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Jørn Lier Horst

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Beschreibung

Ein Ermittler-Roman der Extraklasse von Norwegens preisgekröntem Krimi-Autor Es ist Herbst im Süden Norwegens. Ove Bakkerud fährt zu seiner Hütte am Meer, um diese winterfest zu machen und das kleine Boot an Land zu ziehen. Doch diesmal findet er die Hütte aufgebrochen vor, alle Zimmer sind verwüstet. Bei einer Hütte in der Nähe erkennt er schemenhaft eine Gestalt am Fenster. Aber statt den Einbrecher zu überraschen, entdeckt er dort eine Leiche. Kommissar Wisting von der Kripo in Stavern nimmt die Ermittlungen auf. Die Identität des Toten lässt sich jedoch nicht identifizieren. Außerdem regnet es auch noch tote schwarze Vögel vom Himmel, Wisting wird auf dem Rückweg in seinem Auto überfallen - und es gibt eine weitere Leiche... "Ganz oben bei den besten Krimiautoren aus dem Norden." The Times

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Seitenzahl: 439

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Jørn Lier Horst

Winterfest

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt

Knaur e-books

Über dieses Buch

Es ist Herbst im Süden Norwegens. Ove Bakkerud fährt zu seiner Hütte am Meer, um diese winterfest zu machen und das kleine Boot an Land zu ziehen. Doch diesmal findet er die Hütte aufgebrochen vor, alle Zimmer sind verwüstet. Bei einer Hütte in der Nähe erkennt er schemenhaft eine Gestalt am Fenster. Aber statt den Einbrecher zu überraschen, entdeckt er dort eine Leiche. Kommissar Wisting von der Kripo in Stavern nimmt die Ermittlungen auf. Die Identität des Toten lässt sich jedoch nicht identifizieren. Außerdem regnet es auch noch tote schwarze Vögel vom Himmel, Wisting wird auf dem Rückweg in seinem Auto überfallen – und es gibt eine weitere Leiche …

Inhaltsübersicht

Winterfest1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel
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Winterfest

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1

Der Nebel trieb in zerrissenen Schwaden vom Meer herein. Er hing wie Dampf über dem nassen Asphalt und bildete kleine Lichtkränze um die Straßenlaternen.

Ove Bakkerud fuhr mit einer Hand am Steuer. Dunkle Nacht verbarg die Landschaft um ihn herum.

Er mochte diese Jahreszeit, bevor das Herbstlaub fiel. Die letzte Fahrt hinunter nach Stavern, um die Fensterläden zu vernageln, das Boot an Land zu ziehen und alles winterfest zu machen. Den ganzen Sommer hindurch freute er sich darauf. Dies war sein Wochenende. Die eigentliche Arbeit nahm nicht mehr als ein paar Stunden am Sonntagnachmittag in Anspruch. Die restliche Zeit gehörte ihm.

Er nahm den Fuß vom Gas und bog von der Landstraße auf den Feldweg ab. Das Licht der Scheinwerfer glitt über die Wildrosenhecken, die den Weg bis zum Parkplatz säumten. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 21.37 Uhr, als er den Motor abstellte.

Er stieg aus und sog die frische Seeluft tief in die Lungen. Das Geräusch der Wellen, die auf den Strand rollten, klang wie ferner Donner.

Der Regen hatte nachgelassen, der Wind kam jetzt in scharfen Böen und löste den Nebel auf. Der Lichtkegel des Leuchtturms draußen auf Tvistein wischte in regelmäßigen Abständen über Land und hinterließ ein Glimmen auf den regennassen Dünen.

Er zog die Jacke fester um sich, öffnete den Kofferraum und nahm die Tragetaschen mit Lebensmitteln heraus. Er freute sich auf ein blutiges Steak zu Abend, auf Spiegeleier und Bacon zum Frühstück. Mahlzeiten für Männer. Steckte die freie Hand in die Jackentasche, um sich zu vergewissern, dass der Schlüssel noch da war, und ging den Pfad zur Hütte hinauf. Ein kleiner Anstieg und vor ihm lag das ganze Meer. Es war dunkel, aber er fühlte den weiten Ausblick. Er erfüllte ihn immer mit einer eigenartigen Ruhe.

Die Hütte war nur eine einfache, rot angestrichene Bretterbude gewesen, als die Familie sie vor fast zwanzig Jahren kaufte, nicht isoliert und mit Feuchtigkeitsschäden. Sobald sie es sich leisten konnten, hatte er den Schuppen abgerissen und auf den Grundmauern eine neue Hütte errichtet. Nach und nach hatten er und seine Frau sich hier ihr eigenes Paradies geschaffen. Seit den ersten Jahren, als er jede freie Minute mit Bauarbeiten verbrachte, war daraus ein Ort geworden, an dem er die Schultern entspannen, durchatmen, loslassen konnte. Ein Ort, an dem die Uhr keine Macht besaß, wo die Zeit ihren eigenen Wegen folgte, je nach Wind und Wetter und Laune.

Er setzte die Tragetaschen auf den Schieferplatten vor der Hütte ab und holte den Schlüssel heraus. Der Lichtkegel des Leuchtfeuers traf die Hüttenwand und verschwand wieder.

Ove Bakkerud durchlief ein Frösteln, und er hielt den Atem an. Die rechte Hand umklammerte den Schlüsselbund. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde und eine Gänsehaut Unterarme und Nacken überzog.

Der Lichtkegel des Leuchtfeuers wischte erneut vorbei, wie um zu bestätigen, was er entdeckt hatte. Die Tür stand eine Handbreit offen. Der Rahmen war gesplittert und das Schloss lag auf der Erde.

Er blickte sich um, sah aber nichts als Dunkelheit. Drüben im Dickicht knackte es, wohl ein Zweig, der brach. Etwas weiter entfernt bellte ein Hund. Dann war es still. Bis auf den Wind, der im Herbstlaub raschelte, und die Wellen, die sich am Strand brachen.

Ove Bakkerud machte zwei Schritte, packte das Türblatt am oberen Ende und zog die Tür auf. Dann tastete er nach dem Lichtschalter und knipste die Außenbeleuchtung und die Deckenlampe im Flur ein.

Seine Frau und er hatten darüber gesprochen, dass so etwas einmal passieren könnte. Er hatte in der Zeitung von Jugendbanden gelesen, die einbrachen und die Einrichtung verwüsteten, und von eher professionellen Banden, die auf der Suche nach Wertgegenständen ganze Hüttendörfer durchkämmten. Trotzdem konnte er kaum glauben, was er jetzt sah. Es erschien ihm wie eine Verletzung dieses Ortes. Ihres Ortes.

Am schlimmsten hatte es die Stube erwischt. Schubladen und Schränke waren geöffnet und ihr Inhalt auf dem Fußboden verstreut worden. Überall zerbrochene Gläser und Teller, und sämtliche Sofakissen achtlos hingeworfen. Alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, war weg. Der neue Flachbildfernseher, die Hi-Fi-Anlage und das kleine Radio für unterwegs. Der Schrank, in dem sie Wein und Schnaps aufbewahrten, war leer. Nur eine halb leere Flasche Kognak stand noch da.

Er bückte sich und hob das Buddelschiff auf, das normalerweise im Regal über dem Kamin stand, jetzt aber auf dem Boden lag, mit einem großen Sprung in der Flasche. Zwei Masten des zierlichen Segelschiffs waren gebrochen. Er erinnerte sich an die vielen Stunden, in denen er den groben Fingern des Großvaters zugesehen hatte, wie sie es auf wunderbare Weise schafften, aus den winzigen Teilen ein echtes Schiff zu machen. An den Augenblick, als das Schiff an seinem Platz in der Flasche war und der Großvater an den Fäden zog, die die Masten aufrichteten.

Seine Stimme zitterte, als er die Polizei anrief und seinen Namen nannte.

»Wann waren Sie zuletzt in der Hütte?«, wollte der Beamte am Telefon wissen.

»Vor zwei Wochen.«

»Der Einbruch war in dem Fall also irgendwann nach dem 19. September?«

Ove Bakkerud betrachtete die Verwüstung, die die Einbrecher hinterlassen hatten. Er fühlte sich plötzlich völlig leer.

»Wissen Sie, ob noch in andere Hütten eingebrochen wurde?«, erkundigte sich der Polizist.

»Nein«, erwiderte Ove Bakkerud und blickte aus dem Fenster. Drüben in der Hütte von Thomas Rønningen brannte Licht. »Ich bin gerade erst angekommen.«

»Wir können Ihnen morgen eine Streife schicken, die sich das ansieht«, sagte der Mann von der Polizei. »Es wäre gut, wenn Sie bis dahin möglichst wenig anfassen.«

»Morgen? Aber …«

»Sind Sie unter dieser Nummer zu erreichen, sodass wir Sie anrufen können, wenn wir einen Streifenwagen zur Verfügung haben?«

Er öffnete den Mund, um zu protestieren, um zu verlangen, dass die Polizei mit Hunden und Spurensicherung ausrückte, aber er schwieg. Er schluckte, bedankte sich und beendete das Gespräch.

Wo sollte er anfangen? Er ging in die Küche und holte Handfeger und Kehrschaufel. Dann erinnerte er sich an die Ermahnung des Polizisten, alles so zu lassen, wie es war. Er legte Feger und Schaufel weg, stellte sich ans Fenster und sah erneut zur Nachbarhütte hinüber.

Ove Bakkerud wunderte sich, dass dort drüben Licht brannte. Im Herbst war Thomas Rønningen nicht oft hier draußen. Mit seiner Talkshow jeden Freitag hatte er genug zu tun. Trotzdem hatte er sich die Zeit genommen, im August Ferienbeginn zu feiern. Da hatten Rønningen und er vor dem Außenkamin gesessen, jeder mit einem Glas Kognak, und Rønningen hatte erzählt, was vor, während und nach der Sendung hinter den Kulissen so ablief.

Ein Schatten glitt drüben hinter den großen, erleuchteten Wohnzimmerfenstern vorbei. Die Einbrecher konnten auch dort gewesen sein. Allem Anschein nach waren sie es immer noch. Er ging rasch zur Tür und griff nach der Taschenlampe, die dort ihren festen Platz hatte. Vielleicht würde die Polizei andere Prioritäten setzen, wenn sie hörte, dass auch Thomas Rønningen betroffen war.

Der Pfad hinunter zum Meer wand sich zwischen Gebüsch und knorrigen Kiefern mit dichten Zweigen entlang. Das Licht der Taschenlampe fiel auf glatt geschliffene Baumwurzeln und runde Steine, was aber nicht verhinderte, dass er sich die Haut an Kiefernnadeln und Zweigen aufriss.

Licht fiel aus den Hüttenfenstern, aber auf dieser Seite saßen die Fenster zu hoch, um hineinsehen zu können.

Er ließ den Lichtstrahl über den Boden wandern, bevor er zur Treppe ging, die hinauf zur Eingangstür führte. Der Wind packte die Tür und schlug sie heftig gegen das Verandageländer.

Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Ihm wurde bewusst, dass er nichts dabeihatte, um sich zu verteidigen.

Das Licht der Taschenlampe traf den Türrahmen. Die gleichen Einbruchspuren wie bei seiner eigenen Hütte, aber etwas war doch anders.

Auf dem Türblatt war Blut.

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2

Es war ein langer Tag gewesen.

William Wisting saß vornübergebeugt auf dem Sofa, die Augen fest auf den Schlüssel gerichtet, der vor ihm auf dem Tisch lag. Der Schlüssel war von Grünspan überzogen, es war lange her, seit er zuletzt benutzt worden war.

Dann stand er auf und ging durchs Zimmer. Draußen an den Fensterscheiben saßen kleine dicke Tropfen, die Überreste des Regenschauers. Unten in Stavern jagte ein Einsatzfahrzeug durch die Straßen. Das Blaulicht schnitt rhythmisch durch die Dunkelheit, es war unmöglich zu erkennen, ob es sich um einen Streifen- oder einen Rettungswagen handelte. Wisting folgte ihm mit dem Blick, bis er den Helgeroaveien hinunter verschwunden war. Dann drehte er sich um und nahm eine Flasche aus dem Eckschrank. Soweit er sehen konnte, war es was Spanisches. Die Jahreszahl 2004 stand in goldenen Ziffern auf dem Etikett. Die Flasche hatte er nach einem Vortrag vor dem Handelsverband bekommen, wie er sich zu erinnern meinte. Sie sah teuer aus und es hatte sicher nicht geschadet, sie so lange liegen zu lassen. Er liebte Wein, hatte aber nie Zeit oder Interesse genug gehabt, sich mit Rebsorten, Produzenten und Anbaugebieten zu beschäftigen oder damit, welcher Wein zu welchem Essen passte und welchen man solo trinken konnte. Ihm genügte es, einen guten Wein zu erkennen, wenn er ihn trank.

»Baron de Oña?«, las er laut vom Etikett ab und blickte zum Sofa hinüber.

Suzanne lächelte und nickte ihm zu. Er lächelte zurück. Sie war vor zwei Jahren in sein Leben getreten und hatte einen großen Platz darin eingenommen. Vor einer Woche war sie nach einem Wasserrohrbruch in ihrer Wohnung bei ihm eingezogen. Er hatte es ihr gegenüber nicht erwähnt, aber es gefiel ihm, sie bei sich im Haus zu haben.

Er nahm zwei Gläser und warf wieder einen Blick nach draußen, ohne etwas anderes zu sehen als sein Spiegelbild. Ein breites, grob geschnittenes Gesicht mit dunklen Augen. Dann drehte er sich um, ging zurück zum Sofa und setzte sich neben Suzanne.

Im Fernsehen hatte Thomas Rønningen seine Talkrunde mit interessanten Gästen gefüllt, die unterschiedliche Meinungen zu einem bestimmten Thema vertraten. Wisting mochte diese Art von Sendungen, die ein ernstes Thema mit leichter Unterhaltung mischten. Er mochte auch den Moderator. Thomas Rønningen besaß einen jungenhaften Charme und schaffte es, eine intime, persönliche und behagliche Atmosphäre vor der Kamera entstehen zu lassen. Er hatte sich als Talkmaster einen Namen gemacht. Stellte immer wohlformulierte und intelligente Fragen, und anstatt seine Gäste mit kritischem Nachfragen in die Enge zu treiben, entlockte er ihnen Enthüllungen, indem er sie einfach frei erzählen ließ.

Suzanne nahm ihm die Gläser ab und stellte sie auf den Tisch. Er stand abrupt wieder auf und holte einen Korkenzieher. Bevor er sich setzte, warf er wieder einen Blick aus dem Fenster. Noch ein Einsatzfahrzeug, unterwegs in dieselbe Richtung wie das erste. Automatisch sah er auf die Armbanduhr und merkte sich die Zeit: 22.02 Uhr.

»Also dann, gratuliere«, sagte Suzanne und hielt das Glas, während er einschenkte.

»Was meinst du?«

»Zur Hütte«, sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Schlüssels auf dem Tisch.

Wisting setzte sich wieder aufs Sofa.

Der Tag hatte in einer Anwaltskanzlei in Oslo begonnen, zusammen mit seinem Onkel, Georg Wisting.

Onkel Georg war achtundsiebzig und hatte die meiste Zeit seines erwachsenen Lebens damit verbracht, eine Ingenieurfirma aufzubauen, die auf Energieeinsparung spezialisiert war. William Wisting hatte nie ganz verstanden, was das beinhaltete, wusste aber, dass sein Onkel ein technisches Verfahren zur Reinigung und Desinfizierung von Wasser und Luft entwickelt und patentiert hatte.

Onkel Georg hatte es sich auch zur Lebensaufgabe gemacht, gegen Konventionen zu verstoßen, und hegte eine tiefgreifende Abneigung gegen Steuern und Abgaben. Das hatte zu einigen Boxrunden mit der Gerichtsbarkeit geführt, die mit Strafsteuern und Gefängnis auf Bewährung geendet hatten.

Der Termin in der Anwaltskanzlei betraf Georg Wistings letzten Willen. Es ging darum, dass der Staat auf gar keinen Fall von seinem Tod profitieren sollte. Der Anwalt war auf Erbrecht spezialisiert und hatte einen ziemlich komplizierten Plan ausgearbeitet, wie Onkel Georg sein Vermögen disponieren sollte, bevor er starb.

Für William Wisting lief es darauf hinaus, dass er Eigentümer einer Hütte am Værvågen außerhalb von Helgeroa wurde, mit einem künstlich so niedrig angesetzten Wert, wie es das Gesetz gerade noch zuließ, sodass die Erbschaftssteuer auf ein Minimum zusammenschrumpfte.

Das machte ihn zu einem wohlhabenden Mann. Nicht, dass es ihm darum gegangen wäre. Geld war kein Problem. Er verdiente relativ gut, gleichzeitig ließ ihm sein Beruf im Grunde gar keine Zeit, viel auszugeben. Und dann war da auch noch das andere Geld. Ingrids Nachlass sozusagen. Die Kinder und er hatten eine Entschädigung in Millionenhöhe erhalten, als sie vor vier Jahren bei einem Auftrag für Norad in Afrika starb. Das Geld lag auf einem Konto und wurde mit jedem Monat mehr. Er hatte es nicht über sich gebracht, es anzurühren.

Er erinnerte sich an die Zeit, als sie frisch verheiratet gewesen waren und Ingrid die Zwillinge erwartete. Die Rechnungen hatten sich gestapelt. Manchmal hatten sie Pfandflaschen sammeln und zu Geld machen müssen, wenn das Gehaltskonto am Monatsende leer war. Inzwischen hatte er aufgehört, beim Einkaufen auf den Preis zu achten.

Der Anwalt hatte sich erboten, seine Vermögenslage durchzugehen und einen Plan zu erarbeiten, der die Steuerbelastung auf ein Minimum reduzieren würde. Wisting hatte dankend abgelehnt.

Die Leute im Fernsehen lachten über irgendetwas.

»Ich beneide solche Menschen«, sagte Suzanne mit einem Kopfnicken zum Bildschirm.

Wisting nickte, obwohl er nicht mitbekommen hatte, welche Art von Menschen sie meinte. Ihm gefiel es einfach, zusammen mit ihr auf dem Sofa zu sitzen.

»Leute, die eben tun, wozu sie Lust haben«, fuhr sie fort. »Die etwas wagen. Die mit allem Sicheren und Vertrauten brechen und stattdessen etwas Neues und Spannendes machen. Solche wie Sigrid Heddal.«

Wisting warf einen Blick auf den Bildschirm. Eine Frau um die fünfzig sprach voller Begeisterung über etwas, das sie ›Safe Horizon‹ nannte.

Suzanne blickte ihn an. »Stell dir vor, sie ist über fünfzig, wirft ihren sicheren Job als Projektleiterin in der Wirtschaft hin und geht nach Addis Abeba, um freiwillig etwas für Waisenkinder zu tun. Das nenne ich Mut.«

Wisting nickte. Er mochte diese Seite an Suzanne.

»Tommy ist auch so ein Mensch.«

Sie sprach von Lines dänischem Freund. Vor einem Jahr hatte Tommy Kvanter seinen Job als Zahlmeister auf einem Fabriktrawler gekündigt, seine Wohnung verkauft und war bei Wistings Tochter eingezogen. Das Geld aus dem Wohnungsverkauf hatte er mit einigen Freunden in ein Restaurantprojekt in Oslo investiert. Wisting hielt Tommy für einen Träumer. Nicht unbedingt eine Eigenschaft, die er schätzte.

Nach dem Termin in der Anwaltskanzlei hatten Suzanne und er zusammen mit Line in Tommys Restaurant gegessen. Für Wisting war es das erste Mal, dass er dort einkehrte, und er begriff, dass es mehr war als ein Speiselokal. Es war ein ganzes Restauranthaus über drei Etagen, das den Namen Shazam Station trug, mit einem Nachtklub im Keller, einer Kaffeebar im Erdgeschoss und dem Restaurant in der obersten Etage.

Tommy war für die Küche und das Restaurant verantwortlich. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, mit ihnen gemeinsam zu essen, aber er hatte dafür gesorgt, dass sie ein Vier-Gänge-Menü bekamen. Das Essen war gut, daran lag es nicht. Aber wo waren all die Gäste an diesem betriebsamen Freitagnachmittag? Nur wenige Tische waren besetzt und die Kellner sahen aus, als hätten sie viel zu wenig zu tun. Wenn das jeden Tag so war, sah es schlecht aus für das ganze Geld, das Tommy in das Projekt gesteckt hatte.

Er hatte nie recht verstanden, was seine Tochter an Tommy fand. Zugegeben, Tommy wirkte manchmal durchaus reflektiert und gebildet, und sogar Wisting konnte sehen, wie charmant er war. Aber er traute ihm einfach nicht. Es hatte nichts damit zu tun, dass der Typ wegen einer Drogengeschichte vorbestraft war oder dass er stur und egoistisch sein konnte. Wisting hielt ihn nur einfach nicht für den Mann, auf den Line ihre Zukunft bauen sollte.

Manchmal fragte er sich, ob er nur deswegen so skeptisch war, weil Line seine Tochter war, aber eigentlich glaubte er das nicht. Und als er die beiden das letzte Mal zusammen gesehen hatte, schien es so, als hätte Line auch begonnen, die schwächeren Seiten an Tommy zu sehen. Sie ärgerte sich ständig über Sachen, die er sagte oder tat, und Wisting musste zugeben, dass es ihn freute, dass sie nicht mehr ganz so unkritisch war.

»Wenn man sich nicht traut, etwas Neues zu versuchen, kann man auch nicht erwarten, dass man etwas erreicht«, fuhr Suzanne fort. »Und was hat man denn schon zu verlieren? Ganz egal, wie oft man scheitert, man lernt jedes Mal etwas dazu. Und alle Erfahrungen sind wertvoll. Gute wie schlechte.«

Einer der Gäste im Fernsehen fand nicht sofort eine Antwort auf die Frage, die ihm gestellt worden war. In der Stille, die einsetzte, konnte Wisting weit entfernt eine Polizeisirene hören.

Er griff nach dem Weinglas und hielt es eine Weile in der Hand.

»Könntest du dir vorstellen, ein Restaurant zu eröffnen?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie überrascht und lächelte ihn an. »Nicht unbedingt ein Restaurant, aber vielleicht ein kleines Kunstcafé. Das Leben ist zu kurz, um es so zu leben, wie ich es tue. Jeden Morgen im Büro sein. Besprechungen, Budgets, Einsparungen, Projekte.«

Suzanne war Sozialpädagogin beim Jugendamt und hatte viele Jahre lang mit jungen alleinstehenden Asylbewerbern gearbeitet. In den letzten Jahren hatte sich der Job immer mehr in Richtung Verwaltungsarbeit verlagert, und jetzt saß sie in einem Büro und hatte keinen Kontakt mehr zu den Kindern und Jugendlichen, denen sie helfen wollte.

»Wie soll es heißen?«, fragte er und stellte das Glas ab, ohne getrunken zu haben.

»Was meinst du?«

»Wenn du davon träumst, ein Café zu eröffnen, hast du doch sicher über einen Namen nachgedacht.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht unbedingt Shazam Station, nehme ich an?«

Sie lächelte. »Das ist doch eigentlich ein lustiger Name.«

»Findest du?«

»Shazam ist ein Zauberwort. Persisch. Wir sagen Sesam. Sesam öffne dich.«

»Sesam Station?«

Sie lachte. Von den Augen und den Mundwinkeln lief ein feines Netz von Fältchen über Schläfen und Wangen. Es verlieh ihr einen ganz eigenartigen, strahlenden Blick.

Wisting griff nach dem Weinglas, aber noch ehe seine Hand es erreichte, klingelte das Telefon. Auf dem Display erschien das Wort Opera, die interne Abkürzung für die operative Zentrale der Polizei.

Er meldete sich kurz angebunden. Der Diensthabende am anderen Ende präsentierte sich ebenso knapp.

»In mehrere Hütten draußen auf Gusland wurde eingebrochen.«

Wisting schwieg. Er ahnte, dass das noch nicht alles war.

»In einer der Hütten lag ein Toter.«

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3

William Wisting schlug die Autotür hinter sich zu und zog den Jackenkragen enger zusammen.

Auf dem schmalen Parkplatz standen zwei Streifenwagen und ein Rettungswagen, außerdem zwei Zivilfahrzeuge.

Der Abend war kalt. Wistings Atem dampfte als feiner weißer Schleier vor seinem Gesicht. Von fern war das Rauschen der Wellen zu hören. Feuchtkalter Wind vom Meer wehte landeinwärts und trug feine Salzkörner mit sich.

Er ging zum Ende des Parkplatzes, wo ein schmaler Fußweg in einen Niederwald hineinführte. Nach fünfzig Metern öffnete sich das Dickicht und vor ihm lag die weite Küstenlandschaft. Die kahl gefegten Dünen verschmolzen mit dem schwarzen Meer. Der Lichtstrahl des Leuchtturms auf einer der Inseln draußen wischte über Land und ließ die unruhige Wasseroberfläche glitzern.

Weiter hinten am Strand sah er die Umrisse einer Hütte. Zwei Fenster waren schwach erleuchtet. Auf der Vorderseite des Hauses zuckten die Lichtkegel mehrerer Taschenlampen durch die Dunkelheit. Dann hörte er das Geräusch eines Generators, der angeworfen wurde, und die Frontpartie der Hütte lag in Licht gebadet. Er erkannte das rot-weiße Absperrband der Polizei, das im Wind flatterte. Die Reflektorstreifen an den Polizeiuniformen blinkten und er hörte die gedämpften Geräusche von Sprechfunkgeräten, Mobiltelefonen und leisen Gesprächen. Um all das herum stand die Herbstnacht sternlos und kalt.

Wisting senkte den Kopf vor dem heftigen Wind und ging weiter.

Unzählige Male war er zu ähnlichen Fällen gerufen worden. Dennoch wurde die Begegnung mit einem Tatort nie Routine. Und er wurde nie immun gegen den Anblick von zerstörter Haut, toten Menschen, der abgrundtiefen Verzweiflung der Angehörigen. Allzu oft hatte er das Resultat sinnloser Gewalt gesehen, von Mal zu Mal brutaler und gnadenloser. Die Erinnerungen daran erfüllten ihn mit einer Schwermut, die ihn reizbar und verschlossen machte.

Auf dem Pfad hinunter zum Tatort begegnete er zwei Rettungssanitätern. Sie kamen ihm mit leeren Händen entgegen. Ihre Gesichter waren ernst und sie grüßten nur mit einem knappen Kopfnicken, als sie an ihm vorbeigingen.

Der Polizist, der den Einsatz vor Ort leitete, hob das Absperrband an und ließ Wisting durch. Die Eingangstür der Hütte stand offen. Teile des Türrahmens waren durch das Aufbrechen zersplittert. Im Flur gleich hinter der Tür konnte er die Beine des Toten erkennen. Robuste Stiefel mit Sandklumpen an den Sohlen.

Er wurde kurz über den Sachstand informiert, erfuhr aber nichts anderes als fünfundzwanzig Minuten zuvor am Telefon.

Espen Mortensen war vor ihm eingetroffen. Der junge Kriminaltechniker war gerade dabei, sich einen weißen Schutzanzug überzuziehen.

»Kommst du mit rein?«, fragte er.

Wisting nickte, begnügte sich aber damit, Plastikschützer über die Schuhe zu ziehen, ehe er Mortensen die Treppe hinauf folgte.

Das Einbruchwerkzeug hatte deutliche Spuren im Bereich um das Türschloss hinterlassen. Holzsplitter standen in alle Richtungen ab und das Endstück des Türrahmens war losgerissen. Auf den Steinstufen der Treppe waren große Blutstropfen. Auf dem Türblatt befanden sich verwischte Flecken, als hätte sich jemand mit blutiger Hand daran abgestützt.

Espen Mortensen machte einige Fotos von der Gesamtsituation, bevor er weiterging. Wisting folgte ihm in den engen Flur. Der Beamte, der ihn in Empfang genommen hatte, blieb draußen stehen.

Das Opfer war ein Mann. Er lag auf dem Bauch, in einer merkwürdig verdrehten Stellung. Ein Arm lag unter dem Körper, der andere war zur Seite abgespreizt. Der dicke schwarze Handschuh war voller Blut. Die dreckigen Stiefel reichten ihm fast bis an die Knie. Am Oberkörper trug er einen schwarzen Pullover. Über den Kopf war eine schwarze Sturmhaube gezogen.

Wisting umrundete den Toten.

Der Körper lag in einer Blutlache, die über den Holzfußboden geflossen war. Wisting musste große Schritte machen, um nicht hineinzutreten.

Der Kopf war zur Seite gedreht. Die schwarze Sturmhaube, die das Gesicht verbarg, hatte vorn einen langen Riss, ungefähr in der Stirnmitte. Bleiche Hautlappen hingen heraus und Knochensplitter vom Schädel ragten aus der offenen Wunde.

Draußen bellte einer der Polizeihunde scharf auf, begierig darauf, mit der Suche zu beginnen. Wisting ging in die Hocke und legte die Hände auf die Knie.

Die Augen hinter den kleinen Öffnungen in der Maske des Mannes vor ihm waren weit geöffnet und die Augäpfel standen hervor. Die Lippen waren zurückgezogen, als würde er immer noch nach Luft ringen.

Wisting musterte den Fußboden fast eine Minute lang, dann erhob er sich und blickte sich um. Das Blut war verspritzt und hatte abstrakte Muster an den holzgetäfelten Wänden hinterlassen. An mehreren Stellen waren Fragmente von blutigen Handabdrücken zu sehen, ähnlich denen an der Eingangstür. Es sah aus, als hätte der Mann sich abgestützt, ehe er zusammenbrach.

Ausgehend von der Lache auf dem Fußboden zogen sich klebrige Fußabdrücke Richtung Tür. Derjenige, der hier gewesen war, war in das Blut getreten, bevor er sich aus dem Staub gemacht hatte.

»Wer hat ihn gefunden?« Wisting rief die Frage dem Polizisten zu, der am Fuß der Treppe stand.

»Der Nachbar«, antwortete der Beamte und zeigte auf eine Hütte, die ein wenig oberhalb lag. »Da ist auch eingebrochen worden.«

»War er hier drinnen?«

Der Uniformierte schüttelte den Kopf. »Er ist nicht weiter gekommen als bis zum Treppenabsatz.«

Wisting stand stumm da und versuchte, sich einen Gesamteindruck zu verschaffen. Gleichzeitig war er bemüht, sich Details einzuprägen, die entscheidend für die weitere Arbeit sein konnten. Darin war er für gewöhnlich gut. Der erste Eindruck von einem Tatort brachte oft, mithilfe seiner jahrelangen Erfahrung in der Ermittlungsarbeit, das dürre Gerüst einer Theorie zustande.

Ein Tatort war wie ein Kunstwerk. Jedes kleine Detail im Bild, von einem einzelnen Pinselstrich bis zum fertigen Gemälde, verriet etwas darüber, wer der Maler war.

Sein Blick wanderte durch das erleuchtete Zimmer. Die Hütte war stilvoll eingerichtet, mit einer Mischung aus modernen und antiken Möbeln. Die Farben waren klar und hell und passten gut zusammen.

Die Spuren der Einbrecher waren deutlich. Schubladen waren herausgezogen und Schränke geöffnet. Von einem niedrigen Tisch in einer Ecke hingen nur noch ein paar lose Kabel herab, dort hatte der Fernseher gestanden, und an den Wänden waren an mehreren Stellen, wo Bilder gehangen hatten, nur noch helle Felder zu sehen.

Wistings Blick kehrte zu dem Toten zurück, er seufzte und schüttelte resigniert den Kopf. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, aber auch nicht sagen, was hier nicht stimmte.

»Wurden Schlagwaffen gefunden?«, fragte er.

Espen Mortensen schüttelte den Kopf und gab die Frage an den Polizisten weiter, der draußen wartete.

»Die Hundestaffel sucht gerade«, erläuterte der.

»Wie sieht’s mit Einbruchwerkzeug aus?«, erkundigte sich Wisting und zeigte auf den zerstörten Türrahmen.

Wieder schüttelte Mortensen den Kopf. »Das könnte die Tatwaffe sein«, meinte er. »Die Rechtsmediziner können sicher mehr dazu sagen, aber es sieht aus wie ein Schlag mit einem spitzen Gegenstand. Einem Brecheisen zum Beispiel.«

»Du glaubst nicht, dass er der Einbrecher ist?«, fragte Wisting und nickte zu dem Mann mit der Stirnhaube, der zwischen ihnen lag.

»Vielleicht wurde er überrascht und man hat ihm das Brecheisen abgenommen?«

Wisting schüttelte skeptisch den Kopf. Nichts deutete darauf hin, dass dem tödlichen Schlag ein Kampf vorausgegangen war. Zwei kleine Bilder hingen unverrückt an der Wand. Ein Paar Joggingschuhe stand penibel ausgerichtet neben der Tür. Zwei Anoraks hingen ordentlich an einer Reihe Garderobenhaken. Auch weiter hinten im Haus waren keine anderen zerstörerischen Spuren zu sehen als die, die Wisting schon bei unzähligen früheren Einbrüchen gesehen hatte.

»Und wo ist das Diebesgut?«, fragte er und machte einige Schritte in die luxuriöse Hütte hinein.

»Vielleicht ist er für eine zweite Runde zurückgekommen?«, schlug der Polizist vor, der immer noch draußen stand. »Wollte vielleicht noch mehr holen?«

»Möglich«, murmelte Wisting nachdenklich. »Wem gehört die Hütte eigentlich?«

»Hat Ihnen das keiner gesagt? Thomas Rønningen.«

»Dem Fernsehmoderator?«, fragte Wisting und starrte auf die Leiche.

Der Kollege draußen nickte.

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4

Wisting überließ Mortensen den Tatort und ging hinaus auf den Platz vor der Hütte. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Das Wasser tropfte vom Mützenschirm des uniformierten Einsatzleiters.

»In welche Hütten wurde sonst noch eingebrochen?«, erkundigte Wisting sich.

Der Kollege in Uniform wandte sich Richtung Norden und zeigte auf eine Hütte, die ein Stück entfernt stand. Ihre Umrisse zeichneten sich vor dem Nachthimmel ab und Wisting konnte sehen, dass die Fenster erleuchtet waren. Auf einer kleinen Bodenerhebung stand ein Fahnenmast mit einer Flagge, die im Wind schlug.

»Der Besitzer heißt Ove Bakkerud. Der Anruf kam von ihm. Er ist vor einer Stunde aus Oslo gekommen und entdeckte, dass bei ihm eingebrochen worden war. Anschließend ging er hierher, um nach dem Rechten zu sehen, und fand die Leiche.«

Wisting fuhr sich mit der Hand über das regennasse Gesicht. »Bei wem noch?«

Der Polizist zog einen Notizblock aus der Tasche und drehte den Rücken schützend in den Wind.

»Jostein Hammersnes.« Er zeigte über Wistings rechte Schulter. »Ihm gehört die Hütte drüben auf der Landzunge. Er hat den Einbruch ungefähr zur selben Zeit an die Zentrale gemeldet, als wir die Nachricht über den Leichenfund bekamen. Es können durchaus noch mehr sein, aber von den beiden wissen wir es mit Sicherheit. Wir gehen jetzt von Hütte zu Hütte.«

»Was habt ihr mit den beiden Hütten gemacht?«

»Wir haben sie abgesperrt.«

Wisting nickte. Sie hatten wenigstens drei Tatorte, die in Zusammenhang standen, was die Chance, Spuren des Täters zu finden, mindestens verdreifachte. Keine schlechte Ausgangslage.

»Wir haben Kriminaltechniker aus dem gesamten Regierungsbezirk angefordert«, sagte der Einsatzleiter, als wüsste er, was Wisting durch den Kopf ging.

»Was ist mit den Besitzern?«

»Wir sind gerade dabei, sie in einem Hotel in Stavern unterzubringen. Ihr könnt sie morgen früh vernehmen.«

»Habt ihr irgendwas gesehen?«

Der andere schüttelte den Kopf und wollte gerade etwas sagen, als er von Hundegebell ganz in der Nähe unterbrochen wurde. Gleichzeitig knisterte es in seinem Ohrstöpsel. Er hob die Hand und drückte ihn fester in den Gehörgang.

»Die Hundestreife hat das Gelände in östlicher Richtung abgesucht. Sie haben ein Mobiltelefon gefunden«, übermittelte er. »Sie fragen, was sie damit machen sollen.«

»Den Fundort markieren und das Ding herbringen«, sagte Wisting.

Der Einsatzleiter gab es weiter. Kurz darauf kam ein junger Polizist mit dem Mobiltelefon angelaufen, versiegelt in einem Asservatenbeutel aus durchsichtigem Plastik.

»Der Akku ist noch nicht ganz leer«, erklärte er und gab Wisting den Beutel. »Wir sollten besser gleich nachsehen, bevor es ausgeht. Sonst brauchen wir den PIN-Code, um es wieder anzuschalten.«

Wisting nahm den Beutel entgegen. Durch das Plastik hindurch drückte er eine Taste, um das Display zu beleuchten. Es war ein Mobiltelefon von Sony Ericsson und er kannte sich mit der Menüführung aus. Er überprüfte die Gesprächsliste. Nichts. Keine empfangenen oder gesendeten Telefonate. Er fand zurück zum Hauptmenü und rief die SMS-Liste auf. In der Eingangsbox lag nur eine Nachricht, empfangen um 16.53 Uhr. Sie bestand aus nichts als einer Zahl: 2030. Der Absender war eine neunziffrige ausländische Nummer.

Im Ordner der gesendeten SMS lagen zwei Nachrichten an dieselbe Nummer. Die erste war um 16.54 Uhr abgeschickt worden. OK. Die andere um 20.43 Uhr: I am here.

Wisting durchsuchte noch andere Ordner, doch außer den drei SMS waren keine weiteren Informationen gespeichert. Er nahm an, dass es sich bei der Zahl 2030 um eine Uhrzeit handelte. Die Nachricht war mit OK beantwortet worden. Danach hatte der Besitzer des Handys eine SMS geschickt, dass er am verabredeten Ort war. I am here.

»Ich nehme es mit und lade es auf«, sagte Wisting und steckte das Handy in die Jackentasche. »Vielleicht kommen im Lauf der Nacht noch mehr Nachrichten.«

Ein Windstoß ließ Wisting frösteln. Er starrte suchend in die Dunkelheit. Schwarze Dünen und kleine Gruppen von wettergebeugten Kiefern und Wacholderbüschen, an denen der Wind zerrte. Es war erst knappe drei Stunden her seit der schicksalhaften Begegnung, die dazu geführt hatte, dass einer der Männer tot zurückblieb. Der andere konnte immer noch irgendwo hier draußen sein.

»Wir bekommen Hubschrauberunterstützung«, erklärte der Einsatzleiter, der offenbar das Gleiche gedacht hatte.

»Gut«, nickte Wisting. Er hatte nicht vor, so lange zu warten. Er wollte nach Hause und sich trockene Sachen anziehen, und danach musste er ins Büro und die Maschinerie anwerfen.

Er ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Eine Gruppe Journalisten hatte sich oben am Parkplatz versammelt. Einer der Fotografen richtete die Kamera auf Wisting und ergatterte einen Schnappschuss von einem zerfurchten, entschlossenen Gesicht. Als Wisting die Autotür öffnete, hörte er den Hubschrauber kommen. Er flog in niedriger Höhe von Osten heran. Der Scheinwerfer wischte über die Landschaft und fing die Aufmerksamkeit der Reporter ein.

Er zog sich die nasse Jacke aus und warf sie auf den Rücksitz, dann setzte er sich ans Steuer und ließ den Motor an. Die Scheinwerfer schnitten durch die Nacht und erhellten den dichten Laubwald zu beiden Seiten des schmalen Sandwegs.

Plötzlich knallte irgendetwas gegen die Frontscheibe. Wisting stieg auf die Bremse und der Wagen rutschte mit blockierten Rädern über den Sand. Blutspuren und ein paar schwarze Federn klebten an der Windschutzscheibe. Wahrscheinlich hatte er einen Vogel erwischt. Er betätigte die Scheibenwaschanlage, um die Überreste zu entfernen.

Er fuhr weiter, aber schon nach wenigen Metern wurde das Auto wieder von einem Vogel getroffen. Wisting sah ihn wie einen Ball durch die Luft angeflogen kommen, ehe er den Wagen traf und an der Frontscheibe herabrutschte.

Er fuhr den Feldweg weiter, der nach einigen Hundert Metern an der Landstraße zwischen Helgeroa und Stavern endete. Wisting bog nach rechts ab.

Ein dünner Nebelschleier hing über dem dunklen Asphalt. Regennasses Herbstlaub trieb im Wind, wirbelte gegen das Auto und sammelte sich in dem Spalt hinter den Scheibenwischern.

Sein Blick fing im Abstand von ungefähr hundert Metern eine Bewegung am Straßenrand ein. Er ging vom Gas.

Es war ein Mann. Er kam ihm entgegen, auf der anderen Straßenseite. Seine Schritte waren unsicher. Er hob die Hand vors Gesicht, um sich vor dem grellen Fernlicht zu schützen.

Wisting blendete automatisch ab. Im selben Moment griff der Mann sich mit der anderen Hand an die Brust und fiel um.

Wisting warf einen Blick in den Rückspiegel, ehe er anhielt und ausstieg. Die Straße war leer, zu beiden Seiten lagen frisch gepflügte Äcker.

Der Mann bewegte sich nicht.

Wisting ging neben ihm in die Hocke und berührte ihn an der Schulter. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

Da er keine Antwort bekam, packte er den Mann und wollte ihn umdrehen.

Urplötzlich wandte der Mann ihm das Gesicht zu. Es war, als läge in seinem Blick eine dünne Schicht Trotz, unter der sich Angst und Furcht verbargen. Eine geballte Faust schoss hervor und traf Wisting mitten ins Gesicht.

Wisting schwankte. Es folgten noch ein paar schnelle Schläge, dann war der Mann wieder auf den Beinen. Wisting streckte die Hand aus und hielt ihn fest. Der Mann riss sich los und schlug wieder nach ihm, ohne jedoch zu treffen. Wisting erhob sich, wich einem weiteren Schlag aus und konterte. Seine Faust traf den Mann in der Magengegend, der andere krümmte sich und schnappte nach Luft. Wisting warf sich auf ihn, um ihn zu Fall zu bringen, wurde aber von einer Reihe Boxhiebe getroffen. Einer davon traf sein Kinn. Seine Zähne gruben sich in die Unterlippe, der Mund füllte sich mit Blut und er ging in die Knie.

Der Mann rannte auf das Auto zu, sprang hinters Steuer, trat das Gaspedal durch und raste mit Vollgas direkt auf Wisting zu. Die Scheinwerfer blendeten ihn. Er sprang zur Seite, rollte sich von der Fahrbahn und blieb liegen. Nach einem kurzen Moment hatten seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Die Umgebung zeichnete sich in verschiedenen Grautönen ab und er konnte gerade noch sehen, wie die roten Rücklichter seines eigenen Autos um die nächste Kurve verschwanden.

Wisting rappelte sich auf, spuckte Blut und fluchte. Sein Mobiltelefon lag im Auto.

Von Weitem konnte er das Geknatter des Hubschraubers hören, der im Niedrigflug die Küste absuchte. Wisting spuckte erneut aus, blickte zurück und versuchte sich zu erinnern, wo das nächste Haus lag. Dann beschloss er, in die dieselbe Richtung zu gehen, in der das Auto verschwunden war.

Nach zehn Minuten tauchten die Lichter eines Bauernhofs auf. Er ging schneller, legte das letzte Stück im Laufschritt zurück.

Es war ein weißes Bauernhaus, zweistöckig mit einer breiten Treppe, flankiert von einer roten Scheune und zwei Stallgebäuden. Mitten auf dem Hofplatz stand eine alte Eiche mit ausladender Blätterkrone.

Ein paar Pferde in der Scheune wieherten und bewegten sich unruhig, als sie ihn witterten.

Oben auf der Treppe saß eine grau-weiße Katze. Sie starrte ihn aus gelben Augen an und machte einen Buckel, ehe sie einen schwarzen Vogel mit spitzem Schnabel, der vor ihr auf der Fußmatte lag, packte und mit ihm im Maul davonlief.

Die Tür war blau gestrichen. Ein großes Keramikschild am Rahmen über der Klingel verriet ihm, wer hier wohnte. Wisting drückte den Klingelknopf und betastete sein Gesicht, während er wartete. Es tat überall weh.

Dann ging im Inneren des Hauses eine Tür und er konnte hinter dem Riffelglas eine Bewegung im Flur erahnen.

Ein Mann mit einem mächtigen roten Bart öffnete. Er stand in dem breiten Eingang und musterte Wisting.

»Ich bin Polizist«, erklärte Wisting und suchte einen Moment lang seine Hosentaschen ab, bis ihm einfiel, dass sein Dienstausweis in der Brieftasche steckte, die im Auto lag.

Der Mann nickte und trat einen Schritt beiseite, um ihn einzulassen. Wisting war als leitender Ermittler so oft in den Medien, dass die meisten Leute im Distrikt wussten, wer er war.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich der Mann und machte die Tür hinter ihm zu.

Wisting nahm sich nicht die Zeit, ihm zu antworten. »Ich muss telefonieren«, sagte er nur.

Der Mann zog ein Handy aus der Tasche. »Sie sehen nicht gut aus«, sagte er. »Wollen Sie sich waschen?«

Wisting schüttelte den Kopf, nahm das Handy und wählte die Nummer der Einsatzzentrale. Er beschrieb kurz und präzise, was geschehen war.

Der bärtige Mann stand mit großen Augen daneben und hörte zu, und als Wisting das Gespräch beendete, fragte er freundlich, ob er irgendwie helfen könne.

Wisting überlegte kurz. »Haben Sie ein Auto?«

Der Mann nickte und griff nach seiner Jacke. »Steht in der Scheune.«

Wisting ließ sich von dem Mann nach Hause fahren. Ihm fiel ein, dass er auch keine Hausschlüssel hatte. Die hingen am selben Schlüsselbund wie die Autoschlüssel. Sein Hausausweis für die Polizeistation war ebenfalls weg. Er steckte zusammen mit dem Dienstausweis in der Brieftasche.

Er musste an seiner eigenen Haustür klingeln.

Suzanne öffnete zögernd. »Du liebe Güte«, stöhnte sie und packte ihn am Arm. »Wie siehst du denn aus?«

»Idiotische Geschichte«, sagte Wisting und musste zum ersten Mal lächeln.

Er ging ins Bad, zog die nasse und blutbespritzte Kleidung aus und erzählte dabei, was passiert war.

»Würdest du mir frische Sachen raussuchen?«, fragte er und ging unter die Dusche.

Sie nickte und sammelte das schmutzige Zeug ein.

»Nicht waschen«, bat er und drehte das Wasser auf. »Häng es zum Trocknen auf. Etwas von dem Blut könnte von ihm sein.«

Das Wasser wurde rasch heiß. Wisting schloss die Augen und lehnte sich zurück in den Wasserstrahl.

»Du solltest zum Arzt gehen«, sagte Suzanne.

Er wischte einen Streifen in die beschlagene Glastür und blickte zu ihr hinaus. »Mal sehen«, erwiderte er. »Kannst du mir ein Taxi rufen?«

»Lass mich jedenfalls einen Blick darauf werfen, bevor du fährst.«

Er protestierte nicht und duschte zu Ende. Sie gab ihm ein Handtuch aus dem Schrank und holte die Erste-Hilfe-Tasche.

Als sie zurückkam, blieb er nackt vor ihr stehen, während sie sein Gesicht untersuchte.

»Glaubst du, er war es?«

»Wer?«

»Der Mörder.« Sie drückte einen jodgetränkten Wattebausch auf die Wunden. Es brannte. »Glaubst du, dass er es war, mit dem du dich geprügelt hast?«

Sie stellte ihm die gleiche Frage, die ihm auch schon durch den Kopf gegangen war.

»Ich weiß nicht«, erwiderte er und schwieg, bis sie ihre Untersuchung beendet hatte.

»Du hast eine Platzwunde, die nicht gut aussieht«, erklärte sie und suchte ein Pflaster heraus. »Aber ich denke, das wird schon.«

Er küsste sie zum Dank. Sie strich ihm mit der Hand über die Brust und den Bauch, ein kleiner Hinweis darauf, was ihm entgehen würde. Er lächelte, gab ihr noch einen Kuss und zog die Sachen an, die sie ihm hingelegt hatte.

»Hast du ein Taxi gerufen?«, fragte er.

»Ich kann dich fahren«, sagte sie. »Nachdem du gegangen warst, habe ich nichts mehr getrunken.«

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5

Nils Hammer war eine halbe Stunde zuvor in der Polizeistation eingetroffen und half Wisting, ins Haus zu kommen.

Hammer war ein großer Kerl, ungefähr fünf Zentimeter größer als Wisting, mit schweren Gesichtszügen. Er galt als Eigenbrötler, aber auch als fähiger Polizist, der seinen Beruf ernst nahm.

Er war ausdauernd, eine unverzichtbare Eigenschaft für einen Ermittler. Hammer ließ niemals locker, er ging vollkommen in seiner Arbeit auf. Ebenso wie Wisting konnte Hammer wie besessen davon sein, einen Fall zu lösen. Sie hatten schon unzählige Nächte zusammen auf der Dienststelle verbracht, mit großen Planungsskizzen, großen Theorien und abgestandenem Kaffee. Das war der Grund, warum Nils Hammer immer unter den Ersten war, die Wisting anforderte, wenn es ein neues Ermittlungsteam aufzustellen galt.

»Torunn ist unterwegs«, erklärte er.

Er roch leicht nach Bier, war aber nicht sichtlich angetrunken. Er war nicht der Einzige, der seine Pläne für den Freitagabend hatte ändern müssen.

»Okay«, sagte Wisting und nickte. Es war beruhigend, dass auch Torunn Borg bei der einleitenden Phase dabei sein würde. Sie war effizient, gründlich und fachlich kompetent. »Wir fangen mit der Besprechung an, wenn sie da ist.«

»Ich habe eine Ortung deines Handys veranlasst«, fuhr Hammer fort und ging vor ihm die Treppe zur Ermittlungsabteilung hinauf.

So weit hatte Wisting noch gar nicht gedacht. Sein Mobiltelefon sendete ständig Signale aus. Die Telefongesellschaft konnte über die Basisstationen peilen, wo sich das Handy befand. Der Gedanke machte ihn enthusiastisch und optimistisch.

»Es ist irgendwo hier in der Stadt«, fuhr Hammer fort. »Telenor ist dabei, einzelne Sendemasten abzuschalten, um eine genauere Position zu erhalten.«

»Wann können wir mit dem Ergebnis rechnen?«

Hammer zuckte die Schultern. »In fünfzehn, zwanzig Minuten vielleicht. Wir können nur hoffen, dass das Auto nicht in Bewegung ist.«

Wisting bedankte sich und ging in sein Büro. Er schaltete den Rechner ein. Es würde ein paar Minuten dauern, bis er hochgefahren war. In der Zwischenzeit hatte er zwei Telefonate zu führen. Als Erstes wählte er die Nummer von Christine Thiis. Sie war neu eingestellt worden, nachdem Audun Vetti befördert worden war und die Polizeistation verlassen hatte.

Christine Thiis war eine erfahrene Strafverteidigerin aus Oslo, hatte aber die Karriere sausen lassen und der Großstadt den Rücken gekehrt. Sie war die eindeutig bestqualifizierte Bewerberin gewesen und hatte den weit schlechter bezahlten Posten als Polizeianwältin angenommen. Sie hatte heute Bereitschaftsdienst als Untersuchungsrichterin und war damit automatisch verantwortlich für den vor ihnen liegenden Fall.

Thiis meldete sich nach dem ersten Klingelsignal. »Ich habe schon versucht, dich zu erreichen«, sagte sie. Ihr Tonfall klang angestrengt und leicht gereizt. »Ich muss wissen, was los ist.«

Wisting räusperte sich und brauchte drei Minuten, um ihr den Fall zu schildern. Er konnte sie direkt vor sich sehen, während er sprach: die Wangen leicht gerötet vor Eifer, die braunen Augen hellwach.

»Aber dir geht es gut?«, fragte sie, nachdem sie die ganze Geschichte gehört hatte.

»Ja, alles okay«, versicherte Wisting.

Er hörte, wie sie in Unterlagen blätterte. Sie hatte sich bestimmt Notizen gemacht, während er sprach.

»Was haben wir in der Hand?«, fragte sie.

»Vorläufig noch nichts Konkretes, aber wir stehen ja erst am Anfang.«

»Okay. Ich komme hier nicht weg. Die Kinder schlafen und ich kann sie nicht allein lassen.«

»Wir brauchen einen Untersuchungsrichter«, sagte Wisting. »Soll ich mich umhören, ob jemand anderes den Fall übernehmen kann?«

»Nein«, kam es prompt zurück. »Ich habe meine Mutter angerufen. Sie kommt aus Lillestrøm her und wird in ein paar Stunden hier sein. Bitte halte mich bis dahin telefonisch auf dem Laufenden.«

Wisting versicherte ihr, dass er anrufen werde, falls etwas Dramatisches passieren sollte, und beendete das Gespräch.

Der Nächste, mit dem er Kontakt aufnehmen musste, war Thomas Rønningen. Er setzte voraus, dass der bekannte TV-Moderator eine Geheimnummer hatte, und rief stattdessen den Sender an.

Er stellte sich vor und erklärte, es sei von entscheidender Bedeutung, dass er die Kontaktdaten von Thomas Rønningen erhalte.

Die Frau, die Nachtschicht in der Telefonzentrale des NRK hatte, hörte sich erfahren an. Sie bedauerte, dass sie keine Telefonnummer von Rønningen habe, und bat ihn zu warten. Wisting hörte, wie sie auf einer Tastatur tippte.

»Ich habe Handynummer und E-Mail-Adresse seines Agenten, Einar Heier«, sagte sie. »Möchten Sie die haben?«

»Telefonnummer reicht.«

Sie gab ihm die Mobilfunknummer.

»Danke. Die Sendung, die heute Abend lief, wissen Sie, wann die aufgezeichnet wurde?«

»Das war eine Direktsendung.«

»Was heißt das?«

»Früher haben wir die Sendung einen Tag vorher produziert, wodurch etwas von der Aktualität verloren ging. Jetzt zeichnen wir sie vier Stunden vor dem Sendetermin auf und senden sie ungeschnitten.«

Wisting rechnete im Kopf. »Das heißt, die Aufzeichnung war gegen 18.00 Uhr beendet?«

»Richtig.« Sie hielt kurz inne. »Ist das etwas, worüber Sie mit der Sicherheitsabteilung reden sollten?«

»Nein, nein. Wenn, dann rufe ich später noch mal an.«

Er beendete das Gespräch und wählte die Nummer des Agenten. Der meldete sich in betont entgegenkommendem Tonfall.

Wieder stellte Wisting sich vor und bat um Rønningens Kontaktdaten.

»Ich gebe Ihnen gerne die Handynummer, aber es ist nicht gesagt, dass Sie ihn erreichen.«

»Aha?«

»Ich rufe ihn immer nach der Sendung an und sage ihm, wie ich sie fand, aber heute habe ich ihn nicht erreicht.«

Wisting blickte aus dem Fenster, während er sprach. Er konnte einen Hubschrauber sehen, der im Niedrigflug über dem Fjord hereinkam.

»Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?«, fragte er.

»Gestern. Darf ich fragen, worum es geht?«

»In seine Ferienhütte bei Helgeroa wurde eingebrochen.«

»Aha. Da wird er dankbar sein, dass Sie angerufen haben.« Der Agent gab ihm die Nummer. »Falls er nicht rangeht, schicken Sie ihm lieber eine SMS, statt eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen.«

»Vielen Dank.«

»Kann ich vielleicht irgendetwas tun? Irgendwas Praktisches im Zusammenhang mit dem Einbruch?«

»Vorläufig nicht. Ich habe ja Ihre Nummer.«

Draußen stand der Hubschrauber in der Luft. Der Scheinwerfer strahlte das Hafengelände an. Abwartend.

Wisting wählte Thomas Rønningens Nummer, stand auf und ging zum Fenster. Die Mailbox sprang sofort an. Wisting legte auf und speicherte die Telefonnummer.

Nils Hammers Stimme tönte aus der Rufanlage und durchbrach die Stille. »Sie haben dein Handy geortet. Es soll draußen auf Revet sein.«

Der Hubschrauber neigte sich zur Seite und drehte Richtung Osten ab. Revet war ursprünglich eine Sandbank zwischen Lågen und dem Larvikfjord gewesen, inzwischen jedoch ein großes Industrie- und Hafengebiet, das wie eine Darmschlinge draußen im Meer lag. Dort gab es viele Stellen, wo man ein Fahrzeug verstecken konnte, aber gleichzeitig gab es auch nur einen Weg heraus.

»Wir bauen eine Sperre am Kanalkai auf«, erklärte Hammer.

Wisting wandte den Blick von dem Hubschrauber ab und starrte stattdessen sein Spiegelbild im Fenster an. Der Regen verzerrte seine Gesichtszüge und machte aus ihm einen Fremden. Die Lider fielen ihm zu. Er ließ die Augen geschlossen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.

Dies war der erste große Ermittlungsfall seit seiner Rückkehr nach einer längeren krankheitsbedingten Auszeit. Er hatte seinen Beruf immer als herausfordernd und inspirierend erachtet, aber im vergangenen Sommer hatte er sich schlecht gefühlt. Die ständig wachsende Arbeitsmenge wurde auf immer weniger Personal verteilt. Es war eine konstante Überbelastung, die schließlich zu körperlicher und geistiger Erschöpfung führte.

Er war drei Monate krankgeschrieben gewesen. Als er seinen Dienst wieder antrat, hatte er begriffen, dass er nicht unersetzlich war, und er hatte es geschafft, mehr Aufgaben und mehr Verantwortung an andere abzugeben.

Jetzt stand er da und horchte in sich hinein, ob er für diesen Fall bereit war. Dann traf er seine Entscheidung. Er griff nach der Jacke, die über der Rückenlehne seines Stuhls hing, und ging mit entschlossenen Schritten zur Tür.

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6

Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, als Wisting aus der Garage des Polizeipräsidiums fuhr. Ein grauer Fluss. Er schaltete die Scheibenwischer ein. Die Regentropfen wurden weggeschoben, kamen zurück, verschwanden wieder.

Das Wasser schoss die Rinnsteine entlang, und wo die Gullys es nicht schnell genug aufnehmen konnten, bildeten sich große Lachen. Er fuhr die Prinsegate hinunter und bog an der Ampelkreuzung vor dem Bahnhof nach links ab. Die Straßen waren leer, eingehüllt in einen feuchten Schleier.

Die Fahrt nach Revet hinaus dauerte nur drei Minuten. Eine Straßensperre blockierte die Weiterfahrt. Zwei Streifenwagen standen Kühler gegen Kühler quer auf der Fahrbahn. Vor ihnen parkte ein dritter Polizeiwagen.

Ein Polizist im Regenmantel kam auf ihn zu. Seine Hände lagen auf einer Maschinenpistole, die vor seiner Brust hing.

Wisting ließ die Seitenscheibe herunter.

Der andere erkannte ihn und hob grüßend zwei Finger an die Mütze.

»Gibt’s was Neues?«, fragte Wisting.

Der Polizist schüttelte den Kopf. Regenvorhänge fegten über das Industriegelände. Die Hubschrauber kreisten in weiten Runden.

Im Rückspiegel sah Wisting die Lichter eines Autos. Der Polizist richtete sich auf und blickte in dieselbe Richtung. Ein kleiner roter Golf stoppte hinter ihnen und Garm Søbakken von der Lokalzeitung stieg aus.

»Was ist los?«, fragte er und trat hinaus in den Regen.

Der Uniformierte antwortete nicht. Der Reporter drehte sich zu Wisting um.

»Wir suchen nach einem gestohlenen Wagen«, antwortete Wisting.

»Mit Hubschraubern und Waffen im Anschlag?«

Der Polizist mit der Maschinenpistole ging zurück zu der Straßensperre.

Wisting nickte. Er hätte eine Pressemeldung formulieren sollen, eher er losfuhr, aber er war davon ausgegangen, dass der Leiter der Einsatzzentrale schon daran arbeitete. Wenn die paar Details, die sie hatten, erst bekannt wurden, würde der Mediendruck enorm sein. Die Nachrichtenredaktionen konnten sich kaum etwas Besseres wünschen – ein Kriminalfall kombiniert mit Prominentenklatsch.

»Es wird eine Pressemeldung geben«, sagte er und schloss das Fenster wieder.

Normalerweise war er nicht so abweisend, aber im Moment wusste er nicht, wie er die derzeitige Situation erklären sollte. Dass ein Mörder entwischt war, weil er dem leitenden Ermittler das Auto klaute, ließ die ganze Sache ziemlich stümperhaft aussehen.

Der Reporter von der Østland-Posten hob die Kamera und richtete sie auf die Straßensperre. Wisting erkannte, dass es ein gutes Motiv war, mit dem Hubschrauber im Hintergrund.

Der stoppte abrupt, stieß herab wie ein Falke auf Beutejagd, stieg dann wieder auf und stand in der Luft, den Scheinwerfer senkrecht nach unten gerichtet.

Der Hubschrauberpilot meldete sich bei den Polizisten am Boden: »Heli für Fox null-fünf, kommen.«

»Fox null-fünf hört«, krächzte es im Polizeifunk.

»Wir haben vermutlich Zielobjekt im Visier. Thermokamera zeigt, dass der Motor noch warm ist. Keine Anzeichen von Menschen.«

»Verstanden, wir sehen nach.«

Einer der Streifenwagen, die die Straßensperre bildeten, ließ den Motor an. Wisting stieg aus, lief hinüber und setzte sich auf die Rückbank des Polizeiautos. Der Mann am Steuer drehte sich zu ihm um und nickte. Dann gab er Gas und fuhr auf den Lichtkegel des Hubschraubers zu.

Sie passierten das Terminal der Color Line und nahmen Kurs auf den Containerhafen, vorbei an Lagerhallen, Werkstätten und Laufkränen. Um die Laternen entlang der breiten Straße bildeten sich im Regen gelbe Lichtkränze.

Das Auto stand auf einem offenen Platz neben einer Palette Steinblöcke, die verschifft werden sollte. Die Windböen trieben das Wasser waagerecht über den Asphalt. Wisting musterte sein Auto aus zusammengekniffenen Augen. Es wirkte verlassen.

Von der anderen Seite näherte sich ein Polizeiauto, das auf dem Gelände Streife gefahren war. Es hielt zwanzig Meter vor Wistings Wagen und drei Männer stiegen aus. Über Funk wurde kurz Meldung gemacht. Sie gingen mit gezückten Waffen auf das Auto zu, während die beiden Polizisten aus dem Streifenwagen, in dem Wisting saß, sich jeweils von links und rechts näherten.

Sie stellten schnell fest, dass sich niemand in dem Auto befand. Einer der Männer richtete die Waffe auf den Kofferraum, während ein anderer ihn vom Fahrersitz aus öffnete. Gleich darauf kam über Funk die Meldung: »Klar.«

Einer der Polizisten aus dem anderen Streifenwagen ließ einen Hund heraus, während Wisting zu seinem Auto ging, um nachzusehen.

Seine nasse Jacke lag auf dem Beifahrersitz. Er öffnete die Tür und nahm sie heraus. Darunter lag der Asservatenbeutel mit dem Mobiltelefon, das hinter der Hütte gefunden worden war. Er nahm es an sich. Der Akku hatte immer noch Saft. Neue Nachrichten oder Anrufe waren jedoch nicht eingegangen.

Einer der Polizisten leuchtete mit der Taschenlampe das Wageninnere ab. »Was machen wir mit dem Auto?«, fragte er.

Wisting warf einen Blick hinein. Der Zündschlüssel steckte. Der helle Bezug des Fahrersitzes war völlig verdreckt. »Wir müssen ihn abschleppen und von der Spurensicherung untersuchen lassen. Kümmerst du dich darum?«

Der andere nickte, während der Lichtstrahl durch das Wageninnere glitt. »Hast du ihn verwundet?«, fragte er und zeigte mit der Taschenlampe auf die dunklen Flecken im Polster des Fahrersitzes.

Wisting schüttelte den Kopf und umrundete das Auto. »Nicht nennenswert«, antwortete er.

»Sieht aus wie Blut«, meinte der andere.