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William Wisting muss erstmals für einen Fall in die moderne Welt des World Wide Web eintauchen: Die Rucksacktouristin Ruby wurde ermordet. Auf einer sogenannten Crowdsolving-Plattform beteiligen sich Hobby-Ermittler an der Suche nach dem Mörder und liefern zahlreiche – mal mehr, mal weniger hilfreiche – Hinweise. Eine Userin, »Astria«, behauptet sogar, sie stünde kurz vor der Lösung des Falls, doch dann verschwindet auch sie. Widerwillig lässt sich Wisting auf diese unkonventionelle Art der Ermittlung ein, löst den Fall aber letztendlich mit seiner bewährt professionellen und akribischen Art.
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Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
© Jørn Lier Horst 2021
Published by agreement with Salomonsson Agency
Titel der norwegischen Originalausgabe: »Grenseløs«, Strawberry Publishing, Oslo 2021
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Redaktion : Annika Krummacher
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: GettyImages/Pavel Sinko/EyeEm
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die E-Mail erschien am Freitag, dem 8. Dezember, um 15:37 Uhr auf dem Bildschirm.
William Wisting wartete auf eine Nachricht vom Bezirksgericht. Fast den ganzen Tag über war er mit einem Haftprüfungstermin beschäftigt gewesen. Der Polizeijurist hatte vier Wochen Untersuchungshaft beantragt, und nun war Wisting auf den Ausgang des Verfahrens gespannt.
Doch die E-Mail auf dem Bildschirm betraf etwas ganz anderes. Sie hatte bereits vier Stellen im System passiert, ehe Mikkelsen von der Straftatenerfassungsstelle sie an ihn weitergeleitet hatte. Die Betreffzeile war auf Englisch verfasst, ebenso wie der Text der Nachricht. Anfrage wegen eines eventuellen Unfalls.
Wisting sah auf die Uhr. Der Kollege hatte offenbar vor dem Wochenende den Schreibtisch aufgeräumt und keine unbeantworteten E-Mails im Posteingang hinterlassen wollen.
Die Absenderin hieß Michelle Norris und hatte in ihrer Signatur eine ausländische Telefonnummer angegeben. Sie schrieb, sie mache sich Sorgen um eine Freundin, von der sie seit dem 30. November nichts mehr gehört habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hätten sie mehrmals täglich über das Internet kommuniziert, doch dann sei der Kontakt plötzlich und ohne Vorwarnung abgebrochen.
In dem Internetforum, über das sie sich kennengelernt hätten, habe die Freundin den Usernamen Astria verwendet, Norwegen als ihr Heimatland und ihr Alter mit zweiunddreißig Jahren angegeben. Michelle hatte durch eigene Nachforschungen herausgefunden, dass Astria wahrscheinlich aus Stavern stammte, und wandte sich nun an die örtliche Polizei, weil sie fürchtete, dass der Freundin etwas zugestoßen sein könnte.
Besorgnismeldungen waren nichts Ungewöhnliches, aber dieser Fall war etwas anders gelagert, denn die Absenderin wusste anscheinend nicht, wer die vermisste Person überhaupt war.
Wisting las die E-Mail erneut durch. Er hätte es gewusst, wenn eine zweiunddreißigjährige Frau im Laufe der letzten Woche verunglückt wäre, gleichwohl überprüfte er schnell das Unfallregister. Der Polizei waren zwei Todesfälle gemeldet worden. Der eine betraf einen stadtbekannten Drogenabhängigen, der einer Überdosis erlegen war. Die Fallakte lag in einem der Stapel auf Wistings Schreibtisch, der Obduktionsbericht stand noch aus. Bei dem anderen Todesfall handelte es sich um Selbstmord. Beide Fälle betrafen Männer.
Außerdem hatte es im Zusammenhang mit dem ersten kräftigen Schneefall ein paar Verkehrsunfälle gegeben, bei einem Arbeitsunfall im Hafen war ein Mann zwischen einer Maschine und einem Container eingeklemmt worden, und in einer Recyclinganlage hatte sich eine Frau die Hände verätzt. Doch nichts davon ließ sich mit der Anfrage von Michelle Norris in Verbindung bringen.
Auf Wistings Bildschirm erschien die E-Mail vom Bezirksgericht, auf die er gewartet hatte. Der Richter hatte sich der Argumentation der Verteidigung angeschlossen und eine Untersuchungshaft von vierzehn Tagen angeordnet. Da über Weihnachten und Neujahr nur eingeschränkt Ermittlungen durchgeführt würden, sei es unverhältnismäßig, den Angeklagten während der Festtage in Haft zu belassen.
Im Gefängnis Ringerike stand für den Angeklagten bereits ein Platz zur Verfügung. Wisting fertigte eine Transportanweisung aus und widmete sich wieder der E-Mail von Michelle Norris. Er formulierte eine kurze und beruhigende Antwort auf Englisch und schrieb, nichts deute darauf hin, dass der Freundin etwas zugestoßen sei.
Dann schickte er die E-Mail ab und loggte sich aus dem System aus. Draußen hatte es angefangen zu schneien. Er nahm seine Jacke vom Haken und wickelte sich den Schal um den Hals.
Ehe er die Bürotür schloss, warf er einen Blick auf den schwarzen Bildschirm. Vielleicht hätte er hinzufügen sollen, dass gemäß derzeitigem Informationsstand der Polizei nichts passiert sei, was Grund zur Besorgnis gebe.
Das Räumfahrzeug schabte und kratzte sich durch die Schneemassen und schleuderte in hohem Bogen einen weißen Teppich an den Straßenrand.
Arnt Skaret mühte sich mit Lenkrad und Schaltung ab. Die Straße durch Askeskogen war schmal. Die alten Schneeränder waren mit neuem Schnee bedeckt, und an einzelnen Stellen waren sie auf die Straße gerutscht. Große Schneeflocken flatterten vor den Frontscheinwerfern durch die Dunkelheit. Das orange Licht der Warnlampe auf dem Dach ließ es aussehen, als ob sie funkelten. Der Schnee heftete sich an die Frontscheibe und wurde wieder weggeschoben. Eines der Wischblätter war alt und verschleierte die Sicht, doch Skaret kannte den Weg und brauchte keine Schneezeichen, um sich zu orientieren.
Aus dem Radio ertönte leise Musik von The Boss. We learned more from a three-minute record than we ever learned in school.
In einiger Entfernung tauchten die Lichter eines entgegenkommenden Fahrzeugs auf. Arnt Skaret nahm Gas weg und lenkte den Schneepflug ein wenig nach rechts. Äste schlugen seitlich an den großen Wagen. Die Scheinwerfer des anderen Autos blendeten, als sie aneinander vorbeifuhren.
Dann war er wieder allein auf der Straße.
Die rechte Hand suchte nach dem Thermobecher.
Er war leer.
Mit dem Auffüllen musste er wohl warten, bis er einen breiteren Straßenabschnitt erreicht hatte.
Ehe er zum Helgeroavei kam, begegnete ihm ein weiterer Wagen. Ein Kleintransporter, bei dem vorne ein Licht fehlte.
An der Kreuzung bei Foldvik drosselte Skaret die Geschwindigkeit und bog dann links ab. Die Schneeketten gruben sich in die weiße Fahrbahn.
Ein Fuchs querte vor ihm die Straße und drehte den Kopf zum Räumfahrzeug. Die Scheinwerfer wurden von den Augen des Tiers reflektiert, ehe es mit einem Sprung im Schnee neben der Straße verschwand.
Der graue Caddy stand immer noch an der Bushaltestelle bei den Manvik-Höfen. Der Lieferwagen war ihm schon aufgefallen, als er am ersten Abend mit dem Schneepflug unterwegs gewesen war. Inzwischen war das Fahrzeug fast völlig im Schnee versunken.
Arnt Skaret bog in die Haltestelle ein und hielt hinter dem Caddy. Es war schwer zu sagen, ob er von der Straße abgekommen oder an den Rand geschoben worden war, um den Verkehr nicht zu behindern. So oder so würde es nicht einfach sein, ihn wieder auf die Straße zu bugsieren.
Arnt Skaret hielt den Kaffeebecher zwischen den Oberschenkeln und drehte den Deckel ab. Dann streckte er sich nach der Thermoskanne und füllte den Becher auf.
Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett zeigte minus drei Grad. In den letzten vierundzwanzig Stunden war es milder geworden. Falls der Niederschlag anhielt, bestand die Gefahr, dass der Schnee in Regen überging.
Nach zwei Schluck Kaffee merkte Skaret, dass er pinkeln musste. Er kletterte aus dem Führerhaus und versteckte sich hinter dem Fahrzeug. Der warme Strahl bohrte sich in die weiße Pracht.
Er sah zum Wald hinüber. Die Bäume am Wegesrand bogen sich unter dem Gewicht des Schnees. Dahinter war kaum etwas zu erkennen.
Ein Bus fuhr vorbei. Arnt Skaret zog den Reißverschluss hoch und wusch sich die Hände im Schnee.
Der eingeschneite Lieferwagen an der Bushaltestelle hatte einen verlängerten Laderaum. Ein Caddy Max. Einer der Hofstein-Brüder hatte mal so einen gehabt, aber das war schon eine Weile her.
Seit fast vierzig Jahren arbeitete Skaret auf der Straße. Mitunter hatte er gestohlene Autos entdeckt. Vielleicht war das hier auch so ein Fall.
Er holte seine Taschenlampe aus dem Führerhaus und stapfte auf den Lieferwagen zu. Der Schnee fiel in großen Brocken herunter, als Skaret das Seitenfenster abwischte. Er leuchtete hinein und spähte durch die gefrorene Scheibe.
Der Wagen war leer. Skaret richtete den Lichtkegel auf die Lenkradsäule und das Zündschloss. Kein Schlüssel, aber es sah auch nicht danach aus, dass der Wagen kurzgeschlossen worden war.
Am Rückspiegel hing ein Kruzifix, und auf dem Beifahrersitz lag eine Plastiktüte. Er ließ den Lichtstrahl umherwandern und entdeckte im Fußraum eine Decke und ein paar leere Flaschen.
Der Laderaum war rundum geschlossen, es gab keine Seitenfenster. Arnt Skaret ging um den Wagen herum und überprüfte die Hecktür. Verschlossen. Er beugte sich hinunter und wischte den Schnee vom Nummernschild. Es war verschmutzt, doch er konnte sehen, dass es sich um ein ausländisches Kennzeichen handelte.
Kein Wunder, dass da was schiefgegangen war, dachte er.
Er lief noch einmal um den Wagen herum und überprüfte schließlich das linke Hinterrad. Wie er vermutet hatte. Ein abgefahrener Sommerreifen. Da half auch kein Allradantrieb. Er schüttelte den Kopf. Der Wagen würde hier bis ins Frühjahr stehen, wenn niemand ihn abschleppte.
Sechs Stücke einer Tiefkühlpizza, die er am Vorabend aufgewärmt hatte, lagen unter einer Frischhaltefolie ganz unten im Kühlschrank. Wisting nahm drei davon heraus und legte sie auf einen Teller.
Während die Mikrowelle lief, stellte er sich ans Fenster und sah hinaus. Auf der Straße spielten ein paar Kinder mit einem Lenkbob.
In Lines Haus war alles dunkel. Sie war seit drei Tagen verreist und wollte am nächsten Tag nach Hause kommen. Sobald es aufhörte zu schneien, würde er hinübergehen und Schnee fegen, damit sie in ihre Einfahrt hineinfahren konnte.
Er nahm das Essen aus der Mikrowelle und ging ins Wohnzimmer. Im Haus war es leiser als sonst. Der Schnee dämpfte die Geräusche, die von draußen hereinkamen. Wisting schaltete das Radio ein, um dem Gefühl des Alleinseins zu entkommen.
Als er aufgegessen hatte, nahm er sein iPad hervor, um die Online-Ausgaben der Zeitungen zu lesen. Während er damit beschäftigt war, traf eine neue E-Mail von Michelle Norris ein, die Antwort auf seine Mail vorhin. Diesmal lautete die Betreffzeile: Regarding Astria.
Sie bedankte sich für die schnelle Rückmeldung und schrieb, dass sie vor der Kontaktaufnahme mithilfe von Google Translate die Überschriften der regionalen Presse gelesen habe. Dabei sei ihr aber nichts aufgefallen, was den Schluss zugelassen habe, dass ihrer Freundin etwas zugestoßen sei.
Allerdings möchte ich Ihnen ein paar weitere Informationen geben, die erklären, warum ich mir solche Sorgen mache, schrieb sie. Ich habe Astria über ein Internetforum kennengelernt, das sich mit der Aufklärung des Mordes an Ruby Thompson am 16. April im spanischen Sant Joan de Palamós beschäftigt. Ruby war meine Freundin. Die Distriktpolizei in Girona hat den Fall zwar untersucht, aber die Ermittlungen sind ohne Ergebnis geblieben. Vor drei Monaten habe ich eine Crowdsolving-Seite eingerichtet, auf der ich alle zugänglichen Informationen über den Mord an Ruby zusammenstelle. Über die sozialen Medien wollte ich diejenigen erreichen, die möglicherweise etwas über den Mord wissen, und mir außerdem die Erfahrung einzelner Personen zunutze machen. Über einhundert Menschen haben sich in dieser Angelegenheit engagiert, ein Kern von etwa zehn Personen ist besonders intensiv damit befasst, und Astria ist eine davon. Sie hat das umfangreiche Bildmaterial gesichtet und analysiert. In ihrem letzten Post in der Gruppe hat sie geschrieben, dass sie etwas Interessantes entdeckt habe, aber Zeit brauche, um eine Schlussfolgerung daraus zu ziehen.
Viele Beiträge im Ermittlungsforum sind anonym. In ihrem Nutzerprofil hat Astria angegeben, sie sei Norwegerin, 32 Jahre alt, ausgebildete Analytikerin und habe mit der Simulation von Produktionsprozessen in der Industrie zu tun. Durch ihre Posts ist deutlich geworden, dass sie allein lebt. Sie hat mal erwähnt, dass ihre Familie ein Ferienhaus in Palamós besitzt, wo sie zum Zeitpunkt von Rubys Ermordung ihren Osterurlaub verbracht hat. Als sie später nach Informationen über den Fall gesucht hat, ist sie auf das Forum gestoßen. Den Namen Astria hat sie vermutlich aus der griechischen Mythologie. Die Mailadresse [email protected], mit der sie sich angemeldet hat, lässt sich nirgendwo anders im Internet finden.
Michelle Norris hatte auch das Profilfoto angehängt, das Astria bei der Anmeldung im Ermittlungsforum verwendet hatte. Ein Mitglied des Forums hatte den Bildhintergrund analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass das Foto in Stavern geschossen worden war.
Zusammen mit dem Profilbild hatte Michelle als Dokumentation ein Straßenbild von Google Earth angehängt. Es zeigte Teile desselben Bildausschnitts, allerdings aus einem leicht veränderten Blickwinkel. Wisting erkannte die Stelle gleich wieder. Das Foto war am Hafen aufgenommen worden, an einem regnerischen Sommertag. Die Frau in der Bildmitte trug Shorts, Regenjacke, Gummistiefel und einen Südwester. Der dunkelgrüne Hut war so tief ins Gesicht gezogen, dass die Kamera die Augen nicht erfasst hatte.
Wisting fragte sich, wie sie herausgefunden hatten, dass das Foto in Stavern aufgenommen worden war, und inspizierte den Hintergrund. Der Steinturm auf Citadelløya war zwar ein Orientierungspunkt, allerdings nur für diejenigen, die in der Stadt lebten oder zu Besuch gewesen waren. Auf dem Fjord hinter Astria waren ein paar Segelboote zu erkennen, und die alte Passagierfähre, die im Sommer hinaus auf die Inseln fuhr, durchquerte gerade den Sund.
Mit zwei Fingern vergrößerte Wisting den Ausschnitt und entzifferte den Namen der Fähre vorn auf dem Steuerhaus. M/S Viksfjord. Er gab den Namen bei Google ein und erhielt eine lange Liste von Treffern, die alle auf Stavern verwiesen.
Michelle Norris schrieb, dass Astria natürlich nicht zwangsläufig in Stavern wohnen musste, auch wenn das Foto dort aufgenommen war. Abschließend erkundigte sie sich, ob Wisting womöglich weitere Untersuchungen anstellen könne.
Er las die E-Mail noch einmal. Einige Begriffe waren neu für ihn. Citizen detectives und Crowdsolving. Er hatte bisher nur von Crowdfunding gehört, bei dem sich mehrere Menschen zusammenschlossen, um ein bestimmtes Projekt zu finanzieren. Michelle Norris hatte etwas Ähnliches getan, indem sie ein Internetforum eingerichtet hatte, über das Amateurdetektive ihr bei der Aufklärung des Mordes an ihrer Freundin halfen. Dass es ihnen gelungen war, die Aufnahme in Stavern zu verorten, zeugte von einer gewissen Kompetenz.
Wisting fühlte sich an Fernsehsendungen erinnert, in denen ungelöste Kriminalfälle behandelt und Videos von Überwachungskameras gezeigt wurden. Unabhängig von der Qualität der Filmaufnahmen gab es immer jemanden, der sagen konnte, welcher Wagen in dem Filmausschnitt gefahren wurde, aus welchem Produktionsjahr er stammte oder welche Firma die Kleidung produziert hatte, die eine Person auf dem Bildschirm trug. Mitunter konnte sogar ein Zuschauer eine maskierte Person anhand typischer Bewegungen identifizieren.
Wisting ließ sich die neuen Informationen durch den Kopf gehen, sah allerdings keinen Grund zur Besorgnis. Norwegen war ein kleines Land, und über jeden Mord wurde in den überregionalen Medien berichtet. Eine Frau in den Dreißigern, die seit über einer Woche vermisst wurde, war für gewöhnlich eine willkommene Schlagzeile. Aber nirgendwo war etwas Derartiges berichtet worden.
Es gab nur wenige Anhaltspunkte, um Astrias eigentliche Identität aufzudecken. Vermutlich hätte es ihm geholfen, wenn die IP-Adresse ihres Computers beim Einloggen ins Diskussionsforum registriert worden wäre. Michelle hatte erwähnt, dass Astrias Familie ein Ferienhaus in Palamós besaß. Damit ließe sich vielleicht etwas anfangen.
Wisting begann eine Antwort zu schreiben. Sein Blick fiel auf die Mailadresse von Michelle Norris. Er war davon ausgegangen, dass sie Spanierin war, aber das passte nicht zur Länderkennung. Wisting googelte die internationale Vorwahl der Telefonnummer, die sie angegeben hatte, und stellte fest, dass Michelle Norris in Australien ansässig war.
Er schaute auf die Uhr. Dort drüben musste es jetzt mitten in der Nacht sein.
Er startete eine neue Suche, bei der er den Namen Ruby Thompson mit dem Namen der Stadt kombinierte, in der sie ermordet worden war. Die ersten Treffer verwiesen auf spanische Online-Zeitungen, aber es gab auch viele englischsprachige Artikel in australischen Medien.
Ruby Thompson war eine junge, zart gebaute Frau mit blondem Haar, rundem Gesicht und schönen blauen Augen gewesen. Sie stammte aus einer Stadt im Süden Australiens und hatte sich auf einer Urlaubsreise durch Europa befunden, als sie an einem Strand in Spanien ermordet aufgefunden wurde. Ein britischer Rucksacktourist, den sie unterwegs kennengelernt hatte, war verhaftet, aber nach drei Wochen Untersuchungshaft wieder auf freien Fuß gesetzt worden.
Wisting las mehrere Artikel, fand jedoch keine weiterführenden Informationen. Palamós war eine kleine Küstenstadt am Mittelmeer, im nordöstlichen Spanien, etwa eine Stunde von der französischen Grenze entfernt.
Die Leiche der fünfundzwanzigjährigen Ruby Thompson war am frühen Morgen von ein paar Surfern gefunden worden. Sie war offenbar an Land gespült worden, und die erste Vermutung lautete, dass sie ertrunken war. Wie sich jedoch zeigte, war sie erwürgt worden. Der letzte Artikel war drei Wochen alt und berichtete, dass die spanische Polizei noch immer keinen Verdächtigen in dem Fall benennen konnte.
In den Suchergebnissen tauchte auch das Forum von Michelle Norris auf. Wisting hätte es sich gern näher angesehen, bekam auf seinem Bildschirm aber nur eine Zusammenfassung des Mordfalls zu sehen. Um sich mit anderen darüber auszutauschen, hätte er ein Nutzerprofil anlegen müssen.
Er loggte sich ins Polizeisystem ein, durchsuchte alle Meldungen über vermisste Personen und registrierte Selbstmorde der letzten Woche, fand aber nichts, was mit Astrias Alter und Geschlecht übereinstimmte. Er überprüfte alle Verkehrsunfälle, alle Brandfälle mit Todesopfern und alle Fälle, die mit dem Strafsachencode 9701 versehen waren, der für verdächtige Todesfälle stand. Fälle also, in denen der Tod einer Person plötzlich und unerwartet erfolgt war und polizeiliche Untersuchungen erforderlich machte, um auszuschließen, dass eine strafbare Handlung vorlag. Einige dieser Fälle hatten in den Medien Erwähnung gefunden. Wisting brauchte fast eine Stunde, um alle Fälle zu durchforsten, aber das Ergebnis war klar. Astria, oder wie immer sie hieß, befand sich nicht unter den erwähnten Opfern.
Er formulierte eine sachliche Antwort, in der er nach der möglicherweise registrierten IP-Adresse fragte und sich erkundigte, welche konkreten Auskünfte Astria über ihre Familie und über die Ferienwohnung in Spanien gegeben hatte.
Dann zog er etwas anderes an und stapfte hinaus, um den Schnee vor Lines Haus wegzuschaufeln.
Der erste Schnee war vor etwa einer Woche mit einem kalten Wind aus Nordost über die Küste gefegt. Im Laufe einer Nacht war über ein halber Meter gefallen. Die grauen Wolken waren geblieben, und es hatte weitere Schneefälle gegeben.
In Lines Einfahrt stieß Wisting die Schaufel in die dicke Schneemasse, die das Räumfahrzeug zurückgelassen hatte. Zuerst legte er einen Pfad zur Haustür an, ehe er den Schnee rechts und links an die Seite schaufelte.
Eine Familie mit Kindern war in das Nachbarhaus gezogen. Wisting hatte sie noch nicht kennengelernt. Die Kinder spielten viel im Freien, waren anscheinend aber etwas zu alt für seine Enkelin Amalie. Der Junge war etwa zehn oder zwölf, das Mädchen ein wenig jünger. Amalie hingegen war erst fünf.
Wisting richtete sich auf und sah zu ihnen hinüber. Sie bauten gerade einen Schneemann, balgten sich aber ständig, bewarfen sich mit Schneebällen oder schubsten sich gegenseitig in den Schnee. Das Mädchen fing plötzlich an zu weinen. Sie stapfte davon und verschwand im Inneren des Hauses.
Wisting arbeitete weiter und grub sich mit seiner Schaufel in gleichmäßigem Rhythmus durch den Schnee. Er schwitzte und musste plötzlich daran denken, dass in Australien gerade Sommer herrschte.
Zwischen den Zeilen von Michelle Norris hatte er die Befürchtung herausgelesen, dass Astria etwas zugestoßen sein könnte, weil sie etwas entdeckt hatte oder einer Sache auf die Spur gekommen war.
Wisting fand diese Furcht übertrieben. Er konnte nicht erkennen, wie die Untersuchungen einer anonymen Frau an einem unbekannten Ort in Norwegen irgendjemanden in Gefahr bringen sollten.
Ungeachtet dessen interessierten ihn zwei Fragen: Wer war diese Astria, und wieso war plötzlich nichts mehr von ihr zu hören gewesen? Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf, aber er kam nicht weiter.
Als er fertig war, ging er zurück zu seinem eigenen Haus. Nachdem er geduscht hatte, wärmte er die drei verbliebenen Pizzastücke auf. Sein Kreuz tat weh, als er sich vor den Fernseher setzte. Nach dem Schneeschippen waren seine Muskeln völlig verspannt.
Er griff nach seinem iPad, schaltete es ein und sah, dass eine weitere Mail von Michelle Norris eingetroffen war. Sie bedankte sich für Wistings Bemühungen und schrieb, dass sich Astria, wie viele andere Nutzer des Forums, über einen VPN-Server eingeloggt hatte. Das bedeutete, dass der Datenverkehr verschlüsselt wurde und sich ihre ursprüngliche IP-Adresse nicht aufspüren ließ.
Astria hat nur wenig über ihre Familie und das Ferienhaus in Palamós erzählt, fuhr sie fort. Ich hänge den Text an, mit dem sie sich den anderen Nutzern im Forum vorgestellt hat.
In dem Profiltext hatte Astria geschrieben, dass niemand in ihrer Familie Schnee, Winter oder Skifahren mochte. Anstatt einer Hütte im Gebirge besaßen sie daher ein Ferienhaus in Palamós. Schon seit ihrer Kindheit war sie mehrmals im Jahr dort gewesen und kannte den Ort sehr gut. Am Montag, dem 17. April, war sie frühmorgens joggen gewesen, als die Polizei plötzlich den Strand abgesperrt hatte. Die Leiche von Ruby Thompson hatte am Uferrand gelegen. Astria war vor Ort geblieben, bis die Polizei ihre Untersuchungen beendet hatte und die Tote abtransportiert worden war. Zunächst hatte Astria geglaubt, es handele sich um ein Unglück, doch als sie gehört hatte, dass die Polizei von einem Tötungsdelikt ausging, hatte ihr das einen gehörigen Schrecken eingejagt. Sie wollte an der Aufklärung mitwirken und erklärte, sie hätte bei ihrem nächsten Aufenthalt in Palamós die Möglichkeit, eigene Untersuchungen anzustellen.
Wisting blickte vom Bildschirm auf und schaute durch das Fenster auf den Schnee draußen. Vielleicht war Astria ja tatsächlich in diesen spanischen Ort gereist. Das könnte jedenfalls erklären, weshalb er keine Informationen über sie in den norwegischen Polizeiregistern fand.
Er erinnerte sich, dass in einigen der Zeitungsartikel, die er gelesen hatte, ein Foto des Strands in Palamós zu sehen gewesen war. Es war noch während der Anwesenheit der Polizei geschossen worden. Wisting suchte das Bild heraus. Es war aus einiger Entfernung aufgenommen worden. Zwei Streifenwagen standen im Sand. Die Leiche war vom Uferstreifen heraufgezogen worden und lag zugedeckt zwischen den Autos. Ein Polizist unterhielt sich gerade mit ein paar jugendlichen Surfern. Etwas abseits standen einige Schaulustige und verfolgten das Geschehen. Wisting vergrößerte das Foto, um zu prüfen, ob sich Astria unter ihnen befunden haben könnte, aber der Ausschnitt war zu unscharf. Es war unmöglich zu erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte oder ob jemand Laufkleidung trug.
Das letzte Stück Pizza war kalt geworden, eine harte Kruste hatte sich gebildet. Wisting kaute es in sich hinein, während er noch einmal die Mail mit dem Foto von Astria öffnete. Etwas an ihr ließ erkennen, dass sie keine reguläre Ortsbewohnerin war, sondern nur ihren Sommerurlaub in Stavern verbrachte. Sie hatte sich in voller Regenmontur mitten in eine Pfütze gestellt. Das Foto sah aus, als sollte es eine witzige Erinnerung an verregnete Sommerferien bewahren. Außerdem hatte sie angegeben, als Prozessanalytikerin in der Industrie zu arbeiten. In Larvik und Stavern gab es nur wenige Industriearbeitsplätze. Andererseits hörte es sich eher nach einer Beratertätigkeit an, die von überall ausgeführt werden konnte. Es war allerdings bemerkenswert, dass eine Urlauberin einen Südwester eingepackt hatte. Regenjacke und Gummistiefel waren für einen Norwegenurlaub nichts Ungewöhnliches. Ein Südwester hingegen war ein selten verwendetes Kleidungsstück, das typischerweise am Haken in einer Ferienhütte hing.
Astria war etwas jünger als Line. Wisting fragte sich, wie viele zweiunddreißigjährige Frauen wohl in der Gemeinde lebten. Die Gesamteinwohnerzahl betrug annähernd fünfzigtausend, was einen Durchschnitt von dreihundert Personen pro Jahrgang ergab, Männer und Frauen. Hätte es sich um eine offizielle Ermittlung gehandelt, wäre es kein Problem gewesen, die genaue Anzahl und eine entsprechende Namensliste aus dem Register des Einwohnermeldeamtes zu beziehen. Vermutlich gab es aber auch irgendeine gleichaltrige Person, die die Frau auf dem Foto wiedererkennen würde, obwohl sie sich den Südwester so tief ins Gesicht gezogen hatte. Jemanden, der mit ihr zusammenarbeitete oder ihr anderweitig regelmäßig begegnete. Hätte er das Foto bei Facebook eingestellt, würde er vermutlich im Laufe des Abends eine Antwort bekommen. Bei diesem Gedanken kam er sich selbst wie ein Amateurdetektiv vor.
Eine neue E-Mail erschien auf dem Bildschirm. Michelle Norris schickte ihm eine Einladung, dem Ermittlungsforum beizutreten. Dazu schrieb sie: Ein norwegischer Name ist in dem Fall aufgetaucht.
Wisting legte das iPad auf den Tisch und griff nach der Fernbedienung. Er hatte sich schon viel zu viel mit der Sache beschäftigt.
Am Samstagmorgen erwachte Wisting ungewöhnlich spät, gleichwohl war es noch dunkel, als er aus dem Bett stieg.
Das Radio plärrte im Hintergrund, während er die Online-Ausgaben der Zeitungen las. Zuerst die Lokalpresse.
In einem der Artikel war Ellinor Brink abgebildet. Wisting kannte sie aus der Schulzeit und wusste, dass sie in der Immobilienbranche arbeitete. Der Zeitungsartikel berichtete von einem neuen Projekt, das sich an junge Menschen richtete, die Probleme hatten, auf dem angespannten Wohnungsmarkt etwas zu finden.
Auf dem Foto wirkte Ellinor Brink erschöpft, doch die Beschreibung im Text ließ sie aktiv und engagiert erscheinen.
Wisting wusste, dass sie zweimal verheiratet gewesen war. Die Stadt war so klein, dass sich solche Dinge herumsprachen. Ihr erster Mann war ein Autohändler namens Moberg gewesen. Die Ehe hatte nicht lange gehalten. Danach hatte sie einen Banker geheiratet und den Namen Isaksen angenommen. Sie hatten zwei Söhne bekommen, sich aber schon wieder scheiden lassen, noch ehe die Kinder erwachsen geworden waren. Ellinor hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen. Der ältere Sohn arbeitete inzwischen für eine Finanzgesellschaft in Oslo. Der jüngere hieß Trond und war ihr Sorgenkind. Am Tag zuvor waren zwei Wochen Untersuchungshaft für ihn angeordnet worden.
Ellinor hatte Wisting in seinem Büro aufgesucht und gefragt, ob er sie im Hinblick auf die Entwicklung des Falls auf dem Laufenden halten könne. Streng genommen ließ die Schweigepflicht keine derartigen Ausnahmen zu, schließlich war der Sohn mit über dreißig längst erwachsen.
Wisting suchte ihre Visitenkarte heraus und wählte die Nummer. Sie ging sofort ans Telefon.
»Hat sein Anwalt dich angerufen?«, fragte er. »Ich hatte ihn darum gebeten.«
»Ich habe nicht das Geringste gehört«, erwiderte sie. »In den Zeitungen steht auch nichts.«
Wisting berichtete, dass ihr Sohn zwei Wochen in Untersuchungshaft verbringen müsse.
Ihre Stimme klang angespannt. Sie wollte nicht, dass ihr Sohn vorzeitig entlassen wurde, sondern dass er über Weihnachten einsaß, damit sie wusste, wo er sich über die Feiertage aufhielt.
»Was passiert nach den vierzehn Tagen?«, wollte sie wissen.
Wisting erläuterte, wie er gemeinsam mit dem Polizeijuristen Einspruch erheben würde. Sie würden um verlängerte Untersuchungshaft bis zum Beginn des Prozesses bitten und versuchen, mit der Vollzugsbehörde zu klären, ob ihr Sohn während der Haft einen Entzug machen könne.
Ellinor Brink bedankte sich. Wistings Bemühungen um den Sohn waren allerdings nichts Außergewöhnliches. Schließlich wäre allen damit gedient, wenn es für ihn einen Weg aus Drogenabhängigkeit und Kriminalität gäbe.
Nach dem Telefonat fiel Wisting ein, dass Ellinor einen Hund namens Milos gehabt hatte, benannt nach einer Insel in der Ägäis. Wisting war nie dort gewesen, glaubte aber gehört zu haben, dass Milos Apfel bedeutete.
Er fragte sich, wieso Astria im Forum ausgerechnet diesen Namen als Pseudonym gewählt hatte. Er gab den Namen bei Google ein und sah, dass er aus der griechischen Mythologie stammte, genau wie Michelle Norris es vermutet hatte. Astria war die Göttin der Gerechtigkeit.
Viel mehr konnte er über die Namenswahl gar nicht nachdenken, denn plötzlich wurde die Haustür geöffnet, und Line kam herein. »Hallo!«, rief sie.
Wisting stand auf, öffnete den Schrank über dem Abwaschbecken und nahm eine Kaffeetasse heraus.
»Hast du bei mir Schnee geräumt?«, fragte Line.
Ihre Wangen strahlten in einem frischen Rot.
Wisting lächelte zur Bestätigung.
»Wo ist Amalie?«, fragte er.
»Ich hole sie später ab«, erwiderte Line und setzte sich. »Ich muss erst mal ein paar Sachen erledigen.«
Die Kleine war bei Lines Freundin Sofie, die eine gleichaltrige Tochter hatte. Line und Sofie halfen sich gegenseitig mit der Kinderbetreuung, denn sie waren beide alleinerziehend und arbeiteten viel. Line hatte nach der Geburt von Amalie ihre Journalistenkarriere beendet und war jetzt freiberuflich tätig. Noch immer schrieb sie manchmal Artikel, war aber auch von einer Produktionsgesellschaft engagiert worden, um bei der Dokumentarfilmserie über einen alten Vermisstenfall mitzuwirken. Das hatte dazu geführt, dass sie jetzt mehr denn je arbeitete.
»Und, ist alles gut gegangen?«, fragte Wisting.
Er wusste eigentlich nicht, was genau sie in den letzten Tagen getan hatte, nur, dass es um Aufnahmen und Interviews in Südnorwegen gegangen war.
»Aber ja«, versicherte Line. »Wir kommen langsam zum Ende.«
Er schenkte ihr Kaffee ein.
Die Visitenkarte von Ellinor Brink lag auf dem Tisch. Line nahm sie und rieb mit dem Daumen über das Logo der Maklerfirma.
»Willst du umziehen?«, fragte sie.
Wisting schüttelte den Kopf.
»Ihr Sohn ist in Untersuchungshaft«, erwiderte er. »Ich habe versprochen, ihr bei ein paar praktischen Dingen zu helfen.«
Line legte die Karte wieder hin und sah sich um.
»Du solltest ein bisschen Weihnachtsschmuck aufhängen«, sagte sie. »Es ist bald Mitte Dezember. Du hast doch sonst immer die Lichterkette im Vorgarten.«
»Die hat letztes Jahr den Geist aufgegeben«, erklärte Wisting.
»Dann kauf doch eine neue«, schlug Line vor.
Sie stand auf und steuerte auf das Zimmer zu, wo der Weihnachtsschmuck aufbewahrt wurde. Kurz darauf kam sie mit einem großen Pappkarton zurück. Die Spitze eines Adventsleuchters lugte über den Rand hinaus.
»Soll ich dir helfen, den aufzustellen?«, fragte sie.
Wisting schüttelte den Kopf. »Stell ihn einfach dahin«, sagte er und zeigte auf die Arbeitsplatte.
Line stellte den Karton ab und nahm den Leuchter heraus. Sie wischte den Staub ab und stellte ihn ins Küchenfenster.
»Möchtest du heute Abend bei uns essen?«, fragte sie und setzte sich wieder. »Ich mache einen Eintopf oder etwas in der Richtung. Ich gehe später noch mit Amalie einkaufen.«
»Gern«, gab Wisting zurück.
»Sie wünscht sich zu Weihnachten übrigens ein iPad«, fuhr Line fort.
»Und bekommt sie eines?«
»Nicht von mir«, sagte Line.
Wisting griff nach seinem eigenen Gerät und rief das Foto von Astria auf.
»Kennst du diese Frau?«
Line griff nach dem iPad, betrachtete das Foto und vergrößerte es.
»Sollte ich?«, fragte sie.
»Das Foto ist in Stavern aufgenommen«, entgegnete Wisting.
»Das sehe ich«, sagte Line, schüttelte aber den Kopf. »Diese Frau kann doch sonst wer sein. Worum geht’s denn?«
Wisting nahm einen Schluck Kaffee. Eine Erläuterung wäre zu kompliziert.
»Wahrscheinlich um gar nichts.«
Line hielt ihm das iPad hin.
»Natürlich geht es um irgendwas«, sagte sie.
»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Wisting. »Ich habe so eine Art Vermisstenmeldung hereinbekommen.«
»Was meinst du mit ›so eine Art Vermisstenmeldung‹?«
Wisting überlegte, wie er es ihr am besten erklären könnte.
»Es geht um eine Frau, die im Internet vermisst wird«, sagte er und schilderte kurz den Kontext.
Line fasste sich an den Kopf, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte.
»Und was fängst du damit jetzt an?«, fragte sie.
»Ich kann nicht viel tun«, sagte Wisting.
Line lehnte sich zurück. »Viele Menschen verbringen den Großteil ihres Lebens im Internet. Sie arbeiten dort und treffen auf andere Menschen. Ihr würdet doch auch tätig werden, wenn sich ein Arbeitgeber wegen einer Angestellten Sorgen macht, die seit einer Woche nicht zur Arbeit erschienen ist?«
»Das wäre was anderes«, meinte Wisting.
Line nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«
»Das Problem ist, dass niemand weiß, wer sie ist«, erklärte Wisting. »Außerdem habe ich schon Untersuchungen angestellt, bisher aber nichts gefunden.«
»Du glaubst also, dass ihr was passiert sein könnte?«, fragte Line.
Wisting änderte seine Sitzposition.
»Ich wüsste gern, wer sie ist«, sagte er.
»Hast du dir den Mordfall in Spanien angeschaut?«, wollte Line wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Um mehr darüber zu erfahren, brauche ich einen Zugang zu diesem Forum. Mit Nutzername und Passwort.«
»Kannst du den nicht bekommen?«
»Doch, sicher«, erwiderte er. »Aber das ist doch alles nicht nötig.«
»Ist das denn nicht das übliche Verfahren in Vermisstenfällen?«, fragte Line. »Dass man den letzten bekannten Aufenthaltsort aufsucht und mit den Leuten redet, die zuletzt Kontakt mit dem Opfer hatten?«
Wisting lächelte. »Das ist doch kein richtiger Fall.«
Line stand auf. »Noch nicht«, sagte sie.
Wisting kaufte schließlich eine neue Lichterkette und ein iPad für Amalie. Das Gerät war zwar teuer, aber sie war nun einmal sein einziges Enkelkind. Während er an der Kasse wartete, versuchte er, sich daran zu erinnern, was Line und ihr Bruder als Kinder zu Weihnachten bekommen hatten. Er erinnerte sich an die Weihnachtsfeste, aber nicht an die Geschenke, die unter dem Baum gelegen hatten. Ingrid hatte sich um alles gekümmert, hatte den Baum geschmückt, das Essen zubereitet und rechtzeitig Weihnachtsgeschenke besorgt.
Während er den kleinen Baum vor dem Haus schmückte, summte Wisting die Melodie des Weihnachtslieds, das er im Wagen gehört hatte. Die Kinder der neuen Nachbarn spielten draußen. Sie hatten eine Leiter an die Hauswand gestellt und sprangen von dort in den Schnee hinunter.
Plötzlich tauchte Amalie auf.
»Bist du gekommen, um mir zu helfen?«, fragte er.
»Ich helf dir gern«, erwiderte Amalie.
Er überließ seiner Enkelin die Lichterkette, half ihr aber, an die oberen Zweige heranzukommen.
»Hast du die neuen Nachbarn schon begrüßt?«, fragte er, als nebenan ein Freudenschrei zu hören war.
Amalie schüttelte den Kopf.
»Aber du musst sie doch kennenlernen«, meinte Wisting.
»Das mach ich noch«, versprach Amalie und fing an, von etwas anderem zu reden.
Seine Enkelin erzählte, was sie alles unternommen hatte, seit es geschneit hatte. Sie hatte im Kindergarten mit den anderen einen Schneemann gebaut, war Schlittschuh gelaufen und auf der Rodelbahn gewesen.
Als die Lichter brannten, gingen sie zusammen zu Line hinüber und aßen zu Abend. Danach setzte sich Amalie mit einer Schüssel Kartoffelchips vor den Fernseher, während Wisting Line beim Abräumen half.
»Hast du dir inzwischen den spanischen Mordfall angesehen?«, fragte Line.
Wisting schüttelte den Kopf. Astria und der Mordfall waren ihm den ganzen Tag im Kopf herumgegangen, allerdings hatte er sich noch immer nicht in das besagte Internetforum eingeloggt. Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Das Forum kam ihm vor wie ein Ort, an dem Privatpersonen nach eigenem Gutdünken das Spielfeld betraten, um das zu erledigen, wozu die Polizei anscheinend nicht in der Lage war.
Line stellte ihr Laptop auf den Tisch und klappte es auf. Schnell arbeitete sie sich zu der Seite über den Mord an Ruby Thompson vor und klickte einen Link an, um sich im Internetforum anzumelden.
Als Benutzernamen trug sie Darby ein.
»Das ist aus einem Film«, sagte sie, ehe ihr Vater Fragen stellen konnte.
Wisting hatte den Eindruck, dass sie diesen Namen auch anderswo im Internet verwendete.
Line erstellte ein Passwort und klickte sich weiter. Bevor sie dem Forum beitreten konnte, musste sie ihr Geburtsjahr und ihre Nationalität angeben. Außerdem sollte sie erläutern, warum sie an dem Fall interessiert war und mit welchen Qualifikationen sie zu seiner Lösung beitragen könnte. Line schrieb, sie habe ein allgemeines Interesse an ungelösten Kriminalfällen.
Schließlich wurde sie gebeten, ein Foto hochzuladen. Line entschied sich für das Foto des Schneemanns, den Amalie zusammen mit einer Freundin gebaut hatte.
Auf der Hauptseite des Forums befand sich in der rechten oberen Ecke ein Zählwerk, das anzeigte, wie viele Tage seit dem Mord an Ruby Thompson vergangen waren: 238.
Michelle Norris präsentierte sich als Host des Forums, hatte allerdings die Anfangsbuchstaben ihres Vor- und Nachnamens vertauscht und nannte sich Nichelle Morris. Ihr Profilbild zeigte eine junge rothaarige Frau mit grünen Augen. Sie erzählte von ihrer Freundschaft mit Ruby Thompson und wie diese Geld gespart hatte, um ihre Traumreise nach Europa antreten zu können. Das Ziel der Reise sei Skandinavien gewesen. Einen Monat nach ihrer Abreise habe der Traum ein brutales Ende gefunden.
Die eigentliche Website schien zweigeteilt zu sein. Der eine Teil bestand aus einem reinen Diskussionsforum, wo verschiedenste Theorien kommentiert und diverse Spuren erörtert wurden. Der andere Teil beschäftigte sich mit den laufenden Ermittlungen und war in Unterprojekte eingeteilt. Die Projektnamen an sich sagten nicht viel aus. Es waren Namen von Einzelpersonen, Restaurants oder weiteren Orten, während andere Projekte sich mit Videoüberwachung und Zeugenbeobachtungen befassten. Jedes der Projekte hatte einen Moderator. Astria hatte ein Projekt eingerichtet, das zur Zusammenführung aller Fotos diente, die in den letzten vierundzwanzig Stunden vor dem Auffinden von Rubys Leiche in Palamós geschossen worden waren. Dahinter steckte die Idee, dass Ruby und ihr Mörder vielleicht gemeinsam auf einem der Fotos abgebildet waren. Mithilfe der Fotos ließ sich auch rekonstruieren, wo Ruby sich zu welchem Zeitpunkt aufgehalten hatte.
Anscheinend waren zu Beginn des Projekts Bilder eingestellt worden, die bereits in den sozialen Medien kursierten, insbesondere auf Instagram. Die Fotos waren in der Regel mit Geotags versehen, und Astria hatte zu den Personen Kontakt aufgenommen, die diese Fotos geteilt hatten. Sie hatte von dem Mordfall berichtet, um Originalbilder und noch nicht veröffentlichte Aufnahmen gebeten und sich erkundigt, ob die Betreffenden noch andere Personen kannten, die ebenfalls Fotos geschossen hatten. Durch ihr großes Engagement war das Material geradezu exponentiell angewachsen. Die Projektmappe war seit zehn Tagen nicht aktualisiert worden, enthielt aber annähernd zweitausend Fotos.
Die Bilder waren chronologisch sortiert, mit Straßen- oder Ortsnamen versehen und in eine Datenbank eingepflegt worden. Mithilfe der Datenbank konnte man Fotos auswählen und sie auf einer Zeitleiste anordnen oder auf einer Landkarte verorten. Wisting war beeindruckt.
Line navigierte durch die verschiedenen Ebenen der Website. Sie erstellte eine Liste der Fotos, auf denen Ruby Thompson zu sehen war. Insgesamt handelte es sich um sechzehn Aufnahmen aus den letzten vierundzwanzig Stunden ihres Lebens. Mit einem Tastendruck wurden sie auf einen Stadtplan übertragen. Die meisten Bilder waren zwischen ein und zwei Uhr nachmittags am Strand geschossen worden, wo offenbar irgendein Event stattgefunden hatte, bei dem mehrere Hundert Menschen gleichzeitig ins Wasser rannten. Ruby Thompson befand sich unter den Zuschauern, Wisting erkannte sie vom Foto im Zeitungsartikel, und als Line den Mauszeiger über das Bild führte, tauchte Rubys Name in einem Kästchen auf. Sie trug eine locker sitzende Baumwollhose und ein khakifarbenes Hemd mit einem T-Shirt darunter. Auf dem Kopf hatte sie eine ockergelbe Strickmütze. Neben ihr stand ein etwa gleichaltriger Mann mit zerzaustem, schulterlangem Haar und einem Kaffeebecher in der Hand. Jarod Denham stand in dem Namenskästchen quer über seiner Brust.
»Wer ist das?«, fragte Line.
»Keine Ahnung«, erwiderte Wisting. »Sie hat einen Engländer kennengelernt, der mit ihr zusammen herumgereist ist. Er wurde des Mordes beschuldigt und landete in Untersuchungshaft, kam aber bald wieder frei. Das könnte er sein.«
Ruby Thompson tauchte insgesamt auf sieben Fotos von der Veranstaltung am Strand auf, aus vier verschiedenen Perspektiven. Offenbar hatte es vier Fotografen gegeben. Drei Fotos waren aus der Entfernung aufgenommen worden, und Ruby war nur anhand der gelben Mütze wiederzuerkennen. Auf einem der Bilder war eine weitere Person identifiziert. Mathis Leroux. Ein athletischer junger Mann Anfang zwanzig mit relativ dunkler Haut.
»Sortier die Fotos bitte chronologisch«, sagte Wisting.
Sechzehn Miniaturfotos wurden entlang einer Zeitleiste angeordnet. Das letzte trug die Kennzeichnung Hotel Nauta – 19:46 Uhr. Line klickte es an. Es stammte von einer Überwachungskamera, die von schräg oben die Straße filmte. Ruby Thompson trug dieselben Sachen und dieselbe gelbe Strickmütze wie früher am Tag. Sie ging allein den Gehsteig entlang, zwei weiße Kabel führten zu ihren Ohren. Sie hatte den Kopf gehoben und leicht zur Seite gedreht, als ob sie an einem der Hochhäuser in der Straße emporblickte.
Wisting zeigte auf das vorletzte Bild auf der Zeitleiste. Catalunya pizza – 19:42 Uhr.
Es kam von einer Überwachungskamera, die oberhalb eines Bartresens angebracht war. Mit einem Rucksack über der einen Schulter und der gelben Mütze auf dem Kopf verließ Ruby Thompson das Restaurant durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite.
»Sieht aus, als wäre sie allein«, sagte Line.
Sie wandte sich wieder der Zeitleiste zu und klickte ein Bild an, das etwa eine Stunde zuvor aufgenommen worden war und den gleichen Bildausschnitt zeigte. Ruby Thompson kam gerade durch dieselbe Tür herein. Das Bild von der Überwachungskamera zeigte sie inmitten einer Bewegung. Ihr Gesicht strahlte, als hätte sie weiter hinten im Lokal einen Bekannten gesehen.
»Wann wurde sie ermordet?«, fragte Line.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Wisting. »Sie wurde am nächsten Morgen gegen halb neun am Strand gefunden.«
Line konzentrierte sich auf frühere Fotos auf der Zeitleiste. Es gab ein Bild, das von einer Dashcam in einem Auto stammte. Darauf lief Ruby Thompson allein den Gehweg entlang. Davor gab es das Bild einer fremden Frau mit Kinderwagen in einem Jachthafen, die den Fotografen anlächelte. Hinter ihr ging Ruby Thompson in Begleitung von zwei jungen Männern, Jarod Denham und Mathis Leroux. Dann war da noch das Foto eines Kaffeewagens, auf dem Ruby im Hintergrund zu sehen war. Schließlich landeten Wisting und Line wieder bei den Fotos von der Veranstaltung am Strand.
»Bestimmt ist Astria auch auf einigen der Fotos abgebildet«, sagte Line. »Sie war doch über Ostern da unten. Es gibt sechzehn Bilder von Ruby Thompson. Falls Astria an diesem Tag vor die Tür gegangen ist, dürfte sie auf einigen der Fotos zu sehen sein.«
Wisting nickte und ließ den Blick von einem Gesicht zum anderen wandern. »Der Mörder aber auch«, bemerkte er.
Username: Nichelle
Michelle Norris zog den Stuhl dicht an den Schreibtisch heran. Der Fünfzehn-Zoll-Bildschirm vor ihr war ein offenes Fenster in die Welt da draußen. Immer gab es jemanden, der besondere Kenntnisse oder Zugang zu Informationen hatte, nach denen sie suchte.
Die aktivste Zeit im Forum war zwischen zwei und fünf Uhr nachts, wenn in Europa Nachmittag war. Das passte gut zu ihrer Arbeit. Die Bar schloss um eins, und nur selten war sie vor zwei Uhr zu Hause.
Sieben andere User waren gerade online: Regulus, Effie P., MrsPeabody, Opala, Kenzie, Shelook und ApofeniX.
Nur ApofeniX hatte Informationen beigesteuert, aber sie war unsicher, wie sie mit seinen Beiträgen umgehen sollte. Bis jetzt hatte sie noch keinen davon kommentiert. Das taten schon genügend andere User. Seine Theorien drehten das ganze Projekt in eine andere Richtung und lenkten die Konzentration auf etwas viel Größeres, nämlich einen Täter, der schon zuvor gemordet hatte und es auch wieder tun würde. Michelle gefiel die Idee nicht. Dadurch geriet Ruby aus dem Fokus und ließ sie zu einer beliebigen Nummer in einer langen Reihe werden.
Von dem norwegischen Polizeibeamten hatte sie nichts mehr gehört. Er hatte sich auch nicht im Forum angemeldet. Seit sie es zuletzt besucht hatte, war nur ein neues Mitglied hinzugekommen: Darby. Sie war Norwegerin, erzählte aber nicht viel über sich selbst.
Michelle runzelte die Stirn und fragte sich, ob es da vielleicht einen Zusammenhang gab. Die einzige andere Norwegerin im Forum war Astria. Vierundzwanzig Stunden nachdem Michelle Kontakt zur dortigen Polizei aufgenommen hatte, war eine neue norwegische Teilnehmerin im Forum aufgetaucht.
Das musste Zufall sein, dachte sie schließlich.
Der Polizist William Wisting, der ihre Anfrage beantwortet hatte, war anscheinend erfahren. Sie hatte seinen Namen gegoogelt und viele Treffer entdeckt, in denen es um Mordfälle und andere schwerwiegende Kriminalität ging. Auf einigen der Fotos war er hinter einer Reihe von Mikrofonen zu sehen. Sein Blick war entschieden und warmherzig zugleich, ein paar Fältchen in den Augenwinkeln ließen sein grob geschnittenes Gesicht weicher wirken. Mit den Jahren waren die Falten tiefer geworden, als seien sie von jeder schwierigen Entscheidung geprägt, die er im Leben hatte treffen müssen.
Es hatte sie erstaunt, dass sie auf ihre unpräzise E-Mail überhaupt eine Antwort bekommen hatte, und noch mehr überraschte es sie, dass Wisting Fragen gestellt und ihr ausführlich geantwortet hatte.
Jemand lief über ihr durchs Zimmer. Michelle stand auf und trat an die Balkontür. Sie musste eine Zigarette rauchen, bevor sie sich ins Bett legte.
Die Hitze hatte ein wenig nachgelassen. Die Nachtluft war angenehm kühl.
Sie steckte sich ihre Zigarette an und dachte an Ruby, während sie den Rauch tief einsog. Zwei Tage vor Silvester wäre sie sechsundzwanzig geworden.
Die Geräusche der Stadt um sie herum veränderten sich ständig. Irgendwo spielte jemand Musik. Schnelle Rhythmen, aber dennoch zu weit weg, als dass sie hätte hören können, was gespielt wurde. Weiter entfernt blitzte der blau-rote Widerschein von den Warnlichtern eines Einsatzfahrzeugs auf.
Sie lehnte sich über das Geländer. Zwanzig Meter unter ihr stand ein Mann mit einem Hund an der Leine. Das Tier erledigte gerade sein Geschäft auf einem kleinen Grasflecken. Der Mann sah sich um und ging weiter, ohne die Hinterlassenschaft aufzulesen.
Michelle blickte durch die Balkontür auf ihren Computerbildschirm. Der spanische Ermittler musste Kenntnis von den Dingen haben, die ApofeniX im Forum erwähnt hatte. Michelle war nicht gerade beeindruckt von der bisherigen Arbeit der Polizei, aber sie verfügte vermutlich über Systeme, mit denen die Übereinstimmungen zwischen den Fällen genauso erfasst werden konnten, wie ApofeniX sie registriert hatte.
Sie nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, drückte sie dann aus und warf sie über die Balkonbrüstung.
Als Michelle sich wieder vor den Computer setzte, hatte ApofeniX sich bereits abgemeldet, ohne etwas Neues gepostet zu haben. Er war Mathematiklehrer an der Universität Barcelona, hatte aber nicht angegeben, weswegen er sich für die Sache engagierte.
Sein erster Beitrag hatte von einer weiteren in Palamós ermordeten Frau gehandelt. Der Fall war zwölf Jahre alt, und es gab durchaus Ähnlichkeiten. Die Opfer waren im gleichen Alter, und beide waren Rucksacktouristinnen gewesen. Sie waren erwürgt und dann entkleidet am Strand aufgefunden worden. Allerdings hieß das nicht zwangsläufig, dass es sich um denselben Täter handelte.
Die Polizei hatte Jarod Denham festgenommen, ihn aber wieder gehen lassen müssen, als die Ergebnisse der DNA-Analyse vorlagen. In dem zwölf Jahre alten Fall hingegen gab es keine biologischen Spuren. Die Leiche hatte zu lange im Meer gelegen.
Auch Jarod hatte ein Nutzerprofil, sein Benutzername Jade bestand aus den beiden ersten Buchstaben seines Vor- und Nachnamens. Sie selbst hatte ihn ins Forum eingeladen, wo er zahlreiche Polizeiberichte aus dem Verfahren gegen ihn abgespeichert hatte. In einer der Diskussionsrunden war vermutet worden, dass er schuldig sei, obwohl die Polizei ihn hatte laufen lassen. Man hatte die Theorie aufgestellt, dass die bei Ruby gefundenen DNA-Spuren von einem anderen jungen Mann stammten und dass Jarod die Beherrschung verloren habe, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie auch mit anderen Männern zusammen gewesen war.
Michelle hielt es durchaus für möglich, dass Ruby sich einen neuen Freund zugelegt hatte. Sie war für feste Beziehungen nicht geschaffen, sondern wollte lieber weiter und neue Menschen kennenlernen. Ruby hatte ihr erzählt, dass sie gleich am ersten Abend mit Jarod geschlafen habe. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie spontanen Sex mit einer neuen Bekanntschaft gehabt hatte. Männer wollten oft eine feste Beziehung, und das war einer der Gründe gewesen, warum Ruby das Land verlassen hatte, um ein Jahr lang in der Welt herumzureisen. Sie hatte keine Lust auf komplizierte Beziehungen.
Jarod selbst mischte sich nicht in die Diskussion über seine Rolle in dem Ganzen ein, doch einmal, als es ihr zu bunt wurde, hatte Michelle eingegriffen und darauf hingewiesen, dass Jarod für die meiste Zeit des Abends, an dem der Mord geschehen war, ein Alibi hatte. Er hatte sich über Facetime mit Freunden in London unterhalten und war im Netz aktiv gewesen. Das Gegenargument lautete, die spanischen Rechtsmediziner hätten einen ungefähren Todeszeitpunkt zwischen zweiundzwanzig Uhr nachts und zwei Uhr morgens ermittelt. Für die Zeit nach Mitternacht habe die Polizei nur Jarods eigene Aussage, dass er im Bett gelegen und geschlafen habe.
Falls man nicht von einem Zufallstäter ausging, gab es andere Personen, die viel interessanter waren. Zum Beispiel den Sohn des Ehepaars, das den Campingplatz betrieb, wo Ruby gewohnt hatte. Außerdem Leo Pérez in der Strandbar und schließlich Olaf. Das war der Norweger, von dem Ruby und die anderen Marihuana gekauft hatten.
Seit drei Monaten beschäftigte sich Michelle mit dem Fall und hatte sich einen recht guten Überblick verschafft. Dennoch war es ihr nicht gelungen, alle Informationen zu einem Bild zusammenzusetzen, das erklären konnte, was Ruby zugestoßen war. Vieles war verdächtig und auffällig, und es gab zahlreiche Gerüchte. Da sie keine erfahrene Ermittlerin war, fiel es ihr schwer, zwischen Spekulationen und hilfreichen Hinweisen zu unterscheiden, die womöglich auf eine Lösung hindeuteten.
Username: Darby
Wisting saß in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock vor dem Computer. Obwohl er allein war, hatte er die Tür hinter sich geschlossen.
Line hatte ihm ungebeten und ohne weitere Erklärung die Zugangsdaten für das Internetforum geschickt, und so hatte er sich letztlich unter ihrem Benutzernamen eingeloggt. Als er sich nach dem Abendessen zum Gehen angeschickt hatte, waren Astria und der spanische Mordfall kein Thema gewesen. Sie hatten über das Wetter und das gemeinsame Weihnachtsessen mit Wistings Vater am Sonntag gesprochen.
Hinter der Website verbarg sich eine eigene Community. Die Mitglieder unterhielten sich nicht nur über den Mord, sondern auch über ihren Alltag. Sie erzählten, was sie in letzter Zeit getan hatten, sie schrieben über ihre Familie, über die Arbeit und über das Wetter. Jemand hatte einen Kuchen gebacken und den Link zum Rezept eingestellt, ein anderer brauchte einen Rat für die Behandlung eines Hautausschlags und bekam eine Salbe empfohlen. Neue Mitglieder wurden begrüßt. Anscheinend kannten sich alle, obwohl eigentlich kaum jemand wusste, wer sich hinter den anonymen Nutzernamen verbarg.
Eine der Projektmappen auf der Website enthielt Polizeiberichte. Das war ungeschickt und mit Sicherheit auch in Spanien und Australien, oder wo immer die Website registriert war, nicht erlaubt. Die Ermittlungen zum Mord an Ruby Thompson waren noch nicht abgeschlossen, und die Veröffentlichung der Polizeiberichte konnte dem Täter unbeabsichtigte Einblicke verschaffen.
Die Dokumente waren ins Englische übersetzt, vermutlich weil Rubys englischer Reisefreund verdächtigt worden war. Am wahrscheinlichsten war es, dass er die Dokumente selbst ins Forum eingestellt hatte.
Wisting begann mit dem Bericht vom Fundort. Die Leiche war am städtischen Strand angespült worden. Das war der Abschnitt des Strandes, an dem die Veranstaltung am Tag zuvor stattgefunden hatte. Der Leichenfund war als Unfalltod durch Ertrinken gemeldet worden, doch die herbeigerufene Polizeistreife hatte relativ schnell die Kriminaltechnik eingeschaltet. Der Unterkörper der Leiche war unbekleidet, die tote Frau trug nur einen blauen Strickpullover mit einem schwarzen T-Shirt darunter. Ihr Körper wies mehrere Schnitte und Wunden sowie blaue Flecken am Hals auf. Die Verletzungen wurden darauf zurückgeführt, dass sie ins Meer geworfen worden war, wahrscheinlich von einer der Klippen weiter nördlich an der Küste. Der Obduktionsbericht nannte Erwürgen als Todesursache. Von einer Vergewaltigung war keine Rede, dennoch wurde es für möglich gehalten, dass das Opfer in den letzten achtundvierzig Stunden Sex gehabt hatte.
Wisting stand auf und holte sich einen Notizblock.
Ruby Thompson hatte nicht sofort identifiziert werden können, doch als die Medien über die unbekannte Tote berichteten, meldete sich der Inhaber des Campingplatzes, wo Ruby einen Bungalow gemietet hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren drei Tage vergangen, seit sie zuletzt von jemandem gesehen worden war. Die erste Identifikation wurde anhand des Fotos in ihrem australischen Pass vorgenommen, der in dem Bungalow lag, später wurde ihre Identität durch DNA von ihrer Zahnbürste und schließlich durch ein Familienmitglied im Heimatland bestätigt.
Es war nicht gleich ersichtlich, warum Jarod Denham überhaupt ins Fadenkreuz der Ermittler geraten war, dann aber las Wisting, dass Jarod Ruby verdächtigt hatte, ihm Geld und Marihuana gestohlen zu haben. Zwei Surfern hatte er erzählt, dass er sie noch am selben Abend zur Rede stellen wollte.
Wisting nickte. Ermittler suchten immer nach Dingen, die nicht zusammenpassten. Die Erfahrung zeigte, dass ein Gewaltakt häufig auf einen Konflikt zurückzuführen war, der seinen Ursprung in Verrat oder starken Gefühlen hatte.
In den ersten Vernehmungen hatte Jarod den vermuteten Diebstahl gar nicht erwähnt. Seinen Verdacht hatte er erst geäußert, als er mit den Aussagen der Surfer konfrontiert wurde. Er sagte aus, er habe keine Gelegenheit gehabt, mit Ruby darüber zu sprechen, denn als er sich schlafen gelegt habe, sei sie noch nicht wieder auf dem Campingplatz erschienen.
Bei der Durchsuchung wurde unter Rubys Matratze ein Tütchen Marihuana entdeckt, auf dem sich Jarods Fingerabdrücke befanden, doch die Tatsache, dass sein Verdacht bestätigt wurde, hatte nur wenig Beweiskraft.
In dem Bungalow tauchten weitere Gegenstände auf, die nicht Ruby gehörten, sondern aus Zelten und anderen Campinghütten gestohlen worden waren.
Wisting klickte sich weiter durch die Dokumente, las Vernehmungen von Personen, die Ruby während ihres Aufenthaltes in Palamós kennengelernt hatte, und notierte sich Namen, Orte, Zeitpunkte und verschiedene Stichwörter. Er zeichnete Verbindungslinien, unterstrich, was er für wichtig hielt, oder kringelte etwas ein, was noch nicht geklärt war. Diese Vorgehensweise war ihm vertraut. Über dreißig Jahre hatte seine Arbeit darin bestanden, alle Details eines Falls in sich aufzunehmen, zu sortieren, zu begreifen und die Informationen zu verdauen.
Draußen hatte es wieder zu schneien angefangen. Im gelben Licht der Laternenmasten waren die herabfallenden Flocken gut zu erkennen.
Wisting stand auf, holte sich etwas zu trinken und setzte sich wieder an den Computer.
Anhand der Aussagen von Jarod Denham und Mathis Leroux ließ sich das Bewegungsmuster von Ruby Thompson am Tag ihrer Ermordung rekonstruieren. Jarod und Ruby hatten sich zehn Tage zuvor in einem französischen Küstenort kennengelernt und gemeinsam die spanische Grenze überquert. Keiner von ihnen war je in Palamós gewesen, aber ein paar niederländische Surfer, die in die entgegengesetzte Richtung gefahren waren, hatten ihnen die dortigen Strände wärmstens empfohlen.
Die beiden waren am Nachmittag des 8. April mit dem Bus angekommen und hatten sich zu dem Campingplatz begeben, wo die Niederländer zuvor gewesen waren. Da Nebensaison gewesen war, hatten sie ein preisgünstiges Zimmer in einem Bungalow am Strand bekommen. Jarod hatte vorgeschlagen, Geld zu sparen, indem sie zusammen ein Zimmer bezogen, aber Ruby wollte ein Zimmer für sich allein. Bald danach hatten sie Mathis Leroux kennengelernt, einen gleichaltrigen Jungen aus Paris. Vor Rubys Tod hatten die drei einen Großteil der Zeit zusammen verbracht. Nach einem späten Abend hatten sie lange geschlafen. Die Wellen ließen zu wünschen übrig, weshalb niemand von ihnen im Wasser gewesen war. Mathis hatte von einer Veranstaltung am Stadtstrand gehört, die den Beginn der Badesaison einläutete. Sie hatten dort und im Hafen einige Stunden zugebracht, danach waren sie getrennte Wege gegangen, hatten jedoch verabredet, sich gegen sechs in einer Pizzeria wiederzutreffen. Ruby war eine halbe Stunde zu spät gekommen und hatte das Restaurant eine Stunde später allein verlassen, ohne den anderen zu verraten, wohin sie wollte.
Mathis Leroux hatte in etwa das Gleiche ausgesagt wie Jarod Denham. Allerdings hatte er berichtet, dass Ruby gegenüber Jarod kalt und abweisend gewirkt hatte, als ob etwas zwischen ihnen geschehen wäre.
Die Aussagen wurden von den Fotos untermauert, die Wisting bei Line gesehen hatte. Die Aufnahmen der Überwachungskamera in der Pizzeria waren Bestandteil des Polizeimaterials. Astria musste sie daraus entnommen und in die Datenbank eingepflegt haben.
In den Unterlagen der Polizei galt das Foto aus der Pizzeria als letzte bestätigte Observation, doch in Astrias Datenbank gab es ein Bild, das vier Minuten später aufgenommen worden war.
Wisting rief die Karte auf, auf der die Bilder geografisch angeordnet waren. Das letzte Bild war vor dem Hotel Nauta geschossen worden, zwei Blocks von der Pizzeria entfernt. Ruby ging allein den Gehsteig entlang, die weißen Kabel zeigten, dass sie Ohrstöpsel trug.
In Fällen wie diesem war die letzte Beobachtung von zentraler Bedeutung. Sie war ein Ausgangspunkt, von dem aus weitere Zeugen gesucht werden konnten. Hier zeigte sie, in welche Richtung Ruby gegangen war, ehe sie ihrem Schicksal begegnete. Die letzte Observation von Ruby Thompson hatte um 19:46 Uhr stattgefunden, laut Obduktionsbericht mindestens zweieinhalb Stunden vor ihrer Ermordung.
Wisting versuchte, Informationen zu ihrem Handy zu bekommen – wo es sich befunden hatte und wer zuletzt damit in Kontakt gewesen war. Aus dem Polizeibericht ging hervor, dass Ruby Thompson zwei Handys besessen hatte. Eines mit einer australischen Nummer, das noch im Bungalow gelegen hatte und offenbar nur für Datenverkehr benutzt worden war, und ein nicht registriertes Prepaid-Gerät mit einer spanischen Telefonnummer, die sie den Surferfreunden gegeben hatte. Dieses Handy war zuletzt um 19:17 Uhr in Gebrauch gewesen, als Ruby auf eine Nachricht von Jarod geantwortet hatte, der in der Pizzeria auf sie wartete. Das Telefon war nicht gefunden worden und seit 20:02 Uhr aus dem spanischen Netz verschwunden, nur zwanzig Minuten nachdem sie Mathis Leroux und Jarod Denham in der Pizzeria Catalunya zurückgelassen hatte. Entweder war es abgeschaltet worden, oder der Akku war leer.
Wisting richtete sich auf und rief sich ins Gedächtnis, dass es hier eigentlich nicht um Ruby Thompson ging. Er hatte sich in das Forum eingeloggt, um mehr über Astria herauszufinden. Wer sie war und weshalb sie im Forum nichts mehr hatte von sich hören lassen.
Ihr letzter Post war die Antwort auf eine Frage aus der Fotogruppe gewesen.
MrsPeabody: Hast du noch mehr Fotos gefunden?
Astria: Hab 97 Bilder hereinbekommen, aber noch nicht eingestellt. Mach ich aber bald.
Fast ein ganzer Tag war vergangen, ehe ein anderer Nutzer sich einschaltete.
Ned B.: Sind Fotos von Ruby dabei?
Astria: Brauche noch etwas Zeit, aber ich glaube, ich hab was Interessantes gefunden.
Die Antwort war am 30. November um 21:37 Uhr gepostet worden. Das war neun Tage her.
Ende der Leseprobe