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Das Prequel zum erfolgreichen Cold-Case-Quartett Es ist das Jahr 1983. William Wisting, gerade Vater von Zwillingen geworden, ist ein ehrgeiziger junger Streifenpolizist und träumt davon, eines Tages als Ermittler bei der Mordkommission zu arbeiten. Während einer Nachtschicht verfolgt er einen Bankräuber, doch diesem gelingt die Flucht. Erfahrenere Kollegen übernehmen den Fall, Wisting soll sich lieber mit einem von Kugeln zerfetzten Oldtimer in einer baufälligen, vergessenen Scheune befassen. Wisting stürzt sich in die Ermittlungen – und bis auf diesen begabten Streifenpolizisten ahnt niemand, dass die beiden Fälle zusammenhängen.
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Übersetzung aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
© Jørn Lier Horst 2016
Published by agreement with Salomonsson Agency.
Titel der norwegischen Originalausgabe:
»Når det mørkner« bei Gyldendal, Oslo, 2016
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Annika Krummacher
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: Nordic Life / Terje Rakke / plainpicture
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Cover & Impressum
Prolog
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Meine Großmutter ist vor zwölf Jahren gestorben«, erklärte die Frau. »Mit siebenundneunzig. Mein Bruder hat ihr Haus übernommen. Es hatte die ganze Zeit leer gestanden, aber im Sommer haben wir mit der Renovierung angefangen.«
Wisting warf einen Blick auf die Uhr. Er musste gleich zu einer Veranstaltung, bei der die neuen Absolventen der Polizeihochschule zu ihrem bevorstehenden praktischen Jahr begrüßt werden sollten. Als er jedoch am Telefon den Namen der Frau erfahren hatte, die unten am Empfang stand und nach ihm fragte, hatte er sie zu sich heraufschicken lassen.
»Wir haben einen an Sie adressierten Brief gefunden«, fuhr die Frau fort und nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche. Sie legte ihn auf den Tisch und schob ihn Wisting zu. In großen runden Buchstaben stand sein Name auf dem Umschlag, anscheinend mit zitternder Hand geschrieben.
»Der muss für Sie sein, meinen Sie nicht?«
Wisting zog den Brief zu sich heran. Der Umschlag war vergilbt und spröde. Seine Gedanken wanderten dreißig Jahre zurück.
»Doch, der ist wohl für mich«, sagte er und nickte.
»Sie hatte ihn in einem Bilderrahmen hinter einem Foto meines Großvaters versteckt«, erklärte die Frau. »Wo auch sonst, nicht wahr?«
Wisting wog den Brief in der Hand. Er war ungeöffnet.
»Sie haben ihn also nicht gelesen«, konstatierte er.
»Er ist nicht für mich bestimmt«, erwiderte sie lächelnd. »Nicht alle in meiner Familie sind unredlich.«
»Danke«, sagte Wisting und erwiderte das Lächeln.
Die Frau erhob sich. Ihr Auftrag war ausgeführt. Mit dem Brief in der Hand begleitete Wisting sie zur Tür. Sobald er allein war, setzte er sich und schlitzte den Umschlag auf.
Er enthielt zwei Blätter, die mit unterschiedlichen Handschriften beschrieben waren. Wisting las beide und spürte, wie sich irgendwo in seinem Hinterkopf etwas löste. Dann faltete er die Blätter wieder zusammen und legte sie zurück in den Umschlag, ehe er sich auf den Weg zu den wartenden Absolventen machte.
Die Luft im Konferenzraum war warm und stickig. Jemand hatte ein Fenster geöffnet, doch draußen schien es noch schwüler zu sein.
Der Leiter der Polizeistation bat ihn auf das Podium. Erst als Wisting vor den jungen Kollegen stand, fiel ihm auf, dass er noch immer den Brief in der Hand hielt.
Er ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter gleiten, während er die gleiche Einführungsrede herunterleierte, die er seit fünfzehn Jahren hielt.
Zehn Absolventen in frisch gebügelten Uniformhemden waren gekommen, sechs Männer und vier Frauen. Eine von ihnen war die Enkelin des Mannes, der einst die jungen Kollegen willkommen geheißen hatte, als Wisting selbst bei der Polizei anfing. Ihr Name war Maren Dokken. Er wusste nicht, um welche der vier Frauen es sich handelte, und suchte nach Familienähnlichkeiten, fand aber nichts. Gleichwohl nahm er an, dass es die blonde Frau mit dem Pferdeschwanz und den vollen Lippen war, die auf einem Stuhl ganz vorn saß. Die Absolventen sollten auch einige Wochen in der Kriminalabteilung hospitieren. Dort würde ihnen nahegebracht werden, was Ermittlungsarbeit in der Praxis bedeutete.
Als er seine übliche Rede beendet hatte, blieb Wisting stehen und schlug mit dem Umschlag leicht auf seine Handfläche. Der Dienststellenleiter sah ihn an und wartete offenbar darauf, dass er vom Podium herunterkam.
»Ich würde gern …«, sagte Wisting plötzlich. »Ich würde Sie alle gern einladen, mit mir gemeinsam ein fast hundert Jahre altes kriminalistisches Rätsel zu lösen.«
33 Jahre zuvor
Der Automat spuckte die Bankkarte wieder aus.
Vorübergehend außer Betrieb stand in großen weißen Buchstaben auf dem grünen Bildschirm.
Wisting drehte sich zu Ingrid um, die mit dem Kinderwagen hinter ihm stand.
»Der hat anscheinend kein Geld mehr«, sagte er und blickte auf die belebte und weihnachtlich geschmückte Einkaufsstraße.
Ingrid lächelte, legte den Kopf in den Nacken und spähte in den winterlich dunklen Abendhimmel. Es hatte ganz leicht zu schneien angefangen. Winzige, papierähnliche Flocken, die in der Luft fast stillzustehen schienen.
»Wir können ja Waffeln essen, wenn wir nach Hause kommen«, sagte sie.
Wisting steckte die Bankkarte zurück in seine Geldbörse. Viel war ohnehin nicht mehr auf seinem Konto. Bald wäre er wohl gezwungen, ein paar zusätzliche Schichten einzulegen, dachte er.
Er legte einen Arm um Ingrid und übernahm den Kinderwagen mit der anderen Hand. Die Zwillinge waren schon fast ein halbes Jahr alt. Thomas schlief bereits, Line war immer noch wach. Sie blinzelte und versuchte zu begreifen, was um sie herum vorging.
Wisting schob den Wagen durch die Tollbodgate und lenkte ihn dann zu dem mit Kopfsteinpflaster belegten Platz unterhalb der Kirche, wo der große Weihnachtsbaum leuchtete.
Die meisten Verkäufer auf dem Weihnachtsmarkt trugen rote Mützen, an ihren Ständen duftete es nach Glühwein, frischen Waffeln und süßem Brei mit Zimt. Eine als Wichtel verkleidete Orchestertruppe hockte in einem offenen Oldtimer und spielte Weihnachtslieder.
»Das ist ja Ruperts Packard!«, rief Ingrid und zeigte auf den alten Wagen.
»Er spielt Trompete«, sagte Wisting lächelnd und deutete auf den Mann auf dem Fahrersitz, der einen falschen Bart und eine Zipfelmütze trug.
Sie blieben eine Weile stehen und lauschten der Musik.
Rupert Hansson war ein Freund von Ingrids Vater. Er hatte bei ihrer Trauung in der Kirche ein Trompetensolo gespielt und sie danach in seinem Oldtimer herumgefahren. Der Wagen war feuerwehrrot, mit grünen Ringen um die verchromten Radkappen, und war für die Hochzeit mit Birkenlaub und weißen Bändern geschmückt worden.
»Bin gespannt, ob der später auch anspringt«, meinte Wisting und rieb sich die kalten Hände.
Ingrid beugte sich über den Kinderwagen und überzeugte sich, dass die Zwillinge gut eingepackt waren, ehe sie sich dicht neben Wisting stellte und den Kopf an seine Schulter lehnte.
Rupert Hansson entdeckte sie und hob die freie Hand zum Gruß. Wisting winkte zurück, und Hansson signalisierte ihnen mit einer Geste, hinterher auf ihn zu warten.
Als das Wichtelorchester zu Ende gespielt hatte, drehte Rupert sich zu den anderen Musikern um und verkündete anscheinend das Ende der Vorstellung.
Wisting und Ingrid traten näher. Rupert stieg aus dem Oldtimer und spähte in den Kinderwagen.
Line hatte eine Hand unter der Decke hervorgeschoben und winkte mit ihrem Fäustling, während Thomas neben ihr tief und fest schlief.
»Das erste Weihnachten mit den Kleinen«, meinte Rupert und sah zu Ingrid. »Das wird bestimmt schön.«
»Wir freuen uns schon«, gab sie lächelnd zurück.
Wisting machte einen Schritt auf den Oldtimer zu.
»Ich dachte immer, das wäre ein Auto für den Sommer«, sagte er.
»Ist es auch«, entgegnete Rupert mit einem Lächeln. »Aber das hier hat Tradition. Wir spielen immer auf dem Weihnachtsmarkt.«
Er griff nach einem Instrumentenkasten, der vorn auf dem Boden des Wagens lag, stellte ihn auf den Sitz und öffnete ihn.
»Ich würde dich gern was fragen«, sagte er, während er die Trompete in den Kasten legte.
»Was denn?«, fragte Wisting.
»Ob du herausfinden kannst, wem die alte Scheune draußen an der Tveidalskreuzung gehört.«
Wisting versuchte, sich den Ort vorzustellen, konnte sich aber an keine Scheune erinnern.
»Da steht eine Scheune?«
»Die ist mehr oder weniger baufällig«, meinte Rupert. »Noch so einen Winter mit viel Schnee wird sie wohl nicht überleben.«
Wisting schob die Hände in die Jackentaschen.
»Weshalb möchtest du denn wissen, wem sie gehört?«
»Da drinnen steht ein alter Wagen«, erwiderte Rupert. »Ich suche nämlich nach einem neuen Restaurierungsobjekt.«
»Gibt’s kein anderes Haus in der Nähe?«, fragte Wisting. »Jemanden, den du fragen kannst?«
Rupert schüttelte den Kopf.
»Ich dachte, du könntest das vielleicht für mich herausfinden«, fuhr er fort. »Ihr bei der Polizei habt doch bestimmt alle möglichen Register für solche Sachen.«
»Das Grundbuchamt ist für so etwas zuständig«, erklärte Wisting. »Du könntest dich dort hinwenden.«
»Was für ein Auto ist denn das überhaupt?«, wollte Ingrid wissen.
»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte Rupert. »Angeblich ein alter Minerva.« Plötzlich wurde ihm klar, dass weder Wisting noch Ingrid je von der Automarke gehört hatten. »Das war ein belgischer Hersteller«, erklärte er. »Ist noch vor dem Krieg Konkurs gegangen. Das erste Automobil von König Haakon war ein vierzylindriger Minerva von 1913.«
»Sind die selten?«
Rupert nickte.
»In Norwegen hat es nicht viele davon gegeben. Der Wagen des Königs ist vermutlich irgendwann verschrottet worden. Jedenfalls weiß niemand, wo er abgeblieben ist.«
»Wie hast du denn von dem Wagen in Tveidal erfahren?«
»Das ist eher so ein Gerücht«, fuhr Rupert fort. »Einer von den Jungs im Club hat mal von seinem Onkel gehört, dass der Wagen irgendwann in dieser Scheune abgestellt und mit einer Plane zugedeckt worden sei. Und da soll er also seitdem stehen.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Irgendwann in den Zwanzigerjahren.«
Wisting hob die Augenbrauen.
»Soll das heißen, dass er sechzig Jahre da gestanden hat?«
Rupert nickte eifrig.
»Wenn das stimmt, kann der noch im Originalzustand sein.«
Wisting hatte sich nie besonders für Autos interessiert. Er und Ingrid fuhren einen sechs Jahre alten Volvo. Allerdings interessierte ihn, wieso dieses seltene Fahrzeug in einer Scheune verstaut worden war und dort wie ein Geheimnis gehütet wurde.
»Hast du Lust, mit mir zusammen da hinzufahren, um einen Blick in die Scheune zu werfen?«, fragte Rupert.
»Mit dem da?«, fragte Wisting und zeigte auf den alten Packard.
Rupert lachte.
»Nein, der wird nachher auf den Hänger gehoben«, erwiderte er und zeigte auf den Parkplatz, wo ein Landrover mit Transportanhänger stand.
Wisting sah hinüber zu Ingrid und den Kindern. Die Händler auf dem Weihnachtsmarkt hatten schon angefangen, ihre Buden zu schließen.
»Ein andermal«, sagte er.
»Fahr ruhig mit«, meinte Ingrid und fegte etwas Schnee vom Verdeck des Kinderwagens. »Ich kann auch allein mit den Kindern nach Hause fahren.«
Anscheinend dachte sie das Gleiche wie er: dass sie Rupert Hansson einen Gefallen schuldeten. Weder für das Ständchen in der Kirche noch für die Fahrt zum Festlokal hatte er Geld annehmen wollen.
»Ich bringe dich später auch nach Hause«, versicherte Rupert.
»In Ordnung.«
Wisting fischte die Autoschlüssel aus der Hosentasche und reichte sie Ingrid. Bevor die nächste Nachtschicht anfing, musste er unbedingt noch ein paar Stunden schlafen. Doch ein kurzer Ausflug nach Tveidal würde wohl nicht zu viel Zeit beanspruchen.
Ingrid nahm die Schlüssel und küsste Wisting auf die Wange.
»Die Waffeln stehen bereit, wenn du nach Hause kommst«, sagte sie lächelnd.
Die Räder des Kinderwagens hinterließen schmale Spuren im Schnee, als Ingrid ihn vor sich herschob.
Rupert ging los, um den Landrover zu holen. Wisting half ihm dabei, den Anhänger dicht an den alten Packard heranzumanövrieren. Dann befestigten sie die Hebevorrichtung und hievten den Oldtimer auf die Ladefläche.
Wisting nahm auf dem Beifahrersitz des Landrovers Platz.
»Ich fahre erst mal nach Hause und stelle den Hänger ab«, sagte Rupert.
Wisting nickte.
Auf dem Helgerovei fuhren sie in westliche Richtung. Der Schnee fiel jetzt dichter, gleichzeitig schien es etwas wärmer geworden zu sein. Ein paar Autos hatten im feuchten Schnee auf der Fahrbahn dunkle Spuren hinterlassen.
Bei Nalum bog Rupert ab und fuhr rückwärts vor eine frei stehende Garage. Eine Frau erschien hinter einem Adventsstern in einem Fenster und sah zu ihnen heraus.
Wisting stieg aus und öffnete das große Tor. Rupert fuhr den Landrover rückwärts in die Garage, stieg dann ebenfalls aus und koppelte den Hänger ab. Zwei Minuten später waren sie zurück auf der Landstraße.
Rupert schaltete das Radio ein. Der Empfang war schlecht, in den Lautsprechern rauschte es.
»Die Lokalstation kann ich hier draußen nicht mehr empfangen«, sagte er und drehte den Sendersuchknopf weiter, bis er den NRK gefunden hatte. Dann dämpfte er die Lautstärke und drehte sich zu Wisting hin.
»Ich bin im Herbst da schon mal vorbeigefahren. Scheint lange her zu sein, dass jemand in der Scheune war. Inzwischen ist sie fast völlig überwuchert und von großen Bäumen umgeben.«
»Kann man denn überhaupt hineinkommen?«
»An der Tür hängt ein dickes Schloss«, erklärte Rupert. »Aber in der Bretterwand gibt es ein paar größere Ritzen.«
Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter.
»Ich habe Taschenlampen mitgenommen. Dann können wir hineinleuchten und sehen, ob irgendwas drinsteht, was nach einem Oldtimer aussieht.«
Fast eine Viertelstunde fuhren sie schweigend weiter. Dann bog Rupert in den Brunlanesvei ein. Nach etwa einem Kilometer tauchte die Kreuzung nach Tveidal auf. Er lenkte den Wagen auf einen Seitenweg. Das Licht der Scheinwerfer wurde von schlanken Baumstämmen reflektiert. Am Ende des kleinen Wegs lag eine leicht eingesunkene Scheune mit rostigem Wellblechdach.
Rupert Hansson streckte die Hand nach hinten aus und nahm zwei solide wirkende Taschenlampen vom Rücksitz. Dann öffnete er die Autotür, während der Wagen weiter im Leerlauf tuckerte.
Wisting stieg ebenfalls aus und warf einen Blick zurück auf die Hauptstraße. Das alte Gebäude war von dort aus kaum zu sehen gewesen.
Zwischen den Bäumen war der Boden noch schneefrei. Die beiden Männer folgten ein paar alten Wagenspuren bis zur Scheune. Im Scheinwerferlicht des Landrovers warfen ihre Körper lange Schatten.
Die komplette Ostwand und ein Teil des Daches waren von kahlen Kletterpflanzen überwuchert.
Von einer Scheune konnte eigentlich nicht die Rede sein, dachte Wisting. Es gab keinen Bauernhof in der Nähe, und das Gebäude erinnerte am ehesten an einen großen Geräteschuppen. Vielleicht war es einst für Traktoren und Geräte errichtet worden, die bei Waldarbeiten zum Einsatz kamen.
Mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe zeigte Rupert auf die breite, zweigeteilte Tür. Daran verbolzt war ein dicker Eisenriegel, an dem ein massives Vorhängeschloss hing.
Wisting trat näher heran und untersuchte das Schloss. Seine Finger färbten sich braun, als er es anfasste, ein paar rostige Eisenspäne lösten sich und segelten zu Boden. Vermutlich hätte ein Schlag mit einem Hammer oder Stein ausgereicht, um das Schloss vom Riegel zu trennen.
Er wandte sich ab und folgte Rupert Hansson auf die Westseite der Scheune. Der Wald war bis zum Gebäude vorgedrungen, und sie mussten sich an dichtem Buschwerk vorbeidrücken.
Es gab keine Fenster in dem alten Gebäude, doch etwa in der Mitte der Westwand waren ein paar Bretter von einem umgestürzten Baum eingedrückt worden. Rupert hielt sich an einem Ast fest und kletterte den Baumstamm hinauf, der in der Westwand feststeckte. Wisting blieb unten stehen, während Rupert sich langsam vorwärtsbewegte und dann den Strahl seiner Taschenlampe in die Öffnung der eingedrückten Wand richtete.
Zwischen zwei Brettern weiter unten am Gebäude entdeckte Wisting einen Schlitz. Zwar war er zu schmal für die Taschenlampe, doch Wisting spähte mit einem Auge hinein und folgte dem Lichtkegel von Ruperts Lampe. Drinnen schien es sich um einen einzigen großen Raum zu handeln. Der Lichtstrahl streifte einen alten Pflug mit zwei Scharen, einen Pferdewagen, einen Holzschemel, eine Zinkwanne und eine Schubkarre ohne Rad. Von ein paar Dachbalken hingen Ketten und dicke Seile mit Flaschenzügen und Haken herab. An der gegenüberliegenden Wand lehnte eine Leiter. Ein Fischernetz mit zwei blassgrünen gläsernen Netzbojen hing lose von einer der Sprossen herab.
Der Lichtstrahl von Ruperts Lampe wanderte hierhin und dorthin. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte er über die Innenseite der Scheunentür. Wisting glaubte eine Kette und ein Vorhängeschloss gesehen zu haben, als wäre die Tür auch von innen verschlossen.
Nun fiel der Lichtschein auf vier verdreckte Traktorreifen, die übereinandergestapelt waren. Ein paar Meter von seinem Standort entfernt konnte Wisting auf einem Fass eine Petroleumlampe erahnen.
Er ging ein Stück weiter, schob ein paar Äste zur Seite und entdeckte einen breiteren Bretterspalt. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er die Innenseite der Scheunentür an. Er hatte richtig gesehen. Eine Kette war durch zwei Eisenringe geführt und mit einem Vorhängeschloss versehen worden.
Er leuchtete wieder die Petroleumlampe auf dem Fass an. Eine Streichholzschachtel lag daneben und noch etwas anderes, das er nicht identifizieren konnte.
»Hier hinten ist was!«, rief Rupert plötzlich.
Wisting folgte mit dem Strahl seiner Taschenlampe Ruperts Lichtkegel. Hinter ein paar alten Kartoffelkisten konnte er einen Teil einer verstaubten Leinwandplane sehen.
Rupert sprang von dem Baumstamm herunter.
»Lass uns mal weiter ums Haus herumgehen«, sagte er.
Sie bahnten sich einen Weg durch das dichte Gebüsch und kamen zur Rückseite des Gebäudes. Wisting hielt seine Lampe in einen Schlitz zwischen zwei Brettern und spähte erneut hinein. Es roch nach Fäulnis. Er sah die Kartoffelkisten und die von der Decke herabhängenden Seile, aber auch das längliche Objekt, das mit der Leinwandplane zugedeckt war.
»Könnte tatsächlich ein altes Auto sein«, sagte er und leuchtete die Konturen ab. Der hintere Teil schien erhöht zu sein, während der vordere wesentlich niedriger wirkte, wie die Frontpartie eines klassischen Oldtimers.
»Leuchte mal auf den Boden«, bat Rupert und spähte gleichzeitig durch einen kleineren Spalt in der Wand.
Wisting ließ den Strahl der Lampe hinabsinken. Die Plane reichte bis zum Boden, ganz hinten jedoch hing sie etwas schief und gab einen Spalt frei, der gerade groß genug war, um einen platten Autoreifen erkennen zu lassen.
Der Duft von frisch gebackenen Waffeln umfing Wisting, als er nach Hause kam. Er ging in die Küche und umarmte Ingrid zur Begrüßung.
»Hast du die Kinder schon ins Bett gebracht?«, fragte er.
»Thomas schläft«, sagte sie und nickte. »Line spielt im Laufstall.«
Er betrat das Wohnzimmer. Line lag bäuchlings auf einer Decke, umgeben von Rasseln und Schmusetieren. Sie stützte sich auf ihre ausgestreckten Arme und sah neugierig zu ihrem Vater.
Ingrid kam mit dem Teller voller Waffeln.
»Möchtest du Kaffee dazu?«, fragte sie.
Wisting schüttelte den Kopf.
»Ich muss noch etwas schlafen, bevor meine Schicht anfängt«, erwiderte er und hob Line aus dem Laufstall. Sie gluckste und strampelte mit den Beinen.
»Und? Habt ihr etwas herausgefunden?«, fragte Ingrid.
Wisting setzte sich.
»Da draußen steht tatsächlich ein alter Wagen«, sagte er und nahm Line auf den Schoß. »Rupert war Feuer und Flamme.«
Ingrid entzündete die erste Adventskerze auf dem Tisch und setzte sich Wisting gegenüber.
»Wisst ihr schon mehr über den Besitzer der Scheune?«
»Wir wollten uns eigentlich auf dem Bauernhof nebenan erkundigen, aber da gab es gerade so etwas wie eine Familienfeier, da haben wir es gelassen.«
»Es kann doch nicht so schwer sein, das herauszufinden?«
»Nein, das Problem ist nur, dass es keine offizielle Adresse gibt und dass wir weder die Flur- noch die Hofnummer kennen.« Er nahm sich eine Waffel. »Ich habe Rupert versprochen, nach meiner Schicht ins Gemeindebüro zu gehen und das Kartenwerk zu durchforsten.«
Eine Weile blieben sie sitzen und unterhielten sich, bis Ingrid die Kerze ausblies, Line von seinem Schoß nahm und hinausging, um die Windeln zu wechseln.
Wisting betrat den Raum, aus dem später einmal das Kinderzimmer werden sollte. Momentan befand sich dort eine alte Liege, die Gitterbettchen der Zwillinge standen noch im Schlafzimmer.
Er legte sich unter die Decke und stellte den Wecker, ehe er das Licht löschte und die Augen schloss.
Der Schlaf ließ auf sich warten. Wisting dachte an das Auto in der Scheune und an die Tür, die von innen verschlossen war. Rupert Hansson wollte nur den Besitzer des alten Wagens ausfindig machen und möglichst den Wagen kaufen. Wisting interessierte hingegen, wer den Wagen in die Scheune gestellt und unter einer Plane versteckt hatte. Und wie konnte es sein, dass die Scheunentür von innen und außen verschlossen war?
Eines der Kinder fing an zu weinen. Er konnte nicht hören, ob es Thomas oder Line war, und er wartete darauf, dass das Kind sich beruhigte, aber das Gegenteil geschah. Das Kinderweinen wurde lauter.
Er schlug die Decke zurück und stand auf. Ingrid saß mit Line an der Brust auf einem Stuhl. Thomas lag mit angezogenen Beinen auf der Decke und schrie, während er ungeduldig darauf wartete, dass er an die Reihe kam.
Wisting hob ihn hoch und legte den zarten Babykopf vorsichtig an sein mit Bartstoppeln übersätes Kinn. Das Weinen hörte auf. Thomas begann zu glucksen und lächelte ihn an. Inzwischen lächelten die Kinder des Öfteren, und es waren keine zufälligen Grimassen mehr. Sie wuchsen und entwickelten eine Persönlichkeit. Wenn jemand zu ihnen kam, lächelten sie jetzt immer häufiger.
»Danke«, flüsterte Ingrid.
Line drehte den Kopf, um zu sehen, was vorging, und dabei tropfte ein bisschen Milch aus ihrem Mund.
»Sie ist fertig«, sagte Ingrid. »Nimmst du sie?«
Wisting legte ihr Thomas auf den Schoß und übernahm Line. Er lief mit ihr durchs Zimmer, wiegte sie hin und her und streichelte ihren Rücken, bis sie ihr Bäuerchen machte. Dann ging er mit ihr ins Schlafzimmer und legte sie vorsichtig ins Bettchen, bevor er zu seinem eigenen Schlafplatz zurückkehrte.
Er hatte den Eindruck, dass der Wecker genau in dem Moment klingelte, als er eingeschlafen war. Im Dunkeln tastete er danach, schaltete ihn schließlich aus und stellte die Füße auf den kalten Boden. Bevor er ins Bad ging und sich rasierte, schaute er zu Ingrid und den Kindern hinein.
Das Brotfach in der Küche war leer. Statt sich ein Butterbrot zu machen, nahm er eine Packung Knäckebrot heraus. Er aß eines davon ohne Belag, während er am Fenster stand und hinausblickte, der Rest der Packung landete in seiner Aktentasche.
Der angekündigte Schnee war mager ausgefallen, nur ein oder zwei Zentimeter. Das Thermometer am Fenster zeigte an, dass die Temperatur im Laufe der Nacht sogar leicht angestiegen war.
Um Viertel vor elf betrat er die Polizeidienststelle in der Prinsegate. Er ging in den Umkleideraum hinunter und zog sich seine Uniform an. Dann warf er einen Blick in den Spiegel und richtete seine Krawatte, ehe er wieder nach oben in den Dienstraum ging.
Der Leiter des Streifendienstes war schon da und hatte den Kollegen der Spätschicht abgelöst. Erling Storvolden war ein kompakt gebauter Mann mit rundem Gesicht. In absehbarer Zeit würde er das Pensionsalter erreicht haben.
»Ist irgendwas passiert?«, fragte Wisting.
»Zwei Verkehrsunfälle«, erwiderte Storvolden. Er nahm seine Mütze, erhob sich vom Sofa und trat auf die Tür zu. »Es ist glatt da draußen.«
Wisting begab sich in die Küchenecke. Als Jüngster war er fürs Kaffeekochen zuständig.
Als der Kaffee fertig war, tauchte Per Haugen auf. Er war zwölf Jahre älter als Wisting und hatte bereits drei Streifen auf seiner Schulterklappe. Davon abgesehen war sein blaues Uniformhemd zerknittert und wies Flecken auf.
Erling Storvolden rief die beiden zu sich, um das Streifenprotokoll durchzugehen. Sie waren nur zu dritt: zwei Kollegen auf Streife und ein Dienstgruppenleiter.
Storvolden zündete sich eine Zigarette an und erklärte, dass keine besonderen Meldungen vorlägen.
Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten mit einer Kneipenschlägerei begonnen, nach der ein vierundvierzigjähriger Mann in der Ausnüchterungszelle gelandet war. Ein angetrunkener Autofahrer war in der Kongegate angehalten worden, und die Kollegen von der Spätschicht hatten wegen eines häuslichen Streits nach Torstrand ausrücken müssen. In der Nacht waren ein paar Jugendliche in einem Keller geschnappt worden, als sie gerade einen Verschlag aufbrachen. Sie waren zur Polizeidienststelle gebracht und dann von ihren Eltern abgeholt worden. Am Sonntagmorgen war eine Meldung über einen vermissten Hund eingegangen, der restliche Tag war eher ruhig gewesen. Kurz nach zwölf war die Meldung über einen Diebstahl auf einer Baustelle eingegangen.
»Da wurde ein Radlader gestohlen«, las Storvolden aus dem Protokoll vor.
»Ein Radlader?«, wiederholte Haugen mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ein Volvo BM 1240«, entgegnete Storvolden und nickte. »Jemand hatte ihn abgestellt und die Schlüssel stecken lassen.«
»Wer um Himmels willen klaut einen Radlader?«, wunderte sich Haugen. »Das muss jemand im besoffenen Kopf ausgeheckt haben.«
Die drei Polizisten gingen weiter das Streifenprotokoll durch. Die Protokolle waren so etwas wie ein Zerrspiegel des Alltags in der Stadt: Diebstahl, Vandalismus, Betrug, Überfall, Fahren unter Alkoholeinfluss, Verkehrsunfälle, Bedrohungen, Personenschäden, Notunterbringungen, psychisch verwirrte Personen, Alkoholexzesse. Alles in allem nur die Schattenseiten des Lebens. Polizeiarbeit bedeutete eine Auseinandersetzung mit allem, was negativ, krank, destruktiv oder abseitig war. In vielerlei Hinsicht gefiel Wisting diese dunkle Seite. Er wollte zur Stelle sein, wenn er gebraucht wurde, wollte anderen Menschen helfen und die Gesellschaft sicherer machen. All das gab ihm das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Storvolden beendete die Protokolldurchsicht und warf Haugen die Schlüssel für den Streifenwagen zu.
»Ihr solltet also Ausschau nach dem Radlader halten«, sagte er und grinste.
Dann drückte er seine Zigarette aus, drehte sich mit dem Stuhl zum Schreibtisch und spannte ein weißes Blatt Papier in die Schreibmaschine ein.
Bevor sie auf Streife fuhren, verbrachten sie eine Stunde auf dem Sofa im Aufenthaltsraum. Die Polizeidienststelle war mit einer nach Schweden ausgerichteten TV-Antenne ausgestattet, worüber die beiden Fernsehkanäle des Nachbarlandes empfangen werden konnten. Die Sendungen endeten später als die des NRK, und sonntags wurden öfter Spielfilme ausgestrahlt.
Wisting gefiel es eigentlich nicht, die Arbeitszeit vor dem Fernseher zu verbringen, doch war er der Jüngste in der Abteilung und somit nicht in der Position, alte Gewohnheiten zu hinterfragen und die Kollegen vom Sofa und auf die Straße zu scheuchen.
Viel lieber nutzte er die Zeit, um abgeschlossene Fälle und Gerichtsurteile aus dem Archiv zu studieren. Dadurch gewann er einen Überblick über das kriminelle Milieu vor Ort und konnte sich mit der Ermittlungsarbeit vertraut machen. Denn genau dahin wollte er, in die erste Etage, wo die Ermittlungsabteilung untergebracht war. Solange Ingrid die Zwillinge zu Hause versorgte, musste er mit der Bewerbung allerdings warten. Die Arbeit als Ermittler war zwar mit einer Gehaltserhöhung um zwei Stufen verbunden, aber durch den Wegfall von Abend-, Nacht- und Wochenendschichten würde er unterm Strich weniger verdienen, und noch dazu war der Zugang zu Überstunden begrenzt.
Erst um kurz vor eins erhob Haugen sich vom Sofa und erklärte, dass die Zeit für eine Runde mit dem Streifenwagen gekommen sei.
Wisting packte seine Sachen zusammen und schloss sie im Spind ein. Dann zog er sich die Uniformjacke über und folgte dem Kollegen in die Garage.
Haugen saß am Steuer. Er bog nach links ab, folgte der Prinsegate und fuhr dann durch die Thaulowkurve in die Storgate. Der Abendzug aus Oslo hatte gerade eine Handvoll Fahrgäste ausgespuckt. Haugen ließ den Streifenwagen langsam vorbeirollen. Wisting musterte die Gesichter. Er kannte viele von ihnen, und die wenigen fremden wirkten unauffällig. Haugen fuhr weiter, kreuz und quer durch die menschenleeren Straßen.
Das planlose Hin- und Herfahren mit dem Streifenwagen machte Wisting rastlos. Es trug weder zur Verbrechensvorbeugung bei, noch handelte es sich um Ermittlungen irgendwelcher Art. Sie fuhren einfach nur herum und warteten darauf, dass etwas passierte. Ein gewisses Maß an Präsenz auf den Straßen war sicher erforderlich, aber das Ganze könnte effizienter gestaltet werden. Zielgerichteter. Ein Großteil der Kriminalität in der Stadt schien sich auf bestimmte Gegenden zu konzentrieren und wurde von bestimmten Tätern verübt, häufig auch zu bestimmten Zeiten. Es gab Muster, die streng genommen leicht zu erkennen waren und es möglich gemacht hätten, den Verbrechern zuvorzukommen.
»Können wir mal durch die Hoffs gate fahren?«, fragte er.
Haugen beobachtete gerade einen streunenden Hund, der an der Bordsteinkante entlangstrich.
»Was gibt es denn da?«, fragte er, als sie den Hund passiert hatten.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Wisting. »In der Gegend wurden schon viele Autos gestohlen. Die Meldungen kommen immer montagvormittags herein. Nach ein paar Tagen tauchen sie völlig ausgeschlachtet irgendwo wieder auf. Am häufigsten sind Autos von der Nachtschicht der Zinkfabrik betroffen.«
Ende der Leseprobe