Jagdrausch - Heinz Kröpfl - E-Book

Jagdrausch E-Book

Heinz Kröpfl

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Beschreibung

Wer fällt wem zum Opfer? Ein heißer Tag. Eine geliebte Frau, die sich nicht mehr geliebt fühlt. Ein Ex Schriftsteller, der insgeheim weiterschreibt. Und ein Mann in einem Geländewagen: im Jagdrausch, wie die anderen, auch er. Die Frau verschwindet während einer Wanderung im Wald. Spurlos. Nach einem Streit mit dem Ex-Schriftsteller. Der Mann im Geländewagen nimmt Fahrt auf. Bis er schließlich zur Waffe greift. Gegen Ende fällt ein Schuss. Wer wurde getroffen? Wo ist die Leiche? Und: Warum schwitzt der Vernehmungsbeamte ständig? Jagdrausch ist ausdrücklich (k)ein Kriminalroman – der sprunghaft nicht nur Haken schlägt, sondern Kapriolen. Über und in all dem liegt nicht nur das ständige Vorhandensein einer latenten Bedrohung, sondern, viel mehr noch, das existenzielle Thema des Verschwindens – im Fadenkreuz zwischen Urangst und Ziel. Der überraschende Ausgang ist hart an der Realität – und zeichnet die Geschichte zugleich als subtile Parabel über die weitreichende Macht von Motiven und die zeitlos-aktuelle Frage nach Gerechtigkeit.

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Heinz Kröpfl

JAGDRAUSCH

(K)ein Kriminalroman

VERLAG ANTON PUSTET

Der Autor dankt dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport für die Förderung dieses Romans mit einem Arbeitsstipendium für Literatur; ebenso der Literar-Mechana für einen Arbeitsaufenthalt in der Villa Bielka am Grundlsee.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel

Lektorat: Markus Weiglein

eISBN 978-3-7025-8101-5

Auch als gedrucktes Buch erhältlich: ISBN 978-3-7025-1069-5

www.pustet.at

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

1

Das reicht! So etwas lasse ich mir nicht gefallen!

Rosa wusste nicht, ob die Tränen, die ihr in die Augen schossen, eher aus dem Gefühl des Schmerzes heraus kamen oder aus purer Wut, die in ihr hochstieg.

Fuchsteufelswild drehte sie sich um und jagte mit hochrotem Kopf davon.

Sie nahm noch wahr, wie ihr Begleiter ihr etwas hinterherrief. Es klang wie eine Frage, wohin sie denn nun wolle.

Ich gehe nach Hause!, stieß Rosa hervor.

Den ganzen Weg zurück – für den wir mit dem Auto eine Stunde gebraucht haben? Wie soll denn das gehen?

Es wird gehen!, entgegnete Rosa – die eigentlich Rosalinde hieß, aber wie hätte eine Linde jemals rosa sein sollen? – voller Zorn und setzte ihren Weg genauso bestimmt wie tränenblind fort.

Sie wandte sich kein einziges Mal mehr um.

2

Guten Morgen!, krächzte Jeremias, der Ex-Schriftsteller.

Fragend blickte er in die beiden Gesichter vor seiner Wohnungstür. Der größere der beiden Männer trug einen Vollbart und schwitzte merklich unter seiner Kopfbedeckung. Kein Wunder, dachte Jeremias: Das Thermometer auf seinem Balkon würde wohl jetzt schon, am – wie er bei einem unwillkürlichen Blick auf die Armbanduhr feststellte – noch einigermaßen frühen Morgen, um die dreißig Grad anzeigen. Mindestens. Wenn nicht bereits an die vierzig: Südseitig angebracht, war es von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang beinahe unablässig dem direkten Einfluss der Strahlen ausgesetzt. Zudem wohnte er im dritten Stock und es gab keinen Lift. Außerdem war der Mann ziemlich massig, um nicht zu sagen korpulent.

Ob sie die Wohnung betreten dürften, sie hätten ein paar Fragen, erkundigte sich der Schwitzende. Sein Tonfall klang eher nach einer Aufforderung als nach einer höflichen Bitte.

Von diesem Ansinnen überrumpelt, trat Jeremias zur Seite und machte mit einem angedeuteten Nicken den Weg frei. Freiwillig, doch in der Tat fühlte er sich dazu gezwungen.

Während er mit der Hand den Weg in die Küche wies und den beiden Männern nachtrottete, wurde ihm flau im Magen. Zuerst war er unsanft vom beharrlichen Läuten der Türklingel geweckt worden, nun hatte er auch noch ungebetenen Besuch in der Wohnung. Welcher selbstverständlich korrekt gekleidet war, in – soweit Jeremias es beurteilen konnte – vollständig-tadelloser Garderobe, demgegenüber er selbst gerade in höchster Eile einen Schlafmantel über die Boxershorts gestreift hatte. Von einem Frühstück ganz zu schweigen. Ohne seine zwei Tassen Kaffee und seine beiden obligaten Frühstücksbrote war Jeremias aber nicht gerade ein Mensch, auf den er selbst eine solche Bezeichnung angewandt hätte: Seine morgendliche Menschwerdung vollzog sich in der Regel überhaupt erst bei der zweiten Tasse des koffeinhaltigen Getränks, während er sich auf dem Balkon in Ruhe dem Genuss seiner Morgenzigarette hingab. Erst dabei – oder vielmehr unmittelbar danach – fühlte sich Jeremias halbwegs lebendig und tatkräftig genug, um den Tag – egal ob Alltag oder irgendein außergewöhnlicher – zu meistern.

Jeremias bot seinen ebenso unerwarteten wie unwillkommenen Besuchern einen Platz am Küchentisch an. Er war ein höflicher, ja ein freundlicher Mensch. Auch wenn er nicht ausgeschlafen war und soeben unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war. Und einen Albtraum hinter sich hatte.

Während der Jüngere sich kommentarlos auf einem Stuhl niederließ – er hatte noch kein einziges Wort gesprochen –, blieb der Schwitzende stehen. Er nahm lediglich seine Kappe vom Kopf und drehte sie vor seinem Körper ein ums andere Mal in den Händen – dabei merkbar der hartnäckigen Versuchung widerstehend, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Der schwarze, rechteckförmige Griff seiner Pistole ragte beinah überdeutlich aus dem Holster am Gürtel, das augenscheinlich aus Kunststoff bestehende Teil blitzte bei jeder Bewegung kurz auf. Jeremias setzte Kaffee auf und bat um einen Augenblick Geduld: Er sei eben erst wach geworden – aber noch nicht ganz munter.

Der Schwitzende kratzte sich an seinem Bart. Er machte Jeremias irgendwie nervös.

Ex, dachte er, während das Wasser durch die Filtermaschine lief, in einem fort verbittert. Ex, Ex, Ex. Im Grunde bestand er, bestand sein Dasein so gut wie nur noch aus dem, was seit mehr oder weniger langer Zeit der Vergangenheit angehörte. In erster Linie und am gewichtigsten das Ex vor dem Begriff Schriftsteller, das er sich erst seit Kurzem zu tragen gezwungen sah – seitdem unvermutet sein ganzes Leben sukzessive den Bach hinuntergegangen war. Das Ex vor Ehemann existierte schon wesentlich länger und war deshalb bereits zum Teil, aber bei Weitem nicht zur Gänze verblasst. Auch das faktische Ex vor Vater, demjenigen eines mittlerweile längst erwachsenen Sohnes, zu dem ihm seit Langem jeglicher Kontakt fehlte, war schon fast seit der Scheidung oder vielmehr Trennung vorhanden; dieses aber brannte zeitweise immer noch stark und schmerzhaft in ihm. Ex-Dienstnehmer wiederum war er seit mehreren Jahren, dem trauerte er nicht nach; aber in Zukunft würde er wohl nur noch ausschließlich als freiberuflicher Texter sowie Lektor und Korrektor und gelegentlicher Übersetzer sein Auskommen finden können, wenn überhaupt – was ihm in der Vergangenheit zwar ein manchmal dringend benötigtes, da einziges Einkommen gebracht hatte, aber ihn weder erfüllte noch mit einer persönlichen Identität oder einem Selbstverständnis versehen wollte. Oder wie sollte er sich mit seinen Ansprüchen und Ambitionen fühlen, wenn er beispielsweise einen Werbeslogan wie jenen für eine regionale Seifenmanufaktur kreierte: Greifen Sie zu – hier folgte der Name des Produkts –, und Sie sind mit allen Wassern gewaschen!? Nein, eigentlich war er in einem solchen Fall nichts anderes als ein Prostituierter, ein Callboy, der seine Kunstfertigkeit zu einem Kunsthandwerk verbiegen musste, um sich irgendwie über Wasser zu halten. Und dies inzwischen mehr denn je zuvor – zumindest sollte er das tun, einzig um zu überleben, um seine Existenz irgendwie aufrechterhalten zu können.

Und seit dem Vortag war er zudem auch noch … Aus und vorbei.

Was er aber jetzt tatsächlich noch war, davon hatte er keine Ahnung – schon gar nicht in ebendem Moment, als ihn der Schwitzende, während Jeremias sich endlich mit zittriger Hand Kaffee einschenkte, abrupt aus seinen Gedankengängen riss: Kennen Sie eine Person mit dem Namen Rosalinde Fuchs?

3

Sie war ihm also durchgegangen. Das war offensichtlich. Er hatte sie nicht halten können. Wie lange sich das schon angebahnt hatte, konnte er nicht beurteilen. Aber aus ihrer Körpersprache während der Auseinandersetzung, ja bereits während sie noch miteinander – oder eher nebeneinander –unterwegs gewesen waren, und er hatte es, auf der Lauer, ganz genau verfolgt, schloss er: Es war natürlich schon länger nichts mehr in Ordnung gewesen für sie. Und für ihren Gefährten wohl ebenso wenig. Dass alles zusammen nicht mehr passte, war nicht zu übersehen.

Ohne Zeit zu verlieren, folgte er ihr.

Sie begab sich in Richtung des großen Schotterparkplatzes, blieb nah am Waldrand, noch hinter der Reihe der abgestellten Fahrzeuge, und ging dann ohne jeden Seitenblick weiter, an der wenig befahrenen Straße entlang. Voll rasender Wut, wie ihm schien.

Er war mittlerweile bei seinem Geländewagen angekommen. Für ein paar Sekunden blickte er ihr prüfend nach.

Zwischen den Bäumen war es einen Hauch kühler gewesen. Er war froh, dass er einen Hut trug. Der schützte ihn, mit seiner breiten Krempe, vor einem Sonnenbrand. Wenigstens an den dadurch abgedeckten Stellen.

Wie üblich und im Gegensatz zu den meisten anderen Lenkern hatte er rückwärts eingeparkt: So konnte er bei Bedarf immer schnellstmöglich losfahren. Aus dem Kofferraum holte er eine lange Tasche hervor und deponierte sie auf dem Beifahrersitz. Schräg, sodass sie, am Handschuhfach anstehend, entsprechend Platz fand.

Er war so dicht dran, sein Vorhaben in die Tat umsetzen zu können, wie es nun seit Tagen nicht der Fall gewesen war. Dabei hatte er angenommen, eine solche Möglichkeit würde sich ihm wahrscheinlicher erst gegen Abend auftun. Sodass er das Waldstück zur Stunde eher zur näheren Sondierung durchstreift hatte als mit einer anderen Erwartungshaltung.

Mit leicht schwitzenden Händen – das Jagdfieber hatte bereits von ihm Besitz ergriffen –, ansonsten aber völlig ruhigen Fingern startete er den Motor: innerlich geradezu kaltblütig.

Für ihn stand fest: So einfach würde er sie nicht davonkommen lassen.

Im Gegenteil.

Er würde sie gar nicht davonkommen lassen. Sie war zum Freiwild geworden. Er würde sie sich schnappen. Heute. Jetzt. Diese Gelegenheit, die sich ihm bot, die würde er sich nicht entgehen lassen.

4

Sie dachte kein einziges Mal daran, sich umzudrehen, ja auch nur einen Blick nach links oder rechts zu werfen.

Es reichte ihr. Im Grunde hatte es ihr schon die längste Zeit gereicht. Es lief einfach nicht mehr zwischen ihnen. Dabei hatte es so gut angefangen. Sie wusste noch genau, wie sie eher zufällig und ohne irgendwelche näheren Informationen im Vorfeld mit ihrer Freundin Elfi vor ein paar Monaten bei kühlem, wechselhaftem Vorfrühlings- oder vielmehr Spätwinterwetter die Stadtbibliothek aufgesucht hatte.

Der Name des Schriftstellers, der an diesem Abend im Rahmen einer Lesung sein neuestes Buch vorstellte, hatte ihr bis dahin nichts gesagt. Sie hatte auch kein Bild von ihm im Kopf gehabt. Der Vorschlag, die Veranstaltung zu besuchen, war von Elfi gekommen. Die ebenso gerne las wie sie selbst.

Als sie eintrafen, wenige Minuten vor Beginn, hatten sich bereits etliche Gäste dort eingefunden.

Aus irgendwelchen Gründen ergab es sich, dass sie dann mit ihrer Freundin in der ersten Reihe Platz nahm. Oder fand, je nachdem: Wie sie feststellen musste, bevorzugten es die Leute anscheinend auch hier, sich eher im Hintergrund aufzuhalten. Als wäre die erste Reihe irgendwelchen, an diesem Abend ohnehin nicht vorhandenen Ehrengästen vorbehalten. Oder als würden sie dort direkt in eine imaginäre Schusslinie geraten.

Sie selber hatte es aber spätestens schon als Jugendliche, in der Schule, vorgezogen, immer möglichst nah am Ort des Geschehens zu sein. Das Geschehen: die Vermittlung. Von Wissen. Oder eben, an diesem Abend: von Ausschnitten aus einem Roman.

Denn schon in ihrer Kindheit war sie leicht fehlsichtig gewesen. Kurzsichtig, genau genommen. Das hatte sich später, im Laufe der Jahre, verstärkt. Nichts Tragisches freilich. Und mit dem Hören hatte sie ohnehin keine Probleme. Aber selbst bei mündlich dominierten Ereignissen bevorzugte sie es, nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen so viel wie möglich davon aufzunehmen. Ohne dass sie permanent eine Brille tragen wollte oder musste. Denn hatte sie eine solche zu lange ohne Unterbrechung auf, bekam sie regelmäßig Kopfschmerzen – auch noch nach Jahrzehnten. Keine schlimmen, aber das leichte Ziehen an den Schläfen war ihr unangenehm genug, zumal es nicht so schnell abklang.

Und an diesem Abend war sie ohne Brille ausgegangen.

Die Lesung fand sie interessant und gelungen; beim Buffet im Anschluss unterhielt sie sich mehr oder weniger angeregt mit Elfi und ein paar anderen Besuchern, die ihr zumindest vom Sehen bekannt waren. Es war ja eine Kleinstadt: Man lief einander gelegentlich über den Weg. In dem Fall vor allem auch an diesem Ort. Obwohl sie nicht zum Stammkundenkreis der Bücherei gehörte.

Ob sie den Schriftsteller irgendwie anziehend gefunden hätte, hätte sie zu jenem Zeitpunkt gar nicht zu sagen gewusst. Sie hatte schlicht keinen Gedanken daran verschwendet.

Ihre Freundin erwarb daraufhin noch ein Exemplar seines Romans und ließ sich von ihm, hinten am Lesetisch, eine Widmung hineinschreiben. Rosa unterzog derweil den Büchertisch einem näheren Augenschein – praktischerweise war er weiter vorne, in der Nähe zum Buffet, platziert.

Ein jüngerer Mann, der sich plötzlich an ihre Seite gesellte, griff zu einem Exemplar eines anderen Titels und blätterte darin. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Offensichtlich war er ohne Begleitung gekommen und war hier weder mit jemandem bekannt, noch wirkte er daran interessiert, mit anderen ins Gespräch zu kommen.

Es war eben eine Kleinstadt: Man kannte einander – oder eben nicht. Und manchmal lernte man einander kennen –und manches Mal eben doch nicht.

Rosa blickte zu Elfi hinüber: Diese schien sich über eine soeben getätigte Äußerung des Schriftstellers ziemlich zu amüsieren.

Elfi hätte seine Mutter sein können. Vom Alter her. Aber auch vom Aussehen.

Der junge Mann legte das Buch wieder auf den Tisch zurück und ging gruß- und kommentarlos von dannen. Höflich fand Rosa sein Verhalten nicht gerade, selbst wenn er womöglich von seinem Charakter her kein leutseliger Mensch war. Aber nichtsdestotrotz hatte er sie auf den Band, den er in den Händen gehabt hatte, neugierig gemacht, sonst hätte sie wahrscheinlich gar nicht danach Ausschau gehalten: Ein weiteres Exemplar davon konnte sie nirgendwo entdecken. Während sie nach wie vor auf Elfi wartete, die ihre Unterhaltung mit dem Schriftsteller einfach nicht beenden wollte, obwohl er ihr das Werk längst signiert hatte, griff Rosa nun zu dem Buch. Es war nicht allzu umfangreich.

Sie wendete es und überflog den Klappentext.

In einigem erkannte sie sich zu ihrer Verblüffung auf Anhieb wieder.

5

Sie kennen eine Person namens Rosalinde Fuchs?

Was sollte das? Was war los? Während Jeremias, der Ex-Schriftsteller und auch in Sonstigem allerlei Ex, wahrheitsgemäß automatisch, obschon in etwas zögerlichem Tonfall bejahte, stellte er sich die Frage, was diese Frage nun – und noch dazu jetzt, am momentan für ihn tatsächlich viel zu frühen Morgen – sollte.

Er war spät ins Bett gekommen, am vergangenen Abend. Eigentlich sogar erst nach Mitternacht, also am angebrochenen Morgen. Oder vielmehr im angebrochenen Heute, wie ihm, in seiner altvertrauten literarisch-hintergründigen, um nicht zu sagen sophistischen Denkweise, und das in jederlei Hinsicht schmerzhaft, da er sie einfach nicht aus seinem Wesen verbannen konnte, durch den Kopf ging.

Nach dem Vorfall – er wusste, er hatte vollständig die Kontrolle über sich verloren gehabt – war er noch lange Zeit ziel- und planlos in dem weitläufigen Gebiet herumgelaufen. Kreuz und quer – anstatt auf einem ausgewiesenen Weg oder auch nur ausgetretenen Pfad zu bleiben, bog er bei der nächsten Abzweigung fast jedes Mal in einen anderen ein. Der mitgeführte Wanderführer, das ganze Kartenmaterial, die Beschreibungen, die angeführten Aussichtspunkte und Besonderheiten im Gelände: Es hatte keinerlei Bedeutung mehr für ihn, er beließ die Unterlagen, wo sie waren – in seinem Rucksack. Anderen Menschen, die allesamt nicht allein unterwegs waren, ging er überwiegend aus dem Weg; er wollte für sich sein. Fieberhaft unternahm er nur noch den Versuch, davonzulaufen. Auch wenn er wusste, dass ihm das lediglich und bestenfalls vorübergehend gelingen konnte, er würde von den Geschehnissen und der Situation früher oder später eingeholt werden, denn auf einer solchen Jagd stand er von vornherein auf verlorenem Posten. Aber die Zeitspanne, die ihm dazu blieb, versuchte er dafür nach Möglichkeit zu strecken.

Irgendwann merkte er, dass er sich komplett verirrt hatte.

Und das nicht nur, was die Topografie und Geografie des Geländes betraf. Er hatte in nahezu allem die Orientierung verloren.

Bezüglich Ersterem konnte er sich schließlich aber wenigstens doch mit einem Griff zu seinem Wanderführer behelfen. Schon oft zuvor hatte ihm dieser gute Dienste erwiesen. Bisher aber lediglich, um seine Schritte möglichst nicht in die Irre zu führen und auf alle wichtigen Etappenpunkte und Kreuzungen auf dem Weg zu einem Ziel hinzuweisen. Nicht aber, um ihm den Ausweg aus einem schier grenzenlos verschlungenen Waldlabyrinth zu zeigen.

Er hatte eine größere – und vollkommen andere – Strecke zurückgelegt, als er gedacht hatte, erkannte er, als er endlich an einer Stelle angelangt war, die auch auf der Karte eindeutig auszumachen war: Er war alles andere als im Kreis gegangen, sondern hatte sich von seinem Ausgangspunkt ziemlich weit entfernt. Die Sonne stand bereits tief zwischen den Bäumen. Er würde sich beeilen müssen, um rechtzeitig vor Einbruch der Dämmerung zurück am Parkplatz zu sein.

Die Jause, die noch sie am Morgen zubereitet hatte, war längst verzehrt. Auch der Trinkvorrat war ausgegangen. Am nächstbesten Bachlauf, der ihm unterkam, füllte er die Flaschen wieder auf und trank gierig. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Obwohl die Hinweistafeln am Parkplatz Rauchen und das Hantieren mit offenem Feuer während dieser Jahreszeit oder ganz allgemein strengstens untersagten. Oder war es nur ein Ersuchen gewesen? Er war sich nicht sicher. Einem Park-Ranger würde er hoffentlich nicht über den Weg laufen – bislang hatte er lediglich im Eingangsbereich, am Infostand beim sogenannten Erlebnis- und Besucherzentrum des Nationalparks, einen solchen zu Gesicht bekommen. Einen einzigen. Das war etliche Stunden her.

Und viel – viel zu viel, als dass Jeremias es auch nur irgendwie fassen konnte – war seither passiert.

6

Mir gefiel die Sache nicht. Dieses Gefühl beschlich mich schon sehr schnell.

Und auf meine Intuition kann ich mich für gewöhnlich verlassen. Nicht jedes Mal, aber in den meisten Fällen ist sie ein untrüglicher Indikator. Was mir immer wieder zugutegekommen ist. Auch wenn es sich in der Regel um Bagatellen handelte.

Hier aber ging es möglicherweise um etwas Größeres. Etwas viel Größeres als die Kleinigkeiten, die wir normalerweise zu bearbeiten haben.

Das konnte ich förmlich wittern.

Auf meiner Stirn spürte ich Schweiß. Doch ich blieb cool. Ich gestattete mir lediglich, die Kappe abzunehmen, und fuhr mir hin und wieder durch den Bart.

Noch hatte ich keinerlei Ahnung, worauf die Sache letztlich hinauslaufen würde.

7

Wann haben Sie Rosalinde Fuchs das letzte Mal gesehen?

Wieso?, entfuhr es Jeremias.

Die Fragen stellen wir, entgegnete der Schwitzende unwirsch. Beinah herrisch, wie Jeremias den Eindruck hatte.

Ich … Ich weiß nicht, antwortete Jeremias. Nicht nur, dass er sich von Uniformierten solchen Zuschnitts schon von jeher eingeschüchtert fühlte: Tatsächlich wusste er nicht, was er darauf antworten sollte.

Er versuchte, zunächst einmal etwas Zeit zu gewinnen, und nahm einen kräftigen Schluck aus der Kaffeetasse. Auch wenn er sich daran fast den Mund verbrannte.

Als er, längst war es dunkel geworden, endlich wieder bei sich zu Hause angekommen war, stand er nicht nur erschöpft, sondern auch völlig desperat und entnervt vor der Eingangstür zu seinem Wohnhaus: Der einzige Schlüssel, den er bei sich trug, war derjenige seines Autos.

Denjenigen Schlüsselbund jedoch, an dem sich nebst anderen sein Haus- und Wohnungsschlüssel befand, führte er nicht mit sich. Konnte er auch gar nicht: Der befand sich ja bei Rosa. Vielmehr: in Rosas Wohnung. In der Tasche seiner anderen Hose.

So etwas Blödes aber auch!

Was jetzt?

Wann war das, als Sie sie zum letzten Mal gesehen haben?, vernahm er abermals.

So war ihm nur die Möglichkeit verblieben, wieder in das Auto zu steigen und ein paar Kilometer weiter zu seiner Mutter zu fahren, um an deren Tür zu läuten. Wenigstens das.

Zum Glück war sie noch wach; im Hintergrund lief der Fernseher.

Jeremias erklärte in sehr kurzen, ja äußerst knappen Worten, er habe seinen Schlüssel verlegt, sie möge ihm bitte den bei ihr für den Fall der Fälle hinterlegten Ersatzschlüssel aushändigen. Denn jetzt sei ein solcher Notfall eingetreten.

Eine Folge irgendeiner Gerichts- oder Krimisoap lief, wie er mit einem raschen Blick feststellte.

Während seine Mutter, merklich unwillig ob der späten Störung, sich auf die Suche nach dem Schlüssel begab, fragte sie, wie es dazu gekommen war.

Nun, er sei wandern gewesen …, erwiderte Jeremias. Lügner war er gewiss keiner – nie gewesen.

Das nächste Mal vergesse er vielleicht gar seine Unterhose auch noch bei einem Weibsbild!, unterbrach ihn seine Mutter da schon.