Jahreszeiten - Fiona Williams - E-Book

Jahreszeiten E-Book

Fiona Williams

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Beschreibung

Was kann uns halten, wenn das Leben aus dem Takt gerät? Worauf kommt es im Leben wirklich an? Tess wünscht sich das Chaos zurück, das bis vor Kurzem ihr Leben gewesen ist: ihre Zwillinge Sonny und Max, die von ihren Abenteuern Blütensammlungen, Vogelstimmen und Dreck ins Haus tragen, ihren Ehemann Richard, der das ganze Dorf kennt und über alles Bescheid weiß. Doch Max verlässt sein Zimmer nur noch unter Murren und Richard geht jedem Gespräch aus dem Weg, in dem er sich stundenlang seinen Pflanztunneln widmet. Spürt niemand außer Tess, dass das Leben der Familie aus den Fugen geraten ist? »Jahreszeiten« ist der Roman einer Familie, die ihre Vielstimmigkeit wiederfinden muss, um gemeinsam loslassen zu können. Er erzählt die tröstliche Geschichte einer Frau und Mutter, einer Ehe und Familie, die aus dem Takt geraten ist, die Trost und Hoffnung im Rhythmus der Jahreszeiten sucht.

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Seitenzahl: 383

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Fiona Williams

Jahreszeiten

Roman

 

Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch

 

Über dieses Buch

 

 

Tess wünscht sich das Chaos zurück, das bis vor Kurzem ihr Leben gewesen ist: ihre Zwillinge Sonny und Max, die von ihren Abenteuern Blütensammlungen, Vogelstimmen und Dreck ins Haus tragen, ihren Ehemann Richard, der das ganze Dorf kennt und über alles Bescheid weiß. Doch Max verlässt sein Zimmer nur noch unter Murren und Richard geht jedem Gespräch aus dem Weg, in dem er sich stundenlang seinen Pflanztunneln widmet. Spürt niemand außer Tess, dass das Leben der Familie aus den Fugen geraten ist?

 

»Jahreszeiten« ist der Roman einer Familie, die ihre Vielstimmigkeit wiederfinden muss, um gemeinsam loslassen zu können. Er erzählt die tröstliche Geschichte einer Frau und Mutter, einer Ehe und Familie, die aus dem Takt geraten ist, die Trost und Hoffnung im Rhythmus der Jahreszeiten sucht.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Fiona Williams ist in Südlondon aufgewachsen, hat eine Farm in Australien betrieben, in Singapur gewohnt und lebt mittlerweile mit ihrer Familie in den Somerset Levels, einem Feuchtgebiet im Südwesten Englands. Sie hat Biowissenschaft und kreatives Schreiben studiert. Für »Jahreszeiten« hat sie schon vor Veröffentlichung den renommierten Bridport Prize gewonnen.

 

Maria Hummitzsch, geboren 1982, arbeitet als Literaturübersetzerin aus dem Englischen und Portugiesischen und hat z.B. David Foster Wallace, Waguih Ghali, Ayobami Adebayo und Lisa Taddeo ins Deutsche übertragen.

Inhalt

HERBST

SONNY

TESS

MAX

TESS

SONNY

RICHARD

MAX

TESS

SONNY

RICHARD

TESS

MAX

SONNY

RICHARD

MAX

SONNY

MAX

TESS

SONNY

MAX

TESS

MAX

WINTER

TESS

SONNY

TESS

MAX

TESS

MAX

RICHARD

MAX

TESS

MAX

SONNY

RICHARD

TESS

SONNY

RICHARD

TESS

MAX

RICHARD

MAX

SONNY

TESS

MAX

FRÜHLING

RICHARD

SONNY

TESS

SONNY

MAX

TESS

MAX

TESS

RICHARD

SONNY

MAX

SONNY

TESS

MAX

RICHARD

SONNY

TESS

MAX

SONNY

MAX

TESS

MAX

SOMMER

SONNY

TESS

SONNY

TESS

MAX

SONNY

RICHARD

TESS

SONNY

MAX

SONNY

RICHARD

TESS

MAX

SONNY

TESS

RICHARD

SONNY

TESS

MAX

SONNY

TESS

RICHARD

SONNY

MAX

TESS

MAX

SONNY

TESS

RICHARD

TESS

RICHARD

TESS

SONNY

MAX

HERBST

SONNY

Manchmal gibt es keine Träume zu träumen. Die Nacht bringt anderes, und wir müssen geduldig warten, bis sie vorbei ist. An der Küchendecke ziehen Kamillewolken dahin, und Mum verkriecht sich in ihrer Teetasse, findet zum Singsang der Waschmaschine zur Ruhe. Bald kommt der Morgen. Meine Füße machen keinen Mucks, als ich über das bereifte Gras durch den Garten gleite. Ich verschwinde in der Schwärze des Neumonds. Ringeltauben plustern sich auf in den Ciderapfelbäumen und beobachten mich mit neugierigem Schweigen. Leichtfüßig gehe ich vorbei an Binsen, dem letzten Mädesüß und Blutweiderich, an sterbenden Brennnesseln bis zu der Stelle, wo sich der Fluss als silbernes Band dahinschlängelt. Kaltes Wasser durchtränkt meine Haut. Ich lasse zu, dass es mich wiegt, und lausche der Musik der Sterne und dem Kräch, Kräch, Kräch kleiner weißer Reiher, bis sie schließlich ihren Tee getrunken hat und näherkommt, den Wäschekorb unter dem Arm, ein Tuch fest um den Kopf gewickelt. Wie ein scheues Tier schleicht sie sich auf Hausschuhen mit ihren Wäscheklammern an, den Blick ihrer dunklen Augen nach innen gerichtet. Aus Angst will sie nicht sehen, wie tief meine Beine im Flussbett wurzeln. Aale schwimmen zwischen meinen Knien. Als ich sie rufe, weiß ich, dass sie mich sieht.

TESS

Da ist er wieder, meine Miniaturausgabe. Die weiche kastanienbraune Kleinjungenrundung seiner Wange und diese Augen, die aus einem wuchernden Gewirr aus Ampfer und Efeu hervorlugen, wo er spielt, wie früher als kleines Kind. Diese Augen flackern, als ich zuerst die Hosen auf die Leine hänge, dann die nicht zusammenpassenden Socken. Es sind meine Augen, so dunkel, dass sie fast schwarz aussehen.

Als Nächstes die Handtücher, die vor und zurück schwingen und die kühle Luft mit dem synthetischen Lavendelduft des Weichspülers vergiften. Das Aufhängen der Bettwäsche ist ein Kampf. Meine Arme haben ihre Kraft verloren und werfen nur mit Mühe einen Bezug nach dem anderen über die Leine. Nebel steigt auf und zieht über den Fluss, der mir zusieht aus seinem Versteck hinter einer Wand aus Pestwurz, die Blätter nicht mehr grün, sondern gelb gefleckt, fransig und zerrissen.

Die Sonne zeigt sich mit jedem Tag später. Doch endlich leuchten die mattroten Backsteine der Hausrückseite in überraschendem Karmesin. Heute Morgen gibt es zwei Sonnen: Die eine erhebt sich über einer Reihe von Weiden, die sich biegen, als der Wind an Fahrt aufnimmt. Die andere scheint mir hell aus dem Wasser entgegen. Im Zusammenspiel blendet das Licht der beiden. Trotzdem ist es leicht, die schmerzhafte Schönheit zu ignorieren und stattdessen an die gefrorenen Hähnchenschenkel zu denken, die gerade auf der Küchentheke auftauen und vor dem Braten morgen mit Schalotten, Knoblauch, Tomaten und einem Löffel Jerk-Paste mariniert werden müssen.

Leicht, die Möwenschar zu ignorieren, die schon wie winzige weiße Boote über die Flussniederung gleitet und kreischend das wassergetränkte Gras nach Würmern absucht; oder die Wolken, violett, und jetzt scharlachrot, die über den Himmel zu den fernen Quantock Hills gepeitscht werden. Es gibt nur die Wäsche, sich aufblähende Kissenbezüge und natürlich Sonnys Gesicht, sein süßer geöffneter Mund, als er mich ruft.

MAX

Über das Moor, von drüben aus Meare, ertönt sechsmal die Kirchenglocke. Ich stehe in dem hohen Schilf direkt am Fluss hinter unserem Haus. Schlamm quillt über meine eiskalten Zehen. Immer wieder blitzen die Umrisse meines Bruders vor mir auf.

»Wir gehen besser zurück«, rufe ich. Er wird sagen, dass ich ein Angsthase bin, aber das ist mir egal. Er antwortet nicht. Stattdessen stapft er immer weiter in den Fluss, bis zu der Stelle, wo die Strömung Sachen umherwirbelt, mit sich reißt und fängt. Treibholz und Teppiche aus verfaultem Laub zerrt es runter in die Dunkelheit. »Komm schon, Sonny! Es ist arschkalt«, rufe ich erneut, aber meine Stimme krächzt und klingt fremd. Ich platsche ihm durchs Wasser hinterher, ängstlich wegen der Schatten, die überall am Ufer ihre langen Finger nach uns ausstrecken. Mein Gestolper scheucht ein Moorhuhn aus seinem Nest auf. Gackern und Glucksen hallt durch die feuchte Luft. Es wird nicht lange dauern, bis Mum merkt, dass wir weg sind.

»Hier drüben«, ruft Sonny, um mich zu ärgern.

»Wo denn?« Ich stolpere über versunkene Baumstämme hinweg, und mein Atem hüllt meinen Kopf in eine Wolke aus Dampf. Das Wasser reicht bis an meine aufgerollte Jeans, die Kälte schmerzt jetzt. »Sonny«, schreie ich. Aber alles, was ich höre, ist das Rauschen des Wassers.

 

»Was soll das, raus da, sofort!«

Als ich Mums schrille Stimme höre, mache ich einen Satz und rutsche aus, falle auf die Knie und werde klitschnass. Sie steht über uns am Ufer, ihre Beine halb hinter Brennnesseln versteckt. Wir klettern aus dem Wasser, und Sonny vergeht das Grinsen. »Was soll das werden? Rein jetzt, aber schnell!« Sie jagt uns durch den Garten in die warme, helle Küche. Dad, immer noch in seiner schmutzigen Gartenkluft, sitzt am Tisch und löst Kreuzworträtsel. Er lächelt uns an, wie wir da zitternd am Rayburn-Herd stehen und den Fußboden volltropfen. Wut liegt in Mums Blick. »Runter mit den nassen Sachen. Sofort!«

»Komm schon, Tess, ist doch alles gut. Beruhige dich. Schau mal … Hier ist was für dich – …, verbleibend, fünf Buchstaben, der zweite ist ein B«, bietet Dad ihr an und zeigt mit dem Bleistift auf die Zeitung. Mum ignoriert ihn und kommt mit einem Handtuch in den braunen Händen auf uns zu. Mich wickelt sie zuerst ein, als wäre ich ein Baby, obwohl ich fast so groß bin wie sie. Über ihre Schulter hinweg sehe ich einen kleinen weißen Nachtfalter, wahrscheinlich eine Nonne, die gegen das beschlagene Fenster flattert.

»Der Fluss ist tabu! Ist das klar?«

»Wir haben doch nur ein bisschen Quatsch gemacht«, erkläre ich ihr. Sonny neben mir nickt.

»Tut uns leid.«

Mum atmet ganz langsam, als müsste sie sich alle Mühe geben, sich zusammenzunehmen. Das macht sie oft.

»Jetzt aber umziehen. Los. Es gibt gleich Abendessen.«

Wir stürmen die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal, und fahren mit der Hand an der Tapete lang. Aber kaum sind wir oben angekommen und in Sicherheit, können wir uns das Lachen nicht mehr verkneifen und schubsen uns gegenseitig bis zu unserem Zimmer. Drinnen lassen wir uns auf die Betten fallen, die genau gleich aussehen, beide mit Spider-Man-Bettwäsche. Obwohl, meins ist nicht aufgeräumt, die Bettwäsche zerwühlt und mit lauter Büchern bedeckt. Sonnys Bett sieht ordentlich aus, wie alle seine Sachen. Auf dem Nachttisch zwischen uns liegen seine Lesebrille und unsere Pfeifen mit den rot-gelb-grünen Bändern vom Notting Hill Carnival, außerdem stehen dort der große Silberpokal, den Sonny in der Schule in Mathe gewonnen hat, und ein Foto von uns und unserem Cousin Nathan vor dem Ozeanarium in London, als wir neun waren. Auf dem Regal über seinem Bett bewahrt Sonny seine Fossilien auf. Er hat viel zu viele. Einen Teil der Sammlung musste Mum in Kisten unter seinem Bett verstauen. Bei mir auf dem Regal stehen nur meine Tierbestimmungsbücher und Vogelbücher, und das Fernglas, das mir Aunty Peaches zum letzten Geburtstag geschenkt hat. Außerdem mein Glas mit Federn, das jetzt umgekippt daliegt. Krähenfedern bedecken mein Kissen. Sie sehen schwarz aus, bis man sie ins Licht hält, dann schimmern sie in schönen Grün-, Blau- und Lilatönen. Sonny und ich ziehen uns schnell um, lachen und knuffen uns weiter, suchen uns Jeans und identische schwarz-orange gestreifte Pullis raus, ehe wir wieder nach unten in die Küche rennen.

Dad legt den Finger an die Lippen, damit wir still sind. Er will sich im Radio eine Gartensendung anhören. Ein Mann aus Hereford redet darüber, wie man Mangold überwintert. Sobald er etwas Nützliches sagt, kritzelt Dad es schnell auf den Zeitungsrand. Bei jeder seiner Bewegungen rieche ich Cider.

»Es fehlt noch Besteck«, sagt Mum und schaut erst zum Tisch und dann auffordernd zu uns. Sie benutzt ihr liebstes Geschirrtuch, das mit der bunten Karte von Jamaika und den vielen Flecken, und nimmt damit den heißen angerußten Bräter vom Herd. Ein Umzugsgeschenk von Nana, vor langer Zeit auf dem Markt in Brixton gekauft. Wahrscheinlich hat das Aluminium irgendwann mal genau so hell geglänzt wie bei denen im Caribbean Food Shop in der Nähe von Nanas Haus in Lewisham. Beim Essen geht Dad seine Pläne für den Anbau des Wintergemüses durch. Er zählt winterfeste Zwiebelsorten auf, Red Baron und Autumn Champion, Knoblauch, Lauch, Feldsalat, Rüben und Mangold. Mum sieht aus, als würde sie zuhören, aber ihr Blick wandert in unsere Richtung und ihre Finger nesteln an dem Tuch, das sie um ihren Afro gebunden hat, damit ihre Haare nicht nach Küche riechen.

»Ich muss morgen früh die Saubohnen in die Erde bringen«, sagt Dad. »Hilft mir irgendwer dabei?«

»Es ist Samstag«, antwortet Mum, ohne von ihrem Teller aufzuschauen. »Du weißt, dass ich mich um Cyril kümmern muss.« Dad, der nur an seine Setzlinge denkt, hört sie nicht. Sonny und ich schweigen und konzentrieren uns darauf, das Fett von den scharf gewürzten Ochsenschwanzknochen zu zutschen.

Dad stellt das Radio aus und dreht sich zu uns. »Was ist mit dir?«

»Mir?«, frage ich prustend und spucke etwas Reis über den Tisch. Sonny schnauft und wirft mir einen Blick zu, als wollte er sagen: »ha«.

»Nein. Ich wollte ihn mit zu Cyril nehmen«, sagt Mum, die aufspringt und ein Blech mit Bratäpfeln aus dem Wärmofen des Rayburn zieht. Sie riechen nach Nelken und Zimt.

»Ich verstehe nicht, warum …«, setzt Dad an, unterbricht sich jedoch, schaltet das Radio wieder ein und kritzelt erneut auf seine Zeitung. So verlaufen in letzter Zeit alle ihre Gespräche, es ist überhaupt kein richtiges Miteinanderreden.

Nach dem Abendessen geht Mum mit ihrem Handy nach oben. Ich höre, wie das Schlafzimmerfenster geöffnet wird, und weiß, dass sie jetzt für guten Empfang Kopf und Arm in die Kälte streckt. Ihre Stimme sickert durch die Ritzen der Dielen nach unten. Sicher spricht sie mit Nana und beschwert sich über Dad. Darüber, dass er die Nase ständig nur in die Erde steckt und überhaupt nichts anderes wahrnimmt. Es ist ihr einziges Gesprächsthema, das und wie einsam sich Mum hier fühlt, wo sie doch eigentlich bei Nana und Aunty Peaches und dem Rest ihrer Familie in London leben sollte. Sonny und ich liegen auf dem Sofa und gucken Bear Grylls im Fernsehen. Diesmal trinkt er Kamelpisse. Wir lassen Dad mit einer Flasche Bier in der Hand und den Radionachrichten am Küchentisch sitzen.

Später am Abend höre ich, wie sie sich streiten.

»Warum fetzen sie sich?«, frage ich Sonny. »Deinetwegen«, sagt er. »Sie machen sich Sorgen.«

Wir liegen zusammen in seinem Bett, die Nasen dicht aneinander, und verstecken uns unter der Decke. Wenn ich in Sonnys Augen schaue, sehe ich mein Spiegelbild. Ich drehe mich auf den Rücken, rutsche zur Seite und lege meinen Kopf neben seinen. Strähnen meiner langen sandfarbenen Haare vermischen sich mit den dunklen Locken an seinem Ohr.

Kein Mensch glaubt, dass wir Zwillinge sind. Mum ist es leid, es den Leuten zu erklären. Ihr könnt unmöglich Zwillinge sein, sagen sie, es gibt keine Zwillinge mit unterschiedlichen Hautfarben. Da sind sich alle einig. Aber wir sind Zwillinge. Zweieiige, ja. Verschiedenfarbig, ja, aber definitiv Zwillinge. Die Leute sagen, Sonny kommt nach Mum, weil sie beide braune Haut haben, schimmerndes Braun wie von Kastanien. Die Augen der beiden sind fast schwarz, und sie haben schwarze fluffige Locken. Ich sehe aus wie unser Dad, kränklich und käsig, meint Nana, mit blaugrauen Augen, die immer überrascht in die Gegend gucken. Alle sagen, Sonny und ich sind eine Seltenheit, etwas Außergewöhnliches, ein Kuriosum. Kurz nach unserer Geburt gab es ein Foto von uns in der Gazette mit einem Zitat von Mum, die ihren Schock beschreibt: »Wir hatten keine Ahnung, auf den Ultraschallbildern hat man die Hautfarbe nicht gesehen.« Mum sagt, wir haben immer viele Blicke auf uns gezogen, wenn sie mit uns im Zwillingsbuggy spazieren gegangen ist. Wenn Dad nicht dabei war, haben Fremde Hallo zu mir gesagt und sie gefragt, ob sie meine Babysitterin ist. Zum Beweis, dass wir Zwillinge sind, hatten wir immer die gleichen Sachen an, einheitliche Latzhosen und identische Strampler. Am liebsten tragen wir auch jetzt noch die gleichen Klamotten, damit es auch ja keiner vergisst.

TESS

Eben noch ist Frühstückszeit und ich fege verstreute Choco Pops vom Küchentisch, und plötzlich ist es schon sieben und ich räume die Sachen vom Abendessen weg. Unzufriedenheit setzt sich in meinen Fingern ab und macht sie linkisch, so dass mir beim Geschirrspülen Tassen aus der Hand fallen und Seifenlauge auf das Abtropfgestell spritzt. Sie verstopft mir die Ohren, so dass ich nicht höre, wie Richard irgendwelchen Tratsch wiedergibt, den er von einem Kunden gehört hat, während er den letzten Bissen Bratapfel mit Vanillesoße aus seinem Schälchen kratzt. Ich sehe ihn lachen und erinnere mich vage, wie es sich anfühlt, wenn meine Lippen seine berühren. Ihm gegenüber sitzt Max, sein Spiegelbild, und lacht das gleiche Lachen.

»Mum … Mum?« Seine Stimme, noch immer die eines Kindes, aber schon von der drohenden Pubertät gefärbt, durchschneidet meine Gedanken.

»Entschuldige, Spatz, ich habe gerade nicht zugehört.«

Max lächelt, zeigt mir seine schiefen Kleinjungenzähne, doch wenn ich ihn anschaue, sehe ich Richards Lächeln und Richards helle blaugraue Augen, die vor Genugtuung glänzen, als die Geschichte für mich ein zweites Mal erzählt wird. Alte Ängste drängen wieder an die Oberfläche, dunkle, schwierige Gefühle, die keine Mutter empfinden sollte, und versetzen mich zurück zu dem erdrutschartigen Tag, als sein kleiner Körper, noch ganz voller Käseschmiere, das erste Mal in meine Arme gelegt wurde – o Gott, dieser Junge kann unmöglich mein Kind sein!

Wie eingesperrte wütende Fliegen schwirren die Worte in meinem Kopf umher. Ich will nach Hause. Zurück in das tröstliche Chaos aus Millionen von Menschen, die aussehen wie ich und denen egal ist, wer ich bin. Die Betonlandschaft dort ist viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, als dass sie sich um meine scheren würde. Hier beobachtet man mich auf Schritt und Tritt – über Hecken hinweg, über gepflegten Liguster genauso wie über verwildertes Gestrüpp aus Stechpalmen, Weißdorn und Hagebutten, durch gebleichte Gardinen hindurch, die zucken, wenn ich allein die ruhigen Straßen entlangspaziere, vom überlaufenen Spielplatz aus, während ich im einzigen Laden im Ort für Brot anstehe oder auf den kleinen Bus warte, der nur zweimal am Tag fährt. Es gibt kein Entkommen, nicht einmal hier im Haus, in dem ich mich von den Fenstern nach hinten hinaus fernhalten muss, wenn ich dem wachsamen Blick des Flusses entgehen will.

SONNY

Ich träume von Backsteinen, die im Abendsonnenlicht mandarinorange leuchten. Drüben auf Hectors Feld hängen die Weißdornbüsche voll mit dunklen Beeren. Weberknechte tanzen wie Roboter über die Wiese. Im Gras glitzern die Eicheln wie nasse Edelsteine. Schaut mal – in den Pflaumen leben Ohrkneifer. Seht ihr, wie die Libellen Jagd auf die Wespen machen? Hinter Dads Schuppen geht der Holunder in Johannisbeerhecken über. Mum sollte sich mit dem Wäschereinholen beeilen. Heute Nacht wird es Frost geben. Gehen wir doch nach dem Abendessen noch mal raus in den Garten und winken den Schwalben zum Abschied.

 

Mum sagt, ich bin der Verträumte, mit den Gedanken immer in den Wolken, oder wie Nana es formuliert, eine alte Seele beim dritten Besuch, während Max nur aus Ecken und Kanten besteht, sperrig ist, einfach nicht gut reinpasst, ganz egal, welche Form die Öffnung hat. Aber wegen unseres Aussehens behandeln uns die Leute unterschiedlich. Sie können nicht glauben, dass wir Brüder sind, weder Halb-, noch Stief, oder Adoptiv-, sondern echte Brüder. Wenn sie genauer hinschauen würden, könnten sie sehen, dass wir tatsächlich genau gleich sind. Unser Lächeln ist gleich, und wir haben die gleichen, vorn ein bisschen schief stehenden kleinen Zähne. Wir lachen auch gleich. Mum sagt, sie kann nie sagen, wer gerade kichert. Vor allem sind wir genau gleich groß. Dass ich größer aussehe, liegt nur an meinen Haaren.

Guckt mal, wie ich sie mit Wasser glatt mache.

Außerdem sind unsere Füße gleich groß, wir können also auch die Gummistiefel vom anderen tragen. Genauso wie die Handschuhe und Mützen, nur dass ich eine Brille brauche, damit ich im Unterricht erkennen kann, was an der Tafel steht. Wir sind gleich. Und doch verschieden.

Es fühlt sich komisch an, der Schwarze genannt zu werden. Was meinen sie damit? Schwarz wie die Kohle, die wir verwenden, wenn Dad nicht genug Holz vorrätig hat? Oder Schwarz wie die Raben, die den Hühnern die Eier klauen und auf dem Gartenzaun sitzen und krächzen?

Manchmal sagen die Leute verletzende Sachen, wahrscheinlich nicht mit Absicht, sondern dummes Zeug, das sie schlagfertig oder lustig finden. Für sie sind wir ein Witz. Vor allem in der Schule, wo sonst keiner aussieht wie ich. Ich tue so, als würde es mir nichts ausmachen. Wie als Evan meinte, dass meine Haut dieselbe Farbe hat wie Scheiße, weil ich ihm aus Versehen mit dem Fußball ins Gesicht geschossen hatte. Mr. Reid bekam das mit und setzte ihn vor Mrs. Haycocks Büro. Zusammen mit den anderen lachte ich es weg, wie ich es immer mache, obwohl ich ihm viel lieber eine reingehauen hätte.

Mum merkt immer, wenn ich traurig bin. Ihre Umarmungen sind Strickjacken aus Sandelholz und Vanille.

»Lass dir nichts einreden«, sagt sie dann. »Du bist genau richtig. Und außerdem geht es mir genauso. Ich bin hier auch die Einzige. Aber guck … Es macht mir nichts aus.«

Inzwischen weiß ich aber, dass sie nur so tut.

Mum nennt uns ihre Regenbogenzwillinge. Bei ihr klingt es, als ob das was Gutes ist. Ich traue mich nicht, ihr zu sagen, dass ich mir manchmal – nicht immer – wünsche, mehr wie Max und Dad auszusehen, und weniger wie sie. Mir wünsche, die Leute könnten sofort erkennen, dass Dad mein Dad ist. Wenn ich mit ihm nach Combe Leigh oder Branstock fahre, mit ihm in fremden Pubs sitze oder bei der Post anstehe, fragen sie immer, ob ich adoptiert bin oder nur zu Besuch. Dad lacht das dann weg. Wenn ich traurig werde, erinnert er mich daran, dass meine Urgroßeltern auf dem Kirchfriedhof begraben liegen. Alte englische Knochen, die sich in der dunklen, kalten Erde zersetzen. Inzwischen sind es über drei Generationen, ich gehöre also mehr dazu als die meisten Dorfbewohner. Aber zählt das auch, wenn ich nur auf einer Seite der Familie dazugehöre?

Hier bei uns im Dorf kennen uns alle, darum starrt uns auch keiner an. Jedenfalls selten. Dad meint, dass wir keine Sensation mehr sind. Aber wenn ich mit Mum über die Felder gehe, vorbei an der Hühnerfarm oder Churleys Korbflechterei, die das Ende vom Dorf markieren, raus auf die Wege zu den umliegenden Dörfern, werden wir oft gefragt, ob alles okay ist oder ob wir Hilfe benötigen oder uns verirrt haben. Mum lächelt jedes Mal, aber ohne dass man ihre Zähne sieht, dabei sind die krass weiß, und sie redet dann plötzlich ganz seltsam. Sie antwortet immer, dass alles gut ist, wir nur einen Spaziergang machen, genau genommen ganz hier in der Nähe wohnen, ja genau … nur ein Stück die Straße runter. Sie sagt auch immer was übers Wetter, was die Leute offenbar freut. Aber manchmal reden die Leute auch überhaupt nicht mit uns. Ihr Schweigen beobachtet uns dann, während sie Laub zusammenharken, in ihren Blumenbeeten Unkraut zupfen oder ihre Wäsche raus-hängen. Mum ruft ihnen immer »Guten Morgen« oder »Guten Abend« zu. Sie legt mir dann den Arm um die Schultern oder drückt viel zu fest meine Hand.

Seht ihr unsere Hände? Die sind gleich.

Wenn ein schwarzer Lieferfahrer bei uns auftaucht, tut Mum ganz verlegen. Sie fummelt dann an ihren Haaren rum oder zupft sich Fussel von der Kleidung. Und sie wechselt in dieselbe Tonlage wie mit Nana und Aunty Peaches. Das wirkt jedes Mal, als würde sie sagen, ja, ich weiß, es sieht aus, als ob ich hier wohne, tue ich aber nicht.

Meine Mum ist ein Chamäleon, wie die in den Büchern von Max. Wenn wir nur für uns sind, ist sie eine andere Mum. Dann lacht sie, so dass man Zunge und Zähne sieht, und tanzt mit vollem Bauch- und Poeinsatz zu Missy Elliott, bis Dad sie sich schnappt. Er tritt ihr immer auf die Füße, wenn er sie durch die Küche wirbelt. In solchen Momenten fühlt sich ihre Stimme so weich an wie der Woll-Ziest, der an der Seite vom Gartenweg wächst. Dann ist es einfach Mums Stimme, ihre echte, die Stimme, die nur für uns bestimmt ist.

Ich habe sie schon lange nicht mehr lachen oder lächeln sehen. Sie geht kaum noch vor die Tür, sie bleibt zu Hause, geht höchstens noch bis zur Schule, zum Friedhof oder zum großen Supermarkt auf der Combe Leigh High Street. Schuld daran sind angeblich der Regen und der tiefe Matsch, der an unseren Stiefeln kleben bleibt. Dad versucht, sie zum Lachen zu bringen, aber es ist zu schwer, darum gibt er auf. Er ist mit anderen Sachen beschäftigt. Manchmal setzen Max und ich uns heimlich auf die Treppe und hören zu, wie sie sich unten in der Küche streiten. Ich lehne mich gegen die warme Schornsteinwand und lege den Kopf an den von Max. Wir kennen ihre Streitereien schon. Dads Stimme klingt schwach und leise. Und von Mum hört man das Schlapp-Schlapp ihrer Hausschuhe auf dem Steinfußboden.

RICHARD

Richard hockt auf den Hacken seiner Stiefel vor dem Rayburn, öffnet die Luke zum Holzfach, und ein Hitzeschwall entweicht in die ohnehin schon warme Küche. Mit der einen Hand stützt er sich ab, mit der anderen nimmt er die nassen und glitschigen Scheite aus dem Korb.

»Du weißt, was ich denke.« Er spricht bemüht ruhig, als würde er auf ein scheues Pferd einreden. Tess geht hinter ihm auf und ab, krallt sich das schmutzige Besteck vom Tisch und knallt es in die Spüle.

Es ist zu einer unausgesprochen Regel geworden: Sie übernimmt die Aufgaben im Haus, Wäschemachen, Putzen, Kochen und diese ganzen Sachen, und er ist für alles rings um das Haus zuständig. Die Hecken müssen geschnitten, der letzte Schwung Schlehdorn im Holzschuppen zerhackt und gestapelt werden, Zäune repariert, und natürlich gibt es da noch den Garten, der ständig seine Zeit und Aufmerksamkeit verlangt. Wenn ihm früher jemand gesagt hätte, dass sie später mal dieses Klischee einer Ehe leben würden, hätte er die Person ausgelacht. Die jüngere und sorgenfreiere Ausgabe von ihnen hätte alles im Team gemacht – sie beide gegen die Konformität, ob nun draußen Schulter an Schulter im Garten beim Einbringen vom Heu zum Mulchen, beim Säubern des Hühnerstalls und Zurückschneiden der Himbeeren, oder drinnen in der Küche beim aufeinander abgestimmten gemeinsamen Kochen eines Sonntagsbratens, er beim Schlagen der Sahne für den Yorkshire Pudding, sie beim Abschmecken des Fleischs. Der Herbst war immer eine besondere Zeit gewesen. Schon längst hätten sie sich durch den Obstgarten gearbeitet, die Bramleys und makellosen Pippins und Renetten gepflückt, und es sich dann im Schuppen gemütlich gemacht, die Äpfel zwischen Küssen in Zeitungspapier gewickelt und vor dem Winter in der alten Kommode eingelagert.

Im Stehen streicht er sich die Sägespäne und Flechtenreste von der Brust, den Armen und aus dem Bart, wo sie sich an die roten Haare klammern, und dreht sich zum Fenster. Das abendliche Dunkel wirft die hell erleuchtete Küche auf ihn zurück.

»Wir können nicht länger so tun, als ob es normal wäre«, fährt er ruhig fort, den Blick auf sein eigenes Gesicht gerichtet – ausgezehrt, fast gespenstisch, extrem blass und mit dunklen, niederdrückenden Schatten auf den Augen. Die letzten vierzehn Monate haben ihn zehn Jahre altern lassen.

»Normal? Was soll das heißen – normal?« Ihre Stimme ist leise, doch er spürt die darin lauernde Gefahr, so als würde er unter Teelöffeln ein Tranchiermesser ertasten.

»Lass gut sein, Tess. Mach das nicht. Du weißt, was ich meine.«

»Nein, eigentlich weiß ich das nicht.« Sie lässt das Geschirr stehen und durchquert mit schnellen Schritten die Länge der Küche. »Natürlich ist es gerade nicht normal …« Von den aufsteigenden Tränen bricht ihr die Stimme. Richard weiß, dass er seine Worte mit Bedacht wählen muss.

»Liebes. Es ist nicht gesund für Max, wenn er so weiter macht, als …«

»Nicht gesund?« Sie geht in der Küche im Kreis – ein Tiger in seinem Käfig. »Erklär mir mal, was daran nicht gesund ist?« Sie bleibt hinter ihm stehen, ihr Gesicht in der Scheibe neben seinem, die Züge verschwommen wie auf einem verwackelten Foto. »Du möchtest, dass er normal ist. Ist es das? Ist es das, was du willst?«

»Was soll das, verdammt – habe ich etwa kein Recht, mir Sorgen zu machen?«

»Ach, tu doch nicht so, als ob dich das interessiert«, schreit Tess, die wieder ans Spülbecken tritt und ihre Hände in das Seifenwasser schlägt. Durchscheinende Blasen steigen in die Luft. »Komm schon. Seien wir ehrlich – im Grunde interessieren dich doch nur deine beschissenen Pflanzen.«

Richard tritt vom Fenster zurück. »Wow, Tess. Danke. Du hast recht … ich kann das hier nicht. Ich habe zu tun.« Sie könnte nicht falscher liegen, doch er weiß nicht, was er sagen soll, um es in Ordnung zu bringen. Wenn er sie ansieht, empfindet er Schuld. Eine Schuld, die so tief sitzt wie die Wurzeln der Ackerwinde zwischen den Kohlköpfen. Er schnappt sich seine nasse Jacke, die über einem der Stühle am Esstisch hängt, und steuert auf die Hintertür zu.

»Wie …? Und jetzt haust du einfach ab?« Tess verstellt ihm den Weg, ihr nasses Kleid klebt ihr an der Brust.

Da platzt es aus Richard heraus: »Ja! Weil es keinen Sinn hat. Überhaupt keinen. Du willst gar nicht hören, was ich zu sagen habe.« Er zwingt sich, gleichmäßig zu atmen. »Du willst irgendjemandem die Schuld geben. Habe ich recht? Gib es zu. Du willst mir die Schuld geben.«

Beide stehen da, und in der darauffolgenden Stille hört Richard das Sprudeln des aufsteigenden heißen Wassers im Heizungsboiler des Rayburn. Tess wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und presst es dann kurz gegen ihr Kleid.

»Es ist dieser Ort«, sagt sie flüsternd. »Dieses gottverlassene Drecksloch.« Wütend schaut sie zu ihm auf. »Scheiße, ich hasse es hier.«

Daraufhin lässt er sie stehen, knallt die Hintertür zu und reißt im Anbau die Stirnlampe vom Haken. Er kann sich nicht darauf verlassen, dass er ruhig bleibt. Mist muss weggeräumt werden – ein Dutzend Säcke Dung, die Les am frühen Morgen gegenüber vom Tor auf den Kies gekippt hat.

Draußen fällt leiser Regen. Eine mondlose Nacht verschlingt den Garten, und dahinter liegt das Moor in Dunkelheit gehüllt. Richard atmet das alles ein. Er liebt diesen Ort, und erinnert sich an eine Zeit, als sie ihn genauso geliebt hat wie er. Aber vielleicht hat sie recht – vielleicht hätte er sie nie hierher bringen dürfen.

MAX

Mum ist spät dran für ihren Vormittagsbesuch bei Cyril. Sie hat verschlafen, und ihre Augen sehen verquollen aus. Nach einer heruntergeschlungenen Scheibe Toast zieht sie ihre dicke Jacke an und stülpt sich eine Wollmütze über die Haare. Auf der Küchentheke stehen schon eine Portion vom gestrigen Abendessen und eine Plastiktüte mit Glühbirnen, einem Packen Geschirrtücher und einer Flasche Rotwein bereit.

»Ich kann auch allein gehen. Dad würde sich bestimmt auch über Hilfe freuen«, sagt sie an der Hintertür zu uns. Unsere Haustür vorn, die direkt ins Wohnzimmer führt, wird nie benutzt, weil Mum sagt, wir würden den Schlamm auf den Teppichen breit treten. Außerdem führt die Hintertür auch in den Windfang, wo Dad für unsere Jacken und Schuhe lauter Haken und Regale angebracht hat. Auch wenn wir sie nicht oft benutzen.

»Wir wollen aber mitkommen«, antworte ich.

»Ja«, fügt Sonny hinzu.

Sie seufzt. »Na dann, Beeilung. Ich will jetzt los.«

Wir kramen unsere Anoraks aus dem Wust an Regenkleidung, die überall im Windfang verstreut liegen, und folgen ihr raus in den Garten. Dad hockt in den Gemüsebeeten und schneidet die letzten Kürbisse von den Pflanzen. Obwohl sie riesig sind, kann er mühelos zwei auf einmal tragen. Seine Hände sind knallrot, was bedeutet, dass er seit Stunden hier draußen ist, wahrscheinlich schon vor Sonnenaufgang begonnen hat. Eigentlich steht er immer als Erster auf. Sonny und ich hören dann, wie er die Treppe nach unten schleicht, um sich einen Kaffee zu holen und im Radio die Nachrichten zu hören. Früher leistete Mum ihm Gesellschaft. Wir hörten immer gedämpftes Lachen hinter ihnen herziehen. Jetzt kommt sie erst aus dem Schlafzimmer, wenn er sein Frühstück beendet und die Küche verlassen hat.

Dad schneidet weiter Kürbisse, ohne den Kopf zu heben und Guten Morgen zu sagen. Hoffentlich ist er nicht sauer auf mich, weil ich ihm nicht mit den Saubohnen helfe.

»Nein. Das liegt an dem Streit gestern Abend«, flüstert Sonny, als wir an Mums leerem Blumengarten vorbeigehen und über die auf dem Weg zum Tor aufgetürmten Holzkisten springen. The Veggie Man ist mit dicker schwarzer Schrift auf jede drauf gepinselt, genau wie auf den Seiten von Dads Lieferwagen. Von den Pferdeäpfeln neben dem Zaun steigt Dampf auf, und der Gestank erfüllt die kalte Oktoberluft.

Wir gehen hoch zu Cyrils Haus, vorbei an Barbara nebenan im The Gables, Marge im Willow Cottage, dann dem Riverside, wo der Lkw-Fahrer wohnt, den wir nie sehen, und zuletzt vorbei an Mr. Brewers einstöckigem Haus. In unserer Straße stehen die Häuser nur auf einer Seite, mit dem Fluss dahinter, der wie ein Geheimnis dahinfließt. Auf der anderen Seite sieht man bis zur Winslow Farm ausschließlich Korbweidenpflanzungen und Felder. Manchmal wünschte ich, wir würden mitten im Dorf wohnen wie all die anderen Kinder in der Schule, entweder in Salter Close oder in der Puttford Lane. Aber Dad sagt, dass er alte Häuser am liebsten mag und es ihm hier draußen in unserer verschlafenen Straße am besten gefällt. Ich bummle an Hectors Feld vorbei, wo die Schafe zwischen den Brombeeren grasen. Schon bald werden die Früchte verfault und dem Volksglauben nach vom Teufel bespuckt sein. Die Straße ist still, aber das Aufheulen der Traktoren auf der Farm weiter oben und das Klacken der Vogelabwehr an den Stromleitungen durch den Wind höre ich trotzdem. Bald ist Winter, und die Weiden werden alle leer sein. Sonny läuft vorneweg, summt vor sich hin und kickt die Wespen von den heruntergefallenen Äpfeln.

Cyrils Haus ist größer als alle anderen Cottages am Fluss und bis rauf zum Dach mit Efeu bewachsen. Dad sagt, früher ist es mal ein kleiner Laden mit Poststelle gewesen, aber mittlerweile haben wir einen richtigen Dorfladen, Ted and Janet’s, direkt neben dem Pub. Auf der Veranda schlängeln wir uns an Töpfen mit sterbenden Kräutern vorbei, und die Stare, die das Vogelhaus in Beschlag nehmen, fliegen zwitschernd davon. Ich suche nach runtergefallenen Federn, während Mum den Ersatzschlüssel aus seinem Versteck in der rostigen alten Keksdose unter der kleinen Bank holt, auf der Cyril bei Sonnenschein immer gerne sitzt.

»Cyril? Bist du wach? Wir sinds«, ruft sie beim Aufschließen der Haustür.

Drinnen ist es kalt und dunkel. Die Rollos an den Fenstern sind halb runtergezogen. Sonny und ich bedienen uns an Cyrils leckeren Mandelkeksen, während Mum den Topf mit unseren Abendessensresten auf die Kochplatte stellt, die Tragetasche auspackt und den Kessel mit Wasser füllt. Sie wuselt in der Küche rum, räumt Teller und Schüsseln in die Schränke und wischt Krümel weg. Staub steigt in die Luft und umkreist die verblassten Holzpapageien, die von der Decke hängen. Antiquitäten drängen sich auf der breiten Kommode, die die ganze Wand einnimmt. Es gibt Tassen mit knorrigen Griffen, einen großen indischen Gott aus Holz mit Elefantenkopf, teuer aussehende blau-weiße Porzellanteller und eine Tabakdose, die angeblich von der Titanic stammt. Ich streife mit der Hand über eine verführerische Sammlung goldener Tierfiguren, die Cyril aus Kolumbien mitgebracht hat. Er sammelt auch Fossilien, hat aber die besten Stücke schon alle an Sonny weitergereicht, bis auf den riesigen Megalodonzahn, den Sonny unbedingt haben will, der aber laut Dad ziemlich wertvoll sein dürfte.

»Max, sieh doch mal nach, wo Cyril ist«, sagt Mum. »Und bitte nichts anfassen.« Sie ermahnt uns immer, nicht mit den Figuren und Preisen und Pokalen in den Regalen zu spielen, obwohl sie weiß, dass das unmöglich ist. Hier drinnen ist es wie in einem Museum voll mit coolem Zeug, das Cyril auf seinen Reisen gefunden hat. Früher war er Schauspieler in richtigen Filmen, aber inzwischen ist er zu alt und schreibt höchstens noch schmutzige Gedichte.

Die zitronengelben Wände im Flur sind vom Boden bis zur Decke mit alten Filmpostern bedeckt. Die meisten sind schwarzweiß, aber es gibt eines in Farbe, auf dem ein junger Cyril mit einem schmalen Schnauzer in einem schicken schwarzen Anzug zu sehen ist. Die Arme sind um eine lachende Frau in einem engen roten Kleid geschlungen. Sonny und ich finden ihn an dem massiven Holztisch in der Ecke im Wohnzimmer, ganz still sitzt er da in seine Decke gemummelt und wirkt fast unsichtbar. Seine dünnen Hände umklammern die Lehnen seines Liegesessels. An seinem Kinn laufen Spuckebläschen runter. Als er uns sieht, zucken seine Lider und er winkt uns zu sich an den Tisch. Irgendwas braucht er ganz dringend, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich bin erstarrt, von dem rasselnden Geräusch, das aus seiner Brust kommt, und von den kleinen Schnappatmungen, die er macht, während er um Luft ringt. Es wirkt, als ob er unter Wasser ist. Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich habe dieses Geräusch schon mal gehört. Mit einer schwachen Bewegung zeigt Cyril zum Tisch. Er ist verzweifelt, aber ich kann nichts tun, außer die Luft anzuhalten und zuzusehen, wie sein Gesicht immer mehr zusammenfällt. Seine Lippen verfärben sich blau. Sonny scheint es nicht zu stören, was Cyril für Geräusche macht oder wie seine Augen wegrollen, bis man fast nur noch das Weiße sieht.

»Schnell – sein Inhalator muss hier irgendwo sein«, sagt er zu mir. »Wir müssen ihn finden.« Der Tisch ist zugemüllt und wir suchen unter Tablettenpackungen, aufgeschlagenen Büchern, Zeitungen und Bergen benutzter Taschentücher. »Hier!« Sonny entdeckt den Inhalator hinter einer Tasse kaltem Kaffee. Ich drücke ihn Cyril in die zittrigen Hände, und wir sehen zu, wie er gierig einen Zug nach dem anderen nimmt. Endlich schießt ihm wieder Blut in die Wangen.

»Alles gut hier drinnen?«, fragt Mum, die mit einem Tablett ins Zimmer kommt. »Max! Was ist los? … Cyril?« Sie stürzt zu ihm und verschüttet Tee auf den Teppich. Sonny tritt zur Seite, um ihr Platz zu machen.

»Alles okay, Mum. Es geht ihm schon wieder besser.«

»Cyril? Geht es dir gut?« Sie legt Cyril die Hände auf die Schultern, was ihn offenbar entspannt. Sein Rücken und Nacken, seine Arme und Beine strecken sich, ein bisschen wie ein funkelnagelneuer Schmetterling, und er wirkt größer und überhaupt nicht geschrumpft.

»Beruhigt euch«, antwortet er. »Natürlich geht es mir gut. Hast du mir Wein mitgebracht?«

Bis zum Mittag sitzen wir hier fest, wenn Mum das Essen vom Vorabend warm machen wird und sich das ganze Haus mit dem würzigen Geruch von Ochsenschwanz füllt. Wahrscheinlich die einzige richtige Mahlzeit, die Cyril die ganze Woche zu sich genommen hat. Normalerweise ernährt er sich von angetrocknetem Brot, Oliven, Dosenmakrelen in Tomatensoße und Butterscotch Mousse. Er hat nie Hunger. Er sagt, Mums Essen ist das Einzige, für das er sich begeistern kann. Bevor er krank wurde, hat er uns immer Pancakes mit Pfirsichen oder Fruchtcocktail aus der Dose, bestäubt mit Puderzucker, gemacht. Als er im Krankenhaus war, hat Mum seine Pflanzen gegossen und seinen Kater Brutus versorgt, der im Frühling von einem Auto überfahren wurde. Jetzt besucht Mum ihn fast jeden Samstag, meist am Vormittag, bevor der Pflegedienst kommt. Cyril sagt, Mum sei die geborene Krankenschwester, wie fast alle Frauen aus der Karibik. Mum kriegt dieses Zucken um den Mund, wenn er so was sagt. Dad findet, Cyril wäre in einem Pflegeheim besser aufgehoben.

»Nur über meine Leiche«, sagt Cyril zu uns.

Sonny und ich turnen auf den Sofalehnen rum, während er Mum sein neues Gedicht vorliest, irgendwas über die feuchte, weiche Spalte von Lo. Er schreit, um sich Gehör zu verschaffen und das Pferderennen im Fernsehen zu übertönen, das er nicht ausschalten will. Mum hat ihn nicht überreden können, seinen Schlafanzug gegen was anderes einzutauschen, aber er hat eingewilligt, sich seinen langen seidenen Morgenmantel überzuziehen. Mit den Zipfeln wischt er sich den Mund ab. Beim Vorlesen fliegen die dünnen weißen Haare auf seinem Kopf auf und ab. Gähnend werfe ich einen Blick durch die Verandatür raus in den Garten. Ein Zaunkönig hüpft dort wie eine Maus im Löwenzahn herum. Er hat es noch nicht bemerkt, aber da sitzt eine dicke Ratte, die ihn von einem kaputten Abflussrohr aus beobachtet. Man sieht immer noch das leuchtende Orange von der Kapuzinerkresse. Der Wind lässt geflügelte Platanensamen zu Boden kreiseln.

»Wie kommst du denn zurecht?«, fragt Cyril Mum. Er wirft ihr einen Blick zu, der bedeutet, dass er gern mehr sagen würde, das mit uns im Zimmer aber nicht kann.

»Wie wäre es denn mit ein bisschen Frischluft?«, schlägt sie uns vor. »Aber schön im Garten bleiben.«

»Machen wir«, antworte ich.

Kaum sind wir draußen, rennen Sonny und ich den langen Weg entlang und schlagen gegen die Mohnköpfe, damit schwarze Samen auf den Boden rieseln. Es hat geregnet, und die Steinplatten sind mit glitschigem weichem Moos überzogen. Von der Luft wird mein Gesicht nass. Ich kicke gelbbraune Blätterhaufen zur Seite und lege Knäuel aus sich windenden Regenwürmern und einen glänzenden schwarzen Moderkäfer frei.

»Warum hast du ihm nicht geholfen?«, fragt Sonny. Die Feuchtigkeit verpasst seinen Locken einen Heiligenschein aus Tröpfchen.

»Weiß nicht«, sage ich und stecke meine Stiefelspitze in einen wassergefüllten Riss im Asphalt. »Dieses Geräusch, das er gemacht hat. Davon habe ich mich so komisch gefühlt.«

»Aber er hätte sterben können.«

Ich folge Sonny runter ans Ende vom Garten, wo die riesigen Mammutblätter durch die zerbrochenen Glasscheiben ins Gewächshaus eingefallen sind. Er hat recht. Cyril hätte glatt sterben können. Er hat eine Krankheit, die das Innere seiner Lunge zerfrisst. Die Röhren da drinnen werden immer enger und nehmen ihm die Luft. Tag für Tag geht es ihm schlechter, er krümmt sich andauernd, spuckt und hustet. Mum sagt, seine Tage sind gezählt.

Wir steigen die kleine Treppe zum Ufer rauf und beugen uns über das Tor. Alles sieht grau aus, Himmel und Erde lassen sich nur schwer auseinanderhalten. Vom gegenüberliegenden Ufer weht kalter Wind vom Moor zu uns rüber. Der Fluss steigt immer weiter an, typisch für diese Jahreszeit. Bald schon wird er über die Ufer treten und den Überlauf fluten, bis er nichts mehr aufnehmen kann. Sonny hebt den Torriegel an und schreckt einen Graureiher auf, der im Schilf auf der Jagd ist. Mit lautem Flügelschlag flattert er davon. Beim Blick zurück zum Haus sehe ich dicht vor der Glasscheibe der Verandatür den Schatten von Mums Gesicht.

»Wir lassen das lieber«, sage ich.

 

Die nächsten Tage regnet es in einer Tour. Wassertropfen fallen wie Bomben auf den Weg und explodieren. Dads leere Pflanztöpfe laufen über, so dass eine Flutwelle durch den Garten runter auf die Straße schwappt. Halloween kommt und geht ohne Kürbisschnitzereien, genau wie letztes Jahr. Aber diesmal sind wenigstens Ferien und wir müssen uns nicht anhören, wie in der Schule alle mit ihren Kissenbezügen voller Süßigkeiten prahlen und sich die ganze Zeit darüber streiten, wer bei der Gruseldisko im Dorf das krasseste Kostüm anhatte. Ich weiß, dass Mum ein schlechtes Gewissen hat, und auch wenn ich ihr erzählt habe, dass ich jetzt mit zehn echt zu alt für Süßes oder Saures bin, bin ich eigentlich enttäuscht.

Dad ist beschäftigt, also sehe ich ihn kaum. Wenn er nicht gerade Bestellungen ausliefert, macht er den Garten überschwemmungssicher. Er redet kaum, aber wie es aussieht, hat er auch ein schlechtes Gewissen, denn beim Abendessen bietet er uns an, dass er, wenn der Regen aufhört, am Sonntagabend zum großen Dorflagerfeuer mit uns fährt. Er fragt Mum, ob sie mitkommen will, aber wir wissen schon, dass sie bestimmt keine Lust dazu haben wird. Sie hasst es, abends zu irgendwelchen Sachen im Freien zu gehen.

»Das ist aber nicht immer noch wegen der Sache beim Wassail, oder?«, fragt Dad. Es klingt, als hätte er vergessen, wie traurig sie war. Sonny und ich haben das nicht. Jane Harris hatte sich betrunken und versucht, mit ihrem Handy ein Foto von Mum zu machen. Sie hatte gesagt, dass Mum mehr lächeln muss, weil man sie sonst im Dunkeln nicht sieht.

Mums Gabel schwebt über ihren Bratkartoffeln in der Luft. »Lass uns jetzt nicht damit anfangen. Okay?«

»Hör zu, ich weiß, dass Janes Verhalten völlig daneben war, aber du weißt, dass sie das nicht böse gemeint hat«, sagt Dad. »Und überhaupt. Das ist Jahre her. Du darfst dich von solchen Kleinigkeiten nicht unterkriegen lassen.« Mum legt die Gabel hin und wendet sich an mich.

»Max, hast du schon mal in das Buch reingeschaut, das Mr. Reid dir gegeben hat? Denk dran, dass du es am Montag wieder mit in die Schule nehmen musst.«

»Mhm-Mhm«, antworte ich. Es ist ein Buch über die Zugrouten der Vögel. Ich habe es schon zweimal gelesen. Dad senkt den Kopf und isst weiter.

Am Sonntagabend hat der Regen nachgelassen, aber es ist super windig. Ich mache mir Sorgen, dass der Holzstapel, der auf dem Spielfeld aufgeschichtet ist, über den ganzen Platz fliegt. Mum geht mit ihrem Computer nach oben, darum gehen Sonny und ich mit Dad mit, der erst mal einen Zwischenstopp im Bird in Hand mit uns macht.

»Ich brauche nur kurz was zum Aufwärmen«, sagt er zu uns. »Dauert nicht lange.« Aber als wir endlich beim Lagerfeuer ankommen, ist es schon angezündet und eine Traube steht um einen Klapptisch, an dem die Damen von der Kirche heiße Schokolade verkaufen. Dieses Jahr sammeln sie Spenden für den Bau einer Behindertentoilette in einer Schule in Botswana. Les Pollard ist hier. Er hat einen riesigen Topf mit Glühwein auf einem Campingkocher stehen. Dad steuert direkt auf ihn zu.

Glühende Funken vom Lagerfeuer steigen auf und flimmern vor dem tiefschwarzen Himmel. Jede Menge Kids aus der Schule hocken in Grüppchen zusammen, weg von den Eltern, oder rennen schreiend herum.

»Komm schon, wir gucken mal, was so los ist«, sagt Sonny und führt mich in die Dunkelheit.

»Hey! Wo gehts hin?«, ruft Dad.

»Bloß da rüber. Nur mal gucken, wer so da ist.«

»Okay. Aber nicht zu nah ran.« Er meint ans Feuer, das eine solche Hitze abgibt, dass ich unter der Mütze schon schwitze. Sonny und ich gehen in die Richtung, wo Mason, Evan, Oliver und Daniel aus unserer Klasse mit Henry Taylor und ein paar von den älteren Jungen zusammenstehen. Im ersten Moment freue ich mich, sie zu sehen, aber als wir näher kommen, ändere ich doch noch meine Meinung. Eigentlich sind das Sonnys Freunde, nicht meine.

»Vielleicht sollten wir Dad nicht alleine lassen.«

»Der kommt schon zurecht. Los, komm«, antwortet Sonny und marschiert vorneweg. Die Jungen schauen uns an, als wir uns nähern. Sonny grinst und kümmert sich nicht darum, dass er mich abhängt. Dann ist er plötzlich weg, und ich stehe da wie ein Idiot. Evan wirft mir einen Was-willst-Du?-Blick zu, und die anderen ignorieren mich komplett. Irgendwo in der Ferne lacht Sonny, aber statt mich zu ihnen zu stellen, gehe ich weiter und tue so, als ob ich nur deshalb in ihre Richtung unterwegs bin, weil ich eine Runde um das Feuer machen will. Dad wartet am Haupttor. Wie ich so meine dritte Runde drehe und mit meinen Gummistiefeln über nasse Grasballen schrappe, sehe ich, wie er noch einen Glühwein trinkt. Für Sonny ist es immer total leicht. In der Schule finden ihn alle toll, weil er anders ist. Sie wollen alle mit ihm rumhängen.

TESS