Jägerin der Nacht - Nightwalker - Jocelynn Drake - E-Book

Jägerin der Nacht - Nightwalker E-Book

Jocelynn Drake

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Beschreibung

Mit ihren sechshundert Jahren gehört Mira zu den ältesten Vampiren Nordamerikas. Sie besitzt zudem eine Gabe, die sie von allen anderen Nachtwesen abhebt: die Macht über das Feuer. Mira wacht über die jüngeren Vampire in ihrer Domäne und sorgt dafür, dass der Frieden mit den Gestaltwandlern gewahrt wird. Eines Tages kommt der Vampirjäger Danaus in ihre Stadt. Als sie ihm im Kampf gegenübersteht, muss sie feststellen, dass auch Danaus kein gewöhnlicher Sterblicher ist. Außerdem bringt er unheilvolle Neuigkeiten: Die Naturi, grausame, archaische Elfenwesen, die einst von der Erde verbannt wurden, sind zurückgekehrt, um Menschen und Vampire gleichermaßen zu vernichten!

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Seitenzahl: 545

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JOCELYNN DRAKE

JÄGERIN

DER NACHT

NIGHTWALKER

Roman

Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig

Für Mom und Dad.

Ihr wart die Ersten, die an mich geglaubt haben.

Danksagung

Es war ein langer, zuweilen steiniger Weg.

Ebenso lang ist die Liste der Menschen, die mir geholfen haben, es bis hierher zu schaffen, und ich möchte allen danken, die mit mir gelacht, mir in den dunklen Stunden die Hand gehalten und ihr Leben mit mir geteilt haben, auch wenn es manchmal nur ein kurzer Smalltalk in einer langsam vorrückenden Schlange war. All diese Erfahrungen und Eindrücke haben mich geprägt und damit auch meine Texte.

Es gibt jedoch ein paar Leute, bei denen ich mich besonders bedanken muss. Zum einen bei meiner großartigen Agentin Jennifer Schober. Deine Geduld, dein grenzenloser Enthusiasmus und dein Glaube an mich waren wichtiger, als du dir vorstellen kannst. Zum anderen bei meiner fantastischen Lektorin Diana Gill, weil sie einem Neuling eine Chance gegeben und mich dazu angehalten hat, die Schriftstellerin zu sein, die ich immer werden wollte.

Mein besonderer Dank gilt auch Kim Harrison, Rachel Vincent und Joseph Hargett. Ihr seid nun schon seit Jahren meine persönliche Anfeuerungstruppe, meine Lektoren, Freunde und Unterstützer und habt mir, wann immer nötig, die Augen geöffnet. Danke, dass ihr es mit mir aushaltet.

Und vielen Dank auch an meine Familie. Danke, Stephen, für den Wink, dass Cartoons und Videospiele ein wichtiger Bestandteil des Lebens sind, ganz egal, wie alt man ist. Danke, Nate, dass du mich immer zum Lachen gebracht hast, auch wenn ich es für unmöglich hielt. Und schließlich auch euch vielen Dank, Mom und Dad, weil ihr mir klargemacht habt, dass ich als Schriftstellerin viel glücklicher bin als als Chemikerin. Vielleicht habt ihr damit die Welt gerettet.

1

Sein Name war Danaus.

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich seine kobaltblauen Augen zum ersten Mal im Schein einer Straßenlaterne aufblitzen sah. Sie funkelten wie Saphire, muteten aber wie finstere Abgründe an, in die ich eintauchte, während die Zeit stillzustehen schien. Doch nicht in den Wassern des Styx badete ich in diesem Moment der Selbstvergessenheit, sondern in einer kühlen Bucht der Lethe.

Er blieb außerhalb des Lichtkegels einer schmiedeeisernen Lampe auf der verlassenen Straße stehen, sondierte mit aufmerksamem Blick das Gelände und atmete tief ein. Er spürte wohl, dass ich ihn von einem der Dächer aus beobachtete, konnte aber meine genaue Position nicht ausmachen. Ich sah, wie er seine rechte Hand kurz zur Faust ballte, dann trat er zu meiner Überraschung ins Licht, um mich zu provozieren.

Ich fuhr mit der Zungenspitze über meine Zähne. Er bot einen beeindruckenden Anblick, doch es war sein Selbstvertrauen, das meine Neugier weckte. Ich war fast versucht, aus dem Schatten des Schornsteins ins Mondlicht zu treten, aber ich hatte nicht mehr als sechshundert Jahre überlebt, indem ich mich leichtsinnig auf Fehler einließ. Auf der Firststange eines dreistöckigen Hauses balancierend, beobachtete ich, wie er die Straße hinunterging. Sein langer schwarzer Ledermantel blähte sich und tanzte ihm um die Waden wie ein Wolf an der Kette, der gezwungen ist, seinem Herrn zu folgen.

Ich hatte ihn bereits seit über einem Monat beobachtet. Er war wie ein kalter Wind in mein Revier hereingefegt und hatte sich sofort darangemacht, meinesgleichen zu vernichten. In den vergangenen Wochen hatte er beinahe ein halbes Dutzend meiner Brüder getötet. Sie waren zwar fast alle noch grün hinter den Ohren gewesen, weniger als ein Jahrhundert alt, dennoch hatte so etwas vor ihm noch keiner gewagt.

Und diese Morde waren keine feigen Pfählungen bei Tag gewesen. Er hatte jeden einzelnen Nachtwandler bei Mondschein gejagt. Ein paar Schlachten hatte ich sogar heimlich beobachtet und beinahe applaudiert, als er sich blutverschmiert über sein Opfer gebeugt und ihm das Herz herausgeschnitten hatte. Er war schnell und clever. Und die Nachtwandler waren viel zu selbstsicher gewesen. Ich war die Hüterin dieses Gebiets und mit der Aufgabe betraut, unser Geheimnis zu wahren – und nicht damit, diejenigen zu schützen, die nicht auf sich selbst aufpassen konnten.

Nachdem ich meine Beute in spe nun mehrere Wochen beobachtet hatte, fand ich, es war an der Zeit, dass wir uns offiziell miteinander bekannt machten. Ich wusste, wer er war. Mehr als nur ein weiterer Nosferatu-Jäger. Viel mehr, denn er sprühte förmlich vor Macht. Ich wollte eine kleine Kostprobe von dieser Macht, bevor er starb.

Und er wusste von mir. In den letzten Sekunden ihres Lebens hatten manche Schwächlinge meinen Namen gejault, in der Hoffnung, im letzten Moment doch noch verschont zu werden, doch es hatte ihnen nichts gebracht.

Ich huschte lautlos die Dächer entlang und übersprang katzengleich die Lücken zwischen den Häusern. Nachdem ich ihn überholt hatte, flitzte ich noch zwei Blocks weiter, bis ich den Rand der Altstadt erreichte. Dort blieb ich vor einem alten, verlassenen Backsteinhaus stehen, das mir als Treffpunkt geeignet erschien. Mit seinem Aussichtsturm und den dunklen, auf den Fluss schauenden Fenstern wirkte es wie ein stummer Wachsoldat.

Die Luft war warm und diesig, obwohl es seit über zwei Wochen nicht geregnet hatte. Die Rasenflächen, denen die trockenen Sommer erheblich zusetzten, waren bereits wieder braun verfärbt. Selbst die Grillen litten unter der erdrückenden Hitze; sie schienen nur mit halber Kraft zu zirpen. Die leichte Brise, die vom Meer herüberwehte, nährte die Luft mit noch mehr Feuchtigkeit, sodass sie immer dicker und schwerer wurde. Auf der Suche nach Anonymität und um dem Leben zu entfliehen, das mich fast fünfhundert Jahre lang in den Klauen hatte, war ich vor gut hundert Jahren nach Savannah gekommen. Ich liebte diese schöne, geschichtsträchtige Stadt und die Geister, die in jeder dunklen Ecke und in jedem alten Haus zu spuken schienen. Auf die drückende Sommerhitze hätte ich jedoch gut verzichten können. Ich hatte zu viele Jahre in kühleren Gefilden verbracht.

Das leer stehende Haus war halb hinter zwei riesigen, von Louisianamoos überwucherten Eichen verborgen, die wie in Spitzengewänder gehüllte Anstandsdamen aussahen. Zur Straße hin war das Grundstück von einem hohen Eisenzaun eingefasst, der an der von zwei Steinsäulen flankierten Einfahrt endete. Ich saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der linken Säule und wartete auf ihn. Das subtile Pulsieren meiner Kräfte war wie ein Signal, das mein Körper aussendete. Ich wollte, dass Danaus meiner Fährte folgte, wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln gefolgt waren, und mich fand.

Danaus blieb stehen, als er den Rand des Grundstücks zu meiner Linken erreichte, und starrte mich an. Was ich tat, war ziemlich frech und vielleicht sogar etwas übertrieben, aber ich wollte nicht, dass er zu selbstbewusst wurde. In dieser Nacht sollte er für sein Blut arbeiten.

Mit einem Lächeln sprang ich lässig von der Säule herunter und tauchte in dem überwucherten Vorgarten ab, sauste schattengleich auf die Rückseite des Hauses und verschwand in einem offenen Fenster im ersten Stock.

Während ich in dem ehemaligen Kinderzimmer wartete, lauschte ich. Mein Magen zog sich in gespannter Erwartung zusammen, und mein Körper kribbelte vor Erregung, denn ich hatte nur selten Gelegenheit, mich mit jemandem zu messen, der fähig war, mich zu vernichten. Ich hatte bereits zahlreiche menschliche Jäger getötet, aber sie waren keine echte Herausforderung gewesen: Hilflos hatten sie mit ihren silbernen Kreuzen herumgefuchtelt und zu einem Gott gebetet, auf den sie sich erst in ihrer Schicksalsstunde wieder besonnen hatten. Nach so vielen Jahrhunderten hatte ich nur noch sehr wenige Möglichkeiten, echten Nervenkitzel zu erleben, einen Kampf auf Messers Schneide, und mich – wenn auch nur flüchtig – daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, lebendig zu sein. Danaus würde meinem Gedächtnis sicher auf die Sprünge helfen.

Dieser Jäger war anders. Er war nicht menschlicher als ich. Sein Körper war nur eine Hülle, der es kaum gelang, die Macht zu halten, die ihm aus allen Poren zu quellen schien.

Als ich hörte, wie im Erdgeschoss die Haustür aufflog und gegen die Wand knallte, lächelte ich. Er wusste, dass ich auf ihn wartete. Ich ging in das angrenzende Schlafzimmer, und das Echo meiner Schritte auf dem harten Dielenboden hallte durch das leere Haus. Nun wusste er ganz genau, wo ich war.

Ruhig, Mira!, ermahnte ich mich. Nur nichts überstürzen! Du hast ihn nicht über einen Monat verfolgt, um ihm dann mir nichts, dir nichts das Genick zu brechen.

Nein, ich wollte seinem Vernichtungsfeldzug ein Ende bereiten und diesen Moment ganz bewusst genießen.

Als ich das große Zimmer betrat, tappte ich lautlos in die gegenüberliegende Ecke, hüllte mich in die Dunkelheit wie in einen Mantel und wurde eins mit ihr. Immer wieder knarrte und ächzte es hier und da in dem alten Haus. Es schien ebenso gespannt zu warten wie ich.

Endlich erschien Danaus in der Tür. Seine Schultern waren so breit, dass sie beinahe den Rahmen streiften. Ich blieb noch einen Moment regungslos stehen und erfreute mich an dem langsamen, gleichmäßigen Heben und Senken seiner Brust. Er war völlig ruhig. Und er war groß, bestimmt eins fünfundachtzig. Er hatte rabenschwarzes wirres Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn. Seinen schwarzen Mantel hatte er inzwischen abgelegt, und er hielt einen Dolch mit einer etwa fünfzehn Zentimeter langen silbernen Klinge in der rechten Hand.

„Du bist also der, den man Danaus nennt“, sagte ich, ohne aus der schützenden Dunkelheit hervorzukommen. Er schaute ruckartig in meine Richtung, und seine Augen verengten sich zu blauen Schlitzen. „Du sollst Jabari im alten Theben getötet haben.“

Nun löste ich mich aus der dunklen Ecke und durchschritt den Raum, sodass er mich zum ersten Mal richtig sehen konnte. In dem gedämpften Licht, das durch die Fenster in den Raum fiel, schimmerte meine bleiche Haut wie weißer Marmor. Ich kam ihm nicht zu nah, um ihm die Möglichkeit zu geben, mich zu taxieren.

„Aber Valerio in Wien hast du nicht geschafft“, sagte ich nicht ohne eine gewisse Neugier. „Und in Sankt Petersburg wartet noch Yuri auf dich, dabei ist er nicht einmal halb so alt wie Jabari.“

„Das hat Zeit.“ Seine Stimme kam einem kehligen Knurren gleich.

Ich stutzte und musterte ihn argwöhnisch. Ich konnte seinen Akzent nicht richtig einordnen, und im Lauf meines Lebens hatte ich schon viele gehört. Er war alt, sehr alt. Zwar nicht so alt wie Jabaris ägyptischer Einschlag, doch er stammte aus längst vergangenen Zeiten. Das gab mir zu denken, aber zunächst hatte ich dringendere Fragen.

„Mag sein“, gab ich nickend zurück. „Aber stattdessen bist du in die Neue Welt gekommen. Ich bin zwar eine der Ältesten hier, aber ich bin wesentlich jünger als Valerio. Warum die weite Reise?“

„Man nennt dich doch die Feuermacherin?“

Ich lachte, die leisen, perlenden Laute tanzten durch die Luft und streiften seine Wange wie eine warme Hand. Jemanden mit der Stimme zu berühren war ein alter Trick, den einige Nachtwandler beherrschten. Von besonders großem Nutzen war er nicht, aber er eignete sich hervorragend dazu, den Gegner nervös zu machen. Danaus trat von einem Bein aufs andere, doch seine Miene verriet nicht die geringste Regung.

„Unter anderem.“ Ich durchquerte erneut den Raum, ging diesmal jedoch etwas näher an ihm vorbei. Seine Muskeln spannten sich an, aber er wich nicht zurück, und so konnte ich die Macht spüren, die ihn umfing; warm und weich wie Seide. Umgekehrt gewann er natürlich auch einen besseren Eindruck von meinen Kräften. Als ich wieder in meiner Ecke ankam und mich umdrehte, hatte sich sein Blick verändert.

„Du warst vor drei Nächten auf dem Bonaventure-Friedhof“, sagte er.

„Ja.“

„Da habe ich zwei Vampire getötet“, stellte er fest, als wäre damit alles geklärt.

„Seit du vor einem Monat in mein Revier eingedrungen bist, hast du fünf Nachtwandler getötet.“

„Warum hast du nicht versucht, mich aufzuhalten?“

Ich schüttelte leise kichernd den Kopf. Warum ich es nicht versucht hatte? Waren wir tatsächlich beide so arrogant? Ich zuckte ungerührt mit den Schultern. „Es war nicht an mir, sie zu beschützen.“

„Aber sie waren Vampire!“

„Sie waren Jungspunde ohne Gebieter“, korrigierte ich ihn, löste mich von der Wand und ging auf ihn zu. „Denn den hast du vor einer Woche getötet.“ Ich hatte Riley eigentlich selbst töten wollen, aber Danaus war mir zuvorgekommen. Riley hatte seine kleine Familie ohne meine Erlaubnis vergrößert, aber um unser Geheimnis zu wahren, musste ein gewisses Gleichgewicht aufrechterhalten werden.

Danaus trat aus dem Türrahmen und achtete darauf, stets die Wand im Rücken zu haben, während wir uns langsam im Kreis durch den Raum zu bewegen begannen. Seine Schritte waren anmutig und fließend, wie bei einem Tanz. Mir zog sich abermals der Magen zusammen, und mein Körper vibrierte regelrecht vor Energie.

Ich machte probehalber einen Schritt nach vorn, um ihn zu testen, und Danaus fuhr sofort die rechte Hand aus. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wich ich der Klinge aus, doch er überraschte mich, indem er die linke Hand hob und ein Sarazenenschwert aus dem Ärmel zauberte. Der erste Hieb war nur eine Finte gewesen, damit ich ihm meinen Hals präsentierte. Mit einem raschen Spin-Kick verpasste ich ihm einen Tritt gegen das Fußgelenk und ließ mich in Liegestützposition fallen. Der Jäger stolperte ein paar Schritte rückwärts, blieb aber auf den Beinen.

„Nettes Schwert. Gälische Runen?“, fragte ich im Plauderton, nahm ihn aber grimmig ins Visier. Er hielt das Schwert fest umklammert; eine ausnehmend schöne Waffe, in deren Klinge Runen geätzt waren. Ich konnte sie zwar nicht lesen, aber ich hätte darauf gewettet, dass sie nicht nur zur Zierde da waren.

Er grunzte, was ich als Bejahung meiner Frage verstand.

„Danke, dass du nicht mit dem Holzpflock auf mich losgehst“, sagte ich und stand auf. Er sah mich an und zog kaum merklich die Augenbrauen zusammen. „Das wäre wirklich zu dick aufgetragen!“, fügte ich hinzu und sah, wie sein rechter Mundwinkel zuckte.

„Du hättest ihn entfacht“, entgegnete er steif.

„Allerdings.“ Ich wartete eine Sekunde, dann schoss ich auf ihn zu und versetzte ihm mit beiden Händen einen Stoß gegen die Brust, sodass er ins Stolpern geriet. Die Luft entwich explosionsartig aus seiner Lunge, und er warf unwillkürlich die Arme nach vorn. Ich trat mit dem rechten Fuß gegen seine linke Hand, und schon schlitterte das Krummschwert über den Boden, bis es klirrend gegen die Wand prallte. Leider fing er sich schneller wieder, als ich gedacht hatte, holte mit der rechten Hand aus und erwischte mich mit dem Dolch an der Wange.

Der unerwartete Schmerz ließ mich augenblicklich zurückweichen. In geduckter, sprungbereiter Haltung fauchte ich Danaus mit gebleckten Zähnen an. Ja, ich weiß, das Fauchen war noch dicker aufgetragen als der Holzpflock, aber es entfuhr mir, bevor ich überhaupt darüber nachdenken, geschweige denn auf etwas kommen konnte, das ein wenig kultivierter gewesen wäre. Ich bin schließlich erst sechshundertdrei Jahre alt und zähle noch nicht zu den Alten.

Ich richtete mich auf und ermahnte mich, locker zu bleiben. Danaus holte einige Male stockend Luft, bevor seine Atemzüge wieder gleichmäßiger wurden. Das Luftholen würde ihm noch eine ganze Weile wehtun, aber zumindest konnte er es noch. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, fasste ich mir an die Wange und hielt die Hand in mein Gesichtsfeld. Zwei Finger waren blutig, und ich leckte sie langsam ab und genoss den kupferigen Geschmack. Der Schmerz war bereits wieder vergangen, und ich spürte, wie die Wunde sich schloss. Schon bald würde nur noch ein getrockneter Blutfleck zu sehen sein.

Das bisschen Blut hatte schon genügt. Der Geschmack hatte meine Begierde entfacht, die wie Feuer in meinen Adern brannte. Es war zwar mein eigenes Blut gewesen, aber das spielte keine Rolle. Ob das Blut von einem Vampir oder einem Menschen oder von was auch immer stammte, das Danaus sein mochte, es barg die Energie der Seele, die Essenz allen Lebens, und ich wusste, dass ich schon bald von seinem Blut kosten würde.

Ich griff ihn erneut an, aber Danaus war echt auf Zack. Er schwang seinen Dolch und zielte abermals auf meinen Hals. Ich fing seine Hand mühelos ab. Als er mir mit der Linken einen Faustschlag ins Gesicht verpassen wollte, schlug ich sie zur Seite. Ich drückte seine Hand immer fester zusammen, um ihn zu zwingen, den Dolch fallen zu lassen, doch er ließ sich, allem Schmerz zum Trotz, nicht dazu bewegen. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, wie er mit der linken Hand nach einer anderen Waffe an seinem Gürtel griff.

„Na schön“, knurrte ich, packte ihn am linken Handgelenk, blockierte sein Standbein und warf ihn nach hinten. Ich ließ mich mit ihm fallen, und als ich auf ihm lag, drückte ich seine Hände auf den Boden. Er war zwar stämmiger als ich, aber ich war trotz seiner Muskeln stärker als er. Ein Vampir zu sein hat eben seine Vorteile. Ich zog langsam die Beine an und setzte mich rittlings auf ihn. Als ich die harte Beule in seiner Hose spürte, schaute ich grinsend auf ihn hinunter. Er trug keine Pistole. Nachtwandler konnte man nicht erschießen, es sei denn, man steckte uns den Waffenlauf in den Mund und drückte ab, aber im Großen und Ganzen konnten uns Kugeln nichts anhaben.

„Wusste ich doch, dass du dich freust, mich zu sehen“, schnurrte ich amüsiert. Danaus funkelte mich wütend an. Mir war natürlich klar, dass ihn die Gewalt erregte, nicht meine Wenigkeit. Der Kampf. Der Nervenkitzel.

Ich wünschte, ich hätte seine Gedanken lesen können, denn er starrte mich jetzt an, und irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Sicher, ich war eine schöne Frau, aber alle Nachtwandler sahen gut aus. Wäre er so leicht abzulenken gewesen, hätte er schon längst das Zeitliche gesegnet.

Die Frage, die ich in seinen Augen aufflackern sah, war vermutlich der einzige Grund, warum er noch keinen ernsthaften Versuch unternommen hatte, mich zu töten. Wir hatten miteinander gespielt, ohne dass es zu einem tödlichen Angriff gekommen war. Die anderen Kämpfe, die ich beobachtet hatte, waren ziemlich kurz gewesen. Seine Attacken waren immer sehr präzise und effizient und darauf ausgerichtet gewesen, den Gegner schnellstmöglich zu erledigen. Vielleicht waren wir noch dabei, einander abzuschätzen, und genossen die steigende Spannung, aber ich hatte das Gefühl, dass noch etwas anderes in der Luft lag.

Während ich seine Handgelenke weiter festhielt, legte ich mein Kinn auf sein Brustbein und sah ihm in die Augen. Ich spürte, wie er sich unter mir anspannte, aber er wehrte sich nicht und versuchte auch nicht, mich abzuwerfen. Obwohl meine Lippen nur ein paar Zentimeter von seiner Brust entfernt waren, konnte ich ihn aus dieser Position nicht beißen. Das wussten wir beide, und so lag er regungslos da und wartete ab.

Ich atmete tief ein, um seinen Geruch in mich aufzunehmen. Ich roch Schweiß und ein typisch männliches würziges Aroma, aber da war noch mehr: Wind, Meer und vor allem Sonne. Dieser Geruch war so intensiv, dass ich ihn schmecken konnte, und er beschwor alte Erinnerungen herauf; Erinnerungen daran, wie es war, sich nackt in der Sonne zu aalen.

Ich musste schleunigst von ihm hinunter und auf Abstand gehen. Seine Macht, die ihre Arme um meinen kühlen Körper schlang, machte mich ganz schwindelig. Und nicht nur das. Aber solche Gefühle waren uns in dieser Nacht nicht dienlich – sie bewirkten höchstens, dass ich ihn etwas schneller tötete. Dabei wünschte ich mir so sehr, es ganz langsam zu tun und den Kampf zu genießen.

„Ich bin nicht gekommen, um dich zu vernichten“, sagte Danaus, und seine Stimme hallte wie ein fernes Donnergrollen durch den Raum.

Ich beugte mich lachend über ihn. „Und das soll mich davon abhalten, dich umzubringen? Du dringst in mein Revier ein, tötest meine Leute, und dann sagst du mir, dass du nicht hier bist, um mich zu vernichten? Nein, Danaus, ich werde in dir herumwühlen, bis ich herausgefunden habe, wo das kleine Knäuel Macht versteckt ist.“ Ich bleckte grinsend die Zähne.

Danaus bewegte sich so schnell, dass mir keine Zeit blieb zu reagieren, und im nächsten Moment saß er auch schon auf mir. Doch ich hielt ihn immer noch an den Handgelenken fest. Ich stieß ihn von mir, sodass er quer durchs Zimmer segelte. Er landete auf dem Rücken und rutschte gegen die Wand. Als er wieder stand, war ich bereits auf der anderen Seite des Raums.

Ich kauerte mich in die Ecke und stützte mich mit den Schultern an den beiden Wänden ab. Nachdem ich mit seinen Kräften in Berührung gekommen war, zwang ich mich, es langsamer angehen zu lassen. Mir war noch nie ein Wesen mit Kräften begegnet, die sich so anfühlten wie seine. Wir hatten es mit einer ganz neuen, mysteriösen Bedrohung zu tun. Ich musste herausfinden, wer oder was er war und ob es noch mehr von seiner Sorte gab. Wir hatten doch nicht unzählige Jahrhunderte gegen die Naturi gekämpft und sie schließlich besiegt, um nun mit einem anderen Feind konfrontiert zu werden. Zudem mit einem, der sich am helllichten Tag frei bewegen konnte.

Ich zwang mich zu einem Lachen, das noch eine Weile durch den Raum tanzte, bis es nach einer Weile durch das offene Fenster zu meiner Rechten verschwand. Mein Gelächter schien ihn nervöser zu machen als die kleine Rauferei zuvor. Aber vielleicht hatte es ihm ja auch gefallen, von mir auf den Boden gedrückt zu werden. Ich glaubte nicht, dass er jemals einen Nachtwandler so nah an sich herangelassen hatte, ohne sich zur Wehr zu setzen.

Als ich ihn musterte, fiel mir etwas auf. „Wo ist dein Kreuz, Danaus?“, rief ich und hakte meine Daumen in die Vordertaschen meiner Lederhose ein. „Alle guten Jäger haben ein Kreuz am Hals baumeln. Wo hast du deins?“

„Wieso hast du Kontrolle über das Feuer?“, erwiderte er. Seine Miene war grimmig, jedoch halb verdeckt von seinen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. „Das ist unmöglich.“ Er trat zögernd einen Schritt vor, der Schmutz auf dem Boden knirschte unter seinen Schuhen.

Ich erhob mich anmutig, als wäre ich eine Marionette, die an ihren Fäden nach oben gezogen wird. Es war nichts Menschliches an dieser geschmeidigen Bewegung, und es freute mich, dass ihn der Anblick immer noch nervös machte, obwohl er uns nun schon so viele Jahre jagte. Er wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück und runzelte die Stirn.

„Unmöglich?“, sagte ich. „Hat etwa jemand ein Buch mit Verhaltensregeln für Nachtwandler veröffentlicht, von dem ich nichts weiß?“ Informationen? War das vielleicht der Grund, warum er in mein Revier eingedrungen war? War er neugierig und wollte Erkundigungen einholen?

„Es hat noch nie einen Vampir gegeben, der Kontrolle über das Feuer hatte.“

„Es hat bisher nur wenige gegeben, die uns gejagt haben, ohne sich mit einem silbernen Kreuz zu schützen“, versetzte ich.

Danaus stierte mich an, und ich dachte schon, er würde mich anknurren, doch anscheinend überließ er die tierischen Laute lieber mir. Er drehte den Griff seines Dolchs in der Hand, während er seine Möglichkeiten abwog. Wie wichtig war ihm diese Information? War sie ihm so viel wert, dass er im Gegenzug auch etwas preisgeben würde? Natürlich konnte er mich danach töten, und damit wäre die Sache dann erledigt.

„Wer bereits verdammt ist, kann durch ein Kreuz nicht geschützt werden.“

Augenblicklich kamen mir ein Dutzend neue Fragen in den Sinn, aber ich hatte meine Antwort bekommen und wusste, dass er nicht mehr dazu sagen würde. Jedenfalls nicht, solange ich seine Frage nicht beantwortete, aber ich war bereit mitzuspielen. Vorläufig zumindest.

„Jeder von uns hat eine Gabe“, sagte ich achselzuckend. „Yuri kann Wölfe zu sich rufen. Seraf kann Tote wieder zum Leben erwecken.“

„Aber Feuer …“

„Tja, das findest du jetzt unfair, nicht wahr?“, sagte ich. „Eigentlich sollte man uns mit Feuer töten können – und ich bin immun dagegen. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Nachtwandler bin. Ich hatte bereits Kontrolle über das Feuer, bevor ich wiedergeboren wurde, und irgendwie habe ich diese Gabe behalten.“

„Wie die Naturi“, murmelte er.

„Vergleich mich nicht mit den Naturi!“, fuhr ich ihn wütend an und ging zähnefletschend auf ihn los. Ich nahm lediglich eine schnelle Handbewegung wahr, wie ich sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Aber genau das war mein Fehler: Ich betrachtete ihn immer noch als Mensch.

Die Klinge blitzte einen Sekundenbruchteil im Mondlicht auf, bevor sie sich in meine Brust bohrte. Ich taumelte rückwärts gegen die Wand und umklammerte reflexartig den Griff des Dolchs. Er war etwa zwei Zentimeter unterhalb meines Herzens eingedrungen und hatte meinen linken Lungenflügel erwischt. Versiert wie er war, hatte Danaus mein Herz wohl mit Absicht verfehlt. Doch selbst mit einem Stich ins Herz hätte er mich nicht unbedingt getötet, mich allerdings so sehr geschwächt, dass er mir problemlos den Kopf hätte abschlagen können. Die Verletzung sollte eine Warnung sein, und wäre ich nicht so wütend gewesen, hätte ich sie vielleicht sogar beherzigt.

Ich zog mir den Dolch aus der Brust und biss die Zähne zusammen, als die Klinge an meinen Rippenknochen entlangschrammte und weitere Muskelfasern durchtrennte. Dann presste ich die linke Hand fest auf die Wunde, um das Blut zu stoppen, das mir bereits warm den Bauch hinunterlief. Ich warf den Dolch zur Seite, als er klappernd zu Boden fiel, hallte das Geräusch durch das Haus wie ein Schuss. Als ich Danaus ansah, stellte ich fest, dass er bereits ein weiteres Messer in der rechten Hand hielt und mir auflauerte.

Diesmal ging ich quer durch den Raum auf ihn zu, denn ich wollte, dass er mich kommen sah. Jede Bewegung zerrte an der Stichwunde in meiner Brust, die sich bereits schließen wollte, doch ich setzte ein Lächeln auf und verdrängte die Schmerzen.

Ebenso schnell, wie er den Dolch geworfen hatte, setzte er erneut zum Angriff an, aber diesmal war ich darauf gefasst, denn ich hatte gesehen, wie sich seine Muskeln unter der Haut anspannten. Ich blockte seine Hand mit dem Arm ab, und im Moment des Zusammenstoßes spürte ich das Knacken von Knochen in seinem Handgelenk. Das Messer fiel zu Boden, als der Schmerz ihm in die Finger schoss. Er trat mit dem linken Bein nach mir aus, um mich zurückzudrängen, doch ich hielt es fest und trieb ihn nach hinten, bis er die Wand im Rücken hatte. Dann packte ich seine Arme und schlug sie über seinem Kopf so fest gegen die Trockensteinmauer, dass zwei Dellen entstanden. Meine linke Hand hinterließ einen blutigen Abdruck auf seinem Unterarm, als ich ihn mit meinem ganzen Körper gegen die Wand drückte, bis er ächzte. Jetzt war fürs Erste Schluss mit lustig.

Trotz meiner Absätze war ich kleiner als er, doch an seinen Hals kam ich heran, ohne auf die Zehenspitzen steigen zu müssen. Ich zeigte lächelnd meine Eckzähne. Sein Herz schlug schneller und hämmerte gegen meinen Brustkorb. Ich spürte seine berauschende Wärme und nahm abermals seinen Geruch wahr – diese Mischung aus Wind über dunklen Wassern und strahlendem Sonnenschein.

„Was bist du, Danaus?“, zischte ich und sah ihm in die Augen. Er kniff die Lippen zusammen. Offensichtlich war er ziemlich wütend. Ich lächelte und kam ihm so nah, dass mein Mund fast seinen Hals berührte. Nun begann er, Widerstand zu leisten, und als er sich zu befreien versuchte, spannten sich sämtliche Muskeln in seinem Körper an, aber er hatte keine Chance. Was die reine Kraft anging, konnte er sich nicht mit mir messen, das wusste er.

Mein Atem strich über sein Ohr. „Kein Problem.“ Als ich seinen Hals mit den Lippen streifte, spürte ich, wie ein Schauder über seine verschwitzte Haut jagte. „Eines Tages wirst du es mir sagen. Und bevor ich mit dir fertig bin, wirst du mir sogar vertrauen.“

Ich ließ ihn los und sprang mit einem Satz auf die andere Seite des Zimmers, damit er mir nicht noch einmal das Messer in die Brust rammen konnte. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass er das Ziel diesmal nicht verfehlen würde. Ich schaute ihm tief in die Augen, und nun sah ich seine Angst. Sein Blick verriet Unsicherheit und Zweifel. Ich hatte ihn zutiefst erschüttert und etwas in seinem Inneren berührt, das noch nie jemand berührt hatte. Das machte ihn bedeutend gefährlicher, aber andererseits war auch ich für ihn viel gefährlicher geworden, weil ich ihm mit etwas weitaus Schrecklicherem drohte als mit einem qualvollen Tod.

„Wir sind noch nicht fertig miteinander“, sagte er und umklammerte sein gebrochenes Handgelenk.

„Da hast du recht. Wir sind noch lange nicht fertig miteinander, aber für heute ist die Party vorbei“, erklärte ich.

„Ich bin nicht hergekommen, um dich zu töten.“

„Was du nicht sagst.“

Er verzog den Mund zu einem spröden Lächeln. „Diesmal nicht.“

„Denk immer daran, dass es eine Sache zwischen dir und mir ist. Wenn du dich an einem anderen Nachtwandler vergreifst, bist du schneller tot, als du gucken kannst!“ Ich ließ meine Arme sinken und drehte die Handflächen in seine Richtung, und schon fielen kleine Flammen wie Wassertropfen von meinen Fingern. Sie sammelten sich zu meinen Füßen, dann schossen sie wie lebendige Wesen in alle Richtungen und breiteten sich rasch im ganzen Raum aus. Ich bemerkte, dass Danaus mich beobachtete, doch ich konzentrierte mich mit zusammengekniffenen Augen auf das Feuer, das bereits den Fußboden erfasst hatte und sich rasch auf den Vorder- und Hintereingang des Hauses zubewegte.

Ich schenkte ihm noch ein letztes Lächeln, dann sprang ich aus dem Fenster in den Garten. Ich joggte über den Rasen und drehte mich erst um, als ich die Straße erreichte. Das Haus stand lichterloh in Flammen. Ich wusste, dass er es überleben würde. So leicht starben Männer wie Danaus nicht. Ich war fast versucht zu warten, bis er aus dem Haus gelaufen kam, aber dafür war keine Zeit. Die Nacht war nicht mehr die jüngste, und ich musste mich stärken, um das Blut zu ersetzen, das ich seinetwegen verloren hatte. Den Jäger konnte ich auch noch ein andermal erledigen.

2

In meinen über sechshundert Lebensjahren habe ich Königreiche entstehen und untergehen sehen, die Entdeckung neuer Länder und Völker und grausame Taten von Menschen, die selbst mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Doch ich muss sagen, von allen Jahrhunderten ist mir das einundzwanzigste bei weitem das liebste. Heutzutage können die Leute ihre Vergangenheit und ihr Erscheinungsbild abstreifen wie eine Schlange ihre Haut. Die Welt hat eine neue farbenprächtige Fassade erhalten, die einfach vor das alte Antlitz gesetzt wurde und Himmel und Erde verdeckt.

Heute muss ich nicht mehr stundenlang von Dächern Ausschau halten und meinen Opfern in dunklen Gassen nachstellen. Verlorene Seelen sind inzwischen so zahlreich wie Gänseblümchen auf einer Wiese und warten nur darauf, von mir erlöst zu werden. Mit leerem Blick und gebrochenem Herzen sehen sie erwartungsvoll zu mir auf, als wäre ich ihr rettender Engel. Ich trete in ihr Leben und erlöse sie kurzerhand von einer Existenz, die kein Ziel und keine Bedeutung hat.

Um die überwältigende Leere in ihrem Inneren zu überwinden, besinnen sich diese armen Menschen wieder auf das Primitive. In dunklen Ecken und geheimen Clubs reißen sie sich die Maske der Zivilisation vom Gesicht und feiern ein Fest für die Sinne. Im neuen Zeitalter der Dekadenz ertrinken diese Kreaturen förmlich in einer Flut von Empfindungen und schwelgen in neuen Geschmacksempfindungen und Gerüchen. Mein Favorit ist allerdings der Tastsinn. Ganz egal, wohin ich gehe, überall scheinen sich mir Hände entgegenzustrecken, die berühren, streicheln und liebkosen wollen.

Nachdem wir uns jahrhundertelang von Kopf bis Fuß bedeckt haben, ist die Kleidung inzwischen zusammengeschrumpft und zu einer Art zweiter Haut geworden. Und ich habe noch nie ein Volk gesehen, das so fasziniert von Leder ist. Dieses wundervolle Material wird heute so vielseitig verarbeitet, dass es jeden Zentimeter des Körpers, wahlweise aber auch nur das Allernötigste bedecken kann.

Als ich bei Sonnenuntergang erwachte, beschloss ich, eins meiner Lieblingslokale unweit des Flusses aufzusuchen. The Docks war ein Nachtclub, den man in einem alten, leer stehenden Gebäude eingerichtet hatte. Ich schlenderte durch die Straßen der Stadt und genoss die warme Sommerluft. Es war ein Freitagabend Ende Juli, und das ganze Viertel war voller Leben. Während ich mich zwischen den Menschentrauben hindurchschlängelte, die sich vor den Eingängen der zahlreichen Vergnügungsstätten bildeten, lauschte ich dem Klappern meiner Absätze auf dem rissigen, schmutzigen Gehsteig, wie es von den Backsteingebäuden links und rechts der Straße widerhallte.

Statt an der nächsten Ecke Richtung Norden abzubiegen, blieb ich stehen, denn ich spürte einen Nachtwandler im Forsyth Park. Die Grünanlage lag im alten Teil der Stadt und bestach durch einen Springbrunnen mit einer hohen Wasserfontäne, die von gelben Scheinwerfern angestrahlt wurde. Der Park galt unter den diversen Rassen als eine Art entmilitarisierte Zone. Innerhalb seiner Grenzen wurde weder gejagt, gekämpft noch gezaubert. Wer diesen Waffenstillstand verletzte, verlor sein Leben. Die meisten meiner Leute baten an diesem Ort um ein Treffen mit mir. Natürlich konnte ich eine solche Bitte auch einfach ignorieren, doch bedauerlicherweise war die Anspannung des jungen Nachtwandlers sehr deutlich zu spüren und verpestete förmlich die Luft. So etwas war dem Frieden grundsätzlich nicht zuträglich.

Ich strich mir eine Locke meiner roten Haare hinter das Ohr und hielt auf den Springbrunnen in der Parkmitte zu. Die Luft war vom Duft der üppigen Blütenpracht in den Rabatten erfüllt. Trotz der andauernden Trockenheit war der beliebte Park in einem sehr gepflegten Zustand, denn die Stadt legte Wert darauf, ihn in seiner vollkommenen Schönheit zu erhalten. Das Geplätscher des Wassers tanzte durch die Luft und übertönte beinahe das gleichmäßige Rauschen des Verkehrs auf der River Street.

Joseph saß auf der marmornen Einfassung des Springbrunnens. Seine langen Beine hatte er ausgestreckt und übereinandergeschlagen. Er trug eine elegante dunkle Hose und ein burgunderrotes Hemd, dessen obere zwei Knöpfe geöffnet waren. Mit seinen gerade mal zwanzig Jahren war er unter meinesgleichen noch ein Baby. Er hatte zu Rileys Schäfchen gehört, war jedoch mit meiner Zustimmung herübergeholt worden. Riley hatte begonnen, völlig sorglos und wie von Sinnen Nachtwandler zu erschaffen, und seit seinem Ableben trieb sich Joseph, der fest entschlossen war, seinen eigenen Weg zu gehen, nun am Rand meines Reviers herum. Und bisher war er so klug gewesen, mich zu meiden. Ich konnte den jungen Kerl nur schwer ertragen.

„Das hier ist nicht dein Viertel“, sagte ich, als ich auf ihn zuging. Er stand lässig auf, aber seine Angst war ihm deutlich anzumerken. Ich spürte seine Gefühle so intensiv, als wären sie meine. Vampire lernten im Lauf ihres Lebens, ihr Bewusstsein vor anderen abzuschotten, aber Joseph hatte damit noch Probleme.

Außerdem hatte ich ihn überrascht, was eigentlich nicht hätte passieren dürfen, doch er war ziemlich zerstreut und unaufmerksam. Mir fiel nur ein Grund ein, aus dem ein junger Vampir mit mir Kontakt aufnehmen würde: Danaus.

„Das Sinfoniekonzert ist in ein paar Minuten zu Ende. Ich dachte, ich mische mich heute Abend mal unter die Blaublütigen“, sagte Joseph und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er bemühte sich, eine lockere Haltung zur Schau zu tragen, stand dabei jedoch mit gespreizten Beinen da – bereit zum Kampf oder zur Flucht.

„Ebbe in der Kasse?“

Sein rechtes Augenlid zuckte kaum merklich, aber ansonsten blieb sein gelangweilter Gesichtsausdruck unverändert. Jeder von uns fing als Mischung aus Blutsauger und Taschendieb an. Die meisten wurden nicht gern daran erinnert. Josephs reguläres Jagdgebiet waren die Straße, an der die meisten Nachtclubs lagen, und die Bars rund um die Universität. Vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet waren diese Bereiche die angenehmeren, und unterhaltsamer waren sie auch. Nur waren Studenten leider nicht gerade die beste Einkommensquelle.

„Wir sind nicht alle so gut dran wie du“, sagte er.

„Alles hat seinen Preis.“ Während ich näher kam, registrierte ich aus den Augenwinkeln die Leute, die durch den Park schlenderten, aber niemand war uns nah genug, um unser Gespräch mithören zu können, und die Verkehrsgeräusche schützten uns zusätzlich vor Neugierigen. Als ich vor Joseph stehen blieb und in seine haselnussbraunen Augen sah, spürte ich sofort, wie er in mein Bewusstsein einzudringen versuchte. Er konnte nicht anders, weil er noch nicht gelernt hatte, seine Kräfte zu kontrollieren. Bei Menschen hatte er leichtes Spiel, doch wenn er auf andere Wesen traf, konnte es leicht geschehen, dass sie ihm in ihrer Verärgerung die Kehle herausrissen.

Ich fuhr mit der Hand über seine Brust und wollte gerade seinen Hals packen, als er vor mir zurückwich. Eine instinktive Reaktion und ein eindeutiges Zeichen für mangelndes Vertrauen. Ich musste nur fragend eine Augenbraue hochziehen, und schon kam er zu mir und legte den Kopf in den Nacken, um mir seinen Hals darzubieten. Ich ergriff ihn an der Kehle und zwang ihn, sich wieder auf die kleine Mauer zu setzen.

„Du legst es wohl darauf an?“ Ich zwang mich, ruhig und gelassen zu bleiben, um kein Aufsehen zu erregen.

„Waffenstillstand“, sagte er, um mich überflüssigerweise daran zu erinnern, dass wir uns im Park aufhielten.

Ich sah lächelnd auf ihn hinab und zeigte meine schneeweißen Zähne. „Ein Waffenstillstand schützt dich nicht vor Bestrafung.“ Ich spürte, wie sich seine Halsmuskeln anspannten, als er erneut Angst bekam. Seine Hände schlossen sich fest um die Brunneneinfassung.

Im Leben eines Nachtwandlers drehte sich alles um Macht und Kontrolle. Die am oberen Ende der Nahrungskette hatten die ganze Macht und absolute Kontrolle über alle, die unter ihnen standen. Die Schwächeren mussten sich beugen, wenn sie nicht gebrochen werden wollten.

Joseph hatte mich aufgesucht, und er musste sich schon ein bisschen unterwürfig zeigen, wenn er bei mir nicht in Ungnade fallen wollte. Ich gehörte zwar nicht zu denen, die eine Gefolgschaft von Speichelleckern brauchten, aber in meiner Position als Hüterin der Stadt musste man mich schon respektieren und fürchten.

„Du kannst von Glück sagen, dass ich heute keine Lust habe, mit dir zu spielen“, sagte ich. „Kommen wir zur Sache. Warum hast du mich um dieses Treffen gebeten?“

„Es heißt, du hast gegen den Schlächter gekämpft“, sagte Joseph.

Ich ließ seinen Hals los und gab seinem Kinn einen Stups, bevor ich die Hand sinken ließ. Viele Jüngere nannten Danaus den Schlächter, was durchaus verständlich war, weil er einige von uns abgeschlachtet hatte wie Vieh.

„Wir sind uns begegnet.“ Ich zuckte mit den Schultern und schlenderte ein paar Meter weiter. Zwei Pärchen kamen durch den Park, und ihr Gelächter schallte zu uns herüber, während sie auf eines der kleinen Hotels zugingen, die den Park säumten.

„Aber er ist immer noch in der Stadt.“ Der arme Junge klang völlig verwirrt. Er hatte offensichtlich damit gerechnet, dass ich Danaus entweder aus meinem Revier vertrieb oder tötete. Das war natürlich mein Plan, aber angesichts einer so großartigen Chance hatte ich nicht vor, mein Pulver schon bei einem einzigen schnellen Kampf zu verschießen. Dummerweise war Danaus aber nicht irgendein Jäger, sondern er war zum Problem geworden. Er war in mein Revier eingedrungen, weil er es explizit auf mich abgesehen hatte. Aber Nachtwandler stehen nun mal nicht im Telefonbuch, und man kann uns nicht so leicht aufspüren, wenn man nicht selbst ein Nachtwandler ist oder zum engsten Kreis der Vertrauten gehört. Bevor ich Danaus tötete, musste ich unbedingt herausfinden, was er war und wie er mich gefunden hatte. Außerdem wollte ich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch in Erfahrung bringen, was er über die Naturi wusste, denn dass er etwas über sie wusste, ging aus der Bemerkung hervor, die er bei unserer Begegnung gemacht hatte. Es gab nur wenige, die ihren Namen überhaupt kannten.

Ich schob meine Überlegungen beiseite und schenkte meine Aufmerksamkeit wieder dem Jungspund. „Zweifelst du meine Methoden an?“, fragte ich ganz freundlich. Aber Joseph war kein Idiot.

„Nein! Natürlich nicht!“ Er sprang auf und stürzte auf mich zu. „Ich bin jung. Ich lerne noch. Ich will es nur verstehen.“ Er nahm meine linke Hand und drückte sie an seinen Hals. Eine geschickte, diplomatische und versöhnliche Geste mit einem Anflug von Demut. Er war gut. Es bestand noch Hoffnung für ihn.

Er war ein paar Zentimeter größer als ich. Ich zog ihn an mich und drückte mit leicht geöffneten Lippen einen Kuss auf seine Drosselvene, wobei ich mit den Eckzähnen seine Haut streifte. Dann ließ ich meine Lippen seinen Hals hinaufwandern, über sein Kinn bis zu seinem Mund streichen und küsste ihn schließlich. Ich fuhr mit der Zunge über seine spitzen Eckzähne, sodass er ein paar Tropfen von meinem Blut kosten konnte. Er erschauerte, als ich zurücktrat, doch er hielt mich nicht fest. Joseph hatte bewiesen, dass er mir absolut vertraute, und dafür hatte ich ihn belohnt.

„Du bist zwar noch jung, aber du lernst schnell“, sagte ich mit einem anerkennenden Lächeln, ging zurück zu dem Springbrunnen und setzte mich. „Hat der Jäger jemanden getötet, seit ich ihm begegnet bin?“

Joseph blinzelte mehrmals, als erwachte er aus einem Traum. „Nein.“

„Und das wird er auch nicht, wenn ihr ihn nicht provoziert. Es ist eine Sache zwischen ihm und mir.“

„Ja, Herrin“, sagte er und neigte den Kopf.

Ich stand auf und reckte mich. „Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich werde mich ins Vergnügen stürzen. Viel Spaß mit den Klassikfans!“

„Werde ich haben.“ Joseph lächelte, seine spitzen Eckzähne schauten zwischen seinen blassen Lippen hervor. Dann flitzte er so schnell davon, dass es aussah, als hätte er sich tatsächlich in Luft aufgelöst. Allmählich brach die Dunkelheit über die Stadt herein, und überall gingen die Lichter an. Schon bald trat Josephs Beute in die warme Nachtluft hinaus, um ihm direkt in seine kühlen Arme zu laufen.

3

Auf dem Weg zum Docks schlenderte ich die River Street entlang. In dieser Gegend waren die meisten Nachtlokale angesiedelt. Den größten Teil des Jahres über standen hier alle Türen offen, und die lieblichen Klänge von Jazz- und Bluesmusik waren bis auf die Straße zu hören und lockten die Leute in die dunklen Bars. Am westlichen Ende der Straße wurde es jedoch etwas ungemütlicher. Die Menschen, die sich in den finsteren Ecken herumdrückten, taxierten mich mit grimmigem Blick. Sie beobachteten mich, aber sie taten mir nichts, als spürten sie, dass ich irgendwie war. Oder zumindest keine leichte Beute.

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