Jahreszeiten - Herman van Veen - E-Book

Jahreszeiten E-Book

Herman van Veen

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Beschreibung

Im Wechseln der Jahreszeiten - dem Neubeginn des Frühlings, der Lebhaftigkeit des Sommers, dem Rückzug des Herbstes und der Ruhe des Winters - findet Herman van Veen eine Parallele zu den verschiedenen Phasen unseres Lebens. In seinem neuen Buch wirft er einen Blick auf sein vergangenes und zukünftiges Dasein. Und auf die Ereignisse seiner Zeit, die ihn prägen und bewegen. Er erkennt: Auch, wenn die Zeit unvorhersehbar zu vergehen scheint, ist doch nichts für immer vorbei. Denn auf jedes Ende folgt der Zauber eines Neuanfangs und in den wiederkehrenden Jahreszeiten seines eigenen Lebens wiederholen sich die Ereignisse, die am Ende im Gedächtnis bleiben und das Herz erwärmen.  In Jahreszeiten präsentiert Bestsellerautor van Veen eine abwechslungsreiche Mischung aus kurzen Texten, tiefgreifenden Essays und lebendigen Erinnerungen. Ein Buch voller persönlicher und unterhaltsamer Geschichten, erzählt in wunderbaren und poetischen Bildern.

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Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Herman van Veen

Jahreszeiten

Aus dem Niederländischen von Thomas Woitkewitsch

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Im Wechseln der Jahreszeiten - dem Neubeginn des Frühlings, der Lebhaftigkeit des Sommers, dem Rückzug des Herbstes und der Ruhe des Winters - findet Herman van Veen eine Parallele zu den verschiedenen Phasen unseres Lebens. In seinem neuen Buch wirft er einen Blick auf sein vergangenes und zukünftiges Dasein. Und auf die Ereignisse seiner Zeit, die ihn prägen und bewegen. Er erkennt: Auch, wenn die Zeit unvorhersehbar zu vergehen scheint, ist doch nichts für immer vorbei. Denn auf jedes Ende folgt der Zauber eines Neuanfangs und in den wiederkehrenden Jahreszeiten seines eigenen Lebens wiederholen sich die Ereignisse, die am Ende im Gedächtnis bleiben und das Herz erwärmen. 

In Jahreszeiten präsentiert Bestsellerautor van Veen eine abwechslungsreiche Mischung aus kurzen Texten, tiefgreifenden Essays und lebendigen Erinnerungen. Ein Buch voller persönlicher und unterhaltsamer Geschichten, erzählt in wunderbaren und poetischen Bildern.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Vorwort

Regenreise

Braut

Wenn sie lacht

Laternenanzünder

Nacktes Tier

Aus meines Herzens Grunde

Puppenhaus

Puppe

Wer

Im Wesentlichen

Eigentlich

Gedicht

Geigen

Ungläubig

Zebrastreifen

Erzähl noch mal

Freund

Fort

Der Klavierstimmer

So hart

Herzmuskel

Alles, was man lieb hat

Nachwort

Anmerkungen

Danke

Wieso klein?

In deine Augen passt ein Universum.

Vorwort

Es liegt am Duft des warmen Brotes, dem Wind, den man nicht sieht, dem Mädchen auf dem Fahrrad, es kommt vom Tage, den tanzenden Schatten, vom Regen auf meinem kahlen Kopf. Dass ich anfange zu pfeifen, Kinder anzurufen, Staub zu saugen. Es liegt daran, wie du mich dann ansiehst, dass ich vor dem Essen noch eine Symphonie, eine Oper und einen Roman schreiben kann.

Regenreise

Du singst

zeitlebens

zu den Worten

die du gesammelt hast

im einen Auge die Sonne

im anderen den Mond

 

Du gehst

und begegnest

Passanten

kleinen Möchtegernegroßen

großen Mackern

 

Dir wird

die Zeit

zu knapp

 

Ohne

Siebentagepillendöschen

und deinem Telefon

traust du

dich nicht

zur Tür

raus

du tanzt

auf Zehenspitzen

so bleibst du jung

für dein Alter

 

Du bringst

dir bei

zu widersprechen

du weißt

immer weniger

genau

 

Du siehst

einen

der sagt

dass er von mir noch weiß

wie süß ich dich

damals fand

 

Versuchst

aufrecht weiterzugehen

und zu hoffen

ich bin noch

nicht dran

 

Regenreise

Flockenreise

Blütenreise

 

Windreise

Nebelreise

letzte

Braut

Beginne heute an meinem Achtundsiebzigsten mit einer Tasse Tee, drei Scheiben Zwieback mit Butter, dunklen Schokoflocken von De Ruijter und einem Fünfminutenei. Irgendwo auf der Welt ist etwas schiefgegangen, wodurch es draußen atemlos grau ist. Raben krähen, Unkraut wuchert. Seit mein Vater tot ist, wird in unserem Garten weniger gejätet. Seine Wurzeln werden auf meinem Weg sichtbar. Nach der Lektüre der Tageszeitungen male ich zur Musik von Johann Sebastian Bach ein Bild gegen das Grau in zwölf Farben Gelb. Vielleicht bringt es die Sonne zurück. Denke mir dann einen sich schlängelnden Weg, der mich zu einem kleinen Park neben einer Haushalts- und Gewerbeschule in Utrecht zurückführt. Ein junger Mann, ein Fahrrad … Aber zuerst …

 

… hier öffnen.

 

Am dreiundfünfzigsten Geburtstag unseres ältesten Sohnes sah ich nach Covidjahren meine erste Braut wieder. Im frühen Frühling unseres Lebens begegnete ich ihr im Flur des Montessori-Kindergartens von Fräulein Boissevain. Ich dachte an die Worte: »Wir sagen, lass uns nicht zur Schule gehn, wenn du zur Schule gehst, fängst du an, die Welt zu verstehn, dann ist die Hölle los.« Aber das hatte die Dichterin Anne Vegter noch nicht geschrieben, also hängte meine werdende Braut ihren beigen Dufflecoat neben meinen.

 

»Hallo. Wem gehörst du?« – »Ich gehöre dem kleinen Jungen, der mit den Bauklötzen spielt. Und du?« – »Dem kleinen Mädchen am Rechenrahmen. Was hast du in deiner Tasche?« – »Murmeln und eine Mundharmonika. Und was ist in deiner?« – »Auch Murmeln und ein paar Gummibänder.« Für die Spannkraft, aber davon hatten wir damals noch keine Ahnung.

 

Einen Moment lang sehen wir uns an diesem Geburtstag an, was wird es gewesen sein? Vier Sekunden. Jahre flogen durch meinen Kopf. Händchen halten. Vorsichtige Küsse, lachende Väter und Mütter. Flüsse in Frankreich, volle Einkaufsstraßen in London, schlafloses New York. Stolze Großeltern, ein Lastenfahrrad vollgepackt mit Mobiliar, eine Sitzbank auf Rädern, eine fröhlich blickende Oma, Freunde, die Türen grundieren. Menschen, die sich hingerissen über pausbäckige rosa Babys in Strampelanzügen beugen. Freudentränen. Die Beatles im Radio. Remember that I’ll always. Be in love with you.

 

Unterschriften auf einem Ehescheidungsvertrag.

 

Ein Jahr später, an einem der letzten Novembertage, schließe ich mein Studium ab. Hab keine Idee, wie sich mein Leben künftig abspielen wird. Verliebt, verlobt, ins Standesamt und heiraten, keine Züge verpassen. Sicherheit, Anker, feste Stelle, Berufsunfähigkeitsrente, ein Cockerspaniel, ein Aquarium voller Mondfische, ein kleines blaues französisches Auto für vier Personen, Briefmarken sammeln. Mit Bleistift schreiben auf die Rückseite von Ansichtskarten mit Schnappschüssen und fröhlichen Grüßen aus Giethoorn und Katwijk aan Zee.

 

Das Siebengebirge, die Ardėche, norwegische Fjorde, eine Stereoanlage, Farbfernseher, ein Bücherschrank, eine eigene Winkler-Prins-Enzyklopädie mit Goldschnitt, Kontrolle über die Dinge, Regelmäßigkeit und Deutlichkeit, Recht auf Hoffnung, und dann kam der Mann mit der Frage: »Sag mal, bist du nicht Herman? Ich hab dich neulich singen hören. Na, was denkst du?«

 

Bin wieder achtzehn, studiere Geige, Gesang und Musikpädagogik am Utrechter Konservatorium. Erwartet mich ein Pult in einem Orchester, ein Platz im Chor zwischen Baritons, werde ich vor der Klasse stehen und Kindern erzählen, wie dunkel es in einigen Liedern von Franz Schubert ist? Ihnen das Licht anknipsen, erklären, wie es kommt, dass die Musik von Wagner besser klingt, als sie ist. Eins weiß ich ganz genau: Ich will, dass das Mädchen, auf das ich auf dem Gepäckträger meines Fahrrads neben der düsteren Haushaltsschule für »Mädchen aus der Arbeiterklasse« warte, in diesem Leben vorkommt, mehr noch, in meinem Film die Hauptrolle kriegt.

 

Wenn man in einem Buch bei jedem Buchstaben den Namen einer gewissen Person liest, wenn man mit einer Regenjacke ins Bett geht, weil die Jacke nach einer gewissen Person riecht. Wenn man nur noch denkt: Wo könnte die gewisse Person wohl sein, und wen trifft die gewisse Person da? Wenn man bis nach Addis Abeba mit einer gewissen Person gehen will, wenn man nachts wach bleibt, weil man ständig den Wecker kontrollieren muss, weil man für nichts in der Welt seine Verabredung mit einer gewissen Person verpassen will, dann bist du verliebt.

 

Und schreibst ein Gedicht, das mit den Worten beginnt: »In meiner Handfläche wohnen jetzt Rotkehlchen und so weiter und so liebeskrank fort.«

 

Sie sitzt augenblicklich bestimmt noch anderthalb Stunden in der sogenannten Puntenburg-Spinatakademie, wo sie kochen lernt und ihr Kenntnisse beigebracht werden, die für den Haushalt von Nutzen sind. Wie wirtschaften, stricken, nähen, waschen, putzen, häkeln, Handarbeiten und Haushaltsführung.

 

Beginne in meinem Kopf ein Lied zu schreiben. »Will immer bei dir bleiben, alles für dich tun. Wohin du auch gehst, ich gehe mit dir mit.« Denke: »Ich will sie, vielleicht will sie mich ja auch?« Fahre mit meinem Lied fort im Stil von »die Locken von ihrem Haar«. Und lasse meine Küsse auf dich niederprasseln wie Regentropfen auf einen Bürgersteig. Durch deinen Augenaufschlag schweifen meine Gedanken ab. Sie fand es gut, dass ich sie hier von der Schule abholen will, also kaue ich noch ein Kaugummi. Bin meiner Sache sicher.

 

Aller guten Dinge sind drei.

 

Ich saß im Kino mit meinem Studienfreund Jurrian, und wir sahen Das süße Leben, ein italienisch-französisches Drama von Federico Fellini. Während ich dies schreibe, fällt mir der Satz des niederländischen Choreografen Hans van Manen ein: »Alles, was ich mache, hat, weil ich die Menschen liebe, immer mit Erotik zu tun.« Fellini verstand diese Kunst auch. Ich hielt es während des Films nicht mehr aus vor Sehnsucht nach dem blonden Star mit der Rubens-Figur.

»Sorry, Jurrian, bis morgen in der Orchesterklasse.«

Stand leise von meinem Sitz auf, schlich vornübergebeugt durch den dunklen Gang, stieg auf der Leinwand in einen römischen Stadtbus und setzte mich neben die damalige Miss Schweden, Anita Ekberg. »Da bist du endlich.« Sie nahm meine Hand. Wir fuhren kreuz und quer durch die Berge zu einem kleinen Hotel an der Küste. Dort heirateten wir. Unsere Hochzeit wurde gesegnet von ihrem Vater, Pater Don Camillo/Fernandel. Nachdem Anita mir erzählt hatte, dass sie schwanger war, starb ich in der Hochzeitsnacht vor Glück. Nach meiner Beerdigung fuhr sie mit dem Fahrrad nach Rom und tanzte vor Kummer mit meinem Schatten im Wasser des Trevisobrunnens einen Tango von Osvaldo Fresedo.

»Bis morgen«, antwortete Jurrian im Dunkel des Kinos.

 

Ja, ich hatte außer dem Warten auf meine künftige Kinderbraut einige verwirrende Erfahrungen mit Frauen, zum Beispiel mit Adelheit. Meinen ersten Zungenkuss bekam ich von ihr. Hoch in den Alpen, dicht beim siebten Himmel. Ich war siebzehn, sie siebenunddreißig. Wir hatten uns beide in einem sommerlichen Schneeschauer verirrt. Hatten dasselbe Licht der Alpenhütte gesehen. Nach einer eiskalten Dusche saßen wir nebeneinander vor einem bullernden Kamin, voller Flammen, Brennholz und Tannenzapfen. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen, und sie konnte nicht aufhören, mich anzusehen. Eins führte zum anderen, zum anderen führte eins. Weiß noch, dass sie bei unserem Abschied sagte: »Einmal wird es wieder schneien, dann triffst du mich, bleibst du dann bei mir?«

Fünfzig Jahre danach sah ich sie wieder nach unserer Vorstellung im Wiener Konzerthaus. Da stand sie in meiner Garderobe, mit Hut in ihrer roten Regenjacke, auf ihren Schirm gestützt. Sie war zweiundneunzig und sagte mit einem Lächeln: »Herman, hab keine Angst, es schneit nicht.«

 

In den Sechzigerjahren war ich oft total in Mädchen verknallt, die das nicht in mich waren. Das klappt nicht. Was sich in eine Richtung bewegt, kann man nicht umkehren. Wie ich auch fuhr, wie oft ich sie auch auf dem Fahrrad nach Hause brachte, es endete meistens mit: »Danke, bis morgen.« Vielleicht hätte ich meine Reifen besser aufpumpen müssen. Ich hatte es aufgegeben, krank war ich oft, krank vor Kummer, und die Viren hießen Ada, Truus, Dineke, Georgine, Brigitte. Doch die alte Kindergartenliebe blieb, die blühte seit der Fröbelschule wie Flieder an einem Busch immer wieder auf und duftete.

 

Will mit ihr in einer Straße leben, die ein bisschen sonniger war als unsere, einer Straße mit niedrigen Häusern. Sodass man am Horizont England und dahinter Amerika, Wolken wie Schoner heranziehen, Schwalben und Fledermäuse sehen kann. Wo man in der Ferne Züge hört, die überall hinfahren. Dahin, wo ich mit ihr sein will. Ich fand in der Coronazeit beim Aufräumen des Dachbodens einen kleinen, offensichtlich nicht abgeschickten Brief.

 

»Vielleicht genügt es mir, dich anzusehen. Man braucht nicht unbedingt eine Hand, um mit ihr über dein Haar zu streichen, meine Nase darin zu begraben, man braucht nicht unbedingt zu küssen. Ich genieße es, mir das vorzustellen. Das gilt auch für deine Brüste und deinen Bauch. Zu wissen, dass es sie gibt und dass es möglich ist im einzigartigen Moment, an der Grenze von Traum und Schlaf. Ich brauch nicht mehr unbedingt etwas zu sagen, wenn du schweigst. Ich sehne mich schon lange nach dir. Bis morgen.«

 

Bin wieder beim Geburtstag unseres Sohnes. Wir machen einen Schritt zurück, du fragst: »Wo trittst du auf?« Und: »Geht’s dir gut?« Ich sage: »In Paris, ja«, und denke: Du sagst nicht, dass wir beide da auch einmal waren, also fährst du fort, nachdem du dir mit einer Hand durchs Haar gestrichen hast: »Ich singe in deinem Chor, wir proben jetzt für die Matthäus-Passion.« Ich denke an unsere Passion, und während ich dich anschaue, auch an Worte in meinem Tagebuch:

Stille um uns. Ein Umzug ging vorbei. Danach der Sommer, mit Mücken und brennenden Tränen, vor der Tür Möbelpacker.

Ich habe unser Leben verloren. Dafür bekommen wir Tränen und Gewissheit. Nachdem wir alles sorgfältig aufgeteilt hatten, du dieses, ich jenes. »Das Leben ist einfach«, schrieb Annie M. G. Schmidt, »wenn man keine Umstände macht.« Wir wollten keine Zeit verschwenden. Gingen auf die Suche nach einem anderen Du. Wo findet man das? Weit weg? In der Nähe? Und geht das so einfach?

 

Jetzt aber, tschüss, Geburtstagsbesuch, tschüss, großer Sohn. Tschüss, eben umgebaute Küche, tschüss, Anstandsstück von der Schokoladentorte, Familienklatsch, Garderobenhaken, schönen Dank fürs Tragen meiner Jacke. Opa geht nach Haus, um einen kleinen Vers zu schreiben, bevor er ihn vergisst.

Und manchmal geschieht es, dass ihr Freunde bleibt und dann keine Freunde seid. Du läufst Löcher in die Nacht, trinkst, bis die Stühle tanzen. Und manchmal geschieht es, dass dich jemand liebt und dann nicht mehr liebt. Du fragst einen Nachtfalter, ob er dich bis zum Tageslicht ein bisschen lieben könnte. Und manchmal geschieht es, dass es Winter wird und es dann nicht mehr Winter wird, dass dir jemand begegnet, der sagt: Weißt du noch, dass sich bei uns mein alles um dich drehte, dein alles um mich. Wir dachten in denselben Liedern.

Wenn sie lacht

Wenn Sie lacht

dann hängt

die Wäsche zum Trocknen

an der Leine

 

singt Edith Piaf

in der Radiosendung »Arbeitsvitamine«

 

glänzen Goldrenetten

in der Schale

 

blüht der Flieder

riecht der Fußboden nach Bohnerwachs

 

und kommt mein Vater

in fünf Minuten

nach Haus.

Laternenanzünder

Der Rauch von den kanadischen Buschbränden verbreitet sich über große Teile von Nordamerika, wodurch Millionenstädte wie Toronto und New York mit erstickender und nach Zigarren stinkender Luftverschmutzung kämpfen. Auch in Norwegen wurden schon die ersten Rauchwolken wahrgenommen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Ich sehe im Fernsehen Bilder von einem dunkelgelben Times Square. In den Achtziger- und Neunzigerjahren spielten wir oft in New York, im Ambassador Theater, The Sylvia Danny Kaye Playhouse, Carnegie Hall und The Alice Tully Hall. Ich weiß nicht, wie oft ich mit meiner Geige über den Times Square gegangen bin. Ich fand die Luft damals auch schon nicht zum Aushalten. Jetzt ist der Himmel da, wie mir das TV zeigt, so gelb wie früher bei Ostwind über unserm Haus, dank der stinkenden Wolken von der Gasfabrik. Ich mach den Fernseher aus, denke an Professor Bienlein, den Mentor von Tim und Struppi, schlafe ein.

 

Schau auf den Wecker, dreh mich um, hab noch fünf Minuten, so lang kann ich mein Morgenpipi noch anhalten. Hör in Gedanken die Stimme meines Vaters: »Das Klo unter der Treppe ist, wenn sie bombardieren, der sicherste Platz in unserem Haus. Wenn an einem anderen Tag als dem ersten Montag im Monat die Sirenen heulen, renn blitzschnell zum Klo!« Der Wecker geht. Ich darf.

 

Während ich im Frühling vom Dezember – gestern waren es fast achtzehn Grad –, ohne zu sehen, mein erstes kleines Geschäft erledige, höre ich Turdus Philomelos, die Singdrossel, tirilieren. Lautes, ausgelassenes, hohes Zwitschern, mit der typischen Wiederholung wie in einer Sequenz von Vivaldi: »Ie, ie, ie.« Drosseln mögen kleine Gärten hinter Häusern wie unseren heute, unseren früher in der Kievitdwarsstraat Utrecht, Niederlande, Europa, Welt, Universum. Wie Herolde des Frühlings zwitschern sie da nach Herzenslust. Sie scharren nach Regenwürmern, Früchten, Insekten und Schnecken in ihren Häuschen, schlagen die auf Steinen kaputt, oft auf Stammplätzen, die Hobbygärtner auf Klippklappklompen-Holzschuhen dann »eine Schmiede« nennen. Ich denke an Schwatzdrosseln und Klatschmäuler und daran, dass die meistens von selbst zu viel herumzwitschern.

 

Als ich jung war, wurde ich auf der Straße »Vogel« genannt, weil ich wie mein Vater beim Gehen immer pfiff. Und natürlich auch, weil ich in der Kievitdwarsstraat wohnte und Kievits Kiebitz heißt. Die anderen Jungen wurden »Fuzzi«, »Wichser« oder »Heini« genannt, außer meinem Freund Joop. Wir nannten Joop »Gast« und nicht »Wachtel«, wie sein Name es nahelegte, er wohnte in der Kwartelstraat und kam oft zu uns zu Besuch.

 

Über den Bäumen färbt sich die Winterluft heute orangenrosa wie auf einem Aquarell. Draußen ist es jetzt, lese ich auf meiner Wetter-App, minus drei Grad. Im Tagesverlauf steigt die Temperatur auf ungefähr sechs Grad. Ein schwacher Wind bringt trockene Luft aus dem Osten, der Richtung, aus der die Weisen kamen. Und in die Knie gehn wir sonst nie, à la Berline Postiljon. Lese auf Seite drei der Freitagszeitung eine Frage: Kann man diese schweren Erdbeben nicht besser voraussagen? Ich schüttle verneinend den Kopf.

 



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