Wisting und der See des Vergessens - Jørn Lier Horst - E-Book
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Wisting und der See des Vergessens E-Book

Jørn Lier Horst

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

William Wisting erhält einen merkwürdigen Brief. Auf dem weißen Blatt steht lediglich die Zahlenfolge »12-1569/99«, die Fallnummer eines Mordes aus dem Jahr 1999. Die 17-jährige Tone verschwand damals auf dem Heimweg von der Arbeit, man fand kurz darauf ihre Leiche, der Täter wurde verurteilt. Scheinbar ein schnell geklärter Mord, der in Vergessenheit geriet, obwohl der Verurteilte stets seine Unschuld beteuerte. Mittlerweile hat er seine Strafe abgesessen. Und ausgerechnet jetzt hält das Verschwinden einer jungen Frau das Land in Atem. Ein Fall mit erschreckenden Parallelen zu Tones Ermordung! Wisting beginnt zu ermitteln, doch nicht jedem gefällt, dass er die Sache neu aufrollt …

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Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

© Jørn Lier Horst 2020

Titel der norwegischen Originalausgabe:

»Sak 1569«, Capitana, Oslo 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2021

Published in agreement with Salomonsson Agency.

Redaktion: Annika Krummacher

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: DEEPOL by plainpicture/Fredrik Schlyter

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

1

2

4. Juli 1999, 20:48 Uhr

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4

5. Juli 1999, 11:17 Uhr

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6. Juli 1999, 09:08 Uhr

8

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6. Juli 1999, 10:14 Uhr

10

6. Juli 1999, 11:38 Uhr

11

6. Juli 1999, 19:53 Uhr

12

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6. Juli 1999, 20:11 Uhr

14

15

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17

6. Dezember 1999, 08:51 Uhr

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8. Dezember 1999, 12:30 Uhr

20

21

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10. Dezember 1999, 13:30 Uhr

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20. Dezember 1999, 12:38 Uhr

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5. Juli 1999, 20:47 Uhr

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40

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3. März 2012, 13:27 Uhr

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18. Januar 2014, 18:15 Uhr

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27. Februar 2014, 13:50 Uhr

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Zwei Wochen später

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Einen Monat später

1

Eine Fliege landete auf dem Rand des Wasserglases. Wisting verscheuchte sie und setzte sich auf der Terrasse unter den Sonnenschirm. Er trank das Glas zur Hälfte aus und überprüfte die Anzahl seiner Schritte auf dem Handy. Die App hatte fast viertausend Schritte gezählt, dabei war es nicht einmal zwölf Uhr. Die meisten Schritte waren registriert worden, während er mit dem Rasenmäher hin- und hergegangen war. Wisting hatte es sich zum Ziel gesetzt, im Urlaub jeden Tag mindestens zehntausend Schritte zurückzulegen, war im Durchschnitt jedoch bei unter achttausend geblieben.

Einige Jahre vor Ingrids Tod hatten sie beide von Thomas einen Schrittzähler zu Weihnachten geschenkt bekommen. Es handelte sich um ein kleines digitales Gerät, das am Gürtel oder am Hosenbund befestigt wurde. Es zeichnete die Bewegungen im Hüftbereich auf und rechnete sie in Schritte um. In den ersten Wochen hatten Ingrid und er ein wenig gewetteifert, wer sich am meisten bewegte. Doch je mehr Zeit verging, desto öfter war das Gerät in der Schublade liegen geblieben. Nur das Handy hatte Wisting immer bei sich.

Er blickte auf sein iPad und öffnete den Internetbrowser. Dann suchte er nach aktuellen Zeitungsartikeln über Agnete Roll, die Frau, die am selben Tag verschwunden war, als Wisting seinen Urlaub angetreten hatte. Allerdings war sie erst zwei Tage danach als vermisst gemeldet worden. Die ersten Artikel hatten noch von der Suchaktion der Polizei berichtet, mittlerweile hatte die Sache aber immer weniger Ähnlichkeit mit einem normalen Vermisstenfall. Im Artikel der Lokalzeitung äußerte sich auch nicht mehr der Leiter der Suchstaffel, sondern Nils Hammer als Ermittlungsleiter. Offenbar gab es bislang jedoch keine neuen Entwicklungen in dem Fall.

Die zweiunddreißigjährige Agnete Roll war mit ihrem Mann in der Innenstadt von Stavern gewesen. Dabei hatte es Meinungsverschiedenheiten gegeben, und Agnete war früher als ihr Mann nach Hause gegangen. Eine halbe Stunde später hatte er zu seinen Freunden gesagt, dass er auch nach Hause wolle. Laut Zeitungsartikel war die Vermisste zuletzt kurz vor Mitternacht beim Verlassen des Pubs in der Innenstadt gesehen worden. Das lag vier Tage zurück.

Jedes Mal, wenn Wisting sein Tablet hervorholte, erwartete er, dass entweder die Leiche von Agnete Roll gefunden oder ihr Ehemann festgenommen und des Mordes beschuldigt worden war.

Er legte das iPad beiseite und trank noch einen Schluck Wasser. Dann streckte er die Beine aus und legte den Kopf zurück. Eine Möwe kreiste am Himmel über ihm.

Eigentlich zog Wisting gedruckte Zeitungen vor, aber es dauerte ihm zu lange, erst auf die nächste Ausgabe warten zu müssen, um den aktuellen Stand der Dinge zu erfahren. Insbesondere, wenn ein Fall noch nicht abgeschlossen war. Wisting wollte gern zu jeder Zeit und an jedem Ort Zugang zu den neuesten Informationen haben.

Es war ungewohnt für ihn, einem Mordfall vom Rande des Spielfelds zu folgen, statt aktiv an den Ermittlungen beteiligt zu sein. Anhand der Medienberichte hatte Wisting den Eindruck, dass irgendetwas an dem Fall nicht stimmte. Agnete Rolls Ehemann wurde nicht namentlich genannt, allerdings hatte Wisting ihn in den sozialen Netzwerken gefunden. Erik Roll war ein Jahr älter als seine Frau und arbeitete bei einer lokalen IT-Firma. Fast zwei Tage hatte er gewartet, ehe er seine Frau als vermisst meldete.

Vermisstenfälle waren stets schwierig, aber Wisting hatte eine klare Vorstellung davon, wie er selbst die Ermittlungen organisiert hätte. Die Arbeit musste breit angelegt werden, um nichts außer Acht zu lassen, und zugleich in die Tiefe gehen, um auf das fokussieren zu können, was besonders auffällig war und den Ermittlungen eine Richtung vorgeben konnte.

Er wusste, dass Hammer und die anderen genau das taten. Dass sie versuchten, alles über Erik Roll herauszufinden, und ihn genau unter die Lupe nahmen.

Mit dem Tablet hätte Wisting sich in das Polizeisystem einloggen und Dokumente zu dem Fall einsehen können, aber er hatte bewusst darauf verzichtet. Bei Ermittlungen nicht mehr dabei zu sein war etwas, an das er sich bald gewöhnen müsste. Aufgrund seines Alters würde er in absehbarer Zeit den Polizeidienst für immer quittieren.

Ungeachtet dessen merkte er, dass die Neugier ihn packte. Vermisstenfälle konnten fast immer dadurch aufgeklärt werden, dass man die Ereignisse und Gespräche kurz vor dem Verschwinden einer Person rekonstruierte.

Ein Geräusch ließ Wisting aufschrecken. Der Briefkastendeckel auf der Vorderseite des Hauses klapperte. Er blieb sitzen, bis er den Postboten weiterfahren hörte, stand dann auf und lief durch das Haus hindurch zur Straßenseite. Eine graue Katze lag im Schatten vor der Garage. Sie sprang auf, rannte auf die Straße und zum Nachbarn hinüber.

Wisting warf einen Blick auf das Haus seiner Tochter. Er hatte ihr versprochen, sich um die Post zu kümmern. Line war seit fünf Tagen verreist.

Er leerte seinen Briefkasten. Ein paar Reklameblätter und ein Brief kamen zum Vorschein. Ein weißer Umschlag, auf dem in kantigen Buchstaben sein Name und seine Adresse geschrieben standen. Kein Absender.

Dann ging er hinüber zu Lines Haus. Der Briefkasten enthielt die gleiche Reklame, sonst nichts. Er legte sie in die Altpapiertonne und ging wieder zurück zu seinem Haus, denn er war neugierig auf den Brief, den er bekommen hatte.

Nur selten bekam er Briefe, jedenfalls solche wie diesen. Auch Rechnungen wurden kaum noch per Post verschickt, die Beträge wurden kommentarlos vom Konto abgebucht.

Die Schrift auf dem Umschlag fiel ihm gleich ins Auge. Sie war schwarz und wirkte beinahe wie gedruckt. Die Ws in William und Wisting sahen identisch aus und ließen ihn vermuten, dass es sich um personalisierte Werbung handelte. Die Is hingegen unterschieden sich leicht voneinander und deuteten darauf hin, dass die Empfängeradresse tatsächlich mit der Hand geschrieben war.

Wisting schlitzte den Umschlag mit einem spitzen Küchenmesser auf und nahm den Inhalt heraus. Ein einfaches Blatt Papier, das doppelt gefaltet war. Anscheinend war es erst zerknüllt und dann wieder glatt gestrichen worden. In der Mitte des Blattes stand eine Ziffernfolge:

12–1569/99.

Die Zahlen waren mit derselben Sorgfalt auf das Blatt geschrieben worden wie die Buchstaben auf den Umschlag.

Wisting blieb mit dem Papier in der Hand stehen. Er wusste genau, was er da vor sich hatte, verstand aber trotzdem nicht, was es bedeuten sollte.

Es handelte sich um eine Fallnummer, die noch aus der Zeit stammte, als er bei der Polizei angefangen hatte. Heutige Strafsachen wurden mit einem achtziffrigen Aktenzeichen versehen. Früher hingegen wurden Fallnummern vergeben, aus denen man bestimmte Informationen sofort ablesen konnte. Die letzten Ziffern hinter dem Schrägstrich bezogen sich auf das Jahr, also 1999, während die ersten beiden angaben, zu welchem Polizeidistrikt der Fall gehörte. 12 war die Kennzahl für die ehemalige Polizeidienststelle in Porsgrunn und 1569 die eigentliche Fallnummer. Eine laufende Nummer, die neuen Fällen chronologisch zugeordnet wurde.

Wisting legte das Papier auf den Küchentisch und sah es prüfend an.

Der Polizeidistrikt 12 war Wistings Nachbardistrikt und mit circa fünfzigtausend Einwohnern in etwa so groß wie sein eigener. Auch die Anzahl der Fälle pro Jahr war mit dreitausend ungefähr gleich. Wenn er dies berücksichtigte, musste der Fall 1569 aus dem Sommer 1999 stammen.

Das Ganze lag so lange zurück, dass der Fall vermutlich nicht elektronisch registriert worden war. Wisting würde ihn in keinem Datensystem finden, allerdings mussten die Falldokumente irgendwo in einem Archiv aufbewahrt werden.

Er versuchte sich zu erinnern, ob es im Sommer 1999 irgendwelche besonderen Vorkommnisse gegeben hatte, aber ihm fiel nichts ein. Line und Thomas waren im Juni sechzehn geworden und hatten vom Herbst an die weiterführende Schule besucht. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie in den Sommerurlaub gefahren waren. Line hatte einen Ferienjob in einer Eisdiele in Stavern bekommen, oder war das vielleicht erst im Jahr danach gewesen? Thomas hatte im Jachthafen gejobbt.

Wisting ließ den Brief liegen und trat wieder auf die Terrasse hinaus. Er setzte sich, nahm sein iPad und googelte das Jahr 1999. Die großen Zeitungen hatten schon damals Onlineausgaben ins Netz gestellt, aber es war schwierig, bestimmte Artikel herauszusuchen. Allerdings gab es Websites, wo die wichtigsten Geschehnisse aus jedem Jahr aufgelistet waren. Am 23. Mai war der Dreifachmord auf dem Orderud-Hof begangen worden. Boris Jelzin hatte die Regierung in Russland abgesetzt, fünfzehntausend Menschen hatten bei einem Erdbeben in der Türkei ihr Leben verloren. Kommunalwahlen hatten stattgefunden, und Bill Clinton war zu Besuch in Oslo gewesen.

Wisting kombinierte die Jahreszahl mit Porsgrunn, startete eine neue Suche, doch sie brachte ihn nicht weiter.

Vielleicht war der Fall 1569 gar nicht in den Medien aufgetaucht, allerdings musste der anonyme Absender eine bestimmte Absicht verfolgen, wenn er Wisting die Fallnummer schickte. Offenbar handelte es sich um einen Fall, bei dem er in irgendeiner Form involviert gewesen war.

Oder auch nicht.

Als Ermittler hatte Wisting schon häufiger anonyme Post erhalten. In der Regel handelte es sich um lange Briefe, voll von konspirativen Gedanken und unzusammenhängenden Behauptungen. Einige waren direkt an ihn gerichtet und bezogen sich auf Fälle, an denen er gearbeitet hatte, während andere ihn nur in seiner Eigenschaft als Ermittler erreicht hatten.

Er ging wieder ins Haus und betrachtete die ungewöhnliche Schrift. Offenbar war ein schwarzer Filzstift verwendet worden, und die Striche waren etwa einen Millimeter breit. Auf dem Umschlag klebte eine Briefmarke, die am Vortag abgestempelt worden war, doch aus dem Stempel ging nicht hervor, wo der Brief aufgegeben worden war.

Wisting fand es unangenehm, solch einen Brief nach Hause geschickt zu bekommen. Er war zwar nicht bedrohlich, wirkte aber dennoch beunruhigend, als handelte es sich um eine Vorwarnung, dass noch mehr kommen würde.

Er zog eine Schublade auf und nahm eine Rolle Gefrierbeutel heraus. Zwei davon riss er ab und schob den Briefbogen mithilfe einer Gabel in den einen und den Umschlag in den anderen Beutel.

Die ganze Geschichte irritierte ihn. Es war nichts, was er einfach unbeachtet lassen konnte. Er musste herausfinden, um welchen Fall es sich handelte.

In Porsgrunn gab es keine Polizeidienststelle mehr, doch wenn er Glück hatte, war der Vorgang mit allen anderen Dokumenten im neuen Polizeipräsidium in Skien gelandet. Dort würde er vielleicht noch am selben Tag eine Antwort bekommen. Schlimmstenfalls war die Akte im Staatsarchiv gelandet, was einige Tage Wartezeit bedeuten würde.

Wisting rief Bjørg Karin vom Büro der Kriminalaktenverwaltung an. Sie war keine Polizeibeamtin, bekleidete jedoch eine der wichtigsten Funktionen in der Behörde, da sie für den reibungslosen Ablauf der Tagesgeschäfte sorgte. Da sie schon länger als er selbst bei der Polizei war, kannte sie alle Irrgänge und war diejenige, zu der Wisting immer ging, wenn er wissen wollte, an welche Stelle im System er sich wenden musste. Sie wusste vermutlich, wen sie im benachbarten Distrikt anrufen und bitten konnte, im Archiv nachzusehen.

Bevor er sein Anliegen vorbringen konnte, musste er allerdings erst erzählen, wie der Urlaub bislang verlaufen war, welche Pläne er für den Rest des Sommers geschmiedet hatte und was er vom momentanen Wetter hielt.

Den anonymen Brief erwähnte er gar nicht, sondern sagte nur, es handele sich um einen alten Fall aus dem Nachbardistrikt.

»Könnten Sie die Unterlagen für mich besorgen?«

Bjørg Karin stellte keine Fragen.

»Ich rufe Eli an«, sagte sie. »Dann liegt die Akte hier, wenn Sie aus dem Urlaub zurückkommen.«

Wisting nahm an, dass es sich bei Eli um Bjørg Karins Kollegin handelte, die im Nachbarbezirk eine vergleichbare Stelle innehatte.

»Ich hätte die Akte aber gern so schnell wie möglich«, sagte er.

»Verstehe«, erwiderte Bjørg Karin. »Die interne Post kommt morgen gegen zwölf.«

»Das ist gut. Und noch etwas, könnten Sie Eli bitten nachzusehen, um was für einen Fall es sich handelt, und mir dann Bescheid geben?«

Bjørg Karin versprach, sich darum zu kümmern. Sie schien es etwas ungewöhnlich zu finden, dass er nach einer Akte zu einem Fall fragte, den er gar nicht kannte. Doch sie sagte weiter nichts dazu.

Wisting trat wieder hinaus auf die Terrasse und setzte sich mit dem iPad hin. Nach einer halben Stunde rief Bjørg Karin zurück.

»Ich habe mit Eli gesprochen«, sagte sie und zögerte einen Augenblick. »Kann es sein, dass es sich um einen Mordfall handelt?«

»Das vermute ich«, gab Wisting zurück. »Ich habe nur die Fallnummer.«

»Sie schickt uns die Akte hierher. Dürfte morgen um die Mittagszeit hier eintreffen.«

»Bestens.«

Er stand auf, trat ans Geländer der Terrasse und sah auf die Stadt hinunter.

»Wer wurde denn ermordet?«, fragte er.

»Tone Vaterland.«

»Tone Vaterland«, wiederholte er, aber der Name weckte keine Assoziationen in ihm.

»Dann sehe ich Sie morgen?«, fragte Bjørg Karin. »Sie kommen im Büro vorbei?«

»Wir sehen uns morgen«, bestätigte Wisting.

2

4. Juli 1999, 20:48 Uhr

Tone Vaterland setzte sich aufs Fahrrad. Das eine Pedal schrammte mit jedem Tritt am Kettenkasten entlang. Wenn Tone erst einmal richtig in Fahrt kam, fing das Fahrrad laut an zu klappern. Das war so, seit sie letzten Herbst im Graben gelandet war. Auch die Vorderbremsen funktionierten nicht so, wie sie sollten. Aber das war ihr egal. Schon bald würde sie nicht mehr auf das Rad angewiesen sein. In sechs Wochen war ihr achtzehnter Geburtstag, und der Fahrlehrer hatte von einer Prüfung Anfang September gesprochen. Sie würde den Wagen ihrer Mutter übernehmen.

Die Sogwirkung von einem überholenden Lastwagen ließ sie kurz schwanken. Aber sie fand das Gleichgewicht wieder und trat rasch in die Pedale.

Es gab keine andere Möglichkeit, als über die E18 zu fahren. Schon das dritte Jahr arbeitete sie während der Ferien in dem Schnellimbiss kurz vor Stathelle. Im ersten Jahr hatten ihr Vater oder ihre Mutter sie hingebracht und abgeholt. Meistens die Mutter. Aber in diesem Jahr waren sie in die Ferien gefahren, und Tone war vier Wochen lang allein zu Hause.

Es ging nur um zwei Kilometer auf der verkehrsreichen Straße. An heißen Tagen wie diesen legte sie für gewöhnlich am Stokkevann eine Pause ein und badete im See, um den Fettgeruch aus den Haaren zu bekommen und sich hinterher saubere Sachen anzuziehen. Das Schlimmste an diesem Job war der Gestank von Bratfett und Frittieröl, der bis in die Poren drang und sich dort festsetzte. Sie hatte immer einen Rucksack mit Sachen zum Wechseln dabei, der während der Arbeit draußen neben dem Fahrrad stand, um vor den Ausdünstungen verschont zu bleiben. Abgesehen davon war der Job in Ordnung. Sie wurde gut bezahlt, es gab nicht allzu viel zu tun, jedoch immer genug, um die Zeit schnell vergehen zu lassen. Die meisten, die anhielten und etwas bestellten, waren irgendwohin unterwegs, Urlauber oder Fernfahrer, aber es gab auch ein paar Stammkunden. Einige davon waren ziemlich eklig und gaben schlüpfrige Kommentare von sich, die Tone gelernt hatte zu ignorieren. Und dann gab es noch Moped-Rolf, der außer Nummer acht und eine Cola nie etwas sagte. Nummer acht war das Menü, das er immer bestellte. Hackburger mit einem halben Liter Cola. Moped-Rolf ging dauernd aufs Klo. Bevor er aß und danach. Manchmal blieb er eine Viertelstunde dort sitzen. Doch seit einigen Tagen hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Zwischen den Bäumen auf der rechten Seite konnte sie den See schimmern sehen.

Sie bog ab, fuhr die letzten Meter über die alte Landstraße und stellte das Fahrrad an der Stelle ab, wo der Trampelpfad begann.

Keine anderen Räder waren zu sehen, und unten vom Wasser war niemand zu hören. Wie es aussah, war sie allein.

Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und rannte das letzte Stück hinunter zum See. Ein paar feuchte Flecken auf dem Felsen verrieten, dass jemand vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen war.

Sie blickte umher. Auf der anderen Seite des Sees war ein Mensch in einem Kanu unterwegs, das war alles.

Sie zog das lila T-Shirt vom Bamblegrill über den Kopf, streifte die Schuhe ab und zog die Hose aus.

Vor zwei Tagen hatte sie hier nackt gebadet.

Sie spähte abermals umher, fragte sich, ob sie es heute wieder so machen sollte. Der Kanufahrer war auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem Trampelpfad war niemand. Alles, was Tone hörte, war der Verkehrslärm von der E18.

Sie nahm ein Handtuch aus dem Rucksack und legte es mit der Shampooflasche ans Ufer. Dann zog sie sich schnell aus, versteckte ihre Unterwäsche unter dem Rucksack und machte sich für einen Kopfsprung bereit.

Sie fühlte sich ungeheuer frei und kostete das Gefühl zur Gänze aus. Bald war sie achtzehn. Den ganzen Sommer allein zu Hause. Und sie verdiente ihr eigenes Geld. Aber das war nicht alles. Endlich war auch Schluss mit Danny.

Sie machte einen kleinen Schritt vorwärts, dichter an die Kante heran, und streckte die Arme über den Kopf. Dann schwankte sie einen Augenblick hin und her, ehe sie sich kopfüber ins Wasser stürzte. Mit geschlossenen Augen tauchte sie ein paar Meter und kam dann wieder an die Oberfläche.

Das Wasser war noch wärmer als am Tag zuvor. Ihre langen Haare klebten ihr im Gesicht, sie strich sie mit einer Hand weg und blickte zum Ufer. Noch immer war niemand zu sehen.

Sie machte ein paar Schwimmzüge auf dem Rücken, drehte sich dann herum und machte mit langsamen Brustzügen weiter.

Am nächsten Tag würde sie auch arbeiten, aber danach hatte sie zwei Tage frei. Sie und Maria wollten mit dem Bus nach Langesund fahren. Vielleicht würden sie sogar ins Tordenskiold reinkommen. Maria kannte einen der Türsteher.

Etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt machte sie kehrt und schwamm zurück. Sie fand festen Grund unter den Füßen und steuerte auf die Shampooflasche zu.

Zwei Vögel stoben von einem Baum auf, ansonsten war immer noch alles ganz ruhig.

Sie gab etwas Shampoo auf die Handfläche und ließ die Flasche im Wasser treiben, während sie ihre Haare einseifte. Dann kam sie halbwegs aus dem Wasser heraus, wusch sich den restlichen Körper mit Shampoo und sah immer wieder zum Trampelpfad hinüber. Als sie fertig war, tauchte sie unter, um sich abzuspülen, ehe sie sich schnell abtrocknete und wieder anzog.

Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt hörte sie jemanden kommen.

3

Wie üblich wurde Wisting um kurz vor vier in der Nacht wach. Er schwang die Beine aus dem Bett, erhob sich und tapste im Halbschlaf ins Badezimmer. Das Licht ließ er ausgeschaltet, um nach dem Toilettengang sofort wieder einschlafen zu können.

Seine schlaftrunkenen Gedanken kehrten zurück zu dem Fall aus dem Jahr 1999. Der hatte ihn schon den ganzen Tag beschäftigt und ihm das Einschlafen schwer gemacht.

Fall 12–1569/99.

Im Internet stand nicht viel über den alten Mordfall, aber immerhin hatte Wisting herausgefunden, dass er aufgeklärt worden war. Schon nach drei Tagen war ein Mann gefasst und einige Zeit später zu siebzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Was Wisting am meisten beschäftigte, war der Brief. Offenbar wollte der anonyme Verfasser seine Aufmerksamkeit auf den alten Fall lenken, was ihm auch durchaus gelungen war. Wisting verstand nur nicht den Grund dafür.

Nachdem er im Badezimmer fertig war, wurde ihm klar, dass er sowieso nicht wieder einschlafen könnte, wenn er sich wieder ins Bett legte. Stattdessen ging Wisting in die Küche und füllte ein Glas mit Leitungswasser.

Umschlag und Brief lagen noch auf dem Tisch. Wisting griff nach dem Beutel mit dem Papierbogen und hielt ihn ins Licht. Er hatte schon Fälle erlebt, bei denen der Absender eines Briefes identifiziert worden war, weil sich etwas, was er geschrieben hatte, auf das darunterliegende Blatt durchgedrückt hatte. Allerdings war das hier nicht der Fall.

Das Papier könnte natürlich analysiert werden, um Hersteller und Verkaufsstellen zu ermitteln, aber hierauf Ressourcen zu verschwenden kam nicht infrage. Ganz abgesehen davon war das meiste Papier heutzutage massenproduziert. Vermutlich hatte er Umschläge und Briefbögen derselben Sorte in seinem Arbeitszimmer liegen.

Wisting legte den Brief beiseite und schaltete sein iPad ein. Er überflog die Onlineausgaben der Zeitungen, während er das Wasserglas leerte, aber es waren keine neuen Informationen über die verschwundene Frau zu finden. Das anscheinend Wichtigste, das die VG im Laufe der Nacht veröffentlicht hatte, war ein neuer Bericht über Ernährungsgewohnheiten. Gleichwohl blieb Wisting mit dem Tablet in der Hand stehen und starrte auf den Bildschirm. Ein Gedanke hatte sein Bewusstsein gestreift. Eine Möglichkeit, die er unbedingt austesten musste, bevor er sich wieder ins Bett legte.

Er nahm das iPad und die beiden Plastikbeutel mit in sein Arbeitszimmer. In einer der Schubladen lagen Umschläge, in einer anderen verschiedene Bleistifte und Schreiber. Er suchte sich einen schwarzen Filzstift heraus und legte das iPad in einen großen Umschlag. Der Bildschirm leuchtete durch das Papier hindurch, sodass er die Überschrift des Zeitungsartikels noch lesen konnte. Dann nahm er den Filzstift und zeichnete die Überschrift nach. Fleischkonsum muss halbiert werden.

Als er das iPad wieder aus dem Umschlag nahm, sah die Überschrift auf dem Umschlag fast aus wie gedruckt.

Genauso war der Absender möglicherweise vorgegangen. Er hatte einen Bildschirm als Leuchttisch verwendet und auf diese Weise eine Handschrift ohne besondere Kennzeichen fabriziert.

Wisting ließ das Ergebnis seines Experiments auf dem Schreibtisch liegen und ging wieder ins Schlafzimmer. Das Fenster stand auf Kipp. Er zog den Vorhang zur Seite und sah hinaus. Ein paar Insekten kreisten um die Laterne über dem Briefkasten.

Es würde nicht bei einem Brief bleiben, dachte er. Es würden weitere kommen.

4

5. Juli 1999, 11:17 Uhr

Schon zum dritten Mal versuchte sie, ihre Tochter anzurufen, aber auch jetzt ging niemand ran.

Oda Vaterland legte auf. Ihre anfängliche Unruhe hatte sich in Besorgnis verwandelt.

Tone war seit fast drei Wochen allein zu Hause, und sie hatten jeden Tag miteinander telefoniert. Abgemacht war, dass Tone anrufen sollte, wenn sie abends zu Hause war, doch das hatte sie am Abend zuvor nicht getan.

Erst ein Mal war das vorgekommen, nämlich als Tone bei Maria gewesen war und Videos geschaut hatte. Da war sie erst spät zurückgekommen und hatte ihre Eltern nicht mit einem Anruf wecken wollen. Aber dafür hatte sie sich am nächsten Morgen gemeldet. Das Telefon stand im Gang, gleich vor ihrer Schlafzimmertür. Sie würde es also klingeln hören, egal wie müde sie sein mochte.

Oda drehte sich zu ihrem Mann um. Es war seine Idee gewesen, zu zweit nach Beisfjord zu fahren und Tone zu Hause zu lassen.

»Sie geht nicht ran«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir Maria anrufen?«

Arne nickte und stopfte sich den Rest des Butterbrots in den Mund.

Die Mutter von Maria ging ans Telefon. Oda erklärte, worum es ging, und bat darum, mit Maria sprechen zu können.

»Hast du mit Tone gesprochen?«, fragte sie die Freundin ihrer Tochter.

»Seit gestern nicht mehr. Sie hat diese Woche Spätschicht«, erklärte Maria.

Die Uhr an der Wand hinter Arne ging auf halb zwölf zu. Tone würde demnach in zweieinhalb Stunden an der Imbissbude sein.

»Ich kann sie nicht erreichen«, sagte sie.

»Ich kann ihr sagen, dass Sie angerufen haben, sobald ich sie sehe.«

Oda zögerte.

»Glaubst du, sie könnte vielleicht bei Danny sein?«

Die Antwort kam prompt.

»Nein. Die beiden haben Schluss gemacht.«

Oda hatte Danny Momrak nie gemocht und war froh, dass Tone nicht mehr mit ihm zusammen war. Dennoch überkam sie ein komisches Gefühl. Dass ihre Tochter bei ihm war, erschien ihr die einzig logische Möglichkeit.

»Weißt du, ob sie vielleicht jemanden kennengelernt hat?«

»Nichts Ernstes«, erwiderte die Freundin. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Na gut, dann vielen Dank.«

Sie beendete das Gespräch. Arne war aufgestanden.

»Meinst du, ich sollte mal Danny anrufen?«, fragte Oda, kam aber dann auf eine andere Idee. »Ich könnte auch Erna und Torfinn anrufen.«

Arne nickte.

Erna und Torfinn waren ihre Nachbarn. Sie waren Rentner und hatten öfter auf Tone aufgepasst, als sie noch klein gewesen war. Oda kannte die Nummer auswendig.

Torfinn meldete sich.

»Stimmt was nicht?«, wollte er wissen. »Ihr kommt doch nicht schon vor Ende nächster Woche zurück?«

»Nein«, meinte Oda und wusste nicht recht, wie sie sich ausdrücken sollte. »Ich habe mich nur gefragt, ob vielleicht irgendwas mit unserem Telefon nicht stimmt. Tone geht nämlich nicht ran. Vielleicht liegt der Hörer ja nicht richtig auf der Gabel.«

»Verstehe«, brummte der Nachbar. »Ich kann mal nachsehen.«

»Du weißt doch, wo der Schlüssel liegt?«, fragte Oda. »Falls sie nicht aufmacht.«

Der Schlüssel lag unter dem Dach des Carports. Früher, als Tone noch mit in den Norden gefahren war, hatten Erna und Torfinn auf das Haus aufgepasst, die Post hereingenommen und die Blumen gegossen.

»Wie ist denn eure Telefonnummer da oben?«, fragte Torfinn. »Damit ich euch zurückrufen kann.«

Oda gab die Nummer durch, dann legte sie auf.

Sie warteten schweigend. Oda räumte den Tisch ab. Arne stand am Fenster und wischte sich Farbe von den Fingern. Er wollte nicht hinausgehen und weiterstreichen, ehe Torfinn sich gemeldet hätte. Das Haus in Beisfjord war sein Elternhaus. Oft hatten sie darüber gesprochen, es zu verkaufen, aber es war nie etwas daraus geworden. Was hauptsächlich daran lag, dass es nicht viele Interessenten gab.

Zehn Minuten vergingen. Das Klingeln des Telefons ließ beide zusammenzucken.

Torfinn war am Apparat.

»Mit dem Telefon ist alles in Ordnung«, sagte er.

»Ist Tone zu Hause?«, fragte Oda.

»Nein.«

Arne hatte sich umgedreht und stand jetzt mit dem Rücken zum Fenster.

»Frag ihn nach dem Fahrrad«, sagte er.

»Hast du Tones Fahrrad gesehen?«, fragte Oda. »Normalerweise stellt sie es immer direkt neben die Tür.«

»Da steht es aber nicht«, erwiderte Torfinn.

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

Torfinn räusperte sich. »Warte, ich frag mal Erna.«

Oda hörte die beiden im Hintergrund. Offenbar hatte Erna sie zuletzt vor zwei Tagen gesehen.

»Am Sonntag«, bestätigte Torfinn. »Aber wir halten Ausschau nach ihr. Ich kann sie bitten, euch anzurufen, wenn sie wieder auftaucht.«

Oda bedankte sich und beendete das Gespräch. Ihre Stimme klang weiterhin ruhig, doch vor lauter Verzweiflung zitterten ihre Hände, und sie schaffte es kaum, den Hörer richtig auf die Gabel zu legen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie. Die Entfernung war so groß. Zwei Tage hatten sie gebraucht, um so weit in den Norden hinaufzufahren. Selbst ohne eine Übernachtung würde es vierundzwanzig Stunden dauern, bis sie wieder zu Hause wären.

»Du hast doch die Nummer vom Imbiss«, sagte Arne. »Vielleicht hat sie ja mit jemandem die Schicht getauscht.«

Das war natürlich eine Möglichkeit und würde viele Fragen beantworten. Vielleicht hatte Tone sich abends schon zeitig hingelegt und war dann früh am Morgen aufgestanden.

Oda suchte in ihrem Adressbuch nach der richtigen Nummer. Als sie sie gefunden hatte, reichte sie Arne das Büchlein.

»Ruf du an«, bat sie ihn.

Arne griff zum Hörer und wählte die Nummer. Er stellte sich vor und fragte nach Tone. Die Antwort fiel kurz aus.

»Verstehe«, sagte Arne. »Aber war sie denn gestern Abend da?«

Oda begriff, wohin sich das Gespräch entwickelte. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich.

»Ruf Danny an«, bat sie Arne, nachdem er aufgelegt hatte. »Kann ja sein, dass …«

Sie merkte, dass er zögerte.

»Hast du die Nummer?«

Sie las sie ihm vor, und er tippte sie ein.

Danny lebte bei seiner Mutter. Die Eltern waren nie verheiratet gewesen und hatten sich kurz nach seiner Geburt getrennt. Er war ein Jahr älter als Tone, und sie waren ein hübsches Paar, doch er tat ihr nicht gut. Nach der Zehnten hatte er eine zweijährige Ausbildung zum Automechaniker absolviert. Ab und zu arbeitete er in der Werkstatt seines Onkels, war aber nicht fest angestellt. Oda hatte Geschichten von wilden Partys und Schlägereien gehört. Auch von Haschisch war die Rede gewesen, und Oda wusste, dass man ihn sogar beim Klauen im Einkaufszentrum erwischt hatte. Als Tone ihn zum ersten Mal mit nach Hause brachte, hatte er sich höflich verhalten, aber es war schwierig gewesen, eine Unterhaltung mit ihm zu führen.

»Ist Danny zu Hause?«, hörte sie Arne fragen.

Offenbar hatte die Mutter den Hörer abgenommen. Wie Oda heraushörte, lag Danny im Bett und schlief.

»Wir können Tone nicht erreichen«, fuhr Arne fort.

Etwas wurde am anderen Ende der Leitung entgegnet.

»Das weiß ich«, sagte Arne. »Ich wollte mich nur vergewissern, ob er nicht vielleicht doch etwas weiß.«

Oda stand auf und trat näher.

»Sie geht und fragt ihn«, erklärte Arne.

Nach kurzer Zeit war Dannys Mutter wieder in der Leitung. Oda stand nahe genug, um zu hören, was sie sagte.

»Er hat sie zuletzt vor dem Wochenende gesehen«, erklärte Dannys Mutter. »Tut mir leid.«

Arne verabschiedete sich und legte auf.

»Sie geht manchmal schwimmen«, sagte Oda zögernd. »Auf dem Rückweg von der Arbeit. Allein.«

Der Gedanke hatte schon länger in ihrem Hinterkopf rumort, wie schwelende Glut.

»Vielleicht ist etwas passiert«, fuhr sie fort. »Ein Unfall.«

»Wir warten noch bis zehn«, sagte Arne. »Wenn sie bis dahin nicht bei der Arbeit auftaucht, benachrichtigen wir die Polizei.«

5

Die Post war noch nicht gekommen, als Wisting von zu Hause wegfuhr. Sicherheitshalber überprüfte er auch den Briefkasten von Line, aber der war ebenfalls leer.

Auf dem Weg nach Larvik kamen ihm zwei Feuerwehrfahrzeuge entgegen. Erst ein Mannschaftswagen und dann ein schwerer Leiterwagen. Wisting fuhr an den Straßenrand, um Platz zu machen. Die Männer in dem ersten Wagen machten sich einsatzbereit. Sie knöpften ihre Jacken zu und setzten ihre Helme auf. Wisting warf beim Weiterfahren einen Blick in den Spiegel, konnte aber nirgendwo Rauch entdecken.

Auf dem Hof des Polizeigebäudes gab es viele freie Parkplätze. Wisting stellte den Wagen so dicht wie möglich am Personaleingang ab und schloss dann die Tür auf.

Unten im Keller begrüßte er zwei Beamte, die nur den Sommer über hier arbeiteten und an deren Namen er sich nicht erinnern konnte. In der Etage darüber war es still. Nicht das Geringste wies darauf hin, dass es in dem Vermisstenfall zu einem Durchbruch gekommen war oder dass es sonstige dramatische Entwicklungen gegeben hatte.

Wisting blieb an der Türöffnung zu Bjørg Karins Büro stehen und begrüßte sie.

»Ihre Akte ist gekommen. Liegt bei Ihnen im Büro.« Sie deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. »Frischen Kaffee gibt es übrigens auch.«

Wisting bedankte sich und lächelte.

»Ich besorg mir mal ’ne Tasse.«

Als er zurückkam, stand Bjørg Karin mit der Kanne bereit.

»Wie läuft’s denn hier überhaupt?«, fragte er.

»Wir kommen schon zurecht«, versicherte Bjørg Karin. »Aber Christine Thiis hat sich krankgemeldet. Jetzt stehen wir ohne Polizeijuristin da.«

Wisting nippte an seinem Kaffee.

»Ist es was Ernstes?«, fragte er.

»Ich glaube nicht. Sie war beim Arzt und soll sich wohl ein paar Tage ausruhen. Falls Sie mit Hammer reden möchten: Er ist zu einer Besprechung nach Drammen gefahren.«

»Danke, ich bin wirklich nur gekommen, um mir den alten Fall anzusehen.«

Bjørg Karin setzte sich wieder und blickte auf ihren Computerbildschirm.

»Wissen Sie, wo es brennt?«, fragte Wisting.

»Im Kleiser-Haus«, erwiderte Bjørg Karin.

»Schon wieder?«, fragte Wisting erstaunt.

Bjørg Karin rief die Meldungen der Einsatzzentrale auf.

»Vor zwanzig Minuten kam eine Meldung herein, dass das Feuer erneut ausgebrochen ist«, erklärte sie. »Muss wohl eine ganze Weile vor sich hin geschwelt haben.«

Das Feuer bei Antonia Kleiser war der letzte Fall, mit dem Wisting sich vor dem Urlaub beschäftigt hatte. Die Techniker hatten vermutet, dass die elektrische Anlage in dem alten Haus für den Brand verantwortlich war, aber noch lag kein endgültiger Bericht vor. Das Feuer war mitten in der Nacht ausgebrochen. Antonia Kleiser war zweiundachtzig Jahre alt und Witwe. Man hatte sie tot auf dem Fußboden neben ihrem Bett gefunden.

Wisting bedankte sich für den Kaffee, ging weiter und schloss die Tür zu seinem Büro auf. Der Schreibtisch war genauso aufgeräumt wie bei seinem Urlaubsantritt, abgesehen von einem großen Archivkarton, der in der Mitte thronte.

Er entfernte den Deckel und nahm den Inhalt heraus. Insgesamt fünf Dokumentenmappen mit grünem Umschlag, die von zwei morschen Gummibändern zusammengehalten wurden. Auf jeder einzelnen stand der Name des Beschuldigten. MOMRAK, Dan Vidar.

Die Mappen waren mit römischen Ziffern von eins bis fünf durchnummeriert. Nummer II enthielt alle Informationen über das Opfer und die ursprüngliche Vermisstenmeldung, welche die Ermittlung in Gang gesetzt hatte.

In Nummer III befanden sich die Ergebnisse der technischen Untersuchungen und in Nummer IV die Zeugenaussagen, während unter Nummer V alles zusammengefasst war, was mit dem Beschuldigten zu tun hatte.

Der Inhalt von Mappe I dokumentierte die Behandlung des Falles innerhalb der Behörde. Erst mehrere Vermerke des lokalen Polizeijuristen, der den Fall mit dem Antrag auf Untersuchungshaft an das zuständige Gericht geschickt hatte, dann die Antwort des Gerichts mit der entsprechenden Anordnung. In dem Schreiben an den Staatsanwalt war die Rede von Anklageerhebung auf Basis der Beweislage. Erfahrungsgemäß waren bei archivierten Fällen die interessantesten Informationen häufig in diesen Unterlagen zu finden.

Auch das Urteil war beigefügt, sowohl vom zuständigen Gericht als auch von der nächsthöheren Instanz, nachdem der Verurteilte in Berufung gegangen war. Wisting blätterte bis zur letzten Seite vor, wo Urteilsbegründung und Strafmaß verzeichnet waren:

Der Angeklagte hat eindeutige Anzeichen eines Rachemotivs erkennen lassen und scheint die Tat in keiner Weise zu bereuen. Die Mordhandlung stellt sich als äußerst egoistische Tat dar und wurde mit rücksichtsloser Aggression durchgeführt. Die Erklärung des Angeklagten vor Gericht wirkt unglaubwürdig, darüber hinaus gibt es nichts, was mildernde Umstände erkennen ließe. Das Gericht verurteilt den Beschuldigten gemäß Anklageschrift zu einer Gefängnisstrafe von siebzehn Jahren, wobei 168 in Untersuchungshaft verbrachte Tage anzurechnen sind. Das Gericht folgt hiermit dem Antrag der Staatsanwaltschaft.

Wisting hatte erwartet, dass der anonyme Briefschreiber seine Aufmerksamkeit auf einen ungelösten Fall lenken wollte, oder zumindest auf einen Fall, in dem es Zweifel an der Schuld des Angeklagten gegeben hatte. Dieses Urteil jedoch erschien klar und eindeutig.

Ein Urteil von siebzehn Jahren bedeutete, dass Dan Vidar Momrak seine Strafe inzwischen abgesessen hatte und sich wieder auf freiem Fuß befand. Wo er sich aufhielt und was er tat, würde sich vermutlich im Polizeiregister herausfinden lassen.

Wisting schaltete seinen Computer ein und nahm gleichzeitig im Augenwinkel wahr, dass jemand an der Tür auftauchte. Er blickte auf und lächelte. Es war Maren Dokken.

»Zurück aus dem Urlaub?«, fragte sie.

»Nein, ich musste hier nur schnell was erledigen.«

Nach einer Verletzung durch eine Explosion während eines Einsatzes war Maren Dokken von der Streifenpolizei in Wistings Abteilung versetzt worden. Auf der linken Wange hatte sie eine bis zum Ohr hinaufreichende Narbe, die sie unter ihrem offen getragenen Haar zu verbergen suchte. Bei der Explosion war insbesondere ihre Schulter verletzt worden, was dazu geführt hatte, dass sie ihren linken Arm nur noch eingeschränkt einsetzen konnte. Für den operativen Polizeidienst war sie daher nicht mehr tauglich. Da die Umstrukturierung der Polizeidistrikte zu einem Stellenabbau geführt hatte, war Maren Dokken umso mehr willkommen gewesen. Ganz abgesehen davon war sie überaus tüchtig. Vor über dreißig Jahren hatte Wisting mit ihrem Großvater zusammengearbeitet. Maren war ebenso geduldig wie er und besaß darüber hinaus die Fähigkeit, in komplexen Fällen die Übersicht zu behalten, Details zu erkennen und Zusammenhänge zu analysieren.

»Ist das der Vermisstenfall?«, fragte er und deutete auf die Papiere in ihrer Hand.

Maren nickte. »Alle arbeiten zurzeit daran.«

»Und wohin entwickelt es sich?«

»Gegen ihren Mann.«

»Was habt ihr rausgefunden?«

»Nichts Konkretes, aber irgendetwas stimmt da nicht.«

Wisting lehnte sich zurück. Er wollte mehr hören.

»Er hat dreimal ausgesagt«, begann Maren. »Zuerst, als die Streife zu ihm nach Hause kam, nachdem er seine Frau als vermisst gemeldet hatte, und dann noch zweimal in Vernehmungen. Er hat jedes Mal das Gleiche gesagt.«

Wisting legte den Kopf ein wenig schräg.

»Also, wortwörtlich«, fuhr Maren fort. »Wenn man dieselbe Geschichte mehrmals erzählt, gibt es in der Regel feine, voneinander abweichende Nuancen. Ein kleines Detail wird ausgelassen, und stattdessen wird etwas anderes erwähnt. Man drückt sich unterschiedlich aus, verwendet andere Adjektive oder Substantive. Etwa um zehn Uhr wird zu gegen zehn Uhr. Solche Dinge. Erik Roll hingegen bleibt bei exakt derselben Aussage, als hätte er sie auswendig gelernt. Verstehst du, was ich meine?«

Wisting wusste genau, was sie meinte. Eine erdachte Geschichte mehrmals zu wiederholen war relativ schwierig. Derjenige, der sie erfunden hatte, konzentrierte sich meist auf die Wiedergabe desselben Handlungsverlaufs. Daher war ein gewisses schauspielerisches Talent vonnöten, um glaubwürdig zu wirken.

»Worum ging es überhaupt bei der Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden?«, fragte er. »Was war der Grund, weshalb sie früher nach Hause gegangen ist?«

»Geld. Sie haben sich erst darüber gestritten, wer die Rechnung in der Kneipe bezahlen soll, und schließlich ging es um die finanzielle Situation der beiden im Allgemeinen. Die ist offenbar recht schwierig.«

Geld und Eifersucht, dachte Wisting. Das waren typische Motive für Verbrechen.

Irgendwo im Gang klingelte ein Telefon.

»Das ist meins«, sagte Maren und eilte davon.

Wisting zog das erste Dokument aus dem Karton. Meldung eines Vermisstenfalls. Der Bericht war von einer Beamtin des Lensmannbüros namens Kathe Ulstrup geschrieben worden. Der eigentliche Bericht war kurz und basierte auf einem Telefongespräch mit dem Vater von Tone Vaterland. Daraus ging hervor, dass seine Tochter zuletzt beim Verlassen der Arbeitsstelle um 20:30 Uhr am Vorabend gesehen worden war. Als die Vermisstenmeldung aufgenommen wurde, waren siebzehn Stunden vergangen.

Die ersten Befragungen bestätigten, dass Tone irgendwo auf dem Weg zwischen dem Imbiss, wo sie arbeitete, und ihrem Elternhaus im Damstien verschwunden sein musste. Die Entfernung zwischen beiden Orten betrug drei Kilometer. Arbeitskollegen berichteten, dass sie wie üblich nach Schichtende vom Imbiss weggefahren war, aber keiner der Nachbarn hatte sie nach Hause kommen sehen.

Die erste Hypothese der Ermittler lautete, dass Tone Vaterland ertrunken war. Auf dem Heimweg von der Arbeit legte sie häufiger eine Pause ein, um in einem nahe gelegenen See zu baden. Am Ufer des Sees wurde nichts gefunden, weder Kleidung noch Rucksack oder Fahrrad. Ungeachtet dessen wurde eine intensive Suche eingeleitet. Ihre Leiche wurde zwei Tage später gefunden, und schon bald stand fest, dass es sich um einen Mordfall handelte.

Wisting fiel es schwer, sich auf das Lesen zu konzentrieren. Sein Blick wanderte zum Fenster. Ein großes Segelschiff war auf dem Weg in den Fjord hinein.

Er stand auf und ging wieder zu Bjørg Karin.

»Wurde das Feuer schon gelöscht?«, fragte er.

Sie las die aktuellen Meldungen der Einsatzzentrale auf ihrem Bildschirm.

»Hier steht, dass die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle hat«, erwiderte sie. »Mehr nicht.«

Wisting bedankte sich mit einem Nicken und kehrte zurück in sein Büro. Er schloss die Dokumentenmappen, in denen er gestöbert hatte, streifte ein Gummiband darüber und legte alles zurück in den Archivkarton. Dann verließ er mit dem Karton unter dem Arm das Büro.

6

Der Qualm war schon aus der Entfernung zu sehen. Ein dünner weißer Rauchstreifen, der sich vor dem hellblauen Himmel abzeichnete. Beim ersten Brand war der Rauch von Wistings Haus aus zu sehen gewesen, dunkler, dicker Qualm. Das Feuer war kurz vor sechs Uhr morgens gemeldet worden. Als Wisting aufstand und ans Fenster trat, hatte es schon eine Stunde gebrannt.

Es war erst zwei Wochen her, dass er den alten Schotterweg entlanggefahren war. Als Ingrid noch lebte, waren sie manchmal hier in der Gegend spazieren gegangen und dabei am Kleiser-Haus vorbeigekommen. Gleich nebenan lag ein alter Bauernhof mit Kräutergarten, wo Ingrid gern Tee, Gewürzmischungen und Kräuteressig gekauft hatte.

Das Kleiser-Haus war ein altes zweistöckiges Holzhaus mit Keller, Veranda, Erkern und einem großzügigen Garten. Es lag in einem Waldgebiet, das sich schon seit vielen Generationen im Besitz der Familie Kleiser befand. Als Antonia und Georg Kleiser das Haus erbaut hatten, gab es keine Nachbarn, doch in den Neunzigerjahren hatte ein Immobilienentwickler das kinderlose Paar dazu überredet, einen Großteil des Grundbesitzes zu verkaufen. Ein völlig neues Wohnviertel war entstanden, das alte Haus jedoch lag ein wenig abseits und war vor Einblicken geschützt.

Als Wisting vor dem Gebäude ankam, standen Schaulustige aus der Nachbarschaft in kleinen Gruppen herum. Er parkte hinter einem Streifenwagen und stieg aus. Nach dem ersten Brand war das Haus zur Hälfte unversehrt geblieben, nun allerdings schien es völlig verloren zu sein. Das Dach war eingestürzt, und nur eine einzige Wand stand noch.

Als Wisting das letzte Mal hier gewesen war, hatte man um das halb zerstörte Haus Absperrgitter errichtet. Doch die lagen jetzt zusammen mit den Überresten des Absperrbands in wildem Durcheinander auf dem Boden.

Noch immer loderten offene Flammen, doch die Löschmannschaften unternahmen nichts dagegen.

Wisting ging zum Einsatzleiter der Feuerwehr, um sich einen Überblick zu verschaffen.

»Als wir eintrafen, war das meiste schon vernichtet«, erklärte der Mann. »Beim letzten Mal haben wir versucht zu retten, was zu retten war, aber jetzt belassen wir es bei einem kontrollierten Herunterbrennen.«

»Das war vor zwei Wochen«, sagte Wisting. »Könnte es wieder aufgeflammt sein?«

»Das ist sogar sehr wahrscheinlich«, erwiderte der Feuerwehrmann.

Die letzte Wand wurde von den Flammen verzehrt. Das brennende Holz knackte, dann war ein lautes Krachen zu hören, und die Wand stürzte ein. Ein dicker Schwall aus schwarzem Rauch wirbelte empor, und ein paar Funken wurden von der heißen Luft in die Höhe getrieben.

Wisting fuhr sich durchs Haar.

»Ich möchte, dass Sie löschen«, sagte er. »So schnell wie möglich.«

Der Feuerwehrmann sah ihn erstaunt an.

»Aber das ist doch mit Ihrer Einsatzzentrale abgeklärt«, sagte er und blickte zu zwei Streifenpolizisten hinüber. »Die Techniker haben ihre Untersuchungen abgeschlossen. Es lag an einem Fehler in der elektrischen Anlage. Es gibt keinerlei Restwert. Die Versicherungsgesellschaft hat sicher nichts dagegen, wenn wir das Feuer kontrolliert herunterbrennen lassen, ganz im Gegenteil.«

»Das hat andere Gründe«, entgegnete Wisting und zog sein Handy hervor, um sich nicht weiter erklären zu müssen.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr sah ihn verständnislos an, rief aber einen seiner Kollegen zu sich und erteilte ihm neue Anweisungen. Wenig später richtete die Löschmannschaft mehrere Wasserstrahlen auf die Flammen. Im Holz zischte und knackte es, grauer Wasserdampf stieg auf.

Wisting trat ein paar Schritte zurück und rief Maren Dokken an.

»Ich bin gerade am Kleiser-Haus«, sagte er.

»Das Feuer ist wieder aufgeflammt, habe ich gehört«, entgegnete sie.

»Wie weit ist es von hier bis zum Haus von Agnete Roll?«

In der Leitung blieb es für einen Augenblick still.

»Du meinst, sie könnte im Kleiser-Haus sein?«, fragte Maren dann.

Wisting beantwortete seine Frage selbst:

»Es können doch nicht mehr als fünf- oder sechshundert Meter sein, wenn man quer durch den Wald geht.«

»Die Suchmannschaften haben das überprüft«, wandte Maren ein. »Jedenfalls den Wald. Die haben bestimmt auch das Haus untersucht.«

»Und wie genau?«, fragte Wisting.

»Das weiß ich nicht. Dazu muss ich erst mit denen reden, die dabei waren.«

»Abgesehen davon sind auch schon ein paar Tage vergangen«, sagte Wisting. »Ihre Leiche kann auch später dort abgelegt worden sein.«

Eines der Löschfahrzeuge fuhr näher an das Feuer heran und setzte die Wasserkanone auf dem Dach ein. Der Wasserstrahl breitete sich zu einer Fontäne aus.

»Vermutlich ist das Feuer in etwa einer Stunde gelöscht«, fuhr Wisting fort. »Dann könntest du dir das Grundstück im Laufe des Abends ansehen.«

Maren Dokken zögerte. Wisting bereute, dass er nicht stattdessen Nils Hammer angerufen hatte. Maren war noch relativ unerfahren und folgte eher Befehlen, als dass sie Entscheidungen traf und Arbeit delegierte.

»Ich lasse die Streife hier vor Ort das Grundstück sichern, sobald die Feuerwehr fertig ist«, sagte er. »Dann könnt ihr im Anschluss übernehmen.«

»Ich gebe der Technik Bescheid«, sagte Maren.

Ihre Stimme klang jetzt entschiedener.

Nach dem Telefonat ging Wisting außerhalb der Absperrung um die brennenden Überreste des Hauses herum. Der Rasen hätte dringend gemäht werden müssen, der übrige Garten jedoch stand in auffälligem Kontrast zu dem vom Feuer zerstörten Haus. Gepflegt und üppig, mit Steinskulpturen und angelegten Wegen.

Ein schwarzer, schmiedeeiserner Zaun trennte den Garten vom Wald, und die Pforte war einen Spaltbreit geöffnet. Wisting schob sie mit der Schuhspitze ganz auf. Die Angeln gaben ein klägliches Geräusch von sich. Auf der anderen Seite führte ein teilweise überwucherter Pfad in den Wald hinein. Wisting erwog kurz, ihm zu folgen, ließ es aber sein. Stattdessen drehte er sich um und ging zurück zu seinem Wagen.

7

6. Juli 1999, 09:08 Uhr

»Die suchen nach der Leiche«, sagte Fredrik. »Ihr wisst schon, die tote Frau«, fügte er hinzu, um sicherzugehen, dass die anderen zwei ihn verstanden.

Sie lehnten sich über ihre Fahrradlenker und beobachteten die Suchmannschaften auf der anderen Straßenseite. Dicht nebeneinander gingen sie, einige mit langen Stöcken in der Hand, andere mit Walkie-Talkies. Einer von ihnen hatte einen Hund dabei. Zusammen mussten es fast einhundert Menschen in roten Overalls sein. Die Reihe der Suchenden erstreckte sich vom Straßenrand bis in den Wald hinein.

»Ich glaub ja nicht, dass sie die Frau da finden«, meinte Ida. »Sie ist ertrunken.«

»Im Wasser haben sie schon alles abgesucht«, sagte Fredrik. »Mit Tauchern. Die haben sie aber nicht gefunden.«

Ein Sattelschlepper donnerte vorbei und wirbelte Staub von der Fahrbahn auf.

»Meine Mutter kennt sie«, sagte Stian, als der Wagen weitergefahren war. »Die Frau war ihre Schülerin.«

Eine Weile sagte niemand etwas.

Schließlich schlug Fredrik vor, dass sie auch selbst nach der Toten suchen könnten.

»Wo denn?«, fragte Ida.

Fredrik setzte sich auf den Sattel.

»An der alten Landstraße«, schlug er vor und fuhr in die entgegengesetzte Richtung der Suchmannschaften vom Roten Kreuz.

Die neue Schnellstraße war vor über zwanzig Jahren gebaut worden, aber ein Teil der alten kurvigen Landstraße existierte noch. Sie war nicht mehr als dreihundert Meter lang und endete an einem Graben. Unkraut wuchs zwischen Ritzen und Löchern in dem grauen Asphalt. Von beiden Seiten ragten Büsche und Bäume auf die alte Fahrbahn hinaus. An einigen Stellen hatten die Äste ein Dach über der Straße gebildet, sodass man den Eindruck bekam, durch einen grünen Tunnel zu fahren.

Fredrik und Ida suchten auf der rechten Seite der Straße, während Stian sich die linke Seite vornahm. Sie mussten vorsichtig sein und aufpassen, wo sie entlangradelten. An mehreren Stellen lagen Glasscherben von zerbrochenen Flaschen.

Einmal, als Fredrik und Stian hier gewesen waren, hatten sie ein paar Jugendliche gesehen, die etwas mit Spraydosen auf den Asphalt geschrieben hatten. Ein anderes Mal hatten sie ein knutschendes Liebespaar in einem Auto entdeckt. Aber meistens war weit und breit niemand zu sehen.

An der alten Landstraße lag auch Pettersens Garage, ein altes graues Backsteingebäude mit zwei großen Garagentüren. Olaf Pettersen wohnte zwei Häuser neben Fredrik. Er war inzwischen Rentner, hatte früher aber eine Transportfirma betrieben. Nach Fertigstellung der neuen Straße hatte er von der Straßenbaubehörde ein neues Grundstück bekommen und eine neue, größere Garage errichtet. Die alte stand seit Jahren leer. Inzwischen waren die Wände windschief, mehrere Scheiben waren zerbrochen, und der Rest war grau von Vogeldreck und Straßenstaub.

Fredrik stieg vom Fahrrad.

»Vielleicht ist sie ja da drin?«, sagte er.

Das Sonnenlicht fiel schräg durch die dichten Baumkronen und malte Muster auf die grauen Steine. Hinter dem Wald konnten sie den Verkehrslärm von der neuen Straße hören.

»Vielleicht«, sagte Stian. »Da drinnen kann es aber gefährlich sein.«

Die drei Freunde waren schon einmal hier gewesen, aber das war lange her. Beim ersten Mal war Stian durch ein paar morsche Bretter gebrochen und beinahe in eine mit Wasser gefüllte Grube gefallen. Es war die frühere Werkstattgrube, die Pettersen benutzt hatte, um seine Fahrzeuge von unten erreichen und reparieren zu können.

Ida stellte ihr Fahrrad ab und ging auf die andere Seite des Gebäudes. Dort gab es ein zerbrochenes Fenster mit einer Spanplatte davor, die allerdings nur an der Oberseite befestigt war. Wenn man die Platte anhob, war die Öffnung darunter groß genug, um hindurchklettern zu können. Auf dem Boden vor dem Fenster lagen ein paar Backsteine, auf denen man stehen konnte. Fast wie eine Treppe.

Gleich neben dem Fenster befand sich eine Metalltür, die immer verschlossen gewesen war. Fredrik rüttelte daran. Diesmal ließ sie sich öffnen.

»Jemand ist hier gewesen«, sagte er leise und zog die Tür ganz auf. Licht fiel hinein und bildete ein Viereck auf dem brüchigen Zementboden.

Sie blieben vor der Öffnung stehen und sahen hinein. Fredrik verscheuchte eine Fliege. Da er am dichtesten vor dem Eingang stand, musste er auch als Erster hineingehen.

Drinnen war es kalt und feucht. Ein ekliger, scharfer Geruch lag in der Luft.

Der Raum war fast leer. An der Wand stand eine Werkbank, in einer Ecke lagen mehrere alte Autoreifen übereinandergestapelt. Fredrik sah nach oben. In der Decke waren zahlreiche Löcher, und von einem Balken hingen Ketten herunter.

Ganz hinten in der Garage gab es ein Zimmer, das Pettersen als Büro benutzt hatte. Der Schreibtisch stand immer noch da.

Das Geräusch ihrer Schritte hallte von den Wänden wider, als sie näher traten. Ein paar leere Bierflaschen lagen auf dem Boden, und auf dem Schreibtisch waren Reste von Kerzen.

Stian wollte wieder ins Freie.

»Sie ist nicht hier«, sagte er und bewegte sich auf die Tür zu.

»Lasst uns in der Grube nachsehen«, meinte Fredrik.

Sie stellten sich dicht an den Rand. Ein paar der morschen Bretter lagen noch über der Grube, die zur Hälfte mit Wasser gefüllt war.

Fredrik nahm einen Klumpen Zement, der sich vom Boden gelöst hatte, und warf ihn hinein. Er verschwand glucksend im dunklen Wasser.

»Holt mal einen Stock!«, sagte er.

Ida ging hinaus und kam mit einem Zweig zurück.

»Der ist zu klein«, meinte Fredrik.

Er ging hinaus, die anderen folgten ihm. Draußen brach er einen Ast von einer kleinen Birke ab, entfernte Zweige und Blätter und nahm ihn mit hinein. Stian und Ida beobachteten neugierig, wie Fredrik mit dem Ast auf dem Grund der Grube herumstocherte.

»Da ist irgendwas«, sagte er.

Mit dem Ast schob er das Gefundene zum Rand der Grube, doch es sank wieder hinunter, noch ehe es an die Oberfläche gelangt war.

»Probier mal, danach zu greifen«, sagte er zu Stian und versuchte es erneut.

Stian legte sich flach auf den verdreckten Fußboden. Der Ast bog sich unter der Last dessen, was Fredrik nach oben zog. Als es an die Oberfläche kam, streckte Stian die Hand aus und griff danach.

Es war eine alte Daunenjacke. Das Wasser lief heraus, und Stian warf sie auf den Boden.

»Die hat da schon lange gelegen«, konstatierte Ida.

Fredrik nahm wieder den Ast, rührte damit im Wasser herum, fand aber weiter nichts. Schließlich ließ er ihn ins Wasser fallen.

»Wir verziehen uns«, sagte er.

Sie stiegen auf ihre Räder. Alle drei blickten auf, als das ferne Geräusch eines Hubschraubers zu hören war. Zwischen den Bäumen konnte man ihn nicht sehen, aber sie hörten ihn näher kommen. Flatternde Rotorblätter, die sich in der warmen Luft drehten.

»Jetzt suchen sie mit dem Hubschrauber nach ihr«, sagte Stian.

Das harte, flappende Geräusch wurde immer lauter, dann flog der Hubschrauber direkt über ihre Köpfe hinweg.

Ida sah es zuerst. Ein Fahrradlenker, der über einen Erdwall am Wegesrand hervorlugte. Er war fast gänzlich von Zweigen bedeckt. Wenn die Sonne nicht vom Metall reflektiert worden wäre, hätte Ida das Fahrrad gar nicht bemerkt.

Sie machte die anderen darauf aufmerksam.

»Das könnte ihres sein«, sagte Stian.

Fredrik legte sein Fahrrad auf den Boden und trat näher.

»Es ist ein Damenfahrrad«, stellte er fest.

Das Rad hatte sich in ein paar Zweigen verhakt. Fredrik zog und rüttelte daran, um es loszubekommen.

»Sieht aus wie ein Wrack«, meinte er.

Ida sah sich um, während Fredrik sich weiter mit dem Fahrrad abmühte. Schließlich konnte er es befreien, verlor dabei aber das Gleichgewicht und fiel hin. Als er wieder auf die Beine kam, versetzte Ida ihm einen Rippenstoß und zeigte auf etwas.

8

Wisting fuhr den Wagen vor das Haus und stellte den Karton mit den alten Fallunterlagen auf das Autodach. Dann sah er im Briefkasten nach, doch der war leer.

Er schloss auf, trug den Karton hinein und stellte ihn auf den Küchentisch.

Im Kühlschrank lag ein Steak. Eigentlich hatte er geplant, es draußen auf der Terrasse zu grillen, fand es dann aber praktischer, es in der Pfanne zu braten.

Während das Fleisch auf dem Herd brutzelte, holte er Kartoffelsalat und weitere Beilagen aus dem Kühlschrank und deckte den Tisch. Dann nahm er die fünf Mappen aus dem Karton und legte sie auf dem Tisch zurecht.

Die Leitung der Ermittlungen war ab einem bestimmten Zeitpunkt von Hauptkommissar Sten Kvammen übernommen worden. Wisting war ihm ein paarmal auf Konferenzen und Fortbildungen begegnet. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Kvammen einige Jahre nach dem Mordfall bei der Kripo in Oslo angefangen.

Als das Fleisch fertig war, legte er es auf den Teller, setzte sich und griff nach der Mappe mit den kriminaltechnischen Untersuchungsberichten aus dem Jahr 1999. Als Erstes wollte er sich den Bericht vom Tatort ansehen, eines der wichtigsten Dokumente in jedem Mordfall. Darin wurden die technischen Spuren beschrieben, die zu einem späteren Zeitpunkt eventuell einem bestimmten Täter zugeordnet werden konnten und die Grundlage für eine Verurteilung bildeten.

Wisting aß und las zugleich.

Der Leichenfund war am 7. Juli um 11:30 Uhr gemeldet worden. Einundzwanzig Stunden nach der Vermisstenmeldung und fast vierzig Stunden, nachdem Tone Vaterland zuletzt gesehen worden war.

Sie hatte nackt in einem Gebüsch gelegen, wo sie von drei Kindern entdeckt wurde. Der Fundort lag an einer stillgelegten Nebenstraße, die parallel zur E18 verlief. Tone Vaterland hatte einen Schädelbruch erlitten und mehrere Schürfwunden am Rücken sowie an Beinen und Armen davongetragen. Auf dem Asphalt war Blut gefunden worden, was vermuten ließ, dass sie vergewaltigt und dann ermordet worden war, ehe der Täter die Leiche notdürftig unter einem Gebüsch versteckt hatte. An derselben Stelle waren auch fünf Knöpfe mit Fadenresten und abgerissenen Stofffasern entdeckt worden. Das Fahrrad hatte am Wegesrand gelegen, ihre Kleider hingegen wurden nie gefunden. Ein kleiner Rucksack, den sie auf der Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstelle stets bei sich hatte, war ebenfalls verschwunden.

Das Hinterrad des Fahrrads war verbeult. Der Bericht deutete an, dass sie womöglich von einem Wagen angefahren worden war, doch es wurden keinerlei Lackreste gefunden. Die Fingerabdrücke am Fahrrad gehörten Tone Vaterland und dem Zehnjährigen, der mit seinen Freunden die Leiche entdeckt hatte.

Nach dem Essen schob Wisting den Teller beiseite und suchte den Obduktionsbericht heraus. Der Todeszeitpunkt war auf den 4. Juli zwischen 20:30 Uhr und Mitternacht festgesetzt worden. Die Verletzungen waren detailliert beschrieben. Die schlimmste war ein Schädelbruch mit mehreren Bruchkanten am Hinterkopf, innere Kopfverletzungen konnten hingegen nicht nachgewiesen werden. Die eigentliche Todesursache lautete Strangulation. Bei der Obduktion wurden Spermaspuren in der Vagina der Toten entdeckt. Wisting blätterte zum Analysebericht vor. Die DNA aus den Samenzellen war identisch mit den Proben, die man bei ihrem Ex-Freund Dan Vidar Momrak entnommen hatte.

Wisting lehnte sich zurück. Der Fall schien ganz eindeutig gewesen zu sein, aber dennoch wollte jemand, dass er ihn sich ansah. Wozu? Der Fall war in zwei Instanzen verhandelt worden, und falls es doch irgendwelche Unregelmäßigkeiten gab, brauchte er mehr als nur ein Aktenzeichen.

Ende der Leseprobe