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Ein Wanderer findet im Wald die menschlichen Überreste einer jungen Frau. Der Polizei ist schnell klar: Die Art und Weise, wie sie getötet wurde, entspricht dem typischen Vorgehen des Serienkillers Tom Kerr. Doch der kann es nicht gewesen sein, denn er sitzt seit mehreren Jahren im Gefängnis. Stimmen etwa die Gerüchte, dass er damals einen Komplizen hatte? Schon vor Jahren nannte die Presse diesen vermeintlichen Partner des Serienkillers „Der Andere“. Tom Kerr erklärt sich bereit, mit der Polizei zu kooperieren. Bei einer Tatortbegehung soll er wichtige Hinweise liefern. Doch dann passiert das Unfassbare: Dem Killer gelingt die Flucht. Wisting wird plötzlich zum Sündenbock und muss beide Täter dringend hinter Gitter bringen!
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Diese Übersetzung wurde von NORLA, Norwegian Literature Abroad, gefördert. Wir bedanken uns herzlich.
Übersetzung aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
© Jørn Lier Horst 2019
Titel der norwegischen Originalausgabe: »Illvilje«, Capitana, Oslo 2019
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020
Published in agreement with Salomonsson Agency.
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: Eva Van Oosten / Trevillion Images
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Epilog
Line hob den Kopf und schaute durch das kleine Fenster in der Tür. Dahinter, am Ende des Gangs, sah sie ihn. Tom Kerr. In Begleitung zweier Vollzugsbeamter kam er auf sie zu.
Er hatte sich verändert.
Nach der Festnahme und während des Prozesses vor vier Jahren war sein Gesicht in allen Medien zu sehen gewesen. Glatt rasiert, mit dunklen Augen und dichtem, kurz geschnittenem Haar. Gepflegt, um einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Jetzt ähnelte er dem Mann, der er eigentlich war. Fähig, die Dinge zu tun, derentwegen er hinter Gittern saß. Die Schultern waren breiter geworden, der Brustkasten wirkte etwas kräftiger. Die Haare hingen ihm in die Stirn. Sein Gesicht war blass, die Haut unrein. Er blickte nach vorn und kaute mit offenem Mund auf einem Kaugummi herum. In einem seiner Mundwinkel klebte etwas schaumiger Speichel.
Jetzt trat er an die Tür, hinter der die Polizeibeamten auf ihn warteten. Tom Kerr bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen und ließ die Schultern kreisen, als wolle er irgendwelche Verspannungen lösen.
Line sah zu Adrian Stiller, der ihr kurz zunickte.
Sie hob die Kamera und machte sich bereit, trat einen Schritt zurück.
Ein kalter Luftzug fuhr durch den Gang, als der Vollzugsbeamte die Tür öffnete. Tom Kerr verzog den Mund zu einem Lächeln, als hätte er gerade etwas Angenehmes gehört. Dann trat er über die Türschwelle. Line richtete das Objektiv auf ihn und startete die Aufnahme. Kerr trug Jeans, ein graues T-Shirt und eine schwarze Trainingsjacke.
Adrian Stiller trat einen Schritt vor und erschien im Kamerabild. Er war einen halben Kopf kleiner als der Mann vor ihm. In einer Hand hielt er eine Dokumentenmappe und in der anderen einen Funksender, weswegen er sein Gegenüber nicht mit Handschlag begrüßen konnte.
»Tom Kerr«, sagte er in einem betont offiziellen Ton. »Sie haben sich bereit erklärt, an diesem strafrechtlich relevanten Ortstermin teilzunehmen. Alles, was Sie sagen, wird aufgenommen und ist Teil ihrer offiziellen Aussage. Sie können sich jederzeit mit Ihrem Rechtsanwalt beraten, ohne dass diese Gespräche aufgezeichnet werden.«
Line zoomte etwas zurück, damit auch Claes Thancke ins Bild kam. Der Anwalt trug einen dunklen Anzug und schwarze Schuhe, die für die bevorstehende Begehung ungeeignet schienen.
Claes Thancke hatte schon in vielen umstrittenen Fällen die Strafverteidigung übernommen. Seine Mandanten gehörten zur schlimmsten Sorte – Menschen, vor denen die Gesellschaft beschützt werden musste. Er galt als fähiger Verteidiger, allerdings mochte Line es nicht, wie er seine Fälle in der Öffentlichkeit verharmloste.
»Ich werde den Ortstermin leiten«, fuhr Stiller fort. »Wir werden beide mit Mikrofon und Sender ausgestattet, damit Ihre Aussage aufgezeichnet werden kann.«
Er machte eine Bewegung mit der Hand, in der er den Funksender hielt.
»Ich befestige jetzt den Sender.«
Tom Kerr reagierte mit einem Nicken. Stiller reichte ihm das kleine Mikrofon, damit er es sich an den Halsausschnitt seines T-Shirts anklipsen konnte. Daraufhin trat Stiller hinter Kerr und befestigte den Sender an seinem Gürtel.
»Können Sie bitte etwas sagen, damit wir wissen, ob es funktioniert?«
»Test, Test«, sagte Kerr.
Seine Stimme klang rau wie Sandpapier.
Line überprüfte die Tonqualität an der Kamera und nickte Stiller zu. Aufnahmekapazität und Batterie reichten für zwölf Stunden. Mehr Zeit, als sie mit dem Babysitter vereinbart hatte.
»Tragen Sie etwas bei sich?«, wollte Stiller wissen.
»Was meinen Sie?«, fragte Kerr.
»Haben Sie etwas bei sich? In den Taschen?«
»Nein.«
Stiller zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Gesäßtasche.
»Ich muss das überprüfen«, erklärte er.
Kerr hob die Hände über den Kopf, offenbar kannte er die Prozedur bereits. Stiller fuhr mit der Hand über Kerrs Hosentaschen.
»Mund auf!«
Tom Kerr streckte die Zunge heraus und hob sie dann an den Gaumen, um zu beweisen, dass er nichts in der Mundhöhle versteckt hatte.
»Ziehen Sie die Schuhe aus«, fuhr Stiller fort.
Kerr streifte den rechten Schuh ab.
»Ich habe vier Jahre da drinnen gesessen«, sagte er, während er den linken Schuh auszog. »Glauben Sie etwa, ich hätte hier irgendwas gefunden, was ich mit nach draußen schmuggeln wollte?«
Stiller gab keine Antwort, sondern hob die Schuhe auf und blieb halbwegs mit dem Rücken zur Kamera stehen, während er sie untersuchte.
Line blickte auf, betrachtete seinen Rücken und die harten Muskeln unter dem dünnen Hemd.
»In Ordnung«, sagte Stiller schließlich und stellte die Schuhe wieder vor den Häftling. »Abgesehen vom Fahrer, der Kamerafrau und Ihnen sind wir sechs Leute im Auto.«
Er streifte die Latexhandschuhe ab und schaute sich nach einem Mülleimer um, sah aber keinen.
»Kommissar Gram ist während des Ortstermins für die Sicherheit zuständig«, fuhr Stiller fort und deutete auf einen Polizisten in Einsatzmontur.
Line richtete die Kamera auf ihn.
Gram hielt Handschellen und Fußfesseln für den Transport bereit. Er trat zu dem Häftling und bedeutete ihm, die Hände vorzustrecken.
Kerr drehte sich zu Stiller um.
»Fußfesseln auch?«, fragte er resigniert.
»Er hat hier das Sagen«, erwiderte Stiller und zeigte auf Gram.
Die Rollenverteilung wirkte abgesprochen, wobei der Polizist in Uniform den strengen Part übernahm.
»Sie gelten als fluchtgefährdet«, konstatierte Gram knapp.
Der Anwalt mischte sich ein.
»Schon im Wagen sind Sie acht gegen einen«, gab er zu bedenken. »Vor Ort sind vermutlich noch mehr von Ihren Kollegen. Ist das wirklich nötig?«
»Keine weiteren Diskussionen«, erwiderte Gram. »Ihre Beschwerde bei der Polizeibehörde hat immerhin dazu geführt, dass wir bei diesem Termin keine Waffen dabeihaben.«
»Und das aus gutem Grund«, fuhr der Anwalt fort. »Bei der Festnahme haben zwei Beamte Schüsse abgegeben, ohne dass dafür der geringste Anlass bestand. Es war reiner Zufall, dass mein Mandant nicht erschossen wurde.«
Gram ignorierte ihn und blickte Tom Kerr direkt an.
»Lösen Sie den Gürtel«, forderte er ihn auf.
Tom Kerr tat, was von ihm verlangt wurde. Line hielt die Kamera auf die beiden und dokumentierte, wie Gram eine Kette durch eines von Kerrs Hosenbeinen zog und den daran montierten Schließbügel an Kerrs Knöcheln befestigte. Das andere Ende der straffen Kette wurde mit den Handschellen verbunden.
Die Gefahr eines Fluchtversuchs bestand durchaus. Kerr war zu einundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden, wovon er mindestens fünfzehn absitzen musste. Nach Ablauf dieser Zeit war Sicherungsverwahrung angeordnet worden, die jeweils um fünf weitere Jahre verlängert werden konnte. So lange, bis nach Ansicht des Gerichts keine Gefahr mehr bestand, dass er nach der Freilassung neue Verbrechen beging. Letztlich konnte die Sicherungsverwahrung auch eine lebenslängliche Unterbringung bedeuten. Kerr hätte mit einem eventuellen Fluchtversuch also nichts zu verlieren gehabt.
»Sind wir so weit?«, fragte Stiller.
Gram nickte und gab etwas über Funk durch. Einer der Vollzugsbeamten öffnete die nächste Tür, um die Gruppe zu dem wartenden Minibus durchzuschleusen.
Line war auf Abstand geblieben und hatte sich Tom Kerr nur durch die Kameralinse genähert. Jetzt kam er auf sie zu. Aufgrund der Fußfesseln konnte er nur kleine, schlurfende Schritte machen. Als er an Line vorbeikam, drehte er sich zu ihr um und warf einen Blick direkt in die Kamera. Er war plötzlich so nah, dass Line seinen Geruch wahrnehmen konnte. Ein muffiger und abgestandener Geruch wie bei einem Haus, das lange leer gestanden hatte.
»Da drüben«, sagte Hammer und zeigte auf einen Streifenwagen, der den schmalen Schotterweg blockierte. William Wisting bremste ab, betätigte den Blinker und hielt am Wegesrand.
Der andere Wagen setzte etwas zurück, um Platz zu machen. Das Seitenfenster fuhr herunter, und eine junge Polizistin blickte zu ihnen herüber. Wisting war ihr Name entfallen, sie war noch nicht so lange beim Streifendienst.
Er fuhr ein Stück vor, blieb neben dem Streifenwagen stehen und ließ das Fenster auf seiner Seite herunter. Marlene hieß sie, wie ihm plötzlich einfiel. Marlene Kohr.
»Sie sind noch nicht eingetroffen«, verkündete sie.
»Wir sind ziemlich früh«, sagte er. »Irgendwelche Bewegungen?«
Marlene Kohr schüttelte den Kopf.
»Wir stehen seit drei Stunden hier«, erwiderte sie und hielt ein Klemmbrett mit einer Liste der Personen hoch, die vorbeigekommen waren.
»Nur Ortsansässige«, erklärte sie.
Hammer beugte sich vor. »Und bislang keine Presse?«
»Keine Presse«, versicherte Marlene Kohr.
Wisting bedankte sich mit einem Kopfnicken. Ein paar Steinchen knallten gegen den Radkasten, als er weiterfuhr.
Rechts und links des Wegs lagen frisch gepflügte Äcker. Nach einer Weile führte der unbefestigte Weg in einen dichten Laubwald. Es war Mitte September, etliche Blätter hatten sich bereits verfärbt, manche Bäume hatten ihr Laub schon ganz verloren.
Sie fuhren an einer flachen Feldmauer entlang. Einige kleine Zufahrten führten zu ein paar Sommerhütten. Nach fünf Minuten Fahrtzeit kamen sie zu einer Wiese, wo sich das Gemäuer eines alten Sägewerks befand.
Wisting wendete und stellte den Wagen so hin, dass er den anderen nicht im Weg sein würde, wenn sie ankämen.
Es war zehn vor elf.
Er öffnete die Autotür, fasste mit beiden Händen nach dem Rahmen und zog sich aus dem Wagen. Es war ein milder Herbsttag, die Sonne stand hoch am Himmel. Eine Weile verharrte er und lauschte dem Vogelgezwitscher in der Nähe. Schließlich schloss er die Tür, trat an die Motorhaube und stützte sich darauf ab.
Hammer stellte sich neben ihn und schob die Hände in die Hosentaschen.
»Was glaubst du?«, fragte er.
»Kann schon sein«, erwiderte Wisting und spähte zu dem Wäldchen hinter der Wiese.
Hammer und er waren vor vier Tagen schon einmal hier gewesen und hatten etliche der kleinen Wege untersucht. Sie kannten das Terrain. Eftangland war eine hügelige Halbinsel mit fünf Quadratkilometern Wald und landwirtschaftlichen Nutzflächen. In östliche Richtung zog sich ein Moorgebiet bis zum Ulavei, der natürlichen Begrenzung der Halbinsel. In allen anderen Richtungen endete das Gebiet an der Küste, die von Felseninseln und flachen Sandbuchten gesäumt war.
Irgendwo da draußen könnte sie liegen.
Taran Norum.
Sie war neunzehn, als sie auf dem Heimweg von einer Party mit Freundinnen im Osloer Stadtteil Bekkelaget spurlos verschwunden war. Die Strecke betrug nicht mehr als sechshundert Meter und verlief mitten durch ihre direkte Nachbarschaft. Gegen zwei Uhr am nächsten Tag war eine Suchaktion in Gang gesetzt worden. Alles, was man gefunden hatte, waren ihr Handy und ein Schuh.
Es gab in dieser Vermisstensache keine konkreten Hinweise auf eine Tatbeteiligung von Tom Kerr, doch zwei Monate zuvor war die etwa gleichaltrige Thea Polden unter ähnlichen Umständen in einem Wohngebiet in Stovner verschwunden. Ein Ermittler hatte bereits damals auf die Parallelen zwischen den beiden Fällen hingewiesen, allerdings war es erst dann zu heftigen Spekulationen gekommen, als ein weiteres Mädchen, Salwa Haddad, auf dem Heimweg von ihrem Freund in Hellerud verschwand. Thea Polden und Salwa Haddad hatte man tot am Nøklevann gefunden. Beide waren schwer misshandelt worden. Taran Norum war die zweite junge Frau, die vermisst wurde, doch im Laufe der Ermittlungen war von ihr stets als dem dritten Opfer die Rede, dem Mädchen, das niemals gefunden worden war.
»Die Hunde hätten ja was finden müssen, als sie hier waren«, meinte Wisting.
Hammer zog einen Snusbeutel unter der Oberlippe hervor und warf ihn auf einen großen Haufen grauer Sägespäne.
»Das ist jetzt fast fünf Jahre her«, wandte er ein. »Ich weiß ja nicht, wie gut diese Hunde sind. Außerdem ist gar nicht sicher, dass ihre sterblichen Überreste alle an einer Stelle liegen. Die anderen Leichen waren ja zerstückelt.«
Gedankenverloren bohrte Wisting seine Schuhspitze in den Boden. Vor fünf Tagen waren sie darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Tom Kerrs drittes Opfer womöglich in ihrem Polizeidistrikt verscharrt liegen könnte. Ein Mithäftling hatte sich an die Gefängnisleitung gewandt und berichtet, dass Kerr ihm gegenüber den Mord an Taran Norum zugegeben habe. Konfrontiert mit diesen Beschuldigungen, hatte Kerr überraschenderweise ein Geständnis abgelegt und sich bereit erklärt, den Ermittlern der Abteilung für ältere und ungelöste Fälle bei der Kriminalpolizei die Stelle zu zeigen, wo er sie begraben hatte.
»Ich weiß nicht, worauf Tom Kerr eigentlich hinauswill«, fuhr Hammer fort. »Aber irgendwie kann ich nicht so recht glauben, dass er mit der Polizei zusammenarbeiten möchte.«
»Strategie«, meinte Wisting.
Im Gegenzug für sein Geständnis hatte Kerr die Verlegung aus der Sicherungsverwahrung in die weniger strenge Haftanstalt Halden verlangt. Dort wäre er nicht mehr zusammen mit psychisch kranken Häftlingen untergebracht und hätte zudem bessere Weiterbildungsmöglichkeiten. Ein vorbehaltloses Geständnis galt als Beweis dafür, dass ein Häftling sich von seinen Taten distanzierte. Die damit einhergehende Verhaltensänderung war notwendige Voraussetzung für eine spätere Erwägung einer probeweisen Entlassung aus der Haft.
Wisting glaubte nicht, dass Kerr vorzeitig entlassen werden würde. Seine Taten waren so brutal und durch und durch bösartig gewesen, dass weit mehr geschehen musste, um ihn wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Bei den wochenlangen Verhandlungen mit Kerr waren die oberste Polizeibehörde und der norwegische Generalstaatsanwalt involviert gewesen. Wisting hatte bislang nie mit Kerr zu tun gehabt, da die Mordermittlungen vom Polizeidistrikt Oslo durchgeführt worden waren, aber Kerr hatte das alte Sägewerk Refsholt als Treffpunkt gewählt. Von hier aus würden sie zu dem Ort gehen, wo sein drittes Opfer begraben lag.
Ganz offensichtlich war Kerr schon einmal hier gewesen. Er hatte präzise Beschreibungen der großen Wiese, des alten Sägewerks und der Überreste der dort befindlichen Maschinen geliefert, allerdings hatte er sich bisher bedeckt gehalten, weswegen er ausgerechnet diesen Ort als Ausgangspunkt gewählt hatte.
Das Funkgerät an Hammers Gürtel meldete sich plötzlich. Ein Kollege im Minibus gab die Ankunft an der Hauptstraße durch.
Nachdem Kerr diesen Treffpunkt genannt hatte, war die Umgebung des Sägewerks mit Hunden abgesucht worden, denn man hatte gehofft, ihm zuvorkommen zu können. Die Aktion war jedoch ergebnislos geblieben, was von Kritikern als Beweis dafür gewertet wurde, dass Kerr den Ortstermin nur deshalb arrangiert hatte, weil er einen Fluchtversuch plante. Frühmorgens war am Zufahrtsweg ein Kontrollposten eingerichtet worden, und an den umliegenden Straßen waren unauffällige Beobachtungsfahrzeuge postiert. Man hatte alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.
Der schwarze Minibus wurde von zwei Streifenwagen begleitet. Dahinter folgte Kerrs Anwalt in einem Mercedes mit getönten Scheiben.
Einer der Polizeihunde begann in seinem Käfig zu bellen, als die Fahrzeuge anhielten.
Adrian Stiller stieg zuerst aus. Seit vier Jahren hatte es keine aktiven Ermittlungen im Fall Taran Norum gegeben. Man hatte jeden Stein umgedreht, jede Möglichkeit in Betracht gezogen, doch die Spur war erkaltet, und nach einer Weile war der Fall routinegemäß an die Abteilung für ältere und ungelöste Fälle abgegeben worden. Somit war Stiller nun als Leiter für die Wiederaufnahme des Falls zuständig.
Wisting reichte dem Kollegen zur Begrüßung die Hand. Hammer folgte seinem Beispiel.
»Wie sieht’s mit dem Helikopter aus?«, fragte Stiller und richtete den Blick in den blauen Herbsthimmel.
»Der neue Helikopter wird gerade bei einer Suchaktion in Kongsvinger benötigt«, erklärte Hammer. »Ein verschwundener Neunjähriger. Aber die können in etwa fünfunddreißig Minuten hier sein. Der alte Hubschrauber wird derzeit repariert. Gram weiß Bescheid.«
Hammer deutete mit dem Kopf auf den großen Polizisten, der neben dem Minibus stand und telefonierte. Kittil Gram hatte an allen Vorbereitungstreffen teilgenommen, bei denen die Aufgaben verteilt worden waren. Während der eigentlichen Aktion würden Wisting und Hammer nur als Beobachter zugegen sein.
»Ich möchte, dass der Helikopter mit einer Wärmebildkamera über das Gelände fliegt. Ich will wissen, ob sich hier irgendwo Personen befinden«, sagte Stiller.
Er ging zu Gram hinüber. Nach einer kurzen Beratung schienen sie sich über das weitere Vorgehen einig zu sein. Gram gab ein paar knappe Befehle. Der Polizeihund wurde herausgelassen, dann stiegen die anderen aus dem Minibus. Zunächst zwei Polizisten, gefolgt von einer Kollegin. Stiller nickte ihr kurz zu. Maren Dokken hatte in der Ermittlungsabteilung hospitiert und war bei ihren Vorgesetzten positiv aufgefallen. Sie verfügte über den analytischen Blick, der nötig war, um wichtige Details zu erkennen. Bestimmt würde sie eine gute Ermittlerin werden, derzeit arbeitete sie aber beim Streifendienst.
Line kam mit ihrer Kamera aus dem Wagen. Wisting verschränkte die Arme vor der Brust. Es missfiel ihm, dass seine Tochter von Stiller für diese Sache engagiert worden war.
Ihre beruflichen Wege hatten sich schon mehrmals gekreuzt. Sie hatten klar verteilte Rollen gehabt – sie als Journalistin und er als Ermittler –, aber Wisting wollte nicht, dass Line einem Menschen wie Tom Kerr so nahe kam. Einem Menschen, der wie kein anderer die Bosheit verkörperte.
Line betrachtete die Sache von einer ganz anderen Seite. Sie hatte die Nutzungsrechte für die Aufnahmen im Rahmen eines späteren Dokumentarfilms ausgehandelt und war bereits in Kontakt mit einer Produktionsgesellschaft, die sich für ihre Idee interessierte. Tom Kerrs Taten waren selten bestialisch gewesen, und der Prozess gegen ihn hatte nicht alle Fragen beantworten können. Im Gegenteil. Tom Kerr hatte einen unbekannten Helfer, der von den Medien als »Der Andere« bezeichnet wurde.
Wisting hatte Line auf einen schwierigen Interessenskonflikt im Rahmen des Projekts hingewiesen. Sie konnte nicht an einer Filmdokumentation arbeiten und gleichzeitig einen Auftrag für die Polizei übernehmen. Line hatte dem Vorschlag zugestimmt, ihre Tätigkeit für die Kripo offiziell zu beenden, bevor sie sich weiter mit ihrem Filmprojekt beschäftigte. Allerdings war sie der Meinung, dass ihre Anwesenheit während des Ortstermins eine einzigartige erzählerische Perspektive darstellte. Ungeachtet dessen würde noch viel Zeit vergehen. Zunächst musste der Mord an Taran Norum aufgeklärt und Tom Kerr rechtskräftig dafür verurteilt werden. Das Ganze konnte noch Jahre dauern, doch Line wollte den Prozess unbedingt mitverfolgen.
Wisting ging zu den anderen hinüber. In einem Halbkreis blieben sie vor dem Minibus stehen. Tom Kerr erschien in der Türöffnung. Die Fußfesseln klirrten, als er die Füße vom Trittbrett auf den Boden setzte.
Er blieb stehen. Hob den Kopf und sah in den Himmel. Dann blickte er reihum die Menschen an, die seinetwegen an diesen Ort gekommen waren.
»Wir müssen reden«, sagte er plötzlich und ließ den Blick dabei auf seinem Rechtsanwalt ruhen.
Claas Thancke trat einen Schritt vor und sah zu Stiller.
»Wo können wir uns ungestört unterhalten?«, fragte er.
»Sie können zusammen in den Bus steigen«, schlug Stiller vor.
Ein misstrauischer Zug erschien auf Thanckes Gesicht, als ob er fürchtete, dass sie abgehört werden könnten.
»Können wir uns in meinen Wagen setzen?«, fragte er.
Stiller blickte Gram fragend an.
»Wenn ich die Autoschlüssel bekomme«, entgegnete der Kommissar.
Thancke fischte sie aus der Hosentasche und warf sie ihm zu.
»Der Sender«, sagte Tom Kerr.
Adrian Stiller trat zu ihm, zog das Mikrofonkabel ab und nahm den Sender an sich. Währenddessen untersuchte Kittil Gram den Wagen des Anwalts.
»Auf der Rückbank«, sagte er und hielt die Tür auf.
Der Rechtsanwalt und sein Mandant setzten sich ins Auto. Die Streifenpolizisten positionierten sich um das Fahrzeug herum.
Wie schon sein Vater und Großvater war Claes Thancke Strafverteidiger und gehörte zu den bekanntesten Anwälten des Landes. Wisting war ihm einige Male begegnet und konnte ihm durchaus etwas abgewinnen. Er war äußerst umstritten und wurde häufig kritisiert, weil er unter anderem für eine Legalisierung von Drogen eintrat, aktive Sterbehilfe befürwortete, Prostitution zulassen und das Schutzalter für sexuelle Beziehungen abschaffen wollte. Provokante Ansichten, die viele Menschen verärgerten. Er hatte sich Chauvinist und Frauenhasser schimpfen lassen müssen, doch Wisting respektierte ihn als Verfechter individueller Meinungsäußerung und sah in ihm einen Garanten für Rechtssicherheit. Er war ein profilierter und mutiger Anwalt, der sich für die Schwachen und Ausgestoßenen der Gesellschaft einsetzte und schwierige Fälle übernahm. Thancke war vorurteilsfrei und kümmerte sich um seine Mandanten, die häufig als gesellschaftlicher Abschaum galten: Pädophile, Vergewaltiger, Mörder, Rassisten und Gewalttäter, die Frauen misshandelten.
Tom Kerr war einer dieser Menschen. Inzwischen war er dreiundvierzig Jahre alt. Thancke hatte ihn vor fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal vertreten. Damals war er wegen Voyeurismus in sieben Fällen sowie Tötung mehrerer Haustiere in der Nachbarschaft verurteilt worden. Wisting hatte die Akten gelesen. Vor Gericht hatte Kerr erklärt, dass er seine Wut abreagieren könne, wenn er Tiere quälte und tötete.
Wisting konnte die Konturen der beiden Männer hinter den getönten Scheiben erahnen. Ein paarmal glaubte er, ausladende Bewegungen zu erkennen, als ob einer der beiden etwas erklärte oder auf etwas zeigte.
»Worüber reden die wohl?«, fragte sich Hammer. »Die hatten doch im Gefängnis eine ganze Stunde zur Verfügung, ehe es losging.«
Wisting erwog, zu Line hinüberzugehen, doch im selben Moment wurden die hinteren Autotüren geöffnet, und die beiden Männer stiegen aus. Claes Thancke strich seine Anzugjacke glatt, Tom Kerr blieb abwartend neben dem Wagen stehen. Stiller trat zu ihm und befestigte abermals Sender und Mikrofon. Line setzte sich ihre Kopfhörer auf.
»Sind Sie bereit?«, fragte Stiller.
Kerr nickte und spuckte auf den Boden. Dann hob er die Hände, so weit es die Handschellen zuließen, und deutete auf einen Weg jenseits der Wiese.
»Da lang«, sagte er.
Der Weg wurde anscheinend nicht häufig benutzt. Line ging hinter Stiller als Fünfte in der Reihe und musste ständig Zweigen ausweichen, die zurückschnellten, nachdem sich die anderen vor ihr daran entlanggedrückt hatten.
Line hatte Adrian Stiller bei den Ermittlungen zu zwei verschiedenen Kriminalfällen kennengelernt. Beim ersten war sie noch bei VG angestellt gewesen und hatte einen Podcast über einen ungelösten Entführungsfall aus den Achtzigerjahren produziert. Das zweite Mal war sie ihm im letzten Jahr begegnet, als sie zusammen mit einer Gruppe von Ermittlern nach dem Ursprung einer großen Geldsumme gesucht hatte, die in der Ferienhütte eines verstorbenen Politikers gefunden worden war. In beiden Fällen hatte Line zur Aufklärung beigetragen.
Stiller hatte sich als gründlicher Ermittler erwiesen, doch Line hatte auch die Erfahrung gemacht, dass er bei dem, was er tat, häufig Hintergedanken hatte.
Dies war der dritte Auftrag, den sie für ihn und die Abteilung für alte und ungelöste Kriminalfälle übernahm. Im ersten Fall war es darum gegangen, ein Feature über die Vorgeschichte eines Verbrechens zu liefern. Beim zweiten Fall hatte sie die Rekonstruktion eines Kriminalfalls dokumentiert, bei der ein Mann einen zwölf Jahre zurückliegenden Mord gestanden hatte.
Doch das hier war etwas anderes.
Als Stiller sie vor einer Woche anrief, hatte sie zunächst gedacht, er wolle sie um ein Date bitten. Es hatte ein bisschen in der Luft gelegen, und Line hatte sich schon Gedanken gemacht, wie sie ihn am besten zurückweisen könnte. Er war nicht unattraktiv, und der Altersunterschied zwischen ihnen fiel kaum ins Gewicht. Er war nur sechs Jahre älter als sie. Aber Line wollte es lieber bei der professionellen Beziehung belassen.
Wortlos bewegte sich die kleine Prozession weiter.
Line wusste nicht, was Tom Kerr der Polizei über den Mord an Taran Norum erzählt hatte, doch sie wusste, was er mit den anderen Opfern getan hatte.
Es waren unmenschliche und sadistische Handlungen gewesen. Die beiden jungen Frauen, deren Leichen man aufgefunden hatte, waren mehrere Tage gefangen gehalten und schließlich zu Tode gequält worden. Die Rede war von wiederholten Vergewaltigungen, auch unter Hinzunahme diverser Gerätschaften. Einige davon hatte er erhitzt, bevor er sie in die Körper der Opfer einführte. Die Obduktion hatte gezeigt, dass die Brustwarzen mit einer Zange herausgerissen worden waren, während die Opfer noch gelebt hatten, außerdem waren Darm und Harnwege zerstört. Nachdem er die Frauen getötet hatte, zerstückelte er ihre Leichen. Vermutlich um sie einfacher loszuwerden, hatte er Kopf, Arme und Beine vom Torso abgetrennt.
Ohne die Kamera zu bewegen, drehte Line sich um und sah ihren Vater, der als einer der Letzten in der Reihe ging. Er wirkte gealtert, seine Bewegungen waren langsam. Wenn Tom Kerr keine Fußfesseln getragen hätte, wäre Wisting vermutlich hinter die anderen zurückgefallen.
Ein umgestürzter Baum lag auf dem Weg. Kerr benötigte Hilfe, um darüber hinwegzusteigen.
»Stiller!«, hörte Line ihren Vater rufen.
»Ja?«
»Auf ein Wort, bevor wir weitergehen?«
Adrian Stiller bat die anderen, kurz zu warten. Wisting holte ihn ein, und Line hörte die leise Unterhaltung über ihre Kopfhörer mit.
»Das gefällt mir nicht«, sagte ihr Vater. »Wir sind jetzt hundert Meter gegangen, das führt doch zu nichts.«
»Was meinen Sie?«, fragte Stiller.
»Die anderen Fundorte lagen weniger als zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo er den Wagen abgestellt hatte. Warum sollte er diese Leiche so weit weggeschleppt haben?«
Stiller warf einen Blick auf den Weg hinter sich, drehte sich wieder um und schaute geradeaus.
»Ist es noch weit?«, fragte er.
Line zoomte Kerr etwas heran und hörte über Kopfhörer, wie er schmatzte und dann erneut ausspuckte.
»Nein«, antwortete er.
»Wie weit denn?«
Kerr zuckte mit den Schultern. Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete:
»Zweihundert Meter. Auf der rechten Seite gibt es einen alten Zaun. Da ist eine Öffnung, dann sind wir fast da.«
Stiller trat ein paar Schritte auf ihn zu.
»Weshalb haben Sie sie so weit hier reingeschleppt?«
»Damit sie nicht gefunden wird«, erwiderte Kerr. »Hat doch geklappt, oder?«
»Ich weiß, welchen Zaun er meint«, hörte Line ihren Vater sagen. »Der liegt aber mindestens dreihundert Meter von hier entfernt.«
Gram war zu ihnen gekommen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er.
Stiller wollte antworten, aber Claes Thancke kam ihm zuvor.
»Tut mir leid, dass der Weg für Sie etwas länger wird. Aber mein Mandant muss Ihnen nun mal die Stelle zeigen, wo sie tatsächlich liegt«, bemerkte er ironisch.
»Das hätte früher abgeklärt werden müssen«, meinte Gram.
»Er hat gesagt, dass er mit den Infos erst rausrückt, wenn wir hier sind«, erklärte Stiller. »Er hat weder verraten, in welche Richtung es geht, noch wie weit die Stelle entfernt ist.«
Vorn auf dem Pfad war Kettengerassel zu hören. Wegen der Fußfesseln musste Kerr den Kopf zu den Händen hinunterbeugen, um sich an der Stirn zu kratzen.
»Wir gehen weiter«, entschied Stiller.
Kittil Gram schickte den Hundeführer voraus und befahl ihm, bis zu dem alten Zaun zu gehen. Die anderen folgten Kerr in seinem Tempo. Nach ein paar Metern stolperte er über eine Baumwurzel, versuchte, den Sturz abzufangen, doch die Fußfesseln hinderten ihn daran. Irgendwie schaffte er es, sich halbwegs auf die Seite zu drehen, und traf mit der rechten Schulter auf den Boden.
»Alles in Ordnung?«, wollte Stiller wissen.
Kerr gab keine Antwort. Er machte ein paar Bewegungen mit dem Oberkörper, als ob er versuchte, den Dreck von seiner Kleidung abzuschütteln.
»Diese Fußfesseln sind nicht dafür geeignet, dass man damit durch den Wald marschiert«, meinte Claes Thancke. »Ist es wirklich nötig, dass sich mein Mandant damit in Gefahr begibt? Er ist doch kooperationswillig und unterstützt die Polizei.«
»Und das hier ist ein Teil der Kooperation«, sagte Kittil Gram und überprüfte die Handschellen. »Vorwärts.«
Sie gingen weiter. Tom Kerr bestimmte das Tempo. Trockenes Laub aus dem Vorjahr raschelte zu ihren Füßen. Line nahm die Kamera in die andere Hand und ließ sie etwas sinken. Sie wog nicht mehr als zwei Kilo, doch es war anstrengend, sich die Kamera die ganze Zeit vor die Augen zu halten.
Der Weg wurde breiter und bog etwas nach Norden ab. Der dichte Laubwald wurde von größeren Bäumen mit groben Stämmen und gekrümmten Ästen abgelöst.
Tom Kerr drehte sich um und blickte hinter sich. Line hörte ihn durch die Kopfhörer atmen. Kurz und stoßweise.
Als er sich erneut umdrehte, verlor er das Gleichgewicht. Der Polizist neben ihm versuchte ihn aufzufangen, doch Kerr fiel hin.
Line nahm die Kamera und zoomte heran. Als man Kerr wieder hochgeholfen hatte, war eine kleine blutende Wunde an seiner Wange zu sehen.
»Sie haben eine Schramme abbekommen«, sagte Kittil Gram. »Sollen wir die behandeln, oder wollen wir weitergehen?«
Claes Thancke protestierte erneut gegen die Handschellen und die Fußfesseln, wurde aber nicht erhört.
»Gehen wir weiter«, erwiderte Kerr.
Nach etwa zwei Minuten tauchte auf der rechten Seite ein alter Maschendrahtzaun auf. Die Weide dahinter war wieder zugewachsen, ein paar Zaunpfosten waren verfault, Teile des Zauns waren herausgebrochen und lagen im hohen Gras.
Der vorausgeschickte Hundeführer wartete neben den Überresten eines Gatters. Von dort aus erstreckte sich ein Abhang zu einem Bach hinunter.
Alle blieben stehen.
»Wir müssen da runter«, erklärte Kerr mit einer Kopfbewegung.
»Das Gelände ist hier noch unwegsamer«, kommentierte Claes Thancke. »Absolut ungeeignet, um in Fesseln da runterzusteigen. Sie gehen das Risiko ein, dass mein Mandant sich noch einmal verletzt.«
Kittil Gram und Adrian Stiller traten zu Wisting. Line schob ihre Kopfhörer zurecht. Sie schwitzte darunter, wollte sie aber aufbehalten, um zu hören, was gesagt wurde.
»Ein berechtigter Einwand«, meinte Lines Vater.
Stiller stimmte ihm zu.
Wisting sah hinüber zum Häftling und richtete seinen Blick dann auf Gram.
»Geht es in Ordnung für Sie, wenn wir die Fußfesseln entfernen?«, fragte er.
Gram nickte. »Solange die Handschellen dranbleiben.«
»Dann machen wir es, wie Sie wollen«, meinte Stiller.
Tom Kerr wurde aufgefordert, seinen Gürtel zu öffnen. Gram entfernte die Fußfesseln von Kerrs Knöcheln und zog die Kette durch sein Hosenbein. Dann löste er die Kette von den Handschellen und reichte sie einem Polizeibeamten, der einen Rucksack dabeihatte.
Kerr hob die Hände ans Gesicht und fuhr sich mit den Fingern über die Wunde an der Wange. Dann betrachtete er das Blut an seinen Fingern, schob sie in den Mund und leckte sie ab.
Der Polizeihund bellte ungeduldig. Kittil Gram gab den Befehl zum Weitergehen.
Kerr konnte sich jetzt leichter bewegen, ging aber nicht schneller. Er lief schräg über die alte Schafweide und steuerte auf den Bach zu, der aus dem Wald heraustrat. Es sah aus, als gäbe es dort eine Öffnung im Zaun und auf der anderen Seite einen Karrenweg.
Die Streifenpolizisten folgten ihm und verteilten sich im Gelände. Line sah sich nach ihrem Vater um. Er und Nils Hammer bildeten die Nachhut. Der Anwalt mit den glatten Schuhsohlen war ebenfalls etwas zurückgeblieben.
Plötzlich änderte Tom Kerr seine Bewegungen. Er beugte die Knie und lehnte seinen Oberkörper etwas vor. Line hörte über Kopfhörer, wie er tief einatmete. Dann rannte er los.
Die lauten Rufe erregten Wistings Aufmerksamkeit. Er bewegte sich am Ende der vierzehnköpfigen Prozession, und seine Gedanken waren bereits zum nächsten Schritt der Operation gewandert. Falls Tom Kerr die Stelle benennen könnte, wo Taran Norum begraben lag, würde es in Wistings Verantwortungsbereich fallen, die menschlichen Überreste auszugraben und die kriminaltechnische Untersuchung zu veranlassen.
Als er die Warnrufe hörte, war Tom Kerr bereits auf den Karrenweg zugestürmt, der hinter der Weide in den Wald hineinführte. Irgendwie hatte er es geschafft, die Handschellen auf der einen Seite zu lösen. Sie hingen an einem Arm und baumelten hin und her, während er weiterrannte. Kerr hatte etwa zehn Meter Vorsprung, als er durch die Öffnung im Zaun schlüpfte.
Dann ertönte ein heftiger Knall. Wisting wurde von einem intensiven Licht geblendet und zu Boden geworfen. Sinnlose Farbmuster wirbelten vor seinen Augen. Schreie und lang gezogene Rufe waren zu hören. Erde und Sand, die von der Explosion aufgewirbelt worden waren, fielen wieder zu Boden.
Es dröhnte in seinen Ohren. Das Atmen fiel ihm schwer.
Wisting stützte sich auf die Ellbogen und blieb auf allen vieren, um sich etwas zu sammeln. Er versuchte zu begreifen, was passiert war. Ein junger Polizist kroch panisch über den Boden und stieß unverständliche Laute aus. Dann richtete er sich auf, stolperte über seine eigenen Füße und kroch weiter. Ein anderer näherte sich auf schwankenden Beinen und mit ausgestreckten Armen. Seine Kleidung war zerrissen, sein Gesicht blutig und verdreckt. Er hob den Kopf und blickte nach oben, ehe er auf die Knie fiel und in Tränen ausbrach.
Wisting kam auf die Füße, öffnete den Mund und schluckte, um die Gehörgänge frei zu bekommen. Jemand stieß einen durchdringenden Schrei aus. Wisting drehte sich um. Maren Dokken war unterwegs zu einem gleichaltrigen Kollegen, der am Boden lag und sich in Schmerzen wand. Ihre Uniform war zerfetzt, die Kollegin blutete aus mehreren Wunden im Gesicht, ihr linker Arm hing steif und blutverschmiert an der Seite herab.
Wisting machte ein paar Schritte, blickte umher und entdeckte Line. Sie lag ein Stück von ihm entfernt auf dem Boden. Er rannte zu ihr hin, aber sie streckte bereits die Hand nach der Kamera aus und erhob sich mühsam.
»Blieb, wo du bist!«, sagte er und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Geh nirgendwohin.«
Mit der Hand auf ihrer Schulter verharrte er und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Sämtliche Muskeln waren angespannt, Adrenalin wurde in die Blutbahn gepumpt, der Puls dröhnte in den Ohren. Ein durchdringender Geruch von Sprengstoff hing in der Luft.
Wo der Wald begann, war jetzt ein Krater, der restliche Zaun war weggesprengt. Zwei Polizisten lagen am Boden. Beide wanden sich vor Schmerzen.
»Bleib hier!«, sagte Wisting abermals zu seiner Tochter.
Der Hundeführer brüllte einen Befehl, schickte den hechelnden Schäferhund in die Richtung, in die Tom Kerr geflohen war, und rannte dann hinterher. Kittil Gram versuchte, ihn zurückzurufen.
»Der Weg ist vielleicht vermint!«, warnte er.
Im selben Moment waren zwei Pistolenschüsse zu hören, und das Hundegebell erstarb.
Wisting kümmerte sich um die verletzten Polizisten. Einer hatte sich aufgesetzt und hustete Blut. Dem anderen schien ein Fuß abgerissen worden zu sein. Er schrie nicht mehr, sondern lag bleich und bewusstlos im hohen Gras. Hammer kam angerannt und überprüfte Puls und Atem des Mannes. Wisting hob das Bein mit dem zerschmetterten Fuß an, um den Blutstrom aufzuhalten. Vorsichtig löste er den Stiefel ab. Sehnen und abgerissene Muskeln ragten aus der offenen Wunde.
Hammer zog seine Jacke aus, schälte sich aus seinem Hemd und zerriss es in Streifen, die er Wisting reichte. Der drückte ein paar davon auf die Wunde, dann wickelte er die anderen um das verletzte Bein und straffte den improvisierten Verband.
»Ich brauche sofortige medizinische Unterstützung«, hörte er Gram über Funk durchgeben. »Es gab eine Granatenexplosion. Drei schwer verletzte Kollegen, mindestens vier weitere mit leichten Verletzungen.«
Die Einsatzzentrale wusste, welche Operation Gram gerade leitete. Der Funksprecher nahm die Meldung auf, ohne weitere Fragen zu stellen.
Mehrere der anderen Polizisten in der Gruppe hatten kleinere Verletzungen im Gesicht davongetragen und bluteten aus Nase und Ohren. Gram beorderte zwei von ihnen zum Wagen, um Sanitätsausrüstung und Waffen zu holen. Ein weiterer übernahm Wistings Platz.
Über Funk meldete sich eine neue, entschieden wirkende Stimme und bat um einen Lagebericht.
Kittil Gram blickte hinüber zu dem Karrenweg, wo Tom Kerr verschwunden war.
»Wir haben die Kontrolle über die Zielperson verloren«, gab Gram durch. »Er ist bewaffnet und bewegt sich zu Fuß in südöstliche Richtung.«
»Wir brauchen Straßensperren«, sagte Wisting. »Und den Helikopter.«
Gram bat über Funk um die Errichtung von Kontrollposten an Kreuzungen und strategisch wichtigen Stellen.
»Ich ersuche um Unterstützung durch Heli 3–0 und Bereitstellung von Uniform 3–0.«
Uniform 3–0 war die Bezeichnung für das Polizeiboot, das um diese Jahreszeit für gewöhnlich einsatzbereit im Hafen lag.
»Verstanden«, ertönte es aus dem Funkgerät.
Stiller hatte telefoniert. Nun beendete er das Gespräch und trat zu den anderen. Sein Gesicht war mit Sand und Erde bedeckt.
»Ich habe Zivilfahrzeuge, die die nächstliegenden Straßen kontrollieren können«, erklärte er. »Vier Einheiten.«
Irgendeines der Funkgeräte gab ein krächzendes Geräusch von sich.
»Der Rettungshubschrauber ist unterwegs«, gab die Einsatzzentrale durch. »Der Notdienst schickt fünf Fahrzeuge mit medizinischem Personal zu euch.«
Gram bestätigte den Eingang der Meldung.
Weitere Meldungen kamen per Funk herein. Ausrückende Einheiten gaben ihre Positionen und die berechnete Ankunftszeit durch, und Gram dirigierte die Mannschaften an die Einsatzorte.
Nach und nach wurde die Lage vor Ort etwas übersichtlicher. Die Verletzten waren in Obhut ihrer Kollegen, nun mussten sie nur noch auf die medizinische Hilfe warten.
Wisting warf einen Blick auf den bewusstlosen Polizisten. Der um seinen Knöchel gewickelte Stoff war blutdurchtränkt, die Blutung selbst jedoch schien nachgelassen zu haben. Der junge Mann war kaum älter als Mitte zwanzig. Seine Uniform war zerfetzt, das Gesicht wies blutende Verletzungen auf.
»Das wird schon wieder«, versicherte Hammer. »Abgesehen von dem Fuß hat er keine weiteren äußeren Verletzungen davongetragen.«
»Mich beunruhigt eher, dass der Druck innere Verletzungen verursacht haben könnte«, sagte Stiller und sah zu dem Polizisten, der immer noch Blut hustete. »Womöglich sind die Lungen in Mitleidenschaft gezogen.«
Hammer hob seine Jacke vom Boden auf und zog sie an.
»Was ist überhaupt passiert?«, fragte er und sah sich um.
Wisting umrundete den Krater, untersuchte den Boden und fand schließlich, wonach er suchte. Im Gras lag eine Angelschnur.
»Ein Stolperdraht«, kommentierte Hammer.
Er griff nach der Schnur und zog sie zu sich. An ihrem Ende hing der Sicherungsstift einer Handgranate.
»Er hat sie ausgelöst, als er durch die Zaunöffnung gerannt ist«, sagte Hammer und deutete hinüber zum Karrenweg, wo Tom Kerr entlanggelaufen war. Der Hundeführer kam auf sie zu. Seine Hände und seine Uniform waren gefärbt von dem Blut des toten Hundes, der ein Stück weiter weg lag.
In der Ferne waren Martinshörner von Einsatzfahrzeugen zu hören.
Der Hundeführer stellte das Funkgerät an seiner Brusttasche leiser und schaute sich wütend um. Sein Blick blieb an Claes Thancke hängen, als wäre alles die Schuld des Rechtsanwalts.
»Er hatte eine verdammte Pistole«, sagte er und hob seine blutigen Hände. »Jemand hat irgendwo eine Waffe für ihn deponiert.«
Die Männer, die Kittil Gram zum Wagen geschickt hatte, um die Erste-Hilfe-Ausrüstung und die Waffen zu holen, kamen zurück. Einer der beiden hatte auch eine Landkarte dabei, die er jetzt ausbreitete. Wisting stellte sich etwas abseits des Halbkreises, der sich um den Mann bildete, konnte sich aber dennoch gut auf der Karte orientieren. Er entdeckte den Bach und die gestrichelte Linie, die den Karrenweg symbolisierte. Dieser mündete in eine Privatstraße, die zu einem Hüttengebiet direkt an der Küste führte.
»Gut«, sagte Gram und streckte den Rücken durch. »Drei Mann.«
Er wählte den Hundeführer und zwei der erfahrensten Streifenpolizisten aus.
»Ich will, dass diese Straße abgesucht wird, bis hinunter zum Wasser.«
Die drei Männer bewaffneten sich mit Maschinenpistolen. Dem Hundeführer wurde die Leitung anvertraut.
Gram wollte gerade noch etwas sagen, wurde aber von der Einsatzzentrale gerufen:
»Die Polizeipräsidentin hat sich mit ihrem Stab beraten«, gab der Einsatzleiter durch. »Es gibt folgende vorläufige Anweisung: Tom Kerr darf das Gebiet nicht verlassen. Er muss mit allen erforderlichen Mitteln aufgehalten werden.«
»Verstanden«, erwiderte Gram und blickte in die Runde, um sicherzugehen, dass die Meldung bei allen angekommen war.
Claes Thancke hatte sich bis jetzt schweigend im Hintergrund gehalten. Nun ergriff er das Wort.
»Mit allen erforderlichen Mitteln«, wiederholte der Anwalt. Seine Stimme klang dünner als sonst. »Was meint sie damit?«
Er bekam keine Antwort.
Metall schlug auf Metall, als der Hundeführer die Waffe durchlud und entsicherte. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel. Dann zogen sie los.
Die Kamera hatte die ganze Zeit weitergefilmt.
Die ersten Sanitäter kamen mit ihrer Ausrüstung auf dem Rücken über den Waldweg gelaufen. Einer hatte eine Trage dabei. Line verfolgte sie mit der Kamera, bis sie die Unglücksstelle erreichten.
Man hatte die Situation beeindruckend schnell und effektiv unter Kontrolle bekommen. In den ersten Minuten nach der Detonation hatte pures Chaos geherrscht. Die durchdringenden Schreie des Polizisten, dessen Fuß durch die Explosion zerfetzt worden war, waren weithin zu hören gewesen. Ein anderer Mann mit einem verletzten Arm hatte völlig apathisch gewirkt.
Kittil Gram hatte die Leitung der Operation inne. Die Umstände waren zunächst recht unübersichtlich, aber Gram hatte den Umfang der Verletzungen und Schäden schnell einschätzen können. Er hatte Aufgaben verteilt und für die nötige Erste Hilfe gesorgt. Dann hatte er sich auf den entflohenen Häftling konzentriert.
Tom Kerr konnte sich überall in dem großen Gebiet versteckt halten. Als Line vor zehn Jahren für die hiesige Lokalzeitung gearbeitet hatte, hatte sie die Suchaktion nach einem Sechsjährigen dokumentiert, der sich verlaufen hatte. Freiwillige und Mannschaften vom Roten Kreuz hatten jeden Winkel durchkämmt, auch Hunde und ein Helikopter waren beteiligt gewesen. Dennoch war ein ganzer Tag vergangen, bevor man den Jungen schließlich fand. Unterkühlt und mitgenommen, aber in insgesamt gutem Zustand war er unter einer Hütte hervorgekrochen, als er Stimmen gehört hatte.
Line zoomte mit der Kamera auf ihren Vater. Er stand etwa fünfzehn Meter von ihr entfernt. Sein Gesicht wirkte extrem angespannt. Über Stillers Mikrofon hörte sie, was ihr Vater dem Kollegen von der Kripo über die Gegend berichtete.
Etwa dreihundert Menschen hatten hier ihren festen Wohnsitz. Im Sommer erhöhte sich die Einwohnerzahl durch die vielen Feriengäste zwar um ein Vielfaches, doch jetzt im Spätsommer gab es nur noch wenige Auswärtige. Hunderte Ferienhütten standen leer und konnten Tom Kerr einen Unterschlupf bieten, wobei er vermutlich am ehesten versuchen würde, an ein Auto oder ein Boot zu kommen, um sich damit aus dem Staub zu machen. Was wiederum bedeutete, dass alle, die hier in der Gegend lebten, sich in akuter Gefahr befanden. Tom Kerr hatte die Polizei in eine Falle gelockt und war jetzt auf der Flucht, bewaffnet mit einer Pistole. Mit einer Verfolgungsjagd ging man das Risiko ein, dass er sich mit Waffengewalt eines Fahrzeugs bemächtigte oder Geiseln nahm.
Ihr Vater drehte sich zu ihr um und blickte in die Kamera, als habe er plötzlich gemerkt, dass sie ihn filmte. Stiller tat das Gleiche. Die beiden wechselten einen kurzen Blick, dann kamen sie auf Line zu.
Sie ließ die Kamera sinken, die Aufnahme aber weiterlaufen.
»Hast du die Ereignisse filmen können?«, fragte ihr Vater.
»Ich glaube schon«, erwiderte Line. »Ich habe die ganze Zeit versucht, die Kamera auf Kerr gerichtet zu halten, weiß aber nicht, was eigentlich passiert ist. Ich muss mal nachsehen, was ich aufgenommen habe.«
»Können Sie die Datei dann gleich zu mir schicken?«, fragte Stiller.
»Klar, sobald ich nach Hause komme«, versprach Line.
Stiller bedankte sich mit einem Kopfnicken.
»Sie können die Kamera jetzt weglegen«, sagte er.
»Ist es okay, wenn ich noch etwas weiterfilme?«
Stiller schien zu überlegen. Dann deutete er auf die Kamera und sagte: »Aber vergessen Sie bitte nicht, dass alle Aufnahmen Eigentum der Polizei sind«, sagte er. »Ohne unsere Genehmigung kann nichts davon verwendet werden.«
»In Ordnung«, erwiderte Line.
Dann hob sie die Kamera wieder an.
Das Dröhnen eines Helikopters näherte sich von Osten. Wisting sah auf die Uhr. Für den Polizeihubschrauber war es noch zu früh, zudem kam er aus der falschen Richtung. Es musste sich um den Rettungshubschrauber handeln. Er blickte zu den Baumwipfeln empor, sah aber nichts.
Stillers Handy klingelte. Er meldete sich, nahm eine kurze Nachricht in Empfang, löste dann das kleine Ansteckmikrofon von seinem Kragen und zog das Kabel durch den Hemdsärmel heraus.
»Sie müssen mit mir kommen«, sagte er zu Wisting.
»Wohin gehen Sie?«
Stiller schwieg, nahm das Sendegerät von seinem Gürtel und gab es zusammen mit dem Mikrofon an Line weiter.
»Folgen Sie mir nicht«, bat er.
»Wohin wollen Sie?«, fragte Line.
Stiller antwortete auch dieses Mal nicht und drehte sich wieder zu Wisting um.
»Ich brauche Ihre Ortskenntnisse«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf die abseitsstehenden Fahrzeuge.
Der Rettungshubschrauber tauchte über ihren Köpfen auf. Er senkte sich flach über die Baumwipfel herunter und blieb einen Augenblick in der Luft hängen, während das Gras unter ihm zu Boden gedrückt wurde. Dann landete er behutsam auf einer ebenen Fläche nahe dem Bach. Der Rotor wurde langsamer, und eine Tür wurde geöffnet. Zwei Männer in roten Overalls kletterten heraus und kamen geduckt unter den Rotorblättern hervorgelaufen.
Wisting nahm Blickkontakt mit Hammer auf und signalisierte ihm, dass er Stiller begleiten werde.
»Wohin geht ihr?«, wollte Hammer wissen.
»Er muss hier irgendwo sein«, sagte Stiller. Seine Stimme klang gedämpft und war bei dem Lärm des Helikoptermotors gerade noch zu hören. »Vielleicht haben wir jetzt die Gelegenheit, ihn zu finden.«
Wisting sah sich um. Stiller hatte nicht von Tom Kerr gesprochen, sondern von dem Anderen.
Auf dem Weg zu den Autos begegneten sie mehreren Sanitätern, die mit ihren Fahrzeugen so dicht wie möglich an den Wald herangefahren waren.
Hinter dem Minibus, mit dem Tom Kerr gekommen war, stand ein grauer Kastenwagen. Wisting erkannte ihn sofort. Es war ein Fahrzeug, das für besondere Operationen eingesetzt wurde. Als er das letzte Mal daringesessen hatte, trug der Wagen litauische Nummernschilder und das Logo einer fiktiven Handwerkerfirma. Jetzt war er völlig anonym.
Stiller zog die Seitentür auf und ließ Wisting den Vortritt. Ein Mann saß vor einer Tafel mit mehreren Bildschirmen. Er reichte Wisting die Hand.
»Ove Hidle«, stellte er sich vor, ohne seine Berufsbezeichnung oder seine Arbeitsstelle zu nennen.
Stiller zog die Tür wieder zu.
Ove Hidle kam direkt zur Sache.
»Ich bin ihm durch den Wald bis zum Schotterweg gefolgt«, sagte er und deutete auf eine Landkarte, die auf dem größten Bildschirm zu sehen war.
Wisting konnte sich problemlos orientieren. Er erkannte sofort die alte Schafweide, die sich zum Bach hinunterzog, und die Stelle, wo die Granate explodiert war.
Ove Hidle sah auf die Uhr.
»Er war bis vor vierzehn Minuten in Bewegung«, erklärte er.
»Und wo steckt er jetzt?«
»Hier.«
Hidle zeigte auf ein paar Häuser am Ende eines Wegs, der zum Wasser hinunterführte. Darüber war ein rotes Stecknadelsymbol zu sehen.
»Ich habe seine Schuhe verwanzt, bevor wir das Gefängnis verlassen haben«, erklärte Stiller. »Zur Sicherheit.«
»Tom Kerr befindet sich also dort«, sagte Wisting und zeigte auf den Bildschirm.
Ove Hidle reichte ihm ein Päckchen mit Desinfektionstüchern.
»Wir haben ihn unter Kontrolle«, versicherte er und wechselte von der Landkarte zu einem Satellitenbild und zoomte die Häuser heran.
Wisting wischte sich das restliche Blut von den Händen und betrachtete das Satellitenbild. Sechs Sommerhütten mit Gartenhäusern und Anbauten. Insgesamt zwölf Gebäude. Der rote Punkt, der Tom Kerr symbolisierte, stand über dem Anbau eines weiß gestrichenen Kapitänshäuschens. Fünfzig Meter davon entfernt befand sich ein Anleger mit einem Segelboot.
»Er ist jetzt seit einer Viertelstunde da drin«, fügte Hidle hinzu.
Wisting ließ sich auf einen freien Sitz sinken. Seit der Explosion waren dreiunddreißig Minuten vergangen, rechnete er aus. Kerr hatte achtzehn Minuten benötigt, um zum nächstgelegenen Hüttengebiet zu kommen. Seitdem verhielt er sich vollkommen ruhig.
»Ihr glaubt, dass er auf jemanden wartet«, sagte Wisting und drehte sich zu Stiller um. »Dass er auf den Anderen wartet.«
»Er wird so lange dableiben, bis sich alles beruhigt hat«, meinte Stiller. »So lange, bis die Polizei sich zurückzieht. Dann kommt der Andere und holt ihn ab.«
»Aber die Polizei wird sich erst zurückziehen, nachdem alle Gebäude in der Nähe durchsucht worden sind«, wandte Wisting ein.
»Ich weiß«, erwiderte Stiller und nickte. »Ich brauche Ihre Hilfe, um die Polizeipräsidentin und ihren Stab davon zu überzeugen, dass die Suchaktion abgebrochen werden muss.«
Wisting biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Die ganze Zeit wurden über Stillers Funkgerät Nachrichten durchgegeben. Jemand meldete atemlos, dass ein Paar Handschellen auf dem Karrenweg gefunden worden seien, an der Stelle, wo der Weg in die Straße zu den Hütten mündete.
»Wir können entscheiden, ihn jetzt sofort zu schnappen. Oder wir warten auf den Anderen und schnappen beide«, fuhr Stiller fort. »Aber wir brauchen eine Entscheidung, bevor die Mannschaften ihn finden.«
»Ich rufe die Polizeipräsidentin an«, sagte Wisting und zog sein Handy hervor.
Agnes Kiil war zur Leiterin des neuen, erweiterten Polizeidistrikts ernannt worden, der nach der Umstrukturierung die Regierungsbezirke Telemark, Vestfold und Buskerud umfasste. Wisting war mit dieser Wahl sehr zufrieden. Polizeipräsidentin Kiil war äußerst kompetent und hatte hervorragende Kenntnisse in der Kriminalistik.
»Hallo, Wisting«, sagte sie, nachdem sie den Anruf angenommen hatte. »Wir halten gerade Kriegsrat. Was können Sie mir berichten?«
Wisting sah die verschiedenen Abteilungsleiter vor sich, die ihr bei strategischen Entscheidungen in außergewöhnlichen Fällen zur Seite stehen sollten.
»Die Flucht war präzise vorbereitet«, sagte Wisting. »Alles deutet darauf hin, dass Kerr Hilfe bekommen hat. Wir vermuten, dass der Andere ihm beigestanden hat.«
»Ich stelle Sie mal laut«, verkündete Kiil.
Was Wisting vorzubringen hatte, war ein delikater Vorschlag.
»Wer ist denn noch da?«, fragte er, um sicherzugehen, dass keine Außenstehenden etwas mitbekamen.
Nachdem Agnes Kiil die Namen der festen Stabsmitarbeiter heruntergerasselt hatte, fuhr Wisting beruhigt fort und erklärte, wie es ihnen gelungen war, Tom Kerr zu orten. Niemand am anderen Ende der Leitung kommentierte, dass es sich streng genommen um eine unzulässige Personenüberwachung handelte.
»Wir haben Grund zur Annahme, dass er auf weitere Unterstützung wartet, um von hier wegzukommen«, meinte Wisting.
»Inwiefern?«
»Ich denke, dass er auf den Rückzug der Polizei wartet, damit ihn derjenige, der die Flucht vorbereitet hat, abholen kann.«
»Was schlagen Sie denn jetzt vor?«, wollte Agnes Kiil wissen.
»Dass wir das Ganze von einer Suchaktion in eine Überwachungsaktion umwandeln. Wir wissen, wo Kerr sich befindet, und können einfach abwarten, bis er Besuch bekommt.«
Der für die operativen Einsätze zuständige Abteilungsleiter ergriff das Wort:
»Wo genau befindet sich Tom Kerr denn jetzt?«
»In einem Sommerhäuschen an der Küste«, entgegnete Wisting. »Das umliegende Gelände und die Vegetation erlauben, dass wir ihn aus der Deckung observieren. Es gibt eine Straße, die dorthin führt, aber sehr wahrscheinlich kommt der Andere über den Seeweg. Es sind etwa fünfzig Meter von dem Haus bis hinunter zum Anleger. Ich kann Ihnen die Koordinaten schicken.«
Ein Helikopter flog über den Wagen, in dem Wisting saß. Der am schwersten verletzte Polizist befand sich jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus.
»Was Sie vorschlagen, erfordert allerdings ein Scheinmanöver zur Tarnung«, fuhr der operative Leiter fort. »Wir können uns da nicht einfach so rausziehen, sondern sollten in den nächsten Stunden die Aktivität in der Gegend aufrechterhalten.«
»Außerdem würden wir die Medien bewusst in die Irre führen«, warf jemand anderes ein. Wisting nahm an, dass es sich um den Mann handelte, der für Pressekontakte und Kommunikation im Polizeidistrikt zuständig war.
Die Polizeipräsidentin schaltete sich wieder ein.
»Wir brauchen etwas Zeit, um das genauer abzuwägen«, sagte sie. »Ich rufe Sie wieder an.«
Wisting starrte erwartungsvoll auf den Bildschirm, als könne sich der rote Marker jeden Augenblick in Bewegung setzen.
»Diese ganze Geschichte wird sicher noch genauer untersucht«, sagte er. »Es wird eine interne Ermittlung geben.«
»Die Operation lag in Ihrer Verantwortung«, gab Stiller zurück.
Wisting richtete den Blick auf ihn. Schuldzuweisungen interessierten ihn eigentlich nicht, doch Stiller hatte recht. Wistings Polizeidistrikt war für die Sicherheit während des Ortstermins zuständig. Die operative Verantwortung lag bei Kittil Gram. Er hatte einen detaillierten Plan erarbeitet, dabei allerdings nicht die Bewaffnung seiner Leute durchsetzen können.
»Ich möchte niemanden beschuldigen«, fuhr Stiller fort. »Ich wollte nur klarmachen, auf wen sich die interne Ermittlung konzentrieren wird.«
»Das sehen wir, wenn es so weit ist«, erwiderte Wisting. »Eigentlich hätte das alles überhaupt nicht passieren dürfen. Von dem Moment an, als klar war, dass Tom Kerr das Gefängnis verlässt, hätte Ihre Abteilung seine gesamte Kommunikation überwachen müssen. Er hätte nie erfahren dürfen, für welchen Tag die Begehung vorgesehen war. Dann hätte er auch nichts planen können.«
»Das ließ sich nicht anders machen«, entgegnete Stiller. »Wir mussten einen Tag finden, der auch seinem Anwalt passte.«
»Aber Post und Telefonate hätten überwacht werden müssen, damit er mit niemandem draußen hätte kommunizieren können, ohne dass wir davon erfahren hätten.«
»Das haben wir getan«, versicherte Stiller. »Aber seine Besucher konnten wir nicht auch noch fortlaufend überwachen lassen.«
»Wer hat ihn überhaupt besucht?«
»Eine Frau, mit der er sich schreibt, sein Bruder und ein Ehrenamtlicher vom Besuchsdienst des Roten Kreuzes.«
»Eine Frau?«, wiederholte Wisting. »So eine Art Verehrerin?«
»Die Briefe machen zumindest diesen Eindruck«, sagte Stiller und nickte. »Grundsätzlich hätte sie in seinem Auftrag die Informationen und Instruktionen aus dem Gefängnis schmuggeln können.«
»Wer ist denn diese Frau?«
Ove Hidle zog eine Mappe hervor.
»Lone Mellberg«, sagte er, ohne die Mappe zu öffnen. »Dreiundvierzig Jahre alt, wohnt in einer Souterrainwohnung in Hokksund. Geschieden, eine siebzehnjährige Tochter, für die sie kein Sorgerecht hat. Sie arbeitet in einem Lebensmittelladen. Nicht vorbestraft.«
»Wie lange läuft dieser Briefwechsel denn schon?«, fragte Wisting.
»Fast drei Jahre.«
»Kannten sie sich von früher?«
»Nein.«
»Wann hat sie ihn zuletzt besucht?«
»Gestern.«
Wisting fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die nach der Explosion immer noch voller Sand und Erde waren.
»Sie hätte ihn bis zum Termin der Begehung überhaupt nicht besuchen dürfen«, sagte er.
Stiller zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass man hinterher immer klüger sei.
»Das muss auch gar nichts mit dem Anderen zu tun haben«, fuhr Wisting fort. »Möglicherweise hat er die Frau überredet, ihm zu helfen. Er könnte sie instruiert haben, die Waffe und eine Handgranate zu besorgen und den Stolperdraht zu verlegen.«
»Vielleicht«, entgegnete Stiller und gab Ove Hidle ein Zeichen.
Der änderte die Bildschirmansicht.
»Wir überwachen sie«, erklärte er.
Eine Satellitenaufnahme von Hokksund zeigte eine Mischung aus Wohn- und Gewerbegebäuden am Drammenselv. Ein roter Marker befand sich über einem großen Parkplatz.
»Sie ist bei der Arbeit«, erklärte Hidle und zoomte etwas näher heran. »Das hier ist der Kiwi-Supermarkt. Wir haben ihren Wagen geortet. Er steht auf dem Kundenparkplatz.«
»Abgesehen davon wird sie auch direkt überwacht«, fügte Stiller hinzu. »Wir haben eine Zivileinheit von zwei Männern auf sie angesetzt.«
»Wie lange steht sie schon unter Beobachtung?«, wollte Wisting wissen.
»Seit heute früh.«
»Das heißt, sie kann gestern oder letzte Nacht hier gewesen sein und die Flucht vorbereitet haben?«
»Theoretisch möglich«, gab Stiller zurück. »Wir warten noch auf die Aufzeichnungen der Mautschranken.«
»Überwachen Sie auch Kerrs Bruder und den Mann vom Besuchsdienst?«, fragte Wisting.
Ende der Leseprobe