Larvik und Stavern zu einem folgenreichen Erdrutsch, viele Häuser werden zerstört. Wisting und sein Team richten sofort eine improvisierte Krisenleitstelle ein. Bei Sonnenaufgang des Folgetages sind alle Bewohner ausfindig gemacht, das Unglück forderte wie durch ein Wunder keine Opfer. Da entdecken Helfer unter den Trümmern eine Leiche. Der Mann wurde erschossen – laut Gerichtsmedizin 48 Stunden vor dem Erdrutsch. Wisting gerät in einen Fall, der von ihm einen unfassbaren Verrat fordert und das Wichtigste in seinem Leben bedroht: seine Familie.

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Übersetzung aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

© Jørn Lier Horst 2022

Titel der norwegischen Originalausgabe:

»Forræderen«, Bonnier Norsk Forlag AS, Oslo 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Francesco Bergamaschi / Getty Images

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

Kurz vor der Ausfahrt tauchten Blaulichter im Rückspiegel auf. William Wisting nahm Gas weg. Die regennasse Heckscheibe ließ die Konturen im Dunkeln verschwimmen. Das Einsatzfahrzeug der Feuerwehr kam schnell näher. Als es an Wisting vorbeizog, spritzte Wasser von der Fahrbahn seitlich am Wagen hoch.

Nils Hammer saß auf dem Beifahrersitz und blickte auf. Er räusperte sich, sagte aber nichts.

Der Feuerwehrwagen bog in Richtung Larvik ab. Hinter Wisting tauchte ein weiteres Einsatzfahrzeug auf, und er fuhr langsamer, um es vorbeizulassen.

Es war noch ein Einsatzwagen der Feuerwehr, gefolgt von zwei Rettungsfahrzeugen. Feuchtes Herbstlaub wirbelte hinter ihnen von der Fahrbahn auf.

Wisting schaltete das Autoradio aus und sah auf die Uhr am Armaturenbrett. 23:42.

Hammer richtete sich auf, öffnete das Handschuhfach und nahm das mobile Funkgerät heraus. Gerade wurde eine Meldung durchgegeben. Eine Bravo-Streife erhielt Order, nach Süden zu fahren.

»Verstanden«, tönte es krächzend aus dem Gerät.

Wisting und Hammer warteten schweigend auf weitere Meldungen zu dem Geschehen.

»Verkehrsunfall«, mutmaßte Hammer. »Wahrscheinlich was Ernstes.«

Wisting hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Der Asphalt war nass, die Sicht schlecht. Obwohl die Scheibenwischer über die Frontscheibe fegten, waren die Blaulichter nur undeutlich zu sehen. Kurz darauf verschwanden sie im Dunkeln.

»Nichts für uns«, fügte Hammer hinzu. »Wir kümmern uns nur um die Fahrraddiebstähle.«

Während sie auf einem mehrtägigen Seminar gewesen waren, hatte man zwei Rumänen mit einem Lastwagen voll gestohlener Fahrräder angehalten. Ansonsten war in ihrer Abwesenheit nichts Bemerkenswertes vorgefallen.

Hammer hielt das Funkgerät in der Hand. Keiner sagte etwas. Wurden Bravo-Streifen nach Süden beordert, war sehr wahrscheinlich etwas Ernstes passiert, was auch Ermittlungsarbeit erforderte.

Ein weiteres Einsatzfahrzeug näherte sich von hinten. Wisting bremste ab und fuhr dicht an die Leitplanke heran, während ein Taxi auf der Gegenfahrbahn zur Seite auswich. Der Kommandowagen der Feuerwehr brauste vorbei. Der Luftdruck ließ den Wagen erzittern.

»9–8, 9–8, 9–8. Hier ist 1–1.«

Wisting warf Hammer einen Blick zu und folgte dem Feuerwehrwagen. 9–8 war der Sammelruf an alle Einheiten. Er kam nur selten zum Einsatz.

»Vom Møllebakken in Larvik wird gemeldet, dass mindestens vier Häuser von einem Erdrutsch erfasst worden sind. Die erste Einheit vor Ort wird um umgehende Rückmeldung gebeten. Alle verfügbaren Kräfte melden sich bitte auf Kanal zwei. 1–1 Ende.«

Hammer fluchte und wechselte den Kanal.

»1–1, hier zivile Fox-Streife auf Kanal zwei«, meldete er sich und gab ihre Namen durch. »Wir sind drei Minuten entfernt und folgen der Einsatzleitung der Feuerwehr.«

Wisting schaltete die Blaulichter am Kühlergrill ein. Der Regen verwandelte sich in farbige Nadeln, die auf sie herunterpeitschten.

Møllebakken war eine Straße in einem Wohngebiet zwischen Larvik und Stavern. Die Häuser standen auf einem sanft zum Fjord abfallenden Hang. Wisting konnte sich gar nicht vorstellen, wie es dort zu einem so massiven Erdrutsch gekommen war.

Der Funksprecher teilte ihnen die Kennung Fox 4–1 zu.

»Einsatzleiter am Unglücksort ist auf Kanal fünf.«

»Kanal fünf. Verstanden, Ende«, bestätigte Hammer.

Erneut wechselte er den Kanal. Zwischen den verschiedenen am Einsatz beteiligten Einheiten wurden Meldungen hin- und hergeschickt. Angaben über sichere Treffpunkte, Berichte über den Verlauf der Abbruchkante, Erörterungen über Absperrungen und den Einsatz von Scheinwerfern.

»Hermod wohnt im Møllebakken«, sagte Hammer. »Ganz unten am Wasser.«

»Sissels Vater?«, fragte Wisting.

Hammer gab ein schmatzendes Geräusch von sich, als ob er erst seine Lippen befeuchten müsste, um antworten zu können.

»Wir waren am Sonntag zum Essen dort«, sagte er und nickte. »Am 7. Oktober. Da wäre Sissels Mutter siebzig geworden.«

Wisting konzentrierte sich aufs Fahren. Er überlegte, ob er selbst jemanden kannte, der dort wohnte. Der Einzige, der ihm einfiel, war ein Kunsthändler, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte.

»Haben wir unsere Notausrüstung dabei?«, fragte er.

Hammer drehte sich um und warf einen Blick auf die Ladefläche des Kombis.

»Ja, ist an Bord«, sagte er.

Die meisten Dienstwagen verfügten über eine solche Notausrüstung, in erster Linie für Einsätze bei Verkehrsunfällen. Der Kasten enthielt ein Erste-Hilfe-Set, Warnleuchten, Taschenlampen, eine Rettungsleine, etwas Werkzeug, einen Feuerlöscher und Wolldecken.

Der Einsatzleiter am Unglücksort rief sie mit ihrer Funkkennung. Hammer meldete sich.

»Ankunftszeit?«, wollte der Einsatzleiter wissen.

Wisting blickte abermals auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war 23:47.

»Knapp zwei Minuten«, gab Hammer durch.

»Verstanden. Ich möchte, dass ihr auf der Ostseite einen Kontrollpunkt für die Rettungswagen einrichtet und einen Sammelplatz für Tote und Verwundete ausweist.«

Hammer bestätigte den Empfang der Nachricht.

Wisting bog von der Hauptstraße ab. Der Strom war ausgefallen, und die Häuser um sie herum lagen im Dunkeln.

Der Kommandowagen der Feuerwehr bremste vor ihnen ab. Wisting tat das Gleiche. Etwa hundert Meter weiter vorn erhellten Blaulichter den dunklen Nachthimmel.

Während der Feuerwehrwagen weiter geradeaus fuhr, bog Wisting nach links ab, zum Wasser hinunter, und schaltete alle Blaulichter am Wagen ein. Der Regen fiel schräg von oben und spritzte auf den Asphalt. Sie überholten einen Mann mit Taschenlampe, der in dieselbe Richtung lief. In der Türöffnung eines Hauses stand eine ältere Frau mit einer Decke über den Schultern und sah ihnen nach.

Ein Rettungswagen hatte sich vor ihnen quer auf die Straße gestellt, daneben standen drei Männer, zwei Frauen und die Rettungskräfte.

Wisting fuhr an den Straßenrand, schnappte sich seine Jacke vom Rücksitz und stieg aus. Durch den Wind und den Regen waren vereinzelte Rufe zu hören.

Ein paar Zuschauer traten zur Seite, um sie durchzulassen. Wisting zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und ging näher heran. Nur wenige Meter vor ihm war der Asphalt weggerissen worden. Ein etwa sechzig Meter breiter Abgrund verlief bis hinüber zur anderen Straßenseite.

Wisting trat zwei Schritte auf den Abgrund zu. Hammer folgte mit zwei Taschenlampen und reichte ihm eine. Der Erdrutsch schien einem natürlichen Felseinschnitt gefolgt zu sein und hatte alles mit sich gerissen, was zwischen den beiden Seiten gelegen hatte. Dort, wo sie standen, war der Untergrund stabil. Wisting wagte sich ein Stück weiter und stieg auf eine kleine Felskuppe rechts der Straße. Der Strahl der Taschenlampe reichte nicht ganz hinunter, doch er sah Erde, Steine, Lehm und Gebäudereste. Zerdrückte Wände und eingerissene Mauern. Halb verschüttete Autos. Inmitten des Ganzen hatte sich ein reißender Bach aufgetan.

Fünfzig Meter rechts von ihnen blitzte das Licht eines Scheinwerfers auf, der an einem Mast auf dem Dach eines Feuerwehrfahrzeugs befestigt war. Im Flutlicht trat der Umfang der Katastrophe deutlicher zutage. Es mussten mehr als vier Häuser betroffen sein, womöglich sogar zehn, und etwa vierzig Menschen, wenn alle Bewohner zu Hause gewesen waren.

Hammer hielt sich an einem Baum fest und beugte sich über die Abbruchkante.

»Das Haus von Hermod steht noch«, rief er erleichtert.

Wisting blickte in die Richtung, in die er zeigte, und sah ein Haus auf der anderen Seite des Abgrunds, fast unten am Fjord. Der Scheinwerfer der Feuerwehr reichte nicht ganz so weit, aber sie konnten sehen, dass Teile der Erdmassen von der Hauswand gestoppt worden waren.

Hammer zog sich von der Abbruchkante zurück. Die Martinshörner von weiteren Einsatzfahrzeugen schallten aus unterschiedlichen Richtungen durch die Luft. Wisting nahm eine Bewegung unten in den Erdrutschmassen wahr, gleich rechts von ihnen, und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Ein Hund krabbelte auf die Unterseite eines Fahrzeugs, das die Räder in die Luft streckte. Weitere Lebenszeichen waren nicht zu entdecken.

2

Eines der Gebäude direkt an der Abbruchkante war ein zweistöckiges Einfamilienhaus mit Doppelgarage und geräumigem Vorplatz. Wisting zog den Kopf ein und eilte im strömenden Regen zurück zu der kleinen Gruppe von Nachbarn, die sich neben dem Rettungswagen eingefunden hatte.

»Wer wohnt da?«, fragte er und zeigte auf das Haus.

Ein durchnässter Mann meldete sich und trat einen Schritt vor.

»Wir brauchen einen Sammelplatz«, fuhr Wisting fort. »Könnten Sie die Garage öffnen und darin Platz schaffen?«

Der Mann schien froh zu sein, eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Er nickte und machte sich gleich ans Werk.

Hammer gab die Adresse über Funk durch und berichtete, dass sie schon dabei seien, einen Sammelplatz einzurichten.

Das Garagentor wurde manuell von innen geöffnet. Der Hausbesitzer fuhr seinen Tesla hinaus und ließ sich von den anderen Nachbarn dabei helfen, einen Jetski auf einem Hänger hinauszuschieben, der den anderen Stellplatz belegte.

Wisting und Hammer stellten sich in der Garage unter. Zwei weitere Rettungsfahrzeuge kamen angefahren, wendeten auf der Straße und hielten sich bereit. Ihre zuckenden Blaulichter erhellten die regnerische Szenerie.

Immer mehr Meldungen wurden über Funk durchgegeben. Im oberen Abschnitt des Erdrutschbereichs schienen gerade zwei Überlebende gerettet zu werden, parallel dazu war von weiteren, weniger starken Erdrutschen die Rede. Wiederholt wurde die Einrichtung einer Sicherheitszone von einhundert Metern für die Wohnbereiche angekündigt, die nicht auf festem Felsgrund standen. Außerdem kamen fortlaufend Rückmeldungen über die bereits evakuierten Abschnitte herein.

Wisting stellte sich ins offene Garagentor und verfolgte die Ereignisse im Garten nebenan. Zwei Männer hielten eine Frau zwischen sich, die barfuß war und lediglich T-Shirt und Unterhose trug. Ihre Kleidung war verschmiert von Lehm und Erde, und am rechten Oberschenkel hatte sie eine große blutende Wunde. Unter hysterischen Schreien versuchte sich die Frau aus dem Griff der beiden Männer zu befreien. Während ein paar Sanitäter zu ihr eilten, trat Wisting wieder in den Regen hinaus. Die Frau rief einen Namen. Helene. Wiederholte ihn mehrmals, bevor sie zusammenbrach.

»Das ist Ellen Trane«, berichtete der eine der beiden Männer, die sie hergebracht hatten, vermutlich ein Nachbar. Er wirkte sehr aufgeregt, wollte noch etwas hinzufügen, rang aber verzweifelt um Atem und musste von vorn anfangen.

»Sie hat es gerade noch geschafft«, brachte er mühsam hervor. »Aber ihre Tochter liegt noch immer da unten. Helene.«

»Wo?«, fragte Wisting.

Der Mann deutete vage in eine Richtung.

»Sie müssen mir das genauer zeigen«, sagte Wisting. »Warten Sie hier.«

Er holte eine Rettungsleine aus dem Wagen und bat Hammer, den anderen die aktuelle Lage zu melden.

Zwei Männer begleiteten ihn. Alle drei zwängten sich durch eine Thujahecke und kamen in einen Garten. Ein Spielhaus stand oberhalb des Abgrunds, dicht an der Abbruchkante.

Sie gingen weiter zum nächsten Grundstück und traten vorsichtig an die Kante heran. Nur einer der Nachbarn hatte eine Taschenlampe dabei. Er richtete den Strahl in die Tiefe.

»Helene!«, rief er.

Wisting beugte sich vor und leuchtete mit seiner Taschenlampe, sah aber nur die schlammige Masse aus Erde, Lehm, Büschen, Bäumen und Gebäuderesten.

»Es war etwas weiter oben«, meinte der andere Mann.

Sie gingen weiter an der Kante entlang. Der Lichtmast der Feuerwehr warf lange Schatten. Sie suchten das Gelände mit den Taschenlampen ab, und die Lichtkegel kreuzten einander.

»Da!«, rief der Mann mit der Taschenlampe.

Der Strahl flackerte über ein abgerissenes Garagentor, fünfzehn Meter unter ihnen. Erdklumpen lösten sich, als Wisting dicht an die Kante herantrat. Er sah den Rücken und den Hinterkopf eines blonden Kindes. Es hockte in einer tiefen Wasserpfütze und klammerte sich an die Reste einer grauen Kellerwand.

»Helene!«, rief der Mann, der sie entdeckt hatte.

Die Antwort des Mädchens war von oben nicht zu verstehen. Sie versuchte, sich zu ihnen umzudrehen, schaffte es aber nicht, eine andere Position einzunehmen.

Der Mann formte die Hände zu einem Trichter.

»Wir kommen!«, rief er und wandte sich zu Wisting um.

Die beiden Männer erwarteten anscheinend, dass er etwas unternahm.

»Das Wasser um sie herum ist gestiegen«, sagte der eine.

Wisting sah hinunter. Das Regenwasser strömte von allen Seiten heran und sammelte sich in der Vertiefung, wo das Mädchen feststeckte. Es würde eine Weile dauern, bis die Rettungsmannschaften mit der erforderlichen Ausrüstung kommen könnten.

»In Ordnung«, sagte er, ohne zu wissen, worauf er sich da einließ.

Ein Maschendrahtzaun hing über der Abbruchkante und ragte tief in den Krater hinein. Der Zaunpfahl, an dem er befestigt war, stand einen Meter entfernt auf dem Rasen. Wisting überprüfte ihn. Ruckelte daran. Der Pfosten hatte ein Fundament aus Zement und stand stabil.

Wisting reichte einem der Männer seine Taschenlampe und legte sich die Rettungsleine schräg über Brust und Schulter. Die Bruchkante gab ein wenig nach, als er sie betrat. Schnell setzte er sich hin und griff nach dem Maschendraht. Unter ihm fiel die Erdrutschwand jäh in die Tiefe ab. Abgerissene Leitungen und Abwasserrohre ragten aus der feuchten Erde hervor.

Hinter ihm riefen die beiden Männer dem kleinen Mädchen aufmunternde Worte zu.

Wisting kletterte ein Stückchen hinunter, stützte sich mit den Füßen an der Wand des Kraters ab und klammerte sich an die Drahtschlingen des Zauns.

Er trug flache Schnürschuhe aus Leder. Ein Geburtstagsgeschenk von Line vor zwei oder drei Jahren. Die Sohlen waren glatt und abgenutzt, und er stellte fest, dass sich einer der Schnürsenkel gelöst hatte.

Er kletterte weiter, versuchte Halt zu finden. Die Schuhspitzen waren zu groß, um in die Löcher des Maschendrahts zu passen, aber an jedem Zaunpfahl, der noch mit dem Draht verbunden war, konnte er etwas ausruhen.

Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr ihn. Er hatte sich die Hand an einem Stahlzapfen verletzt, der aus dem Zaun herausragte. Das Blut tropfte von seiner Hand herab. Er ballte sie ein paarmal zur Faust und machte weiter.

Der Maschendrahtzaun reichte nicht bis hinunter auf den Grund. Wisting musste sich die letzten zwei Meter fallen lassen. Er schlitterte an der Erdrutschwand entlang und landete sicher mit beiden Beinen im Matsch. Einer seiner Schuhe blieb stecken, als er die Füße aus dem Dreck zog.

Die beiden Nachbarn leuchteten mit den Taschenlampen. Das Mädchen war zehn Meter von ihm entfernt. Wisting ging weiter, manövrierte sich an einem Gartentisch und einer großen Matratze vorbei.

Von der anderen Seite des Kraters waren plötzlich laute Rufe zu hören. Wisting hielt inne. Er blickte hoch und hörte etwas knacken. Ein Haus, das dicht an der Kante stand, drohte herabzustürzen. Es hielt sich noch einen Augenblick lang, ehe der Untergrund nachgab.

Der Boden erzitterte, als das Gebäude herunterrutschte und alles unter sich zermalmte. Die Wände brachen auseinander, das Dach wurde zusammengedrückt und glitt zum Wasser hinunter, wo es schließlich liegen blieb.

Die Männer riefen dem Mädchen ein paar tröstende Worte zu. »Alles wird gut! Er ist gleich bei dir!«

Wisting mühte sich weiter ab und erreichte schließlich die kleine Helene, der das Wasser schon bis zu den Schultern reichte.

Er ging um sie herum, hob ihren Kopf an und weckte sie aus einer Art Halbschlaf. Sie war zart gebaut und mochte sieben oder acht Jahre alt sein. Ihre Haut war kalt, die Lippen blau angelaufen.

»Jetzt bin ich hier, Helene«, sagte er. »Ich werde dich befreien.«

Er taste sich unter der Wasseroberfläche vor und bekam einen Gegenstand zu fassen, der halb auf ihr lag. Er packte ihn und warf ihn zur Seite. Ein Fahrrad.

Noch immer saß die Kleine fest. Ihr Unterkörper steckte im Matsch.

»Deiner Mutter geht es gut«, fuhr er fort. »Sie ist in Sicherheit.«

Er tastete den Bereich um ihre Beine ab und versuchte, tiefer in den Schlamm vorzudringen. Seine Hände trafen auf Steine, Bretter und Metall. Er räumte alles beiseite und spürte etwas, das sich wie ein Metallrohr anfühlte und ihr linkes Bein einklemmte.

Die Männer oben an der Kante wollten wissen, wie es lief. Wisting gab keine Antwort. Er setzte alle seine Kräfte ein, um die Kleine anzuheben und gleichzeitig das Metallrohr wegzuschieben, das ihren Fuß gefangen hielt.

Die Anstrengung zehrte an seinen Kräften. Er war nicht sicher, ob sein Vorhaben glücken würde.

»Wir versuchen es noch mal«, sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen.

Er fasste sie unter den Armen. Beim zweiten Versuch ließ sie sich erstaunlich leicht befreien. Dennoch stieß die Kleine einen gellenden Schmerzensschrei aus.

Wisting schleppte sie mit sich, heraus aus dem Wasser, und trat auf die Matratze zu, die dort immer noch lag. Das Mädchen war barfuß und hatte einen offenen Bruch am rechten Knöchel. Ein Stück Knochen ragte aus der Wunde heraus.

Wisting sah zu dem Maschendrahtzaun.

»Jetzt müssen wir dich da hochkriegen«, sagte er, ohne zu wissen, wie das vonstattengehen sollte.

Inzwischen hatten sich weitere Männer oben an der Kante versammelt. Einer war damit beschäftigt, eine Metallleiter herunterzulassen. Wisting nahm sie entgegen. Sie war nicht lang genug, aber dennoch eine gewisse Hilfe.

Er trug das Mädchen zur Leiter hinüber. Dann streifte er die Rettungsleine ab und erklärte den anderen, wie er weiter vorgehen wollte: Er würde ihnen die Leine zuwerfen und das andere Ende unter den Armen des Mädchens befestigen. Dann mussten die Männer sie an der Leiter entlang nach oben ziehen.

Er machte einen Versuch, die Leine hochzuwerfen, begriff aber, dass es so nicht funktionieren würde. Er müsste selbst mithilfe der Leine hinaufklettern.

Von oben ertönten Rufe, dann wurde ein Gartenschlauch heruntergeworfen.

So könnte es gehen.

Er legte den Schlauch um das Mädchen und wickelte ihn zweimal um ihren Brustkorb, ehe er einen Knoten machte und ihn fest zuzog.

Während die kleine Helene ächzte und nach Atem rang, trug Wisting sie hinüber und legte sie so hin, dass sie mit dem Rücken an der Leiter lehnte. Dann gab er den anderen ein Zeichen, sie hochzuziehen.

Wisting stellte sich unter sie und stützte die Leiter ab. Die ersten Meter waren leicht. Das Mädchen glitt an den Metallstreben entlang aufwärts. Weiter oben, wo die Leiter nicht hinreichte, ging es langsamer. Wisting befürchtete, dass der Gartenschlauch reißen könnte, aber schließlich konnte die Kleine über die Kante gezogen werden, wo sie in Sicherheit war.

Das Adrenalin hatte ihn wach gehalten. Jetzt spürte Wisting, dass ihm kalt war und seine rechte Hand schmerzte. Er verharrte einen Augenblick, ehe er die Leiter ergriff. Von oben hörte er jemanden rufen. Er blickte hoch und sah, dass die Männer an der Kante auf die weiter unten gelegenen Erdmassen zeigten. Er drehte sich um. Der Hund, den er zuvor gesehen hatte, kam hinkend auf ihn zugelaufen.

Wisting kletterte wieder hinunter. Das Tier kam ganz dicht an ihn heran und berührte mit der Schnauze sein Bein. Wisting beugte sich hinunter, kraulte den Hund behutsam hinter den Ohren und murmelte beruhigend auf ihn ein.

Es war ein mittelgroßer Mischling. Wisting hob ihn hoch und schätzte sein Gewicht. Etwa zehn Kilo. Der Hund wog gerade so viel, dass er ihn tragen konnte, doch es würde nicht ganz einfach sein, die steile Erdrutschwand zu bezwingen. Er brauchte etwas, worin er den Hund transportieren könnte.

Also setzte er ihn wieder ab und stapfte zu der Matratze hinüber, die bis zur Hälfte in Erde und Dreck begraben lag. Das Bettlaken war noch daran befestigt.

Wisting riss es herunter, hievte sich den Hund, der ihm gefolgt war, auf die Schulter und trug ihn zurück zur Kraterwand. Dort setzte er ihn auf das Laken. Der Hund zappelte, als Wisting ihn in das Laken einwickelte und die Zipfel verknotete.

Die Leute oben an der Kante hatten offenbar begriffen, was er vorhatte. Sie ließen den Gartenschlauch erneut herunter. Wisting befestigte ihn an dem Laken und signalisierte ihnen, dass er fertig war, damit sie das Bündel hochziehen konnten. Nachdem der Hund geborgen war, machte Wisting sich an den Aufstieg. Die Leiter wackelte, als er sich dem Ende näherte, doch er kletterte immer höher, bis er den Maschendrahtzaun erreichte. Seine Beine zitterten, aber er schaffte es, sich auf das Drahtgeflecht zu retten. Die Arme taten weh. Er hievte sich hoch und krallte sich fest. Als er sich der Kraterkante näherte, packten ihn vier starke Arme und zogen ihn hinauf.

Wisting rollte sich auf den Rücken und spürte die Regentropfen im Gesicht.

3

Gegen drei Uhr nachts hatten sie endlich die Lage unter Kontrolle. Die nächstliegenden Häuser waren evakuiert. Der Umfang des Erdrutsches schien nicht so massiv zu sein, wie Wisting befürchtet hatte. Es waren keine Todesfälle zu verzeichnen, und keine Verletzten warteten mehr auf den Abtransport.

Wisting hatte ein paar Sachen angezogen, die in seiner Reisetasche gelegen hatten. Außerdem hatte er sich ein Paar Stiefel und einen dicken Pullover von dem Mann ausleihen können, in dessen Garage sie den Sammelplatz eingerichtet hatten.

Verschiedene Ausrüstungsgegenstände waren zum Einsatz gekommen. Kleine, mit Benzin betriebene Aggregate lieferten Strom und Licht. Wisting stand über einen Campingtisch gebeugt und studierte eine Planzeichnung des Wohngebiets. Insgesamt waren elf Wohneinheiten von dem Erdrutsch zerstört worden. Jede von ihnen war mit einem roten Kreis markiert.

Die erste Meldung war um 23:36 Uhr in der Notrufzentrale eingegangen. Zum Zeitpunkt des Erdrutsches hatten die meisten Bewohner schon im Bett gelegen, waren aber rechtzeitig ins Freie gelangt. Manche von ihnen nur in Pyjama und Nachthemd.

Der Erdrutsch hatte zunächst einen tiefen Riss durch das Wohngebiet getrieben. Die nächststehenden Häuser hatten sich noch eine Weile halten können, ehe der Untergrund nachgegeben und sie mitgerissen hatte. Dadurch hatten die Bewohner genügend Zeit gehabt, ihre Häuser zu verlassen.

Anhand von Angaben des Einwohnermeldeamts ließ sich rekonstruieren, dass insgesamt zweiunddreißig Anwohner und darüber hinaus zwei Personen betroffen waren, die nur zu Besuch gewesen waren. Achtzehn Menschen hatten leichte Verletzungen davongetragen, sechs waren schwer verletzt, allerdings nicht lebensbedrohlich, und sieben Personen waren unverletzt geblieben. Ein Ehepaar hatte sich gemeldet und durchgegeben, dass es verreist sei. Das bedeutete, dass der Verbleib einer Person noch nicht geklärt war. Dazu gab es den Unsicherheitsfaktor, inwieweit zum Zeitpunkt des Erdrutsches weitere Menschen in dem Gebiet zu Fuß unterwegs gewesen waren.

Der Vermisste war der achtundzwanzigjährige August Tandberg, der allein in einer Souterrainwohnung lebte. Über Funk erfuhr Wisting, dass die Eltern des jungen Mannes zur Einsatzleitung gekommen waren, gleich an der nördlichen Absperrung.

Zusammen mit Hammer prüfte Wisting die Personenliste noch einmal, ehe eine aktualisierte Übersicht an die Medien weitergeleitet wurde.

Im Funkgerät, das auf dem Campingtisch in der Garage stand, herrschte noch immer rege Aktivität. Ein Rettungshubschrauber suchte das Gebiet mit einer Wärmebildkamera ab und hatte schon zum dritten Mal eine Beobachtung gemeldet. Zuvor waren ein Käfig mit Kaninchen und ein offener Kamin gefunden worden, der noch immer Hitze abstrahlte.

Wisting stellte sich an die Öffnung des Garagentors. Der Hubschrauber hing über dem unteren Teil des Erdrutschbereichs und leuchtete auf ein Haus hinunter, das auf der Seite lag und über drei intakte Wände und die Reste eines Dachs verfügte. Ein weiterer Hubschrauber hatte seine Scheinwerfer aus einer anderen Position auf dasselbe Haus gerichtet. Zwei Rettungskräfte wurden an Seilen heruntergelassen.

Hammer holte ein Fernglas. Eine Weile beobachtete er das Treiben und gab das Gerät dann an Wisting weiter. Die Rettungskräfte arbeiteten an der Rückseite eines Haufens aus diversen übereinandergeschichteten Baumaterialien. Über Funk kamen ein paar Meldungen herein, die wegen des Lärms der Rotorblätter nur schwer zu verstehen waren. Es wurde bestätigt, dass man eine bewusstlose Person gefunden hatte. Eine Frau.

Wisting trat zurück an den Campingtisch und überprüfte die Listen. Siebzehn Frauen waren darauf verzeichnet, alle Namen waren mit einem Haken versehen.

Die beiden Hubschrauber tauschten die Plätze, dann wurde weitere Ausrüstung hinuntergelassen. Kurz danach erklang das Geräusch einer Motorsäge. Als es verstummte, wurde über Funk nach einer Korbtrage verlangt.

Der erste Hubschrauber kam zurück und senkte den Korb herab. Zwei Minuten blieb er dicht über dem Boden in der Luft hängen, ehe die gerettete Frau mit einem der Rettungsleute hochgezogen wurde.

Der vor Ort befindliche Arzt machte sich bereit. Der Helikopter schwenkte herein und ließ die Leine ein Stück herunter, woraufhin die Mitarbeiter vom Rettungsdienst die Korbtrage in Empfang nahmen. Wisting wartete, bis der Helikopter sich wieder entfernte, und trat näher. Es handelte sich um eine etwa dreißigjährige Frau mit dunklen Haaren. An der Stirn war ein offener Schädelbruch zu erkennen. Hammer wies ihr die Registriernummer F-14 zu. Es war die vierzehnte Frau, die aus dem Erdrutschbereich gerettet worden war. Wisting schaffte es gerade noch, ein Foto von ihr zu machen, bevor ihr eine Sauerstoffmaske angelegt wurde. Herzfrequenz und Blutdruck waren stark abgefallen. Ihre Körpertemperatur betrug 33 Grad.

Als sie für den Transport auf eine andere Trage gelegt wurde, rutschte die Wärmedecke von ihr herunter. Sie war völlig nackt, und ihr von Dreck verschmierter Körper wies zahlreiche Schnittverletzungen auf.

Der Rettungswagen fuhr mit ihr davon. Wisting vermerkte sie als unbekannt und fügte eine kurze Beschreibung hinzu. Da sie nackt war, hatte sie sich vermutlich irgendwo drinnen aufgehalten, als der Erdrutsch einsetzte. Allerdings passte das nicht zur Liste, die er erstellt hatte, denn der Verbleib aller anderen Bewohnerinnen war bereits geklärt.

Der Hubschrauber hatte sich erneut zu der Stelle begeben, wo die Frau geborgen worden war. Zwei weitere Rettungskräfte wurden heruntergelassen, die damit begannen, ein Wirrwarr aus Bretterresten beiseitezuräumen.

»Da hat’s wohl noch einen Fund gegeben«, sagte Hammer, der dem Funkverkehr gelauscht hatte.

Es dauerte ein wenig, bis die Bestätigung kam, dass ein Mann in den Erdmassen lokalisiert worden war. Bewusstlos, aber am Leben.

Während sie warteten, hörte es auf zu regnen. Doch der Himmel wurde dadurch auch nicht heller. Nach einer halben Stunde meldeten die Rettungskräfte, dass sie den Mann befreit hatten und nun die Korbtrage benötigten.

Ein Team stand bereit, um den Geretteten entgegenzunehmen. Wisting und Hammer traten näher, sobald die Rettungsleine wieder eingezogen war. Hammer rief in seinem Handy die Fotos des vermissten August Tandberg auf, die man ihnen zugeschickt hatte. Der Mann auf der Trage war schmutzig und blutbeschmiert, doch sie erkannten ihn sofort.

Tandberg war barfuß und sein Oberkörper nackt. Er trug eine Hose, die zwar zugeknöpft war, aber der Reißverschluss war nicht hochgezogen und der Gürtel nicht geschlossen, als ob er gerade dabei gewesen wäre, sich anzukleiden, als der Erdrutsch kam.

Hammer listete ihn unter M-12. Der Arzt machte sich Sorgen wegen einer großen Schwellung am Bauch, es gab allerdings kaum äußere Verletzungen. Bevor Tandberg abtransportiert wurde, schoss Wisting ein Foto und schickte es an den Kollegen, der in Kontakt mit den Angehörigen stand.

Das Auffinden des letzten Vermissten führte nicht gleich zu einem Abbruch des Rettungseinsatzes. Die Hubschrauber kreisten noch eine Weile über dem Gelände, mussten aber aufgeben, als der Treibstoff zur Neige ging.

Um halb fünf erhielt Wisting den Auftrag, den Sammelplatz aufzulösen und sich bei der Einsatzleitung einzufinden, die in einem Zelt des Zivilschutzes auf einer Fußballwiese untergebracht war. Die Presse hatte sich schon vor Ort versammelt. Niemand nahm Notiz von Wisting und Hammer.

Im Inneren des Zeltes herrschten angenehme Temperaturen. Die Polizeichefin hatte bis zum Auffinden des letzten Vermissten den Rettungsstab vom Polizeipräsidium aus geleitet. Jetzt stand sie zusammen mit den Leitern der verschiedenen Einsatzbehörden in der Nähe des Zeltes. Auch der Bürgermeister war gekommen. Sie sollten bald vor die Presse treten, weshalb die Polizeichefin die Fakten noch einmal durchgehen wollte. Der Einsatzleiter am Unglücksort erläuterte den Handlungsverlauf in groben Zügen und listete auf, welche Rettungseinheiten mitgewirkt hatten. Wisting gab einen mündlichen Bericht ab und präzisierte, dass der Verbleib aller Bewohner und Besucher geklärt sei. Eine Vertreterin des Gesundheitswesens informierte über das Ausmaß der aufgetretenen Verletzungen bei den vom Erdrutsch betroffenen Bewohnern. Niemand hatte aufgrund lebensbedrohlicher Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht werden müssen.

»Gibt es was Neues über die vierzehnte Frau?«, fragte Wisting.

Der Rettungsarzt schüttelte den Kopf.

»Wegen der Schädelverletzung wird sie im künstlichen Koma gehalten«, sagte er. »Die Identität ist nach wie vor ungeklärt.«

Die Polizeichefin sah zum Einsatzleiter.

»Wir haben keine Meldungen über Vermisste«, erklärte er.

Es entstand eine Diskussion darüber, wie die Umstände der Presse gegenüber geschildert werden sollten. Wisting zog sich zurück. Seine Arbeit vor Ort war beendet.

4

Wisting konnte zwei Stunden schlafen, ehe er wieder zur Arbeit musste. Als er aus dem Bad kam, war die Waschmaschine mit seiner schmutzigen Kleidung gerade durchgelaufen. Er hängte die Sachen auf und rief im Polizeigebäude an, um seine Ankunft im Lauf der nächsten Stunde anzukündigen. Bevor er ins Bett gegangen war, hatte er geduscht und begnügte sich jetzt mit einer Katzenwäsche. Die Bartstoppeln juckten, als er sich abtrocknete.

Das Wasser hatte das Pflaster an seiner rechten Hand teilweise abgelöst. Er riss es ganz ab, säuberte die Wunde und klebte ein neues Pflaster darauf.

Die Uhr zeigte fast acht. Er schaltete den Fernseher im Wohnzimmer ein, um die Morgennachrichten mit den letzten Neuigkeiten zu sehen.

Die Haustür wurde geöffnet. Line rief »Hallo!« und kam zusammen mit Amalie herein. Auf dem Bildschirm tauchten Livebilder vom Erdrutschgelände auf. Die flackernden Aufnahmen zeigten, wie umfangreich die Schäden waren. Wisting richtete den Blick auf seine Enkelin, die mit einem Ranzen auf dem Rücken im Zimmer stand.

»Wir haben schon darüber gesprochen«, versicherte Line. »Wir haben uns vorhin die Nachrichten zusammen angesehen.«

Wisting lächelte. »Unsere Häuser sind stabil. Die stehen auf einem Felsen, genau wie deine Schule und das Polizeigebäude.«

Auf dem Bildschirm erschien die Polizeichefin. Die Aufnahmen war bereits vor ein paar Stunden gemacht worden. Sie wiederholte Wistings Worte und erklärte, dass der Verbleib aller Bewohner und Besucher geklärt sei. Die unbekannte Frau wurde nicht erwähnt.

»Sieh mal nach, ob du in Opas Schublade was Süßes findest«, sagte Line und schickte ihre Tochter in die Küche.

Sie hörten, dass eine Schublade geöffnet wurde.

»Thea wohnt da draußen«, sagte Line. »Du weißt schon, meine Schulfreundin vom Gymnasium.«

»Aber nicht genau dort, wo der Erdrutsch war«, sagte Wisting und spähte dabei auf den Fernsehbildschirm. »Sie steht jedenfalls nicht auf der Liste.«

Line sah ihn an.

»Warst du da?«

»Das Unglück ist gestern Abend passiert, als Hammer und ich gerade auf der Heimreise waren«, erwiderte er. »Wir wurden sofort dorthin geschickt.«

»Oje«, sagte Line. »Gibt es unter den Betroffenen irgendwelche Bekannte?«

Wisting schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nicht. Allerdings wohnt Gunnar Helner da draußen.«

»Der Kunstschwindler«, sagte Line mit einem Lächeln. »Stimmt.«

Sie hatte während ihrer Zeit bei VG über ihn berichtet. Es war um fehlerhafte Buchführung gegangen, um Kunden, die keine Ware für ihr Geld bekommen hatten, um den Verkauf von gefälschten Bildern und um den Handel mit Kunstwerken, die die Nazis während des Zweiten Weltkriegs von Juden geraubt hatten.

»Er ist unbeschadet davongekommen«, sagte Wisting. »Aber sein Haus ist zerstört. Da liegen jetzt wohl einige unersetzliche Kunstwerke irgendwo im Dreck.«

Er merkte, dass Lines Interesse geweckt war. Bestimmt ließe sich dazu eine ganz besondere Geschichte erzählen, neben allen anderen Berichten von der Katastrophe, die zweifellos erscheinen würden. Vor einigen Jahren hatte Line ihren Reporterjob bei VG aufgegeben und war zum Dokumentarfilm gewechselt. Oft hatte sie dabei mit langfristigen Projekten zu tun, bei denen ein Teil der Arbeit von zu Hause aus erledigt werden konnte, die aber zu bestimmten Zeiten auch viele Reisen erforderten.

Amalie kam mit einer Packung Kekse zurück.

»Nimm dir zwei«, sagte Line.

Wisting beugte sich hinunter, hob Amalie hoch und setzte sich mit ihr in den Sessel.

»Hast du noch mehr Buchstaben gelernt?«, fragte er.

»Ich kann alle«, erwiderte Amalie leicht entnervt.

Wisting ließ sie die Buchstaben auf der Kekspackung vorlesen.

»O-r-e-o.«

Er klatschte in die Hände und nahm sich auch einen Keks.

»Dann kannst du mir ja bald ein ganzes Buch vorlesen.«

Amalie lachte.

»Kannst du sie am Samstag nehmen?«, fragte Line. »Ich hab was vor.«

»Ach ja?«

Line seufzte. »Mit ein paar Freundinnen.«

Wisting bohrte Amalie spielerisch einen Finger in die Seite.

»Natürlich kann sie hierbleiben.«

»Auch über Nacht?«

»Die ganze Nacht«, versicherte Wisting.

In den Fernsehnachrichten forderten die Presseleute eine Antwort auf die Frage nach Schuld und Verantwortung für den Erdrutsch. Der Bürgermeister wurde nach den Ursachen gefragt, meinte aber, es sei viel zu früh, um sich darüber zu äußern.

»Es hat die ganze Woche geregnet«, sagte Line. »Das muss ja was damit zu tun haben.«

Wisting setzte Amalie auf dem Boden ab.

»Hast du weiter mit dieser Sache zu tun?«, fragte Line und deutete auf den Bildschirm.

»Nicht an der Unglücksstelle«, erwiderte Wisting und begleitete Line und Amalie zur Tür. »Aber solche Fälle verwandeln sich in Büroarbeit, und da taucht ständig irgendwas Unerwartetes auf.«

5

Die Einsatzleitung war in den großen Konferenzraum in der zweiten Etage des Polizeigebäudes umgezogen und hatte für neun Uhr eine Besprechung anberaumt. Nachdem Wisting in seinem eigenen Büro gewesen war und einige Termine abgesagt hatte, ging er zum Büro von Maren Dokken. Zwar war sie noch keine dreißig, gehörte aber zu den Ermittlern, die Wisting am meisten schätzte. Sie war gründlich, zuverlässig und scheute keine Arbeit.

»Hast du heute viele Termine?«, fragte er.

»Zwei«, gab sie zurück.

Wisting nickte.

»Ich hätte gern, dass du die Ermittlungen zu dem Erdrutsch übernimmst«, sagte er.

Maren blickte auf die Akten, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten.

»Für die ersten Wochen wirst du von allen anderen Aufgaben freigestellt«, versicherte Wisting.

»Ich habe so was noch nie zuvor gemacht«, entgegnete Maren.

»Du wirst das nicht allein machen, die meiste Arbeit erfolgt durch die Sachverständigen«, sagte Wisting. »Geologen und Leute vom Zentralamt für Energie und Wasserversorgung. Die finden die Ursache, und dann geht es um die Frage, inwieweit das Unglück hätte vermieden werden können. Welche Entscheidungen in der Planungsphase und während des Baus getroffen wurden. Ich brauche jemanden, der es versteht, Informationen zu bündeln und zu systematisieren. Um den Rest kümmern sich dann die Polizeijuristen.« Wisting sah auf die Uhr. »Wenn du so weit bist, gehen wir jetzt zur Besprechung.«

Maren lächelte, erhob sich und griff nach Stift und Notizblock.

Bis neun Uhr waren es noch ein paar Minuten. Die Leiter diverser lokaler Behörden unterhielten sich formlos mit den Fachverantwortlichen für die verschiedenen Rettungsdienste. Einige tranken Kaffee, andere führten Telefongespräche.

Ada Worren hatte die operative Leitung für die Polizei übernommen. Sie war Mitte dreißig und gehörte der neuen Generation von Mitarbeitern an, die sich mehr für ihre eigenen Karrierepläne als für die eigentliche Arbeit interessierten. Sie hatte am Ende des Tisches neben einem Kommissar aus dem Stab der Polizeichefin Platz genommen, der etwas auf einem Bildschirm las.

Wisting stellte sich hinter den nächsten freien Stuhl und legte die Hand auf die Rückenlehne.

»Maren Dokken wird als Ermittlerin dabei sein«, sagte er.

Der Kommissar sah ihn an, blickte dann zu Maren und wieder zurück zu Wisting.

»Du selbst bist nicht dabei?«, fragte er.

»Dieses Mal nicht«, erwiderte Wisting.

Er trat einen Schritt zurück und überließ Maren den Stuhl. Dann ging er zurück in seine Abteilung.

Nils Hammer war gerade auf dem Weg zu seinem eigenen Büro. Er sah mitgenommen aus. Seine Augenlider wirkten schwer, die Jacke war ihm etwas von den Schultern gerutscht.

»Wie geht’s denn Sissels Vater?«, fragte Wisting.

»Sein Haus liegt in der Evakuierungszone«, erwiderte Hammer. »Er wohnt jetzt erst mal bei uns.«

»Du hättest nicht herkommen müssen«, sagte Wisting. »Fahr lieber nach Hause und kümmere dich um die anderen.«

»Wer von uns übernimmt den Fall?«, fragte Hammer.

»Maren.«

Hammer nickte. »Gut«, sagte er. »Was Neues über die letzte Frau? Nummer vierzehn?«

Wisting schüttelte den Kopf. Hammer richtete seine Jacke.

»Bist du sicher, dass du mich nicht brauchst?«, fragte er.

»Heute nicht«, versicherte Wisting.

Hammer deutete auf seinen Büroschreibtisch.

»Dann bleibe ich nur noch eine Stunde.«

»Wir sehen uns morgen«, sagte Wisting und ging zu seinem Büro.

Das ganze Polizeigebäude war von den Geschehnissen der letzten Nacht geprägt. Wistings Aufgabe bestand darin, den normalen Betrieb aufrechtzuerhalten. Zwischendurch rief er die Onlineausgaben der Zeitungen auf. Die ersten persönlichen Geschichten und Erlebnisse in Verbindung mit dem Erdrutsch waren aufgetaucht. Wisting erkannte Namen und Gesichter wieder. Davon zu lesen, was sie erlebt hatten, war beeindruckend. In einigen Fällen waren es nur Zufälle und wenige Sekunden gewesen, die darüber entschieden hatten, dass die Personen mit dem Leben davongekommen waren.

Gegen Ende des Tages kam Maren in sein Büro.

»Ich fahre mal los, um mir einen Eindruck vor Ort zu verschaffen«, sagte sie.

Wisting lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und drehte sich zum Fenster. Ein weiterer Regenschauer war vorübergezogen, jetzt nieselte es nur noch.

»Kann ich mitkommen?«, fragte er.

»Gern«, erwiderte Maren.

Er stand auf, nahm seine Jacke und folgte ihr in die Tiefgarage.

»Hat sich schon jemand zu den Hintergründen des Unglücks geäußert?«, fragte er.

»Die Gemeindeverwaltung hatte schon vor dem Erdrutsch Leute rausgeschickt«, sagte Maren. »Der untere Teil vom Stavernsvei stand unter Wasser. Der Abzugskanal war anscheinend verstopft, und dann hat sich das Wasser gestaut. Der Golfplatz weiter oben hat sich in ein richtiges Sammelbecken verwandelt. Da haben dann Millionen Liter Wasser riesigen Druck erzeugt. Noch ehe die Leute von der Technikabteilung dort ankamen, hat die Straße nachgegeben. Und dann sind die Erdmassen wie von einer Flutwelle zum Fjord hinuntergespült worden.«

»Also ein verstopftes Rohr«, fasste Wisting zusammen.

»Kleine Ursache, große Wirkung«, kommentierte Maren.

Auf der Straße zum Unglücksort herrschte reger Verkehr. Rechts und links der Fahrbahn waren Autos abgestellt, an denen sich Maren mühsam vorbeischlängeln musste.

Als Erstes wollte sie sich die Erdrutschkante ansehen, dort, wo die Straße nachgegeben hatte. Wisting grüßte den Polizisten, der am äußeren Sperrbereich in einem Wagen saß. Maren fuhr weiter bis zur inneren Absperrung und bremste den Wagen dicht vor den Absperrbändern ab.

Ein Mann vom Zivilschutz stand hinter der Absperrung und begrüßte sie.

»Gehen Sie nicht zu nah heran«, warnte er.

Sie blieben ein paar Meter vor der Kante stehen, wo der Asphalt abgerissen war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Kamerateam. In der Mitte fehlten fast sechzig Meter Fahrbahn.

Im Abgrund floss unentwegt Wasser. Noch immer löste sich Erde von den Kanten, rutschte hinunter und wurde vom Wasser weitergetragen.

Der Erdrutsch war der Landschaftsformation gefolgt und leicht nach rechts abgedriftet. Etwa dreihundert Meter weiter unten war der Fjord zu sehen, doch von ihrem Standpunkt aus hatten sie keine komplette Übersicht über das Ausmaß der Zerstörung.

Der obere Abschnitt des betroffenen Gebiets hatte aus Laubwald bestanden, darunter hatten sich die Menschen gleich einem Amphitheater um Bucht und Strand herum angesiedelt. Etwa hundert Meter weiter oben verlief der Verkehr von und nach Stavern. Von der Straße war Verkehrslärm zu hören. In der Nacht war sie gesperrt gewesen, doch in den Morgenstunden hatte man sie für sicher erklärt und wieder freigegeben.

»In den Achtzigerjahren hat es draußen in Helgeroa mal einen kleineren Erdrutsch gegeben«, sagte Wisting. »Als ich noch Streife gefahren bin. Dabei wurde eine Scheune zerstört, und ein paar Schweine starben, aber Menschen kamen nicht zu Schaden. Der Hintergrund des Unglücks war ähnlich wie hier. Ein zu klein konzipiertes Abflussrohr war verstopft, und das Wasser hatte sich gestaut. Schließlich hat die Straße nachgegeben. Wie ein Damm, der bricht. Nichts konnte dem Erdrutsch standhalten.«

Maren nickte.

»Die letzte Frau, die gestern gerettet wurde, heißt Jorunn Sand«, sagte sie. »Ihr Mann hatte sie am Vormittag als vermisst gemeldet.«

»Warum war sie hier?«, fragte Wisting.

»Ich weiß nicht. Ihr Mann dachte, sie wäre bei der Arbeit.«

»Was für eine Arbeit?«

»Hauskrankenpflege.«

Wisting sah Maren an. Der leichte Regen lag wie Tau auf ihrem Haar.

»Gibt es hier in der Nähe Patienten, die zu Hause gepflegt werden?«, fragte er.

»Nein«, sagte Maren. »Außerdem war sie gar nicht bei der Arbeit. Sie hat sich gestern früh krankgemeldet.«

»Ist sie wach?«

»Nein, noch nicht.«

Sie gingen zum Wagen. Maren setzte zurück, wendete und fuhr weiter, um sich der Erdspalte aus der anderen Richtung zu nähern. Wisting lotste sie zum Sammelplatz, wo er und Hammer in der Nacht gewesen waren. Die innere Absperrung war nicht bewacht. Wisting stieg aus und hob das Plastikband an, damit Maren darunter hindurchfahren konnte.

Sie stellten den Wagen vor der Doppelgarage ab. Der Platz vor dem Haus war voll mit Hinterlassenschaften der Rettungskräfte.

Schweigend schlugen sie die Autotüren zu. Es war vollkommen still, bis auf die Schreie der Möwen.

Maren ging zu einer Felskuppe und zog die Jacke enger um sich. Wisting nahm ein Fernglas aus dem Wagen und gesellte sich zu ihr.

Eine kleine Möwenschar kreiste über dem Abgrund, während andere sich um Essensreste und andere Nahrung stritten, die sie irgendwo gefunden hatten.

Wisting erzählte von den Rettungsarbeiten. Maren spähte durch das Fernglas, während er ihr die Stellen zeigte, wo er das Mädchen herausgeholt und wo der Helikopter die letzten zwei Opfer gefunden hatte.

Ein Mann lief an der gegenüberliegenden Abbruchkante entlang.

»Das ist ein Zivilist«, sagte Maren. »Er muss durch die Absperrung geschlüpft sein.«

Wisting bat um das Fernglas und stellte die Schärfe ein.

»Das ist Gunnar Helner«, sagte er.

»Kennst du ihn?«

»Er wohnt hier«, erklärte Wisting. »Sein Haus lag ungefähr dort.«

Er zeigte auf eine Stelle im oberen Bereich des Erdrutsches.

»Ich war mal wegen einer Hausdurchsuchung bei ihm«, fuhr er fort. »Da haben wir in seinem Keller ein paar Gemälde gefunden.«

»Die er gestohlen hatte?«, fragte Maren.

»Es ging um Hehlerei.« Wisting gab Maren das Fernglas zurück. »Gunnar Helner hat sich immer schon mit dem Ankauf von Gemälden und anderer Kunst beschäftigt, aber er hat sich nie dafür interessiert, wo die Bilder oder Objekte hergekommen sind. Er hatte eine große Sammlung in seinem Haus. Vermutlich sucht er jetzt danach.«

Der Mann auf der anderen Seite war auf sie aufmerksam geworden und entfernte sich von der Abbruchkante. Der Regen wurde wieder heftiger.

»Wollen wir fahren?«, schlug Wisting vor.

Maren sah durch das Fernglas, gab aber keine Antwort.

»Was ist da?«, fragte Wisting.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Maren und reichte ihm das Fernglas. »Schau mal links vor der roten Wand.«

Wisting sah hinüber und hielt sich dann das Fernglas vor die Augen. In der Luftlinie betrug die Entfernung nicht mehr als hundert Meter.

»Wonach soll ich suchen?«, fragte er.

»Nach einem Joggingschuh«, erklärte Maren. »Der liegt mit der Sohle nach oben. Ich glaube, er steckt an einem Fuß.«

Wisting entdeckte den Schuh und darunter ein Hosenbein, das im Schlamm verschwand. Eine verdreckte Jeans.

»Das muss was anderes sein«, sagte Wisting. »Die haben hier gestern Nacht alles mit Wärmebildkameras abgesucht.«

Er wischte sich den Regen aus den Augen und trat etwa zehn Meter zur Seite, um aus einem etwas veränderten Winkel hinüberzusehen.

»Vielleicht ist das eine Schaufensterpuppe oder so was«, mutmaßte Maren.

»Oder so was«, wiederholte Wisting. »Ich glaube, wir sollten das herausfinden.«

Die beiden setzten sich ins Auto. Wisting rief die Einsatzleitung an und bekam Ada Worren an den Apparat.

»Wir haben hier eine Beobachtung gemacht«, sagte er, nachdem er erläutert hatte, wo sie sich gerade befanden. »Möglicherweise liegt ein Toter im unteren Bereich des Erdrutschgebiets.«

»Wie kann das sein?«, fragte Worren. »Niemand wird vermisst. Der Verbleib aller Bewohner ist geklärt.«

Wisting präzisierte, was sie gesehen hatten.

»Ich finde, wir sollten das überprüfen«, sagte er. »Am einfachsten wäre es, wenn wir eine Drohne losschicken, um bessere Aufnahmen zu bekommen.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

»Und wir sollten das tun, bevor es dunkel wird«, fügte er hinzu.

»Ich schicke einen Piloten und eine Drohne raus«, sagte Worren und beendete das Gespräch.

Wisting legte sich das Handy in den Schoß. Der Regen trommelte auf das Dach und die Frontscheibe. Maren ließ den Motor an. Die Scheibenwischer fegten rhythmisch hin und her.

»Wir warten hier«, sagte Wisting.

6

Nach einer halben Stunde traf der Wagen mit der Drohne ein. Während sie gewartet hatten, war Wind aufgekommen, allerdings nicht so viel, dass es die Navigation beeinträchtigt hätte.

Maren erklärte dem Piloten, wohin die Drohne gesteuert werden sollte. Wisting stand hinter ihnen und verfolgte das Kamerabild auf dem Bildschirm. Die Drohne summte wie ein großes, wütendes Insekt, während sie in den Krater hinabflog.

Die Erd- und Geröllmassen waren immer noch in Bewegung. Das Wasser suchte sich ständig neue Wege und verursachte weitere Erdrutsche. Unten im Fjord waren Flussrechen installiert worden, um das Treibgut aufzuhalten. Ein Schiff von der lokalen Umweltschutzbehörde überwachte den Vorgang.

Die Kamerabilder zeigten klar und deutlich, dass der Joggingschuh immer noch am selben Ort lag. Der Pilot zoomte näher heran, bis die Sohle den ganzen Bildschirm ausfüllte, ehe er die Drohne weiterschickte und von der anderen Seite filmen ließ.

Die Schnürsenkel des Schuhs waren zugeknotet. Die Drohne stieg etwas höher, und der Kamerawinkel änderte sich. Der blaue Jeansstoff des leicht verrutschten Hosenbeins kam zum Vorschein. Zwischen Hose und Schuh war eine Socke an einem behaarten menschlichen Bein zu erkennen.

Der Drohnenpilot fluchte. »Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er.

»Es wäre allerdings zu gefährlich, dort rüberzugehen und den Fund genauer zu untersuchen«, meinte sein Kollege.

Die Drohne blieb in der Luft hängen. Wisting nahm sein Telefon zur Hand.

»Können Sie mir die Aufnahmen rüberschicken?«, bat er.

Der Pilot nickte. Wisting wartete, bis die Dateien übertragen waren, und rief dann Ada Worren an.

»Wir brauchen Unterstützung durch einen Hubschrauber«, sagte er, nachdem er vom Ergebnis des Drohneneinsatzes berichtet hatte, und leitete ihr die Dateien weiter.

»Augenblick«, sagte Worren.

Wisting ging davon aus, dass sie sich die Fotos anschaute. Ohne Kommentar wurde er in die Warteschleife verbannt. Es dauerte fast zwei Minuten, bis Worren wieder an den Apparat kam.

»Ihr bekommt einen Sea King«, sagte sie. »Die Notrufzentrale meint, dass der in etwa einer halben Stunde bei euch sein kann. Notarzt und Rettungswagen sind angefordert.«

Wisting informierte die anderen. Die Drohne wurde zurückgeholt. Wisting und Maren setzten sich ins Auto, um dort zu warten.