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Während die Vampirin Mira noch mit den Geistern aus ihrer Vergangenheit kämpft, fordern einige tragische Ereignisse in der Gegenwart ihre Aufmerksamkeit. Zudem haben sich die Naturi endgültig aus ihrem Gefängnis befreit und drohen nun über die Welt der Menschen herzufallen. Mira und der Vampirjäger Danaus müssen eine Katastrophe verhindern. Doch Mira, auf deren besonderen Fähigkeiten alle Hoffnungen ruhen, scheint langsam den Verstand zu verlieren.
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Seitenzahl: 605
JOCELYNN DRAKE
JÄGERIN DER
NACHT
FIRESTARTER
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Jasper Nicolaisen
1
Der Bastard war schnell.
Seine schweren Schuhe polterten über das Kopfsteinpflaster der schmalen Gasse. Das Geräusch hallte von den hohen Ziegelmauern wider, die um uns aufragten. Inzwischen gab er sich nicht einmal mehr Mühe, leise zu sein. Er hoffte, mich abhängen zu können, aber er wusste nicht, dass ich meine Beute am Ende stellte, so schnell sie auch sein mochte. Ich spürte ihn jetzt, hatte seine Fährte aufgenommen wie ein Hund auf der Hasenjagd. Selbst wenn er untertauchte, würde ich ihn finden.
Plötzlich waren wir aus der Gasse hinaus, jagten über eine verlassene Straße und zwischen parkenden Autos hindurch, bevor wir durch den nächsten mit Müll übersäten Durchschlupf stürmten, der in ein Gewirr aus Schleichwegen und dunklen Gässchen mündete. Ich hastete zu schnell um die Ecke, rutschte ab und prallte mit der Schulter gegen das Gebäude rechts von mir. Als ich mich abstieß, schrammte der Stahl der Klinge in meiner Rechten über die Ziegel. Meine Beute baute ihren Vorsprung aus, hechtete durch eine Gasse nach der anderen, bis ich sie endgültig aus den Augen verlor. Aber dann war ich wieder dran, ihm dicht auf den Fersen, bereit, ihm das Messer in die Brust zu rammen.
Der Atem fuhr mir als weißer Dampf aus den Lungen, als ich über eine umgeworfene Mülltonne sprang, und ein Schweißtropfen rann mir kalt über die Schläfe. Die Kälte biss mir in Fingerspitzen und Beine, obwohl mein Blut durch die Verfolgungsjagd in Wallung geraten war. Ich fuhr mit der Linken an den Gürtel und griff mit Daumen und Zeigefinger nach einem der kleinen Messer, die ich dort verstaut hatte.
Ich war auf den Vampir aufmerksam geworden, als er am anderen Ende der Stadt aus einer dunklen Seitenstraße geschlendert kam. Der schwere Gestank von Blut und Tod lag in der Luft, als ich hinter ihm in die Gasse glitt, wo ich ein junges Mädchen fand, das reglos zwischen vollgestopften Mülltüten am Boden lag. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre Haut hatte eine ungesunde bleiche Färbung. Sie hatte schon zu viel Blut verloren, der Vampir hatte sie zum Sterben zwischen dem fauligen Müll zurückgelassen. Er hatte nicht mal versucht, sie zu verstecken. Ich nahm mir noch Zeit für einen Handyanruf bei der nächsten Polizeiwache, obwohl ich keine große Hoffnung hegte, dass der Krankenwagen noch rechtzeitig eintreffen würde. Und dann war die Jagd eröffnet.
Ich zielte kurz und schleuderte das kleine Messer nach dem Vampir, sodass es ihm tief in den Rücken fuhr, genau zwischen die Schulterblätter. Er schrie auf. Sein rechter Arm tastete nach der Klinge, und er musste langsamer laufen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit grimmigem Lächeln setzte ich zum Todesstoß an.
Fast zweitausend Jahre waren bei der Jagd auf Vampire wie im Flug vergangen. Ich hatte beinahe mein gesamtes Leben damit verbracht, dieses Übel vom Angesicht der Erde zu tilgen. Mit jedem Mal, jedem weiteren Jagderfolg, schien es mir ein kleines bisschen leichter von der Hand zu gehen. Sie wurden jünger, weniger erfahren, unvorsichtiger, und ich war auf dem Höhepunkt meines Könnens. Nur eine war mir bisher entkommen, aber auch Mira würde ich irgendwann erwischen. Ich hatte buchstäblich eine Ewigkeit Zeit.
Der Vampir ließ die Gasse hinter sich und stolperte auf einen kleinen, runden Platz. Trotz der Winterkälte plätscherte und sprudelte das Wasser des Brunnens im Zentrum; die Beleuchtung hatte man jedoch abgestellt. Weit und breit war niemand zu sehen, allerdings war es auch schon nach zwei Uhr morgens. Während der gesamten Verfolgungsjagd war uns nicht mal eine streunende Katze, geschweige denn ein menschliches Wesen begegnet.
Vor Schmerz aufstöhnend, zog sich der Vampir das Messer aus dem Rücken und drehte sich zu mir um, während er die Klinge beiseiteschleuderte. Mit einem metallischen Klirren prallte sie aufs Pflaster. Der eingebildete Bastard hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte, und glaubte wohl, er würde leicht mit mir fertig werden. Er zischte und bleckte die blutverschmierten Fänge. Groß und schlank wie er war, sah er aus, als bestünde er nur aus Muskeln und Sehnen, und doch verriet die Energie, die von ihm ausging, dass dieser Vampir höchstens seit ein paar Hundert Jahren die Nächte unsicher machte. Er war vergleichsweise jung, kaum mehr als ein Welpe, und doch ein echter Killer.
»Was zur Hölle willst du von mir?«, knurrte er mich in Spanisch mit schwerem Akzent an. Er stammte eindeutig nicht aus der Gegend. »Bist du ein Jäger oder so was?«
»So was Ähnliches«, gab ich leise zurück.
Der Vampir wich einen Schritt zurück und ballte die Fäuste. »Das hier ist eine Nummer zu groß für dich, Jäger. Du bist in Sadiras Domäne. Wenn du in ihrem Revier wilderst, wird sie das nicht einfach so hinnehmen. Du verschwindest besser, solange du noch kannst, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Ich schnaubte leise und trat einen Schritt vor, während ich die Beine spreizte und den Körper straffte, um auf jeden möglichen Angriff des Blutsaugers gefasst zu sein. Jetzt wusste ich, warum es hier in der Gegend in letzter Zeit so wild zugegangen war. Kaum war die Herrin aus dem Haus, da tanzten ihre Kinder auf den Tischen. Ich würde sie mit Vergnügen für ihre Unvorsichtigkeit bestrafen. »Sadira wurde schon vor Monaten in Peru von den Naturi getötet. Durch einen Pfeil ins Herz.«
Bei dieser Neuigkeit ließ der Vampir ein wenig die Schultern hängen; die Überraschung war ihm einen kurzen Moment tatsächlich anzusehen. Dass seine Herrin tot war, hatte er nicht gewusst. Er hatte sich in ihrer Abwesenheit nur ein bisschen vergnügen wollen.
Blitzschnell ging ich zum Angriff über und erwischte ihn auf dem falschen Fuß. Natürlich waren seine Reflexe den meinen trotzdem überlegen. Ich ließ die Klinge in der Rechten hinabsausen und zog nach unten links durch, in der Hoffnung, ihn an der Brust zu erwischen, aber er entkam meinem Streich um Haaresbreite. Als er vor mir zurückwich, gelang es mir gerade so, ihm einen Kratzer am Handrücken beizubringen. Noch während er sprang, zog ich ein neues Messer.
Der Vampir schwang mir die Faust entgegen; anscheinend wollte er sich meine vorgebliche Langsamkeit zunutze machen. Die Hand war leicht geöffnet, sodass ich die scharfen Fingernägel sah, die mich ohne Weiteres durch die schiere Kraft des Schwingers zerfetzen konnten. Ich drehte mich unbeholfen weg und wich den Klauen aus. Zugleich stach ich mit dem Messer in meiner Linken zu und schlizte ihm den rechten Arm auf, bevor er wieder außerhalb meiner Reichweite geriet. Der Vampir heulte auf und sprang mehrere Meter zurück, während er die Wunde mit der Linken umklammerte. Seine blauen Augen glommen im Dunkeln, und ich spürte, wie seine Energie die Nachtluft durchströmte. Offenbar begriff er endlich, mit welcher Bedrohung er es zu tun hatte.
Zugleich machte sich aber noch eine zweite magische Aura in der Luft bemerkbar. Sie wirbelte um uns herum, bevor sie sich an meinen Rücken zu heften schien wie ein schwerer Mantel, der sich um meine Schultern legte. Die Berührung war so eiskalt wie bei allen Vampiren, mit denen ich es bis jetzt zu tun gehabt hatte, aber unendlich viel stärker. Ich tastete mit meinen eigenen Kräften danach, aber die Energie ließ sich nicht auf einen bestimmten Ort eingrenzen. Sie schien von überall her zu kommen und war doch auf mich gerichtet.
Ich ließ den Vampir vor mir nicht aus den Augen, doch er zuckte nicht mit der Wimper, verriet mit keiner Miene, dass etwas Finsteres, Böses hinter mir stand. Im Gegenteil, er stürzte sich mit geballten Fäusten auf mich. Dem ersten Schlag zum Kiefer wich ich aus, doch für den zweiten Stoß zum Bauch war ich zu langsam, und er brach mir zur Strafe mindestens zwei Rippen. Die Wucht reichte aus, um mir den Atem aus den Lungen zu treiben, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich verbiss mir den Schmerz und stieß ihm das kleine Messer in meiner Linken in die Brust, wobei ich das Herz nur knapp verfehlte.
Der Vampir schleppte sich von mir weg. Er umklammerte den Messergriff und versuchte, die Klinge herauszuziehen, während er meinen Schwertstreichen auswich, die ihm den Kopf von den Schultern trennen sollten. Ein tiefes Grollen erschütterte den Platz, als er das Messer herauszog, lauter noch als das Plätschern des Brunnens. Aber statt es zu Boden zu schleudern, wie er es mit der anderen Klinge getan hatte, packte er es diesmal fest mit der blutigen Rechten. Endlich hatte er eine Waffe, die er wenigstens ein bisschen schneller und kräftiger führen konnte als ich. Meine Mischlingsherkunft verschaffte mir einen Vorteil im Kampf gegen Vampire. Ich konnte sie nicht nur spüren, ich war auch noch beinahe ebenso schnell und stark wie sie und erholte mich selbst von Wunden fast genauso rasch. Trotzdem konnte ich mit echten Nachtwandlern nicht lange mithalten. Nicht, dass ich mich beschwert hätte. Wenn es hart auf hart kam, hatte ich immer noch ein paar Asse im Ärmel, aber um mit diesem Küken hier fertig zu werden, würde das nicht nötig sein.
Wir umkreisten einander, während wir nach der passenden Gelegenheit Ausschau hielten, dem Gegner die Klinge zwischen die Rippen zu stoßen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, Adrenalin toste durch meine Adern und verschaffte mir den einzigen Rausch, den ich nach all den Jahren noch empfinden konnte. Die Vampirjagd war die letzte Herausforderung für mich, das Einzige, was mich noch reizte, nachdem die Welt ansonsten zu einem kränklichen Grau verblasst zu sein schien.
Doch zu meiner Überraschung ließ der Vampir die Waffe sinken und versteckte sie halb hinter seinem Körper, während er einen Schritt vor mir zurückwich. »Wir sind nicht alleine«, murmelte er, doch diesmal sprach er Englisch. Er legte die Stirn in Falten und verzog den Mund zu einem blutigen Halbmond im bleichen Gesicht. Etwas an unserer Gesellschaft machte dem Vampir Sorgen.
Eine rasche Überprüfung mit meinen Kräften offenbarte mir sofort den Grund. Normalerweise wäre es für meinen Kontrahenten ein Leichtes gewesen, den Kampf vor aller Augen fortzusetzen, schließlich konnte er uns einfach magisch verhüllen. Unsere Welt war von der Welt der Menschen rigoros getrennt, ein geheimes Reich für sich. Und doch wusste ich, dass der Vampir fürchtete, uns vor den Neuankömmlingen nicht verbergen zu können, weil er sie nicht spüren konnte. Ich schon. Ein Naturi-Trio hatte sich in unsere Auseinandersetzung eingemischt, und mit einem Mal musste ich an zwei Fronten zugleich kämpfen.
»Naturi«, murmelte ich. Ich wandte mich nach links, zurück zu der Gasse, aus der wir gerade gekommen waren, sodass ich sowohl den Vampir als auch die drei Naturi sehen konnte, die mit gezückten Waffen auf uns zusteuerten.
»Naturi?«, fragte der Vampir verblüfft. Er wich einen Schritt zurück, und einen Augenblick lang war ich mir sicher, dass er weglaufen würde. Ein kurzes Geplänkel mit einem Wesen, das er für einen gewöhnlichen Menschen hielt, bedeutete für ihn kein Risiko, aber die Vorstellung, es mit drei Naturi aufzunehmen, reichte aus, um ihn ins nächste Versteck zu scheuchen. Ehrlich gesagt konnte ich ihm das nicht verdenken.
Eine Sekunde später sauste die Energie, die bisher in meinem Rücken gelauert hatte, nach rechts auf den Vampir zu, der sich langsam von mir und den Naturi entfernte. Der Nachtwandler blieb abrupt stehen; sein Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos, als hätte man ihm das Bewusstsein ausgeknipst. Zu meiner Linken verharrten die Naturi und sahen sich einen Augenblick lang verwirrt an.
Auf den Zügen des Vampirs breitete sich ein Lächeln aus, als er den Kopf hob. Das rote Glühen in seinen Augen verdrängte das vorherige Blau. Er packte den Dolchgriff fester und ließ die Waffe ein paarmal durch die Luft sausen.
Irgendetwas stimmte hier plötzlich nicht mehr, und ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, was den Vampir verleitet haben mochte zu bleiben, wo Flucht eindeutig die klügere Wahl gewesen wäre. Falls ihn die Naturi nicht umbringen würden, musste er sich immer noch mir stellen, und dieser Kampf würde mit Sicherheit böse für ihn enden.
UndalswäredieLagenichtschonunübersichtlichgenug,sagtederVampirjetztauchnochetwaszudenNaturi,ineinerSprache,dieichnochniezuvorgehörthatte,beiderenKlangsichmirabersofortdieNackenhaaresträubten.Sieklang,alsmüssteichsieeigentlichkennen,alshandelteessichumetwas,dasichtiefinmeinemUnterbewusstseinverstand,obwohlichmichnichtmehraktivdaranerinnernkonnte.AllerdingsspieltedaskeineRolle,denndieNaturibegriffensofortundantworteten,indemsiezweivergiftetePfeileaufdenVampirabschossen.
Ich sprang einen Schritt zurück, um mehr Abstand zu dem Nachtwandler zu gewinnen, und sah zu, wie er die beiden Geschosse aus der am Handgelenk getragenen Armbrust mit ein paar lässigen Bewegungen des Dolchs beiseitewischte, als vertriebe er lästige Fliegen.
Zwei von den Naturi stürzten sich dann auf den Vampir, während der dritte zurückblieb und mich hasserfüllt anstarrte. Er reckte eine Hand über den Kopf, und am schwarzen Mitternachtshimmel begannen dunkle Wolken zu brodeln. Es war kalt genug für Schnee, aber dieser Wind-Naturi hatte etwas ganz anderes im Sinn. Ich hatte so etwas schon viel zu oft gesehen. Jetzt musste ich ihn töten, bevor es aus den heraufziehenden Gewitterwolken Blitze regnete.
Ich stürzte mich mit dem Schwert in der Hand auf den Naturi und zwang ihn so, seine Beschwörung abzubrechen und seinerseits zur Verteidigung die Klinge zu ziehen. Der blonde Naturi war schnell und geschickt. Er wehrte all meine Angriffe ab und schaffte es unterdessen, noch ein paar eigene Schläge anzubringen, denen ich nur knapp ausweichen konnte. Indem ich bei einer Parade das Schwert über seinem Kopf blockierte, rammte ich ihm die Faust ins Gesicht. Der Aufprall zerschmetterte ihm die Nase und ließ ihn ein paar Schritte zurückstolpern. Ich riss das Schwert zurück, zog nach unten durch und durchtrennte ihm den Hals. Der Kopf hing jetzt nur noch an einem dünnen Hautfetzen. Der Wind-Naturi sackte tot vor meinen Füßen zusammen, und die Sturmwolken, die über uns aufgezogen waren, zerstreuten sich.
Ich wirbelte auf dem Absatz herum und sah, dass der Nachtwandler es inzwischen mit den beiden noch verbliebenen Naturi zugleich aufgenommen hatte. Energie ballte sich in der Luft um die drei und sprühte beinahe Funken. Den breiten Schultern und dem massigen Körperbau nach zu urteilen, ging ich jede Wette ein, dass der Vampir es mit zwei Mitgliedern des Tierclans zu tun hatte. Sie schienen die Fußtruppen der Naturi zu bilden. In jedem Kampf standen sie an vorderster Front und waren zumeist die brutalsten Kämpfer.
Schon wollte ich mich mit meinem Schwert ins Getümmel stürzen, hielt dann aber inne. Meine Hilfe war vollkommen unnötig. Der Vampir dominierte den Kampf klar und deutlich. Mehr noch, seinem teuflischen Grinsen nach zu urteilen, war ich mir fast sicher, dass er lediglich mit ihnen spielte und den Kampf absichtlich in die Länge zog, um sie dann umso gründlicher zu vernichten. Aber das ergab keinen Sinn. Noch vor wenigen Augenblicken hatte der Vampir offensichtlich kaum gewusst, an welchem Ende er sein Messer halten sollte. Und jetzt glichen seine Bewegungen einem sinnlichen Tanz von ineinander verschlungenen Lichtern und Schatten. Die Klingen blitzten rot im Laternenlicht, da er seinen Gegnern inzwischen mehr als eine Wunde zugefügt hatte. Und dann, zu meiner völligen Verblüffung, drehte sich der Vampir zu mir um und sah mich an, während er dem einen Naturi die Kehle durchtrennte und dem anderen den Dolch ins Herz bohrte. Die weit aufgerissenen roten Augen des Vampirs wichen keine Sekunde von mir, als die Naturi auf das kalte Pflaster sanken und verzweifelt darum kämpften, ihre Wunden magisch zu schließen, bevor der Tod sie endgültig ereilte.
Meine Hand krampfte sich um den Schwertgriff, als ich mit ansah, wie die Naturi sich am Boden wanden. »Beende es«, bellte ich.
»Du warst immer schon viel zu mitleidig«, antwortete der Vampir. Seine Stimme war kaum mehr als ein Knurren. Dennoch folgte er meinem Wunsch. Er kniete nieder und tötete die beiden Naturi, indem er ihnen den Kopf abtrennte. Im Augenblick ihres Todes sog er scharf die Luft ein und verdrehte die Augen, als wollte er den kostbaren Moment bis zum Letzten auskosten. Dann blickte er auf das Blut hinab, das seine Hände bedeckte, und lächelte.
»Wir sind noch nicht fertig, Vampir«, erinnerte ich ihn und hob das Schwert.
Der Vampir drehte sich auf den Zehenspitzen herum und stand leichtfüßig auf. Den Dolch ließ er am Boden neben den Leichen liegen. Er trat mit ausgestreckten Armen und geöffneten Handflächen einen Schritt auf mich zu, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Aber kein Vampir war je ganz wehrlos. Nach Sonnenuntergang waren sie von tödlicher Schnelligkeit und unglaublich stark. Ganz egal, welche Finte er vorbereitete, ich würde nicht darauf hereinfallen.
»Niemand zwingt uns zu diesem Kampf, Danaus«, sagte der Vampir mit leiser, einschmeichelnder Stimme. »Viele Jahre lang hast du gut gekämpft, mein Sohn, aber du hast die falsche Seite gewählt.«
»Gegen die Naturi hast du mir vielleicht geholfen, aber das spielt keine Rolle. Sie hätten uns beide so oder so getötet. So leicht kommst du mir nicht davon«, antwortete ich. Ich hatte seine Ausflüchte satt; ich sprang vor, doch er wich mir so behände aus, als bewegte ich mich in Zeitlupe.
Der Vampir lachte leise und schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, du könntest mich einfach so töten? Hast du denn nicht gesehen, wie leicht ich mit den Naturi fertig geworden bin? Was kann ein einfacher Sterblicher gegen ein Wesen wie mich ausrichten?«
»Du bist ein Vampir. Ein junger Vampir. Man kann dich vernichten.« Wieder drang ich mit einem Schlaghagel auf ihn ein, schneller als beim letzten Mal, und wieder wich er mir einfach aus. Es war, als säße er in meinem Kopf und wüsste genau, welche Bewegung ich als Nächstes machen würde – doch kein Nachtwandler konnte meine Gedanken lesen, ohne dass ich es registrierte. Ich spürte unfehlbar ihre Anwesenheit.
Panik ergriff von mir Besitz, während mir der Schweiß über Stirn und Wangen lief. Das Herz hämmerte in meiner Brust, und ich packte den Schwertgriff fester. Er war zu schnell für mich – mit herkömmlichen Mitteln war da nichts auszurichten. Verdammt, ich kam ja nicht mal an ihn ran! Seit der Ankunft der Naturi war irgendwas anders, seit jenem Moment, als seine Augen sich von Himmelblau zu Rubinrot verfärbt hatten. Ich wusste nicht, wie, aber auf irgendeine Weise hatte der Vampir die Energie in sich aufgesogen, die mich umgeben hatte, bevor die Naturi auf den Plan getreten waren.
Ich musste ihn töten, bevor er sich endlich doch entschloss, mich umzubringen. Indem ich einen Schritt zurückwich, senkte ich leicht das Schwert und reckte dem Vampir die entblößte Linke entgegen. Zu meiner Überraschung wurde sein Grinsen noch breiter, als ich die Kraft heraufbeschwor, die in mir brodelte. Neue Energie durchströmte meinen Körper, und tief in mir brüllte etwas vor Vergnügen. Meine Macht entlud sich stoßartig und prallte gegen den Vampir. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein irres Lachen aus.
Und dann erlosch das rote Glühen in seinen Augen. Welche Macht auch immer für diesen kurzen Zeitraum von ihm Besitz ergriffen haben mochte, jetzt hatte sie ihn verlassen. Der Nachtwandler strich sich panisch über Brust und Arme, während er stolpernd vor mir zurückwich, doch es war zu spät. Seine Haut begann Blasen zu werfen und sich schwärzlich zu verfärben. Ich hatte bereits begonnen, das Blut in seinem schlanken Körper zum Kochen zu bringen, und nun gab es keine Rettung mehr. Der Vampir stieß einen schrillen Schrei aus, als er in die Knie brach. Er zerkratzte sich mit den Klauen das Gesicht und riss Fleischklumpen heraus, bis er schließlich zu einem verkohlten Häuflein zusammensackte. Ascheflocken trieben mit dem Wind davon.
Ich biss die Zähne zusammen, lenkte die Kraft in meinen Körper zurück und brachte die Energie mühevoll wieder unter Kontrolle. Nur wenn ich ihr freien Lauf ließ, konnte ich in den langen Jahrhunderten einmal in meiner Wachsamkeit nachlassen, doch ich musste diese Macht sorgsam beherrschen. Der Drang zu töten wuchs in dem Maß, wie mein Körper sich entspannte, bis ich das Gefühl hatte, ich müsste mich auf die erste Kreatur stürzen, die mir in die Quere kam, egal ob Nachtwandler oder unschuldiger Mensch.
Ich sog tief die reinigende Luft ein, während ich die Macht wieder sicher an meine Seele fesselte, wie eine Schlange, die sich um ihre Beute windet, und auch die Furcht beiseiteschob. Die Furcht, dass ich die Kontrolle über diese heimtückische Kraft verlieren und wahllos töten könnte.
Ich fuhr mit einer zitternden Hand durch mein Haar und schob das Schwert wieder in die Scheide auf meinem Rücken. Gerade fragte ich mich, wie ich die Leiche loswerden sollte, als sich aus dem kalten Nebel rund um den Brunnen ein weißer Schimmer erhob. Ich machte ein paar Schritte darauf zu und legte die Rechte auf den Schwertknauf. Ich hatte keine Ahnung, was ich da sah. Ein Naturi des Lichtclans? Aber ich spürte keine Naturi in der Umgebung.
Die Energie, die die Luft durchströmte, fühlte sich wie die vertraute Aura eines Nachtwandlers an, und doch war es keiner. Langsam bildeten sich im Licht die Umrisse eines Mannes heraus. Er war über eins achtzig groß, hatte blassblondes Haar und hellblaue Augen. Dann entfalteten sich mit einem blendenden Aufblitzen, gegen das ich meine Augen abschirmen musste, zwei weiße Flügel hinter seinem Rücken, die sicher mehr als vier Meter Spannweite hatten.
Ich riss das Schwert vom Rücken und wich zurück. Mir stockte der Atem. Er fühlte sich an wie ein Vampir, hatte aber Flügel wie ein Naturi des Windclans. Beide Gruppierungen waren nicht gerade meine besten Freunde, und beide wollten mir an den Kragen.
»Halt ein, Danaus!«, sagte die Gestalt mit tiefer, donnernder Stimme. »Ich will dir nichts Böses.« Er hob eine Hand, und ich trat mit abwehrender Miene einen Schritt zurück.
»Wer bist du?«, blaffte ich, immer noch zum Angriff bereit.
Ein gütiges Lächeln erhellte seine Züge. Er sah froh und friedvoll aus. »Ich bin dein Schutzengel«, verkündete er. »Gaizka.«
Meine Arme begannen leicht zu zittern, sodass die Spitze meines Schwertes bebte. Stand ich wahrhaftig einem Engel gegenüber? Jahrhundertelang hatte ich geforscht und mit Mönchen, Priestern und anderen heiligen Männern auf der Suche nach einem göttlichen Fingerzeig meditiert, der meine Seele vor den dämonischen Bori retten konnte, die sie befleckten und nach Blut gierten. Und nun stand nach über achthundert Jahren ein Wesen vor mir, das behauptete, mein Schutzengel zu sein, und ich brachte es nicht über mich, mein Schwert wegzustecken.
»Warum kommst du ausgerechnet jetzt zu mir?«, fragte ich und umklammerte das Schwert fester. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Weil du mich jetzt am meisten brauchst«, antwortete er. Er hörte nicht auf zu lächeln, als er, ohne auf mein Schwert zu achten, einen Schritt vortrat. Sein Körper hatte keine feste Gestalt, er bestand ganz und gar aus Licht und Schatten. »Wir müssen unsere Kräfte vereinen, um die Naturi zu besiegen, die einmal mehr die Erde verpesten. Wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten, werden sie die ganze Menschheit vernichten. Wir müssen sie aufhalten.«
Ich starrte das Wesen an und ließ langsam mein Schwert sinken. »Du bist in diesen Vampir gefahren. Du hast die Naturi besiegt.«
»Ja. Ich kann geringere Wesen beherrschen, wenn es nötig ist, damit ich mich besonderen Herausforderungen stellen kann.«
»Und doch hast du zugelassen, dass ich den Nachtwandler töte«, stieß ich hervor. Ich war von Sekunde zu Sekunde verwirrter.
Der Engel zuckte die Schultern. »Er hatte seine eigenen Sünden zu büßen.«
»Ich habe mein ganzes Leben mit der Jagd auf Nachtwandler zugebracht. Sie sind abscheuliche Kreaturen, die sich vom Blut und von der Lebenskraft der Menschen nähren, nur um sie dann wie Schlachtvieh verenden zu lassen. War mein Lebenswerk denn so vergeblich?«, fragte ich. Ein Schauer überlief mich, und mir wurde flau im Magen. Sollte ich mich wirklich geirrt haben? Mein Seelenheil hing davon ab. Doch wie war es möglich, dass ich nach Hunderten von Jahren ausgerechnet hier die Erlösung fand, nach der ich so lange gesucht hatte?
»Die Nachtwandler sind nicht unsere Feinde. Im Kampf gegen die Naturi sind sie unsere Waffengefährten. Seite an Seite werden wir kämpfen, um sie zu vernichten. Lass mich mit Leib und Seele dein Verbündeter sein, dann kann uns nichts mehr aufhalten, wenn wir diese Welt von den Naturi befreien«, drängte der Engel.
»Mit Leib und Seele?«, fragte ich misstrauisch und wich einen Schritt zurück.
»Du bist eine mächtige Persönlichkeit, Danaus. Ich benötige deine Zustimmung. Lass uns gemeinsam die Welt reinigen und sie wieder zu einem sicheren Ort für die Menschheit machen.«
Ich runzelte die Stirn und löste den Blick von dem Engel, während ich mir die rätselhaften Worte durch den Kopf gehen ließ. Mein Blick blieb an den sterblichen Überresten des Naturi zu meiner Linken hängen. Mir fiel das rote Glühen in den Augen des Vampirs wieder ein und das teuflische Vergnügen, das er am Abschlachten des Naturi gezeigt hatte. Und einer solchen Kraft sollte ich mich ausliefern? Ich sollte jede Selbstkontrolle abgeben und zur Marionette eines mächtigeren Wesens werden? Das kam mir nicht richtig vor. Kein Engel würde seine Gegner so quälen oder bei ihrer Vernichtung derartige Freude empfinden.
Das Wesen vor mir hatte zwar das Äußere eines Engels angenommen, doch es stank nach den Kräften, die von Nachtwandlern ausgingen. Keine Spur von himmlischem Licht, wie inbrünstig ich auch betete.
»Ich kämpfe seit Jahrhunderten gegen Vampire, um meine Seele vor dem Dämon zu bewahren, der einen Teil von ihr in seinen Klauen hält. Waren denn all diese mühevollen Jahre umsonst?«, wollte ich wissen, während ich das leuchtende Wesen vor mir wieder anblickte. Für einen Sekundenbruchteil verzerrte sich das Gesicht der Kreatur, und ihre Augen blitzten rot.
»Es ist kein Dämon, der deine Seele in den Klauen hält«, versetzte sie scharf. »Es ist ein Geschenk von mir, eine himmlische Gabe. Stärke, ein langes Leben und überwältigende Macht. Du aber hast diese Macht verschwendet, um Nachtwandler zu jagen, wo du eigentlich die letzten der Naturi hättest aufspüren sollen.«
Ich biss die Zähne zusammen und packte den Schwertgriff fester. Nichts als Lügen. Meine Mutter hatte keinen Pakt mit einem Engel geschlossen. Unmittelbar bevor ich sie getötet hatte, hatte sie mir gestanden, dass sie, um ihre Kräfte zu erwerben, den Bund mit einem Dämon eingegangen war. Was da vor mir schwebte, war kein Engel. Es war der Bori, der einen Teil meiner Seele beherrschte, und er war gekommen, um sich auch noch den Rest zu holen.
»Du bist kein Engel. Kein himmlisches Wesen würde hinnehmen, was die Vampire den Menschen antun. Du bist ein Bori«, knurrte ich.
Die Kreatur vor mir lächelte böse, während das weiße Leuchten verblasste. Schlagartig verschwanden die weißen Flügel, als sich wie ein schwarzer Mantel ein Schatten um das Wesen legte. Erneut hob ich das Schwert, während das Fleisch zu schmelzen schien und ein bleicher Schädel mit breitem Grinsen zum Vorschein kam. Das Ding zeigte mit einem leise bebenden Knochenfinger auf mich. »Kommt das deiner Vorstellung von mir näher?«, gackerte die Kreatur.
Auch nach der Verwandlung in das Urbild des Sensenmanns konnte ich die Erscheinung noch durchschauen. Langsam fragte ich mich, ob dieses Monster überhaupt eine wahre Gestalt hatte oder ob es einfach immer die Form annahm, die es gerade brauchte.
»Kein himmlisches Wesen würde mit Nachtwandlern gemeinsame Sache machen«, stieß ich wütend hervor. »Kein himmlisches Wesen würde mich auffordern, seine Marionette zu werden, nur um Naturi zu vernichten.«
»Aber du warst eine Marionette des Himmels, Danaus«, berichtigte Gaizka. »Du hattest den Kopf voller altertümlicher Vorstellungen von Wahrheit und Rechtschaffenheit, also hast du im Namen Gottes Nachtwandler abgeschlachtet. Schon seit Hunderten von Jahren bist du seine Marionette. Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du mit einer näherliegenden Bedrohung aufräumst: den Naturi.«
»Nein.«
Der Bori knurrte mich an und glitt ein Stück näher, doch ich wich nicht zurück. »Ich bitte dich in aller Freundlichkeit, Danaus. Zwing mich nicht, dir zu befehlen! Die Menschen, die dir am Herzen liegen, könnten ein grauenhaftes Schicksal erleiden, wenn du dich weigerst zu kooperieren.«
»Ich lasse mich nicht zu deiner Marionette machen.« Ich hob das Schwert und stieß es der Kreatur mitten in die Brust, aber es war, als würde ich die Luft durchbohren.
Auf eine Handbewegung des Bori hin fuhr mir eine Kraftwelle gegen die Brust und schleuderte mich mehrere Meter zurück, bis ich seitlich gegen ein Auto prallte. Mein Körper schlug eine Delle in die Tür, dann sackte ich zu Boden. »Leider habe ich nichts anderes von dir erwartet«, sagte er kopfschüttelnd. »Mein erstes Geschenk wird dich schon bald erreichen; du erhältst es für deine mangelnde Kooperation. Andere werden folgen. Ich werde deine Welt vernichten, bis du endlich einwilligst, dich mir zu beugen. Ich habe es satt, auf dich zu warten.«
Und damit war er verschwunden. Ich blieb allein auf dem kalten Pflaster zurück, umgeben von den Leichen des Nachtwandlers und der Naturi. Dem Bori gehörte die Hälfte meiner Seele, und er wartete dort draußen in der Dunkelheit wie ein Gestalt gewordener Albtraum, der nur darauf lauerte, mir auch noch den letzten Rest meines Innersten zu entreißen. Ströme von Blut würden im Kampf um meine Freiheit über die Welt fließen, und ich hatte keine Ahnung, ob ich die geringste Chance hatte zu gewinnen.
2
Ich kniete vor dem Brunnen und wusch die blutverschmierten Hände im eisigen Wasser, bis meine Finger steif und taub wurden. Im Dunkeln wirkte das Wasser schwarz, aber morgen früh würde es hellrosa aussehen. Die vier Leichen hatte ich bereits in ein in der Nähe geparktes Auto verfrachtet, musste aber noch die Sprengladung am Benzintank anbringen. Alle Hinweise auf die Existenz von Nachtwandlern und Naturi mussten eliminiert werden – ihre Welt musste im Verborgenen bleiben, wenn die Ordnung der Menschenwelt aufrechterhalten werden sollte.
Kniend ließ ich meine Kräfte aus dem Körper strömen, bevor ich endlich erleichtert aufseufzte. In meiner Nähe gab es keine Spur von irgendetwas Übernatürlichem: keine Nachtwandler, Naturi oder Bori, nicht einmal einen Lykanthropen. Ich schloss die Augen und senkte den Kopf, doch die Worte wollten nicht kommen. Es war über zwei Jahrhunderte her, dass ich mich an Gott gewandt hatte. Und selbst nach der Begegnung heute Nacht, bei der ich felsenfest geglaubt hatte, dass meine Seele verwirkt sei, brachte ich es nicht über mich, das endlose Schweigen zu brechen.
Anfangs, nachdem ich meinen Abschied von der römischen Legion genommen hatte, hatte ich Vampire gejagt, um den Tod eines Kindes zu rächen, dessen Vater mein Freund war. Ich bekämpfte sie, um die merkwürdigen Empfindungen loszuwerden, die sich bei mir einstellten, sobald sie in meiner Nähe waren. Erst nachdem ich fast fünfhundert Jahre die Welt durchstreift hatte, fand ich beim Aufenthalt in einem Kloster endlich Frieden und eine Bestimmung. Die Mönche sagten mir, dass ich meine Seele nur wiedererlangen könnte, indem ich gegen die Dunkelheit zu Felde zog, die die Menschheit bedrohte. Sie sprachen von Erlösung und Ordnung im Chaos, das mir ständig den Kopf zu vernebeln schien. Sie schienen mir sogar zu vergeben, dass ich überhaupt geboren worden war.
Aber bei den Mönchen konnte ich nicht bleiben, sosehr ich es mir auch wünschte. Ich musste Vampire töten, und ich hatte mehr Fragen als Antworten. Also durchstreifte ich die Welt auf der Suche nach Antworten, die zu dem Gott passten, für den ich kämpfte, und zu der Seele, die ich so verzweifelt zurückgewinnen wollte. Doch nach über tausend Jahren des Kampfes wurde mir klar, dass es keine Antworten gab. Ich hatte den größten Teil von Europa und ein wenig von Afrika und Asien in Blut getaucht, doch ich wartete immer noch vergeblich auf einen göttlichen Fingerzeig, dass ich wenigstens auf dem rechten Weg war; dass ich nur noch einen seelenlosen Nachtwandler davon entfernt war, meine eigene Seele zu gewinnen. Die Antwort war nichts als Schweigen.
Erst als ich zu müde war, um alleine weiterzumachen, fand ich eine neue Bestimmung. Themis hatte kaum dreißig Mitglieder, die sich in einem Abbruchhaus in Paris drängten, aber der Bund war wild entschlossen, die finstere, übernatürliche Welt zu begreifen, die sie umgab. Aus der Ferne beobachteten sie Nachtwandler, die ihre Beute in dunkle Gassen lockten. Sie wagten sich bei Vollmond in die Wälder und hörten den Werwölfen zu, die zur Einstimmung auf die Jagd den Mond anheulten. Sie überlebten nie lange, aber davon ließen sie sich nicht abschrecken. Sorgfältig hielten sie alles, was sie herausfanden, in dicken Büchern fest, damit andere es lesen und verstehen konnten. Für kurze Zeit hoffte ich, dass ich bei ihnen Antworten auf meine Fragen finden würde.
Leider stieß ich bei Themis nur auf neue offene Fragen. Aber sie brauchten einen Jäger, einen dunklen Jäger, der es mit den Vampiren und Lykanthropen aufnehmen konnte. Diese Rolle füllte ich aus und war gern bereit, andere auszubilden, die in meine Fußstapfen treten und mein gesammeltes Wissen über die Jahrhunderte tragen sollten.
RyangabdemursprünglichalsForschergemeinschaftgeplantenBundanscheinendeineneueRichtung.DerweißhaarigeZaubererstieg,alsseineüberwältigendeMachtundseinüberlegenesWissenoffenbarwurden,schnellzumAnführerauf.Themishattefestdarangeglaubt,dassersietieferalsjezuvorindieWeltdesÜbernatürlichenführenkönnte.StattdessenschienendieNachtwandlerimmerschnellerzusterben,unduraltesWissenwurdeneuentdeckt.ImmerwenigerForscherwurden(zuihrereigenenSicherheit)indieWelthinausgeschickt,unddieAnzahlderJäger,dieichausbildete,wuchsbeständig.InalldenJahrhundertenhatteichseineMotiveniehinterfragt.Ichsahnur,dassermirbehilflichwar,eineArmeeaufzubauen,diedieWeltvordenNachtwandlernbeschützenwürde.AberalsichjetztamBrunnenkniete,fragteichmichnichtzumerstenMalindenletztenMonaten,obernichteinfachbloßeineArmeeaufstellte.
Der nervige Klingelton meines Handys zerriss die Stille der Nacht und ließ mich zusammenfahren, während ich hastig in die Innentasche meiner Jacke langte. Der leuchtende kleine LCD-Bildschirm verriet mir, dass es mein Assistent James war. Perfektes Timing.
»Ich bin beeindruckt«, sagte ich, nachdem ich das Handy aufgeklappt hatte.
»Wie bitte?«, stotterte James, offenbar überrascht durch das ungewohnte Kompliment von mir.
»Dein Timing. Ich bin schon fast auf dem Rückweg. Hier bin ich fertig«, antwortete ich und stand auf. Ich wischte mir die freie Hand am Hosenbein ab, um sie notdürftig abzutrocknen, bevor ich sie in die Tasche schob und nach der Fernzündung tastete. Ich musste mindestens ein paar Meter weit weg sein, bevor ich den Minisprengsatz hochgehen ließ. Das Auto und die Schaufensterscheibe dahinter würden mit draufgehen, aber bei der Detonation würde niemand zu Schaden kommen, und die sterblichen Überreste des Nachtwandlers und der drei Naturi würden restlos verbrennen. Es war nicht der eleganteste Weg, um ein paar Leichen loszuwerden, aber ich hatte weder Miras Hang zur großen Geste noch ihre magische Fähigkeit, die Leichen einfach so in Brand zu stecken und zugleich alles vor neugierigen Augen zu verschleiern.
»Nachtwandler?«, erkundigte sich James.
»Insgesamt sechs in der ganzen Gegend während der letzten paar Nächte. Anscheinend war das hier mal ein Teil von Sadiras Domäne. Seit sie weg ist, geht hier alles drunter und drüber. Aber jetzt müsste es eigentlich ruhig bleiben.« Ich bog um die Ecke und legte den Hebel um, der die Minibombe hochgehen ließ, während ich die Gasse hinunterging. Die Explosion ließ die Fensterscheiben klirren und löste Autoalarmanlagen aus.
»Was war das?«
»Spuren verwischen«, gab ich zurück.
»Oh!«
»Außerdem hatte ich es hier mit drei Naturi zu tun«, verkündete ich, behielt das Auftauchen des Bori jedoch für mich. Ich hatte Ryan nie verraten, woher meine Kräfte stammten, und ich wollte nicht, dass er die neusten Entwicklungen gegen mich verwenden konnte.
»Gab es irgendwelche Probleme?«, fragte James und riss mich aus meinen Gedanken.
»Nein, keine. Die Gegend müsste jetzt sauber sein. Bis wann kannst du mir einen Rückflug besorgen?«
James schwieg ein paar Sekunden. Ich blieb mitten in der dunklen Gasse stehen. In der Ferne gellte der Lärm eines Feuerwehrautos und von Polizeisirenen durch die Straßen. Ich runzelte die Stirn und lehnte mich mit der Schulter gegen die Ziegelmauer, während ich mir mit der freien Hand die Augen rieb. Das verhieß nichts Gutes.
»Du kannst noch nicht zurück«, sagte James behutsam.
»Was soll das heißen?«, knurrte ich. »Ich bin jetzt seit fast drei Monaten ohne Pause im Einsatz. Ich will jetzt zurück. Saubere Klamotten und ein weiches Bett. Ein paar Tage durchschlafen, bevor der Zirkus wieder losgeht.«
»Ich weiß.«
»Was will Ryan denn jetzt noch von mir?«
»Du musst für ihn nach Savannah.«
»Das ist Miras Domäne. Die wird schon selbst mit ihren Problemen fertig. Sie braucht mich nicht in ihrer Nähe«, wandte ich ein und löste mich von der Wand, um meinen Weg durch die Gasse zum Hotel fortzusetzen, wo ich untergekommen war. Es handelte sich um eine kleine Absteige mit der übelst durchgelegenen Matratze, auf der ich je das Missvergnügen hatte zu schlafen. Ich hatte eigentlich gehofft, noch in dieser Nacht in einem Flugzeug zu sitzen, das mich zu meinem eigenen Bett zurückbrachte, aber das sollte anscheinend nicht sein.
»Ich kenne die Details nicht. Hauptsächlich geht es um den Mord an einem jungen Mädchen letzte Nacht, der die Aufmerksamkeit der Medien erregt hat. Sieht verdächtig aus.«
Ich verbiss mir die erste Bemerkung, die mir in den Sinn kam, und ging schweigend weiter die Straße hinunter. Mira sollte eigentlich in der Lage sein, ihren Kram selber zu regeln, aber jetzt, da Themis eine »Partnerschaft« mit der Nachtwandlerin eingegangen war, war es offenbar in unserem ureigenen Interesse, bei der ersten Gelegenheit in ihrer Domäne herumzuschnüffeln.
Und ehrlich gesagt begann ich trotz meiner zunehmenden Müdigkeit und den Schmerzen am ganzen Körper die Vorteile zu erkennen. Ob es ihr gefiel oder nicht, Mira gehörte zum Konvent der Nachtwandler. Diese vier Ältesten bildeten gemeinsam mit ihrem Regenten das Führungsgremium der Vampire. Durch meine Verbindung zu Mira hatte ich einen Draht zum Konvent und befand mich immer einen Schritt näher am Regenten. Wenn ich mir überhaupt Hoffnungen machen durfte, die Elite der Vampire zu erledigen, dann durch die Fortführung meiner Beziehung zu Mira.
»Wann wird das Flugzeug bereitstehen, das mich in die Neue Welt bringt?«, murmelte ich nach längerem Schweigen.
»Ich müsste dir innerhalb der nächsten Stunden etwas besorgen können«, sagte James mit einem erleichterten Seufzer. »Bei der Landung werde ich dann auch mehr Informationen für dich haben. Ryan wollte, dass du dir die Stadt mal genauer ansiehst.«
»Ich weiß schon«, knurrte ich. »Mal sehen, ob ich mir einen Eindruck von dem Chaos verschaffen kann.«
»Versuch, den Kopf unten zu behalten – Ryan meinte, ich soll dir unmissverständlich klarmachen, wie heikel die Lage ist.«
Ich unterdrückte den Impuls, total auszuflippen. James gab ja nur wieder, was Ryan ihm gesagt hatte, wie überflüssig diese Belehrungen auch sein mochten. Ich wusste sehr gut, wie man sich unauffällig verhielt und aus sicherer Entfernung beobachtete. Immerhin war das nicht meine erste Mission für Themis.
»Soll ich bei Sonnenuntergang mit Mira in Kontakt treten?«
»Nein!« James räusperte sich verlegen. »Nein, das wird nicht nötig sein. Sie meldet sich bei dir.«
Irgendwas war faul an dieser Angelegenheit, aber ich bezweifelte, dass ich aus James etwas Verwertbares rauskriegen würde. Ryan hatte die Angewohnheit, seine Umgebung hinsichtlich seiner wahren Pläne im Dunkeln zu lassen, bis alles zu spät war.
»Geht es wieder um die Naturi?«, fragte ich unvermittelt. Ich konnte nur vermuten, dass es das dunkle Volk der Naturgeister war, das in Miras Domäne erneut für Unruhe sorgte.
»Das wissen wir noch nicht. Möglich ist es auf alle Fälle. Deshalb brauchen wir dich auch vor Ort in Savannah. Du bist der Einzige, der die Situation richtig einschätzen kann.«
»Dann hole ich nur schnell meine Sachen aus dem Hotel und mach mich dann auf den Weg zum Flughafen«, sagte ich. »Sobald ich raushabe, was da in Savannah los ist, melde ich mich wieder.«
»Ich vermute, dass wir dich nicht so lange in Ruhe lassen.« James seufzte leise. Aber bevor ich fragen konnte, was er damit gemeint hatte, brach die Verbindung ab. Ich klappte das Handy zu und steckte es wieder ein. Das sah alles gar nicht gut aus. Ryan führte definitiv irgendwas im Schilde, und ich hatte das Gefühl, dass Mira ebenfalls mit drinsteckte. Ich durfte nicht zulassen, dass Ryan sich da einmischte. Mit Miras Kräften konnte ich es vielleicht noch aufnehmen, aber von ihr wollte ich ja auch mehr. Ich wollte, dass sie mir half, den Konvent zu vernichten, und diesen Plan durfte der Zauberer auf keinen Fall durchkreuzen.
3
Es war noch nicht mal neun Uhr morgens, als ich durch die Straßen von Savannah streifte. Ich kniff die Augen zusammen, um mich vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen, und unterdrückte ein Gähnen, als ich auf den River Walk hinaustrat. Vom Fluss wehte kalter Wind und fuhr unter meine Lederjacke, die bei dem Zusammenstoß letzte Nacht ein paar neue Risse abbekommen hatte. So wie die Touristen mich anstarrten, sah ich anscheinend nicht besser aus als irgendein halb irrer Obdachloser. Mein Haar stand wild nach allen Seiten ab, meine Klamotten waren dreckig und verknittert, ich hatte mir seit drei Tagen nicht die Mühe gemacht, mich zu rasieren, und seit zwei Tagen nicht geschlafen. Der Flug von Spanien nach Savannah war von schweren Turbulenzen begleitet gewesen.
Ich ging die Straße entlang und ließ den Blick über die paar Touristen schweifen, die durch die Souvenirläden schlenderten und auf die Straßenbahn aufsprangen, die durch die historische Altstadt gondelte. Alles ruhig und friedlich. Natürlich waren gerade auch alle Nachtwandler sicher in ihren Zufluchten eingesargt, die Lykanthropen gingen ihren bürgerlichen Jobs nach, und alle anderen Kreaturen versuchten so zu tun, als wären sie ganz normale Menschen. Vor Sonnenuntergang würde ich nicht besonders viel herausfinden.
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