Jahrmarkt der Eitelkeit - William Makepeace Thackeray - E-Book

Jahrmarkt der Eitelkeit E-Book

William Makepeace Thackeray

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Beschreibung

Die charmanteste Intrigantin der Weltliteratur Die erfinderische Becky Sharp ist eine moralisch fragwürdige Romanheldin, der jedes Mittel recht ist, um die Stufen der gesellschaftlichen Leiter im viktorianischen London zu erklimmen. Mit ihrem scharfen Verstand, ihrer unwiderstehlichen Schönheit und ihrem unerschütterlichen Willen strebt sie nach Macht, Reichtum und Ansehen – koste es, was es wolle … William Thackerays Beschreibungen des menschlichen Miteinanders sind so klug wie vergnüglich, und sein schwarzer Humor hat bis heute seine Frische bewahrt. Hans-Christian Oesers Neuübersetzung des Klassikers ist dem Original in punkto Leichtfüßigkeit und Schärfe ebenbürtig. Eine farbenprächtige Zeitreise durch das Europa der Napoleonischen Kriege und eine überzeugende Charakterstudie.

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Seitenzahl: 1495

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William Makepeace Thackeray

Jahrmarkt der Eitelkeit

Roman ohne Held

Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser

Reclam

Englischer Originaltitel: Vanity Fair. A Novel without a Hero

 

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildung: © Christie’s Images / Bridgeman Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962197-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011433-9

www.reclam.de

Inhalt

Vor dem Vorhang

Chiswick Mall

In dem sich Miss Sharp und Miss Sedley für die Eröffnung des Feldzugs rüsten

Rebecca im Angesicht des Feindes

Das grüne Seidentäschchen

Dobbin aus unserem Regiment

Vauxhall

Crawley of Queen’s Crawley

Streng vertraulich

Familienporträts

Miss Sharp schließt Freundschaften

Arkadische Einfachheit

Ein recht sentimentales Kapitel

Sentimentales und Anderweitiges

Miss Crawley daheim

In dem für kurze Zeit Rebeccas Mann in Erscheinung tritt

Der Brief auf dem Nadelkissen

Wie Captain Dobbin ein Klavier kaufte

Wer auf dem Klavier spielte, das Captain Dobbin kaufte

Miss Crawley in Pflege

In dem Captain Dobbin als Bote Hymens handelt

Streit um eine Erbin

Heirat und ein Teil der Flitterwochen

Captain Dobbin setzt seinen Feldzug fort

In dem Mr Osborne die Familienbibel hervorholt

In dem sämtliche Hauptpersonen es für angebracht halten, aus Brighton abzureisen

Zwischen London und Chatham

In dem Amelia zu ihrem Regiment stößt

In dem Amelia in die Niederlande einmarschiert

Brüssel

»The Girl I Left Behind Me«

In dem Jos Sedley für seine Schwester sorgt

In dem Jos die Flucht ergreift und der Krieg endet

In dem sich Miss Crawleys Verwandte sehr um sie sorgen

James Crawleys Pfeife wird ausgemacht

Witwe und Mutter

Wie man von nichts im Jahr gut leben kann

Das Thema wird fortgesetzt

Eine Familie in kleinem Kreis

Ein zynisches Kapitel

In dem Becky von der Familie anerkannt wird

In dem Becky die Hallen ihrer Vorfahren besucht

Das von der Familie Osborne handelt

In dem der Leser das Kap umsegeln muss

Ein zwischen London und Hampshire hin und her springendes Kapitel

Zwischen Hampshire und London

Kämpfe und Prüfungen

Gaunt House

In dem der Leser in die allerbeste Gesellschaft eingeführt wird

In dem wir drei Gerichte und ein Dessert genießen

Enthält einen trivialen Vorfall

In dem eine Scharade gespielt wird, die den Leser vielleicht vor Rätsel stellt, vielleicht auch nicht

In dem sich Lord Steyne von seiner liebenswürdigsten Seite zeigt

Eine Rettung und eine Katastrophe

Sonntag nach der Schlacht

In dem dasselbe Thema verfolgt wird

Georgy wird zum Gentleman gemacht

Eothen

Unser Freund, der Major

Das alte Klavier

Führt zurück in die vornehme Welt

In dem zwei Lichter gelöscht werden

Am Rhein

In dem wir eine alte Bekannte treffen

Ein Vagabundenkapitel

Voller Geschäfte und Vergnügungen

Amantium Irae

Welches Geburten, Hochzeiten und Todesfälle enthält

Vor dem Vorhang

Während der Direktor des Marionettentheaters auf den Brettern vor dem Vorhang sitzt und über den Jahrmarkt schaut, überkommt ihn beim Anblick des geschäftigen Treibens ein Gefühl tiefer Wehmut. Es wird viel gegessen und getrunken, umworben und sitzengelassen, gelacht und sein Gegenteil, geraucht, betrogen, gestritten, getanzt und gefiedelt; es gibt Rüpel, die sich durchdrängeln, Stutzer, die Frauen beäugen, Gauner, die in Taschen fassen, Polizisten, die Ausschau halten, Quacksalber (andere Quacksalber – die Pest soll sie holen!), die vor ihren Buden schreien, und Bauerntölpel, die zu den flitterbehängten Tänzerinnen und den armen alten geschminkten Akrobaten hinaufschauen, während sich von hinten Langfinger an ihren Taschen zu schaffen machen. Ja, das ist der JAHRMARKT DER EITELKEIT; gewiss kein moralischer Ort; auch kein lustiger, obschon sehr lärmig. Sehen Sie sich die Gesichter der Schauspieler und Possenreißer an, wenn sie von ihrer Arbeit kommen; und wie sich der Hanswurst die Schminke von den Wangen wäscht, bevor er sich mit seiner Frau und den kleinen Wursthanseln hinter der Zeltwand zum Abendessen setzt. Gleich geht der Vorhang auf, und er wird Purzelbäume schlagen und rufen: »Wie geht’s euch?«

Ein nachdenklicher Mensch, der eine Kirmes dieser Art durchstreift, wird sich, wie ich annehme, weder von seiner noch von der Ausgelassenheit anderer Leute bedrücken lassen. Hier und da berührt und belustigt ihn ein komischer oder liebenswürdiger Vorfall – ein herziges Kind, das einen Lebkuchenstand betrachtet; ein hübsches Mädchen, das errötet, während ihr Geliebter mit ihr spricht und ein Andenken für sie auswählt; der arme Hanswurst, dort hinter dem Wagen, der mit der ehrbaren Familie, die von seinen Purzelbäumen lebt, an seinem Knochen nagt –, doch der allgemeine Eindruck ist eher wehmütig als fröhlich. Wenn Sie nach Hause kommen, setzen Sie sich in nüchterner, besinnlicher, nicht unnachsichtiger Stimmung hin und widmen sich Ihren Büchern oder Ihren Geschäften.

Eine andere Moral als diese kann ich der vorliegenden Geschichte vom »Jahrmarkt der Eitelkeit« nicht anfügen. Manche Leute halten Jahrmärkte insgesamt für unmoralisch und meiden sie mitsamt ihren Bediensteten und ihrer Familie; vielleicht haben sie recht. Doch wer anders denkt und sich in einer trägen, wohlwollenden oder sarkastischen Gemütslage befindet, der mag vielleicht für eine halbe Stunde eintreten und sich die Aufführungen ansehen. Es gibt Szenen aller Art; schreckliche Kämpfe, großartige und erhabene Reiterszenen, Szenen aus dem vornehmen Leben und solche aus einem sehr mittelmäßigen; Liebesszenen für die Rührseligen und so manches Burleske: das Ganze begleitet von angemessenen Kulissen und glänzend illuminiert von des Autors eigenen Kerzen.

Was hat der Theaterdirektor sonst noch zu sagen? Er darf sich für die Freundlichkeit bedanken, mit der die Darbietung in all den bedeutenden Städten Englands, in denen sie zu sehen war, aufgenommen und von den respektierten Vertretern der öffentlichen Presse und vom hohen wie vom niederen Adel mit großem Wohlwollen bemerkt wurde. Der Gedanke, dass seine Marionetten die beste Gesellschaft dieses Empires zufriedengestellt haben, erfüllt ihn mit Stolz. Von der berühmten kleinen Puppe Becky hieß es, sie sei ungewöhnlich biegsam und lebendig; zwar war der Kreis ihrer Bewunderer kleiner, doch auch die Puppe Amelia wurde vom Künstler mit größter Sorgfalt geschnitzt und ausstaffiert; die Figur Dobbin, obwohl scheinbar ungeschickt, tanzt dennoch auf sehr unterhaltsame und natürliche Weise; der Tanz der kleinen Jungen hat bei einigen Gefallen gefunden; und bitte beachten Sie die reich gekleidete Figur des Bösen Adligen, bei der keine Kosten gescheut wurden und den am Ende dieser einzigartigen Aufführung der Gottseibeiuns fortschaffen wird.

Hiermit, und mit einer tiefen Verbeugung vor seinen Gönnern, zieht sich der Direktor zurück, und der Vorhang geht auf.

London, 28. Juni 1848

Erstes Kapitel

Chiswick Mall

Eines sonnigen Junimorgens, als das gegenwärtige Jahrhundert noch in den Flegeljahren steckte, fuhr eine große Familienkutsche, gezogen von zwei wohlgenährten Pferden in gleißendem Geschirr, gelenkt von einem wohlgenährten Kutscher mit Dreispitz und Perücke, mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen pro Stunde durch das mächtige Eisentor von Miss Pinkertons Akademie für junge Damen in der Chiswick Mall. Kaum hatte die Equipage vor Miss Pinkertons blankem Messingschild angehalten, entflocht der schwarze Diener, der neben dem wohlgenährten Kutscher auf dem Kutschbock thronte, seine krummen Beine, und als er den Glockenzug betätigte, waren wenigstens zwanzig junge Köpfe zu sehen, die aus den schmalen Fenstern des imposanten alten Backsteinbaus lugten – ja, ein scharfer Beobachter hätte sogar das rote Näschen der gutmütigen Miss Jemima Pinkerton erkennen können, das im Fenster des Salons jener Dame über einigen Geranientöpfen sichtbar wurde.

»Es ist Mrs Sedleys Kutsche, Schwester«, sagte Miss Jemima. »Soeben hat Sambo, der schwarze Diener, geläutet; und der Kutscher trägt eine neue rote Weste.«

»Hast du alle nötigen Vorbereitungen bezüglich Miss Sedleys Abreise getroffen, Miss Jemima?«, fragte Miss Pinkerton, eine hoheitsvolle Dame; die Semiramis von Hammersmith, Freundin von Doktor Johnson, Briefpartnerin von Mrs Chapone.

»Die Mädchen sind seit heute Morgen um vier auf den Beinen und haben ihr die Koffer gepackt, Schwester«, antwortete Miss Jemima. »Wir haben einen Blumenstruz für sie gebunden.«

»Sag ein Bouquet, Schwester Jemima, das klingt vornehmer.«

»Na schön, ein Bukett, fast so groß wie ein Heuhaufen; für Mrs Sedley habe ich zwei Flaschen Gewürznelkenwasser und das entsprechende Rezept in Amelias Koffer gelegt.«

»Und ich hoffe, Miss Jemima, du hast eine Abschrift von Miss Sedleys Rechnung angefertigt – das ist sie, ja? Sehr gut – dreiundneunzig Pfund vier Shilling. Sei so lieb, adressiere sie an John Sedley, Esquire, und versiegele das Billet, das ich seiner Gattin geschrieben habe.«

In Miss Jemimas Augen war ein eigenhändiger Brief ihrer Schwester, Miss Pinkerton, Gegenstand so tiefer Verehrung, als handele es sich um das Sendschreiben eines Monarchen. Nur wenn ihre Schülerinnen aus der Anstalt schieden, wenn sie kurz vor der Eheschließung standen oder einmal, als die arme Miss Birch an Scharlachfieber gestorben war, schrieb Miss Pinkerton den Eltern ihrer Schülerinnen persönlich; und Jemima war der Überzeugung, dass, wenn irgendetwas Mrs Birch über den Verlust ihrer Tochter hinwegtrösten konnte, es die frommen und eloquenten Formulierungen waren, mit denen Miss Pinkerton das Ereignis bekanntgegeben hatte.

Im vorliegenden Fall hatte Miss Pinkertons »Billet« folgenden Wortlaut:

The Mall, Chiswick, 15. Juni 18—

Madam,

nach Miss Amelia Sedleys sechsjährigem Aufenthalt in der Mall habe ich die Ehre und die Freude, sie als eine junge Dame zu präsentieren, die nicht unwürdig ist, in den eleganten und kultivierten Kreisen ihrer Eltern die ihr gebührende Stellung einzunehmen. Tugenden, wie sie eine junge englische Dame von Stand auszeichnen, Fertigkeiten, wie sie sich für ihre Abkunft und ihren Rang geziemen, wird man bei der liebenswerten Miss Sedley nicht vergebens suchen. Ihre Emsigkeit und ihre Folgsamkeit hat sie ihren Lehrerinnen ans Herz wachsen lassen, und ihre entzückende Sanftmut hat ihre betagten ebenso wie ihre jugendlichen Weggefährtinnen bezaubert.

Man wird feststellen, dass sie in Musik, Tanz und Rechtschreibung, in jeder Art Stick- und Näharbeit den zärtlichsten Erwartungen ihrer Freundinnen entspricht. Geographie lässt noch viel zu wünschen übrig; und zur Aneignung jener würdevollen aufrechten Körperhaltung, die bei einer jungen Dame von Welt vonnöten ist, wird der sorgsame und unablässige Einsatz des Rückenbretts empfohlen, vier Stunden täglich während der nächsten drei Jahre.

In den Grundsätzen der Religion und der Sittlichkeit wird sich Miss Sedley einer Anstalt als würdig erweisen, die durch die Gegenwart des Großen Lexikographen und die Gunst der bewundernswerten Mrs Chapone geehrt worden ist. Bei ihrem Abschied von der Mall führt Miss Amelia die Herzen ihrer Gefährtinnen und die liebevollen Grüße ihrer Lehrerin mit sich, welche, Madam, die Ehre hat, sich zu unterzeichnen als

Ihre dankbarst ergebene Dienerin

BARBARA PINKERTON

PS: Miss Sharp begleitet Miss Sedley. Insbesondere wird darum gebeten, dass Miss Sharps Aufenthaltsdauer in Russell Square zehn Tage nicht überschreitet. Die namhafte Familie, bei der sie angestellt ist, wünscht von ihren Diensten so bald als möglich Gebrauch zu machen.

Nachdem sie den Brief beendet hatte, trug Miss Pinkerton ihren und Miss Sedleys Namen auf dem Vorsatzblatt eines Exemplars von Johnsons Wörterbuch ein – jenem interessanten Werk, mit dem sie ihre Schülerinnen beim Abschied von der Mall zu bedenken pflegte. Auf der Innenseite des Buchdeckels war eine Abschrift der »Verse, gerichtet an eine junge Dame beim Ausscheiden aus Miss Pinkertons Schule in der Mall, vom ehrwürdigen Doktor Samuel Johnson seligen Angedenkens« eingefügt. In der Tat lag jener hoheitsvollen Frau der Name des Lexikographen stets auf den Lippen, und auf einem Besuch, den er ihr abgestattet hatte, gründeten ihr Ruf und ihr Vermögen.

Miss Jemima, von ihrer älteren Schwester beauftragt, das Wörterbuch aus dem Schrank zu holen, hatte dem erwähnten Verwahrort gleich zwei Exemplare des Buches entnommen. Als Miss Pinkerton die Widmung im ersten eingetragen hatte, reichte ihr Jemima mit eher zweifelnder und scheuer Miene das zweite.

»Für wen ist das, Miss Jemima?«, fragte Miss Pinkerton mit furchtbarer Kälte.

»Für Becky Sharp«, antwortete Jemima. Sie zitterte heftig, und als sie ihrer Schwester den Rücken kehrte, zeigte sich auf ihrem welken Gesicht und Hals eine starke Röte. »Für Becky Sharp; die verlässt uns doch auch.«

»MISS JEMIMA!«, rief Miss Pinkerton in den größten Großbuchstaben aus. »Bist du bei Sinnen? Stell das Dixionär wieder in den Schrank und wage es in Zukunft nicht, dir solche Freiheiten herauszunehmen.«

»Nun, Schwester, es kostet doch nur zwei Shilling neun Pence, und die arme Becky wird ganz unglücklich sein, wenn sie keines bekommt.«

»Schicke Miss Sedley sofort zu mir«, sagte Miss Pinkerton – und so trottete Jemima, ohne ein weiteres Wort zu wagen, überaus beunruhigt und ängstlich davon.

Miss Sedleys Papa war Kaufmann in London und ein Mann von einigem Wohlstand, Miss Sharp dagegen eine Lehrschülerin, für die Miss Pinkerton genug getan zu haben glaubte, ohne ihr bei ihrem Weggang die hohe Ehre des Dixionärs zukommen lassen zu müssen.

Obgleich man Briefen von Schulleiterinnen nicht mehr und nicht weniger Vertrauen schenken sollte als Grabinschriften, so geschieht es doch zuweilen, dass ein Mensch aus dem Leben scheidet, der wahrhaftig all die Lobpreisungen verdient, welche der Steinmetz über seinen Gebeinen einmeißelt, ein Mensch, der ein guter Christ, ein guter Vater, eine gute Mutter, ein gutes Kind, eine gute Ehefrau oder ein guter Ehemann war und der tatsächlich eine untröstliche Familie hinterlässt, welche seinen Verlust betrauert; ebenso kommt es in Bildungsanstalten für das männliche und das weibliche Geschlecht gelegentlich vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin der Lobeshymnen würdig ist, mit denen eine uneigennützige Lehrkraft sie überhäuft. Nun, Miss Amelia Sedley war eine junge Dame dieses besonderen Schlages und verdiente nicht nur alles, was Miss Pinkerton zu ihrem Lobe anzuführen wusste, sondern besaß darüber hinaus viele reizende Eigenschaften, die jene aufgeblasene alte Minerva von einer Frau aufgrund der Rang- und Altersunterschiede zwischen ihr und ihrer Schülerin gar nicht wahrnahm.

Denn nicht nur konnte sie singen wie eine Lerche oder eine Mrs Billington und tanzen wie Hillisberg oder Parisot und wunderschön sticken und ebenso gut buchstabieren wie das Dixionär selbst; vielmehr hatte sie ein so freundliches, heiteres, weiches, sanftes und großzügiges Herz, dass sie die Liebe eines jeden gewann, der in ihre Nähe kam, von Minerva höchstselbst bis hinunter zu dem armen Mädchen in der Spülküche und der Tochter der einäugigen Kuchenfrau, der es erlaubt war, den jungen Damen in der Mall einmal in der Woche ihre Waren zu verkaufen. Unter den vierundzwanzig jungen Damen hatte Amelia zwölf enge Busenfreundinnen; sogar die neidische Miss Briggs sprach nie schlecht von ihr; die hochmögende Miss Saltire (Lord Dexters Enkeltochter) konzedierte, dass sie eine gute Figur machte; und was Miss Swartz betraf, die wollhaarige reiche Mulattin aus St. Kitts, so war diese am Tag von Amelias Weggang so in Tränen aufgelöst, dass man Dr. Floss kommen lassen und sie mit Riechsalz halb betäuben musste. Miss Pinkertons Zuneigung war, wie man angesichts der hohen Stellung und der herausragenden Tugenden jener Dame erwarten darf, ruhig und würdevoll; Miss Jemima jedoch hatte bei der Vorstellung von Amelias Abreise bereits mehrfach gejammert; und wäre da nicht die Angst vor ihrer Schwester gewesen, so wäre sie vollends in Hysterie verfallen, genau wie die Erbin aus St. Kitts (die das Doppelte zahlte). Jedoch steht es nur bevorrechtigten Internatsschülerinnen zu, mit ihrem Schmerz derartigen Luxus zu treiben. Die ehrliche Jemima musste Aufsicht über sämtliche Rechnungen und die Schmutzwäsche und die Flickwäsche und die Nachspeisen und das Geschirr und die Dienstboten führen – aber wozu von ihr reden? Wahrscheinlich werden wir von diesem Moment bis zum Ende aller Tage nicht wieder von ihr hören, und wenn sich das mächtige verschnörkelte Eisentor erst einmal vor ihr geschlossen hat, werden sie und ihre schreckliche Schwester von da an nie mehr in die kleine Welt der vorliegenden Geschichte eindringen.

Da wir Amelia hingegen vielfach begegnen werden, kann es nicht schaden, wenn wir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft ausführen, dass sie eines der besten und liebenswertesten Geschöpfe war, die je gelebt haben; und es ist eine große Gnade, dass wir, da es sowohl im Leben wie in Romanen (besonders in Letzteren) von Bösewichten der finstersten Sorte nur so wimmelt, ein dermaßen argloses und gutherziges Wesen zur ständigen Begleiterin haben werden. Da sie keine Heldin ist, erübrigt es sich, ihre Person zu beschreiben; tatsächlich fürchte ich, dass ihre Nase für eine Heldin etwas zu kurz geraten war und ihre Wangen ein ganzes Stück zu rundlich und zu rot; doch ihr Gesicht strahlte vor blühender Gesundheit, ihre Lippen umspielte das frischeste Lächeln, und sie hatte Augen, die vor unverhohlenem Frohsinn geradezu blitzten, es sei denn, sie füllten sich mit Tränen, und dies geschah tatsächlich allzu oft – das einfältige Ding konnte wegen eines toten Kanarienvogels weinen oder wegen einer Maus, auf die sich die Katze gestürzt hatte, oder auch am Ende eines Romans, mochte er noch so albern sein; und wenn jemand ein unfreundliches Wort an sie richtete – falls jemand so hartherzig war, dies zu tun –, nun, umso schlimmer für ihn. Sogar Miss Pinkerton, jene strenge und gottgleiche Frau, tadelte sie nach dem ersten Mal nicht mehr, und obwohl sie von Herzenstakt ebenso wenig verstand wie von Algebra, erteilte sie allen Lehrern und Lehrerinnen spezielle Anweisung, Miss Sedley mit äußerster Sanftheit zu behandeln, da schroffe Behandlung ihr schade.

Als daher der Tag des Abschieds kam, war Miss Sedley – hin- und hergerissen zwischen ihren beiden Gewohnheiten: zu lachen und zu weinen – ganz ratlos, wie sie sich verhalten sollte. Sie war froh, nach Hause zu fahren, und doch höchst betrübt, die Schule hinter sich zu lassen. Seit drei Tagen schon war ihr die kleine Laura Martin, das Waisenkind, wie ein Hündchen gefolgt. Amelia musste mindestens vierzehn Geschenke vorbereiten und entgegennehmen, vierzehn feierliche Versprechen ablegen, jede Woche zu schreiben. »Schicke deine Briefe verdeckt an meinen Großvater, den Earl of Dexter«, sagte Miss Saltire (die übrigens ziemlich heruntergekommen war). »Mach dir nichts aus dem Porto, sondern schreib mir jeden Tag, mein Schatz«, sprach die ungestüme und krausköpfige, aber großzügige und herzliche Miss Swartz; und die kleine Laura Martin (die sich noch in Schönschrift übte) nahm die Hand ihrer Freundin, blickte wehmütig zu ihrem Gesicht auf und sagte: »Amelia, wenn ich dir schreibe, werde ich dich Mama nennen.« – Zweifellos wird JONES, der dieses Buch in seinem Klub liest, all die Einzelheiten als allzu törichtes, triviales Geschwätz und als übertrieben sentimental abtun. Ja, in ebendieser Minute kann ich Jones vor mir sehen (von seiner Lammkeule und seinem Viertelliter Wein recht gerötet), wie er seinen Bleistift zückt, die Wörter »törichtes Geschwätz« &c. unterstreicht und die Bemerkung »sehr richtig« hinzufügt. Nun, er ist ein stolzer, genialer Mann und bewundert das Große und Heroische im Leben wie in Romanen; und so möge er gewarnt sein und sich woanders hinbegeben.

Nun denn – als Miss Sedleys Blumen und Geschenke und Koffer und Hutschachteln von Mr Sambo in der Kutsche verstaut worden waren, zusammen mit einem sehr kleinen und wettergegerbten alten rindsledernen Koffer, auf den sorgsam Miss Sharps Visitenkarte genagelt war – Sambo hatte ihn mit einem Feixen ausgehändigt, der Kutscher ihn mit einem entsprechenden Hohnlächeln verladen –, kam die Stunde des Abschieds; doch wurde der Kummer dieses Augenblicks durch die bewundernswerte Ansprache, mit der sich Miss Pinkerton an ihre Schülerin wandte, erheblich gemindert. Nicht, dass die Abschiedsrede Amelia zu philosophieren Anlass gab oder sie in irgendeiner Form mit Gefasstheit als Resultat einer Beweisführung wappnete; vielmehr war sie unerträglich langweilig, schwülstig und weitschweifig, und da sie die Furcht ihrer Schulleiterin unmittelbar vor Augen hatte, traute sich Miss Sedley nicht, in ihrer Gegenwart einem Ausbruch privaten Kummers nachzugeben. Im Gesellschaftszimmer wurden, wie sonst nur bei der feierlichen Gelegenheit eines Elternbesuchs, ein Kümmelkuchen und eine Flasche Wein serviert, und nachdem man diesen Erfrischungen zugesprochen hatte, stand es Miss Sedley frei, aufzubrechen.

»Du gehst hinein und sagst Miss Pinkerton auf Wiedersehen, Becky?«, fragte Miss Jemima eine junge Dame, der niemand Beachtung schenkte und die mit ihrer eigenen Hutschachtel die Treppe herunterkam.

»Ich muss wohl«, antwortete Miss Sharp ruhig und zu Miss Jemimas Erstaunen, und nachdem Letztere an die Tür geklopft und die Erlaubnis erlangt hatte, einzutreten, schritt Miss Sharp völlig unbekümmert in den Salon und sagte auf Französisch und mit perfekter Aussprache: »Mademoiselle, je viens vous faire mes adieux.«1

Miss Pinkerton konnte kein Französisch; sie leitete jene, die es konnten, nur an; doch indem sie sich auf die Lippen biss und ihren ehrwürdigen Kopf mit der römischen Nase (den ein großer festlicher Turban krönte) in den Nacken warf, sagte sie: »Miss Sharp, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.« Indem die Semiramis von Hammersmith sprach, wedelte sie mit der Hand, sowohl um Adieu zu sagen als auch um Miss Sharp Gelegenheit zu geben, den einen Finger ihrer Hand zu schütteln, den sie zu diesem Zweck abgespreizt hatte.

Mit einem sehr frostigen Lächeln und einer Verbeugung faltete Miss Sharp lediglich die eigenen Hände und lehnte es ganz und gar ab, die dargebotene Ehre anzunehmen, worauf Semiramis ihren Kopf samt Turban empörter denn je zurückschleuderte. Tatsächlich fand zwischen der jungen Dame und der alten ein kleines Scharmützel statt, und Letztere musste sich geschlagen geben. »Der Himmel segne dich, mein Kind«, sagte sie, umarmte Amelia und warf zugleich über die Schulter des Mädchens hinweg Miss Sharp einen bösen Blick zu. »Komm jetzt, Becky«, sagte Miss Jemima, zog die junge Frau erschrocken fort, und die Tür des Gesellschaftszimmers schloss sich für immer hinter ihnen.

Dann begann das Durcheinander und das Abschiednehmen unten. Es ist mit Worten nicht auszudrücken. Sämtliche Bediensteten waren dort in der Eingangshalle – all die lieben Freundinnen – all die jungen Damen – der Tanzlehrer, der soeben eingetroffen war –, und es gab ein solches Gedränge und Geherze und Geküsse und Geweine, und aus dem Zimmer der bevorrechtigten Internatsschülerin Miss Swartz drangen solch hysterische Schluchzer, wie keine Feder sie beschreiben kann und wie ein zartes Gemüt sie gerne übergeht. Das Geherze hatte ein Ende; sie schieden – das heißt, Miss Sedley schied von ihren Freundinnen. Sittsam hatte Miss Sharp die Kutsche schon einige Minuten zuvor bestiegen – niemand schluchzte, weil sie fortfuhr.

Hinter seiner weinenden jungen Herrin warf Sambo mit den krummen Beinen den Kutschenschlag zu – er sprang hinten auf den Wagen. »Halt!«, rief Miss Jemima, die mit einem Päckchen zum Tor geeilt kam.

»Es sind nur ein paar Sandwiches, meine Liebe«, sagte sie zu Amelia. »Du könntest hungrig werden, weißt du – und Becky – Becky Sharp – hier ist ein Buch für dich, das meine Schwester – das heißt, ich – Johnsons Dixionär, weißt du – ohne das darfst du uns nicht verlassen. Leb wohl. Fahrt zu, Kutscher. Gott segne dich!« Und das gute Geschöpf zog sich, von Gefühlen überwältigt, in den Garten zurück.

Doch siehe da, als die Kutsche eben losfuhr, steckte Miss Sharp ihr blasses Gesicht zum Fenster heraus – und warf doch tatsächlich das Buch in den Garten zurück.

Darüber wäre Jemima vor Schreck fast in Ohnmacht gesunken. »Nun, ich hätte nie …«, sagte sie, »was für ein unverfrorenes …« Ihre Gefühle hinderten sie daran, die Sätze zu vollenden – die Kutsche rollte davon – das mächtige Tor wurde geschlossen – die Glocke läutete zur Tanzstunde. Vor den beiden jungen Damen liegt die Welt; und so lebe wohl, Chiswick Mall.

Zweites Kapitel

In dem sich Miss Sharp und Miss Sedley für die Eröffnung des Feldzugs rüsten

Als Miss Sharp den im letzten Kapitel erwähnten heroischen Akt vollzogen und gesehen hatte, wie das Dixionär über den Gehweg des kleinen Gartens flog und der verblüfften Miss Jemima schließlich vor die Füße fiel, da zeigte sich auf dem Gesicht der jungen Dame, die zuvor nahezu wutentbrannt und hasserfüllt dreingeblickt hatte, ein Lächeln, welches womöglich auch nicht viel erfreulicher war, und in unbeschwerter Gemütsverfassung ließ sie sich in der Kutsche zurücksinken und sagte: »So viel zum Dixionär, und Gottseidank liegt Chiswick hinter mir.«

Miss Sedley war über diesen Akt der Auflehnung fast ebenso verstört, wie Miss Jemima es gewesen war – bedenken Sie, dass sie die Schule erst vor einer Minute verlassen hatte, und in einer solchen Zeitspanne lassen sich die Eindrücke von sechs Jahren nicht verwinden. Nein, bei manchen Menschen dauern jene Ängste und Schrecken der Jugend für immer und ewig an. Ich kenne zum Beispiel einen alten Gentleman von achtundsechzig Jahren, der mir eines Morgens beim Frühstück mit erregter Miene eröffnete: »Gestern Nacht habe ich geträumt, Dr. Raine hätte mich gezüchtigt.« Im Verlauf des Abends hatte ihn seine Einbildungskraft um fünfundfünfzig Jahre zurückversetzt. In diesem Moment waren Dr. Raine und sein Rohrstock für ihn mit achtundsechzig ebenso furchterregend wie seinerzeit, als er dreizehn war. Wäre der Doktor leibhaftig mit einer großen Birkenrute vor ihm erschienen, selbst jetzt noch, im Alter von achtundsechzig Jahren, und hätte mit furchterregender Stimme gesagt: »Junge, zieh die Hose runter –« Nun, Miss Sedley war über diesen Akt der Widersetzlichkeit außerordentlich beunruhigt.

»Wie konntest du nur, Rebecca?«, fragte sie endlich, nach einer Pause.

»Glaubst du etwa, Miss Pinkerton wird herauskommen und mich wieder ins schwarze Loch stecken?«, entgegnete Rebecca lachend.

»Nein, aber –«

»Ich hasse das ganze Haus«, fuhr Miss Sharp wütend fort. »Ich hoffe, ich werde es nie wieder zu Gesicht bekommen. Ich wollte, es läge auf dem Grund der Themse, wirklich; und wenn auch Miss Pinkerton dort läge, ich würde sie nicht herausfischen, ganz bestimmt nicht. Ach, wie ich mir wünsche, sie dort im Wasser treiben zu sehen, mit Turban und allem, und ihre Schleppe treibt hinter ihr her, und ihre Nase ist wie der Bug einer Jolle.«

»Scht!«, rief Miss Sedley.

»Ach, wird der schwarze Lakai es etwa ausplaudern?«, rief Miss Rebecca lachend. »Der kann gerne zurückkehren und Miss Pinkerton berichten, dass ich sie von Herzen hasse – und ich wünschte, er täte es; und ich wünschte, ich fände auch einen Weg, es zu beweisen. Zwei Jahre lang habe ich nichts als Geschimpfe und Gekeife von ihr gehört. Ich bin schlimmer als jede Küchenmagd behandelt worden. Nie habe ich eine Freundin gehabt oder ein freundliches Wort vernommen, außer von dir; ich musste die kleinen Mädchen im unteren Klassenzimmer betreuen und mit den Fräuleins Französisch reden, bis mir meine Muttersprache zum Halse heraushing. Aber wie ich mit Miss Pinkerton Französisch parliert habe, das war ein kapitaler Spaß, nicht wahr? Sie kann kein Wort Französisch und war zu stolz, es zuzugeben. Ich glaube, deswegen hat sie sich von mir getrennt, und dem Himmel sei Dank für die französische Sprache. Vive la France, vive l’Empereur, vive Bonaparte!«2

»Oh, Rebecca, Rebecca, schäm dich!«, rief Miss Sedley, denn dies war die schlimmste Blasphemie, die Rebecca bis dahin ausgestoßen hatte; in England zu jener Zeit »Lang lebe Bonaparte« zu rufen war gerade so, als riefe man »Lang lebe Luzifer«. »Wie kannst du nur – wie kannst du es wagen, solch böse, rachsüchtige Gedanken zu haben?«

»Rache mag bösartig sein, ist aber natürlich«, antwortete Miss Rebecca. »Ich bin kein Engel.« – Und um die Wahrheit zu sagen, ein Engel war sie gewiss nicht.

Im Verlauf dieses kleinen Gesprächs (welches stattfand, als die Kutsche gemächlich das Flussufer entlangrollte) sollte man nämlich anmerken, dass, obwohl Miss Rebecca gleich zweimal Anlass gehabt hatte, dem Himmel zu danken, es im ersten Fall darum ging, dass sie eine ihr verhasste Person losgeworden, und im zweiten darum, dass sie in die Lage versetzt worden war, ihre Feinde in eine gewisse Ratlosigkeit oder Verwirrung zu stürzen; beides kein liebenswürdiger Beweggrund für fromme Dankbarkeit oder solche, wie sie Menschen von gütigem und versöhnlichem Charakter an den Tag legen würden. Demnach war Rebecca nicht im Mindesten gütig oder versöhnlich. Die ganze Welt behandele sie schlecht, sagte diese junge Misanthropin (oder Misogynin – denn mit der Männerwelt, so viel lässt sich sagen, hatte sie bis dahin nur wenig Erfahrung gemacht), und wir können ziemlich sicher sein, dass Menschen beiderlei Geschlechts, die von aller Welt schlecht behandelt werden, genau die Behandlung verdienen, die ihnen zuteil wird. Die Welt ist ein Spiegel und wirft jedermann das Bild seines Gesichts zurück. Runzle die Stirn, und sie wird dich mit Missmut betrachten; lache ihr zu und lache mit ihr, und sie wird dir ein lustiger, freundlicher Kamerad sein; und so sollen alle jungen Menschen ihre Wahl treffen. Eines steht fest: Wenn die Welt Miss Sharp vernachlässigte, dann deswegen, weil sich ihr nicht nachsagen ließ, dass sie jemals irgendwem einen guten Dienst erwiesen hatte; auch kann man nicht erwarten, dass vierundzwanzig junge Damen alle so liebenswürdig sind wie die Heldin dieses Werkes, Miss Sedley (die wir aus genau dem Grund ausgewählt haben, weil sie die gutherzigste von allen war; denn was sonst in der Welt hätte uns daran hindern sollen, Miss Swartz, Miss Crump oder Miss Hopkins zur Heldin zu machen?) – man konnte nicht erwarten, dass jede von ihnen Miss Amelia Sedleys bescheidenes und sanftes Gemüt haben und jede Gelegenheit nutzen würde, Rebeccas Hartherzigkeit und Missgelauntheit zu bezwingen und mit tausend gütigen Worten und Taten wenigstens einmal ihre Feindseligkeit gegen ihresgleichen zu überwinden.

 

Miss Sharps Vater war Künstler und hatte in dieser Eigenschaft an Miss Pinkertons Schule Zeichenunterricht gegeben. Er war ein gescheiter Mann; ein angenehmer Gesprächspartner; ein nachlässiger Jünger seiner Kunst; mit einem ausgeprägten Hang zur Schuldenmacherei und einer Vorliebe fürs Wirtshaus. Wenn er betrunken war, pflegte er seine Frau und seine Tochter zu schlagen; hatte er am nächsten Morgen Kopfweh, wetterte er gegen die Welt, weil sie sein Genie nicht erkannte, und beschimpfte mit großer Gewandtheit, und zuweilen aus gutem Grund, seine Malerkollegen, diese Narren. Da er seinen Lebensunterhalt nur unter größten Schwierigkeiten bestreiten konnte und in seinem Wohnviertel Soho im Umkreis von einer Meile Geld schuldete, kam ihm der Gedanke, seine Lage durch die Heirat mit einer jungen Frau französischer Nationalität zu verbessern, die von Beruf Balletttänzerin war. Den niedrigen Beruf ihres weiblichen Elternteils erwähnte Miss Sharp nie; später aber führte sie immer wieder aus, die Entrechâts3 seien eine adlige Familie aus der Gascogne, und rühmte sich ihrer Abkunft. Und seltsamerweise gewannen die Vorfahren der jungen Dame, je mehr diese im Leben vorankam, an Rang und an Glanz.

Rebeccas Mutter hatte irgendwo ein wenig Bildung genossen, und so sprach ihre Tochter tadelloses Französisch mit Pariser Akzent. Zur damaligen Zeit war dies eine seltene Fertigkeit und verhalf ihr zu ihrer Anstellung bei der strenggläubigen Miss Pinkerton. Da ihre Mutter tot war, schrieb ihr Vater, der spürte, dass er sich nach einem dritten Anfall von Delirium tremens wahrscheinlich nie wieder erholen würde, einen mannhaften und herzergreifenden Brief an Miss Pinkerton, in welchem er das künftige Waisenkind ihrem Schutz anvertraute; dann sank er, nachdem sich zwei Gerichtsvollzieher um seinen Leichnam gezankt hatten, hinab ins Grab. Rebecca war siebzehn, als sie nach Chiswick kam, und wurde als Lehrschülerin verpflichtet; wie wir gesehen haben, bestanden ihre Pflichten darin, Französisch zu sprechen, ihre Privilegien darin, kostenfrei zu logieren sowie, für ein paar Guineen im Jahr, von den Professoren, die die Schule besuchten, Wissensbrocken aufzulesen.

Sie war eine kleine und schmächtige Person; blass, mit sandfarbenem Haar und gewohnheitsmäßig gesenktem Blick: schauten ihre Augen aber auf, so waren sie sehr groß, sonderbar und attraktiv; so attraktiv, dass Reverend Mr Crisp, frisch aus Oxford und als Kurat dem Pfarrer von Chiswick, Reverend Mr Flowerdew, unterstellt, sich in Miss Sharp verliebte; ein Blick aus ihren Augen, den sie von der Bank der Schülerinnen quer durch die Chiswicker Kirche zum Lesepult schoss, brachte ihn zur Strecke. Dieser schwärmerisch verliebte junge Mann nahm bei Miss Pinkerton, der er von seiner Mama vorgestellt worden war, gelegentlich Tee ein, und in einem abgefangenen Briefchen, das die einäugige Kuchenfrau zu überbringen beauftragt worden war, machte er tatsächlich eine Art Heiratsantrag. Mrs Crisp wurde aus Buxton herbeizitiert und nahm ihren allerliebsten Jungen auf der Stelle mit; doch allein die Vorstellung eines solchen Adlers im Taubenschlag von Chiswick löste in Miss Pinkertons Brust höchste Erregung aus, und wäre sie nicht unter Androhung einer Konventionalstrafe vertraglich gebunden gewesen, hätte sie Miss Sharp fortgeschickt; den Beteuerungen der jungen Dame jedenfalls, sie habe nie auch nur ein Wort mit Mr Crisp gewechselt, außer als sie ihm zweimal vor Miss Pinkertons Augen beim Tee begegnet sei, schenkte sie keinen Glauben.

Neben den zahlreichen großen und lebhaften jungen Damen der Anstalt wirkte Rebecca Sharp wie ein Kind. Aber ihre Armut hatte ihr zu bedauerlicher Frühreife verholfen. Sie hatte mit so manchem Schuldeneintreiber geredet und ihn von der Haustür ihres Vaters ferngehalten; so manchen Händler hatte sie beschwatzt und beschworen, so dass er ihnen, milde gestimmt, eine weitere Mahlzeit zukommen ließ. Gewöhnlich setzte sie sich zu ihrem Vater, der auf ihre Gewitztheit sehr stolz war, und hörte die wilden Sprüche seiner Kameraden – oft unpassend für die Ohren eines Mädchens. Doch ein Mädchen sei sie nie gewesen, sagte sie, seit ihrem achten Lebensjahr sei sie eine Frau. Ach, weshalb nur ließ Miss Pinkerton einen so gefährlichen Vogel in ihren Käfig?

Tatsächlich hielt die alte Dame Rebecca für das demütigste Geschöpf der Welt, so bewunderungswürdig spielte Rebecca, wenn ihr Vater sie nach Chiswick brachte, die Rolle der ingénue4; sie hielt sie für ein bescheidenes und unschuldiges kleines Kind, und noch ein Jahr vor jener Abmachung, die Rebeccas Aufnahme in ihr Haus regelte – Rebecca war sechzehn –, machte ihr Miss Pinkerton huldvoll und im Rahmen einer kleinen Rede das Geschenk einer Puppe – übrigens das konfiszierte Eigentum Miss Swindles, die dabei ertappt worden war, wie sie die Puppe während der Unterrichtsstunden heimlich in ihren Armen wiegte. Wie hatten Vater und Tochter gelacht, als sie nach der Abendgesellschaft zusammen nach Hause gingen (sie fand anlässlich der Abschlussreden statt, als sämtliche Professoren eingeladen worden waren), und wie hätte Miss Pinkerton getobt, wenn sie gesehen hätte, wie Rebecca, das kleine Biest, aus der Puppe eine Karikatur ihrer selbst machte! Becky führte mit ihr Zwiegespräche, was zur Belustigung der Newman Street, der Gerrard Street und des Künstlerviertels wurde, und wenn die jungen Maler kamen, um mit ihrem faulen, zügellosen, gerissenen, jovialen Altmeister Gin mit Wasser5 zu trinken, fragten sie Rebecca regelmäßig, ob Miss Pinkerton zu Hause sei – die arme Seele war ihnen ebenso vertraut wie Mr Lawrence oder Präsident West. Einmal hatte Rebecca die Ehre, ein paar Tage in Chiswick zu verbringen, danach nahm sie eine zweite Puppe mit und ernannte sie zu Miss Jemmy; denn obwohl ihr das ehrliche Geschöpf genug Gelee und Kuchen für gleich drei Kinder vorgesetzt und zum Abschied eine Sieben-Shilling-Münze geschenkt hatte, war die Spottlust des Mädchens weitaus stärker als ihre Dankbarkeit, und sie opferte Miss Jemmy ebenso gnadenlos wie deren Schwester.

Das Unglück brach herein, und man schaffte sie in die Mall, die ihr neues Zuhause wurde. Die steife Förmlichkeit der Anstalt erstickte sie: Die Gebete und die Mahlzeiten, die Unterrichtsstunden und die Spaziergänge, die mit klösterlicher Regelmäßigkeit anberaumt wurden, bedrückten sie aufs Unerträglichste, und sie blickte mit solchem Bedauern auf die Freizügigkeit und die Ärmlichkeit des alten Ateliers in Soho zurück, dass jeder, sie selbst eingeschlossen, vermutete, sie verzehre sich vor Kummer um ihren Vater. Sie hatte eine kleine Dachkammer, in der die Dienstmädchen sie nachts umhergehen und schluchzen hörten; doch das geschah aus Wut, nicht aus Trauer. Bis dahin hatte sie sich nicht oft verstellen müssen, jetzt aber lehrte sie ihre Einsamkeit, zu heucheln. Sie hatte sich nie in Gesellschaft von Frauen bewegt; ihr Vater, so verkommen er war, war ein Mann von Talent, seine Konversation tausendmal angenehmer als das Gerede ihrer Geschlechtsgenossinnen, denen sie jetzt begegnete – die geschwätzige Dummheit der alten Schulleiterin, die einfältige Gutgelauntheit ihrer Schwester, das alberne Gegacker und Getratsche der älteren Mädchen und die gefühlskalte Korrektheit der Gouvernanten setzten ihr in gleicher Weise zu – und sie hatte kein weiches, mütterliches Herz, dieses unglückselige Mädchen; andernfalls hätte das Geplapper und Geplauder der jüngeren Kinder, für deren Betreuung sie in erster Linie zuständig war, sie milder gestimmt und ihr Interesse geweckt; doch lebte sie zwei Jahre lang in ihrer Mitte, und keines war betrübt, als sie fortging. Die zartfühlende Amelia Sedley war der einzige Mensch, zu dem sie sich ein wenig hingezogen fühlte, und wer hätte sich zu Amelia nicht hingezogen gefühlt?

Das Glück, die außergewöhnlichen Begünstigungen, die die jungen Frauen um sie herum genossen, füllten Rebecca mit unaussprechlichem Neid. »Wie sich dieses Mädchen aufplustert, nur weil sie die Enkelin eines Earls ist«, sagte sie über eine von ihnen, »wie sie vor dieser Kreolin katzbuckeln und zu Kreuze kriechen wegen ihrer hunderttausend Pfund! Ich bin tausendmal klüger und charmanter als diese Kreatur, trotz ihres Reichtums; ich bin ebenso gut erzogen wie die Enkelin des Earls, trotz ihres vornehmen Stammbaums, dennoch übergehen mich hier alle. Und doch, als ich bei meinem Vater wohnte, haben die Männer nicht auf ihre heitersten Bälle und Gesellschaften verzichtet, um den Abend mit mir zu verbringen?« Jedenfalls fasste sie den Entschluss, sich aus dem Kerker, in dem sie sich befand, zu befreien, und begann, selbstständig zu handeln und zum ersten Mal zusammenhängende Zukunftspläne zu schmieden.

Daher machte sie sich die Studienmöglichkeiten zunutze, welche die Anstalt ihr bot; und da sie bereits musikalisch und sprachkundig war, durchlief sie rasch den kleinen Bildungsgang, der zu jener Zeit bei Damen für nötig erachtet wurde. Sie übte sich unablässig in Musik, und eines Tages – die Mädchen waren ausgegangen, sie selbst zu Hause geblieben – hörte man sie ein Stück so gut spielen, dass Minerva listig überlegte, ob sie die Kosten eines Lehrers für die jüngeren Mädchen nicht einsparen könne, und Miss Sharp zu verstehen gab, in Zukunft solle sie die Mädchen in Musik unterrichten.

Das Mädchen weigerte sich, und dies zum ersten Mal und zum Erstaunen der hoheitsvollen Schulleiterin. »Ich bin hier, um mit den Kindern Französisch zu sprechen«, sagte Rebecca schroff, »nicht, um sie Musik zu lehren und es Ihnen zu ersparen, dafür zu zahlen. Bezahlen Sie mich, und ich werde sie unterrichten.«

Minerva musste sich fügen, und natürlich hegte sie von diesem Tag an eine Abneigung gegen Rebecca. »In fünfunddreißig Jahren«, meinte sie, und völlig zu Recht, »habe ich nicht ein einziges Individuum gesehen, das es gewagt hätte, in meinem eigenen Haus meine Autorität in Frage zu stellen. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt.«

»Eine Schlange? Papperlapapp!«, sagte Miss Sharp zu der alten Dame, die vor Verblüffung beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. »Sie haben mich aufgenommen, weil ich nützlich war; von Dankbarkeit zwischen uns kann keine Rede sein. Ich hasse diesen Ort und möchte fort von hier. Ich werde hier nichts weiter tun, außer wozu ich verpflichtet bin.«

Vergebens fragte die alte Dame, ob sie sich bewusst sei, dass sie mit Miss Pinkerton spreche. Rebecca lachte ihr ins Gesicht: mit einem grässlich sarkastischen, dämonischen Lachen, das bei der Schulleiterin fast einen Schreikrampf ausgelöst hätte. »Zahlen Sie mir eine Geldsumme«, sagte das Mädchen, »und Sie sind mich los – oder Sie verschaffen mir, wenn Ihnen das besser passt, eine gute Position als Gouvernante in einer adligen Familie – das können Sie, wenn Sie nur wollen.« Und in ihren späteren Auseinandersetzungen kam sie immer wieder auf diesen Punkt zurück. »Verschaffen Sie mir eine Anstellung – wir hassen einander, und ich bin bereit zu gehen.«

Die würdige Miss Pinkerton, obwohl mit römischer Nase und Turban versehen, obwohl so hochgewachsen wie ein Grenadier und bis zu diesem Moment eine unbezwingbare Fürstin, besaß weder den Willen noch die Kraft ihres kleinen Lehrmädchens; und erfolglos versuchte sie, gegen sie anzukämpfen und sie einzuschüchtern. Als sie sie öffentlich tadeln wollte, setzte Rebecca ihren bereits erwähnten Plan um, ihr nur noch auf Französisch zu antworten, was der alten Frau eine ziemliche Niederlage zufügte. Um ihre Autorität aufrechtzuerhalten, musste sie diese Rebellin, dieses Ungeheuer, diese Giftschlange, diese Unruhestifterin aus ihrer Schule entfernen – und als sie um diese Zeit davon hörte, dass Sir Pitt Crawleys Familie eine Gouvernante benötige, empfahl sie für die Stelle tatsächlich Miss Sharp, obwohl diese eine Unruhestifterin und eine Giftschlange war. »Gewiss«, sagte sie, »habe ich an Miss Sharps Benehmen, außer mir selbst gegenüber, nichts auszusetzen, und ich muss einräumen, dass ihre Begabungen und Fähigkeiten von hohem Wert sind. Zumindest was ihren Kopf betrifft, macht sie den von meiner Anstalt verfolgten Erziehungszielen alle Ehre.«

Und so brachte die Schulleiterin ihre Empfehlung mit ihrem Gewissen in Einklang, der Lehrvertrag wurde gekündigt, und das Lehrmädchen war frei. Die hier mit wenigen Zeilen geschilderte Schlacht währte natürlich einige Monate. Und da Miss Sedley, die jetzt in ihrem siebzehnten Lebensjahr stand, die Schule bald verlassen sollte und mit Miss Sharp befreundet war (»Der einzige Punkt in Amelias Verhalten«, sagte Minerva, »der für ihre Schulleiterin nicht befriedigend war«), wurde Miss Sharp von ihrer Freundin eingeladen, eine Woche bei ihr zu Hause zu verbringen, bevor sie ihre Verpflichtungen als Gouvernante einer Privatfamilie aufnehmen würde.

Und so tat sich vor den beiden jungen Damen eine Welt auf. Für Amelia war es eine ganz neue, frische, glänzende Welt in all ihrer Schönheit. Für Rebecca war sie nicht ganz so neu (in der Tat, um die Wahrheit über die Crisp-Affäre zu sagen, so hatte die Kuchenfrau gegenüber einer Person, die sie einer Dritten gegenüber unter Eid als Tatsache ausgab, gewisse Andeutungen gemacht, zwischen Mr Crisp und Miss Sharp sei sehr viel mehr vorgefallen, als öffentlich bekannt geworden war, und sein Brief sei die Antwort auf einen anderen Brief gewesen). Doch wer kann Ihnen in dieser Angelegenheit schon die reine Wahrheit sagen? Wie dem auch sei, falls sich vor Rebecca keine neue Welt auftat, so tat sich doch die alte von neuem vor ihr auf.

Als die jungen Damen den Schlagbaum von Kensington erreichten, hatte Amelia ihre Gefährtinnen zwar nicht vergessen, immerhin aber ihre Tränen getrocknet und war heftig errötet und höchst entzückt, als ein junger Offizier der Leibgarde, der sie im Vorüberreiten erspähte, ausrief: »Bei Gott, ein verdammt hübsches Mädel!«, und ehe die Kutsche auf den Russell Square rollte, hatte ein langes Gespräch über den königlichen Empfangssaal stattgefunden und darüber, ob junge Damen bei ihrer Präsentation sowohl Puder als auch Reifröcke trügen oder nicht und ob diese Ehre auch ihr widerfahren werde – dass sie auf den Ball des Lord Mayors gehen würde, wusste sie bereits. Und als man schließlich zu Hause ankam, hüpfte Amelia Sedley an Sambos Arm aus der Kutsche, ein so glückliches und schönes Mädchen wie nur irgendeines in der großen Stadt London. Darin waren Sambo und der Kutscher sich einig, ebenso ihr Vater und ihre Mutter und jedes einzelne Dienstmädchen im Hause, wie sie dort in der Eingangshalle standen und knicksten und lächelten, um ihre junge Herrin zu begrüßen.

Sie können sicher sein, dass sie Rebecca jedes Zimmer im Haus zeigte und jedes ihrer Schubfächer und alles darin und ihre Bücher und ihr Klavier und ihre Kleider und alle ihre Halsketten, Broschen, Bänder und Schmuckstücke; sie bestand darauf, dass Rebecca den weißen Karneol und die Türkisringe und ein niedliches geblümtes Musselinkleid annehme, das ihr zu klein geworden, ihrer Freundin aber auf den Leib geschnitten sei; und insgeheim beschloss sie, ihre Mutter um Erlaubnis zu bitten, ob sie ihrer Freundin ihr weißes Kaschmirtuch schenken dürfe. Konnte sie es nicht entbehren? Und hatte nicht ihr Bruder Joseph soeben zwei davon aus Indien mitgebracht?

Als Rebecca die beiden prächtigen Kaschmirtücher sah, die Joseph Sedley seiner Schwester mitgebracht hatte, meinte sie ganz aufrichtig, es müsse herrlich sein, einen Bruder zu haben, und gewann mühelos das Mitleid der zartfühlenden Amelia, weil sie doch ganz allein auf der Welt war, ein Waisenkind ohne Freundinnen oder Verwandte.

»Nicht ganz allein«, sagte Amelia. »Weißt du, Rebecca, ich werde dir immer eine Freundin sein und dich lieben wie eine Schwester – ja, das werde ich.«

»Ach, aber Eltern zu haben, wie du sie hast – gütige, wohlhabende, zärtliche Eltern, die dir alles schenken, worum du sie bittest, und ihre Liebe, die kostbarer ist als alles andere! Mein armer Papa konnte mir nichts schenken, und alles, was ich auf der Welt besaß, waren zwei Kittel! Und dann noch einen Bruder zu haben – einen lieben Bruder! Oh, wie sehr musst du ihn lieben!«

Amelia lachte.

»Was? Liebst du ihn denn nicht? Du, die du behauptest, dass du jeden liebst?«

»Doch, natürlich tu ich das – nur …«

»Nur was?«

»Nur scheint sich Joseph wenig darum zu kümmern, ob ich ihn liebe oder nicht. Als er nach zehnjähriger Abwesenheit zurückkam, hat er mir zur Begrüßung nur zwei Finger hingestreckt! Er ist sehr freundlich und gütig, spricht aber kaum ein Wort mit mir; ich glaube, seine Pfeife liebt er mehr als seine …« Doch an dieser Stelle hielt Amelia sich im Zaum, denn warum sollte sie schlecht von ihrem Bruder sprechen? »Als ich noch klein war, war er sehr lieb zu mir«, setzte sie hinzu. »Als er wegging, war ich erst fünf Jahre alt.«

»Ist er nicht sehr reich?«, fragte Rebecca. »Es heißt, alle indischen Nabobs seien ungeheuer reich.«

»Ich glaube, er verfügt über ein sehr hohes Einkommen.«

»Und ist deine Schwägerin eine nette, hübsche Frau?«

»Ha! Joseph ist nicht verheiratet«, sagte Amelia und lachte erneut.

Vielleicht hatte sie diesen Umstand Rebecca gegenüber bereits erwähnt, doch die junge Dame schien sich nicht daran zu erinnern – tatsächlich behauptete und beteuerte sie, sie habe erwartet, eine Anzahl von Amelias Neffen und Nichten zu sehen. Sie war sehr enttäuscht, dass Mr Sedley unverheiratet war; sie war überzeugt, dass Amelia gesagt hatte, er sei verheiratet, und in kleine Kinder war sie ganz vernarrt.

»Ich dachte, von denen hättest du in Chiswick genug gehabt«, sagte Amelia, ziemlich verwundert über die plötzliche Zärtlichkeit ihrer Freundin – und in der Tat sollte sich Miss Sharp nie wieder zu Äußerungen hinreißen lassen, deren Unwahrheit so leicht entlarvt werden konnte. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass sie erst neunzehn ist – ungeübt in der Kunst der Verstellung, das arme unschuldsvolle Geschöpf! Und eben erst dabei, eigene Erfahrungen zu sammeln. In die Gedankenwelt dieser erfindungsreichen jungen Frau übersetzt, bedeuteten die obigen Fragen ganz einfach dies: »Wenn Joseph Sedley reich und unverheiratet ist, weshalb sollte nicht ich ihn heiraten? Gewiss, ich habe nur vierzehn Tage Zeit, aber ein Versuch schadet nichts.« Und sie fasste den Entschluss, den löblichen Versuch zu wagen. Sie verdoppelte ihre Zärtlichkeit Amelia gegenüber, küsste das weiße Karneolhalsband, als sie es anlegte, und schwor, sich nie, nie, nie von ihm zu trennen. Als die Glocke zum Abendessen läutete, legte sie auf dem Weg die Treppe hinab den Arm um die Taille ihrer Freundin, wie es der Gewohnheit junger Damen entspricht. Vor der Tür zum Salon war sie so aufgeregt, dass sie kaum den Mut fand, einzutreten. »Fühle mein Herz, wie es klopft, meine Liebe!«, sagte sie zu ihrer Freundin.

»Nein, tut es nicht«, sagte Amelia. »Komm herein, hab keine Angst. Papa wird dir nichts tun.«

Drittes Kapitel

Rebecca im Angesicht des Feindes

Ein sehr beleibter, aufgedunsener Mann in Hirschlederhose und Reitstiefeln, mit mehreren gewaltigen Halstüchern, die ihm fast bis zur Nase reichten, rotgestreifter Weste und apfelgrünem Mantel mit Stahlknöpfen von der Größe einer Crown-Münze (die Morgenkleidung eines Dandys oder Stutzers jener Tage) las am Kaminfeuer gerade Zeitung, als die beiden Mädchen eintraten – und sprang bei dieser Erscheinung aus seinem Sessel, errötete übermäßig und verbarg sein Gesicht fast ganz in seinen Halstüchern.

»Es ist doch nur deine Schwester, Joseph«, sagte Amelia lachend und schüttelte die beiden Finger, die er ihr hinhielt. »Ich bin für immer nach Hause gekommen, weißt du, und das ist meine Freundin Miss Sharp, von der ich dir bereits erzählt habe.«

»Nein, nie, auf mein Wort«, sprach der unter den Halstüchern heftig zitternde Kopf, »das heißt, doch – was für ein abscheulich kaltes Wetter, Miss –«, und er ging dazu über, mit aller Kraft das Feuer zu schüren, obwohl es Mitte Juni war.

»Er sieht sehr gut aus«, flüsterte Rebecca Amelia unüberhörbar zu.

»Findest du?«, fragte Letztere. »Ich werde es ihm sagen.«

»Liebste! Nicht um alles in der Welt«, sagte Miss Sharp und wich zurück, scheu wie ein Rehkitz. Zuvor hatte sie einen ehrerbietigen jungfräulichen Knicks vor dem Gentleman gemacht, und ihre züchtigen Augen blickten so beharrlich auf den Teppich, dass es ein Wunder war, wie sie Gelegenheit gefunden hatte, Joseph überhaupt wahrzunehmen.

»Danke für die wunderschönen Tücher, Bruder«, sagte Amelia zu dem Feuerschürer. »Sind sie nicht wunderschön, Rebecca?«

»Oh, himmlisch!«, sagte Miss Sharp, und ihre Augen wanderten vom Teppich geradewegs zum Lüster empor.

Joseph hantierte weiter laut klappernd mit Schürhaken und Feuerzange, wobei er keuchte und schnaufte und so rot anlief, wie sein gelbliches Gesicht es erlaubte. »So hübsche Geschenke kann ich dir nicht machen, Joseph«, fuhr seine Schwester fort, »aber als ich auf der Schule war, habe ich ein sehr schönes Paar Hosenträger für dich bestickt.«

»Guter Gott! Amelia«, rief der Bruder ernsthaft beunruhigt, »was meinst du?«, und betätigte so heftig den Klingelzug, dass dieser Einrichtungsgegenstand abriss und in seiner Hand hängen blieb, was die Verwirrung des braven Burschen nur noch steigerte. »Um Himmels willen, sieh nach, ob mein Buggy vor der Tür steht. Ich kann nicht warten. Ich muss fort. Dieser verd—— Stallknecht. Ich muss fort.«

In diesem Augenblick trat, begleitet von seiner Ehefrau, der Vater der Familie ein und klimperte wie ein echter britischer Kaufmann mit seinen Petschaften. »Was ist, Emmy?«, fragte er.

»Joseph möchte, dass ich nachschaue, ob sein – sein Buggy vor der Tür steht. Was ist ein Buggy, Papa?«

»Eine einspännige Sänfte«, sagte der alte Herr, der auf seine Art ein Schalk war.

Bei diesen Worten brach Joseph in wildes Gelächter aus; als er jedoch Miss Sharps Blick auffing, hörte er so abrupt auf, als habe ihn ein Schuss getroffen.

»Diese junge Dame ist deine Freundin? Miss Sharp, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Haben Sie und Emmy mit Joseph denn schon so gestritten, dass er unbedingt fortwill?«

»Ich habe Bonamy aus unserer Abteilung versprochen, mit ihm zu dinieren, Sir«, sagte Joseph.

»Pfui! Hast du nicht zu deiner Mutter gesagt, du würdest hier dinieren?«

»Aber in diesem Aufzug ist das unmöglich.«

»Schauen Sie ihn an, ist er nicht ansehnlich genug, um überall zu dinieren, Miss Sharp?«

Woraufhin Miss Sharp natürlich ihre Freundin anschaute und beide zur großen Freude des alten Herrn in lautes Gelächter ausbrachen.

»Haben Sie bei Miss Pinkerton jemals solche Hirschlederhosen gesehen?«, fuhr er seinen Vorteil nutzend fort.

»Gütiger Himmel! Vater!«, rief Joseph.

»Da haben wir’s – ich habe ihn gekränkt. Mrs Sedley, meine Liebe, ich habe deinen Sohn gekränkt. Ich habe über seine Lederhose gelästert. Frag Miss Sharp, ob es nicht zutrifft. Komm, Joseph, vertrag dich mit Miss Sharp, und lasst uns alle zu Tisch gehen.«

»Es gibt Pilaw, Joseph, genau wie du ihn magst; und Papa hat den besten Steinbutt vom Billingsgater Markt mitgebracht«, sagte Mrs Sedley.

»Komm, komm, Sir, geh mit Miss Sharp nach unten, und ich folge mit diesen beiden jungen Damen«, sagte der Vater, reichte seiner Frau und seiner Tochter den Arm und ging fröhlich davon.

 

Falls Miss Rebecca Sharp es sich in den Kopf gesetzt hatte, diesen stattlichen Beau zu erobern, glaube ich nicht, meine Damen, dass wir das Recht dazu haben, sie zu tadeln; denn obwohl die Jagd nach einem Ehegatten eine Aufgabe ist, die junge Frauen gewöhnlich, und mit dem gebührenden Anstand, ihren Mamas anvertrauen, dürfen Sie nicht vergessen, dass Miss Sharp keine gütigen Eltern hatte, die diese heikle Angelegenheit für sie hätten arrangieren können, und dass es, wenn sie nicht selbst einen Ehemann auftreiben konnte, in der weiten Welt niemanden sonst gab, der ihr die Mühe abnehmen würde. Was außer dem edlen Streben nach dem Ehestand bringt junge Weibspersonen dazu, zu »debütieren«? Was lockt sie in Scharen in Kurorte, was lässt sie eine endlose Saison hindurch bis fünf Uhr morgens tanzen, was bringt sie dazu, sich mit Klaviersonaten zu quälen und für eine Guinee pro Stunde bei einem mondänen Lehrer vier Lieder zu erlernen und, falls sie wohlgeformte Arme und hübsche Ellbogen haben, die Harfe zu spielen oder dunkelgrüne Jagdhüte mit Federn zu tragen, außer um mit ihrem tödlichen Pfeil und Bogen einen »begehrenswerten« jungen Mann zu erlegen? Was bringt ehrbare Eltern dazu, ihre Teppiche einzurollen, ihre Häuser auf den Kopf zu stellen und ein Fünftel ihres Jahreseinkommens für Ballsoupers und eisgekühlten Champagner auszugeben? Ist es die schiere Liebe zu ihrer Spezies und der ungetrübte Wunsch, junge Leute beim Tanz glücklich zu sehen? Pah! Sie wollen ihre Töchter verheiraten; und so, wie die ehrliche Mrs Sedley aus den Tiefen ihres gütigen Herzens heraus bereits eine erkleckliche Anzahl kleiner Pläne vorbereitet hatte, um ihre Tochter Amelia unter die Haube zu bringen, so war unsere geliebte, aber schutzlose Rebecca entschlossen, ihr Bestes zu tun, um einen Mann zu erobern, einen Mann, den sie noch dringender benötigte als ihre Freundin. Sie besaß eine lebhafte Phantasie; außerdem hatte sie Tausendundeine Nacht und Guthries New Geographical, Historical, and Commercial Grammar gelesen; und in der Tat hatte sie sich, nachdem sie Amelia gefragt hatte, ob ihr Bruder sehr reich sei, und während sie sich für das Diner ankleidete, ein höchst luxuriöses Luftschloss erbaut, dessen Herrin sie war, mit einem Gatten irgendwo im Hintergrund (noch hatte sie ihn nicht gesehen, daher war seine Gestalt noch recht unbestimmt). Sie hatte sich mit einer Unmenge Tüchern, Turbanen und Diamanthalsketten herausgeputzt und zu den Klängen des Marsches aus Blaubart einen Elefanten bestiegen, um dem Großmogul einen zeremoniellen Besuch abzustatten. Alnaschars bezaubernde Visionen! Es ist das glückliche Vorrecht der Jugend, euch zu entwerfen, und schon vor Rebecca Sharp hat sich so manches überspannte junge Geschöpf derart entzückenden Tagträumen hingegeben!

Joseph Sedley war zwölf Jahre älter als seine Schwester Amelia. Er stand im Dienst der Britischen Ostindien-Kompanie, und in dem Zeitraum, über den wir schreiben, tauchte sein Name im bengalischen Teil des Ostindienregisters als Steuereinnehmer für Boggley Wollah auf – wie jedermann weiß, ein ehrenvoller und lukrativer Posten. Um zu erfahren, in welch höhere Positionen Joseph im Dienst aufstieg, verweisen wir den Leser auf die nämliche Publikation.

Boggley Wollah liegt in einer schönen, abgeschiedenen, sumpfigen Dschungelgegend, berühmt für die Schnepfenjagd und wo man nicht selten einen Tiger aufstört. Ramgunge, Sitz einer Verwaltungsbehörde, ist nur vierzig Meilen entfernt, und dreißig Meilen weiter befindet sich ein Kavalleriestützpunkt – so schrieb Joseph, als er seine Stelle als Steuereinnehmer antrat, seinen Eltern nach Hause. Ungefähr acht Jahre seines Lebens hatte er ganz allein an diesem reizenden Ort verbracht, wo er kaum je ein christliches Gesicht sah, außer zweimal im Jahr, wenn eine Militäreinheit eintraf, um die Einnahmen, die er erzielt hatte, nach Kalkutta zu bringen.

Glücklicherweise zog er sich in dieser Zeit ein Leberleiden zu, für dessen Behandlung er nach Europa zurückkehrte und das ihm in seinem Geburtsland ein Quell großer Tröstung und Kurzweil wurde. In London wohnte er nicht etwa bei seiner Familie, sondern bezog wie ein lustiger Junggeselle eine eigene Unterkunft. Vor seinem Aufbruch nach Indien war er zu jung gewesen, um sich den köstlichen Vergnügungen eines Lebemannes zu widmen, und nach seiner Rückkehr holte er diese mit beträchtlichem Eifer nach. Er lenkte sein Gespann durch den Hyde Park, er speiste in vornehmen Gasthäusern (denn den Oriental Club gab es noch nicht), er frequentierte die Theater, wie es zu jener Zeit Mode war, oder ließ sich in der Oper blicken, aufwändig gekleidet mit Pantalons und Dreispitz.

Seit seiner Rückkehr nach Indien erzählte er stets mit großer Begeisterung von seinen Vergnügungen in dieser Phase seines Lebens und gab jedem zu verstehen, er und Beau Brummel seien die führenden Stutzer des Tages gewesen. Doch war er hier ebenso einsam wie in seinem Dschungel in Boggley Wollah. In der Metropole kannte er kaum eine Menschenseele; und wäre da nicht sein Arzt gewesen und die Gesellschaft seiner Pilula hydrargyri und seines Leberleidens, er wäre vor Einsamkeit gestorben. Er war faul, mürrisch und ein Bonvivant; das Erscheinen einer Dame jagte ihm Furcht und Schrecken ein – deshalb geschah es nur selten, dass er sich in der väterlichen Runde am Russell Square aufhielt, wo es meist sehr fröhlich zuging und wo die Scherze seines gutmütigen alten Vaters seine amour propre6 ängstigte. Seine Leibesfülle bereitete Joseph größte Angst und Sorge – hin und wieder nahm er verzweifelt Anlauf, sein überschüssiges Fett loszuwerden, doch seine Trägheit und seine Liebe zum Wohlleben vereitelten diese Reformbemühungen rasch, und er endete wieder bei seinen drei Mahlzeiten am Tag. Gut gekleidet war er nie, verwandte jedoch ungeheuren Fleiß darauf, seine umfangreiche Person zu schmücken, und verbrachte mit dieser Beschäftigung täglich viele Stunden. Sein Hausdiener machte mit seiner Garderobe ein Vermögen. Sein Toilettentisch war von so vielen Pomaden und Parfüms bedeckt, wie man sie nur bei einer alternden Schönheit antrifft. Um sich zu einer Taille zu verhelfen, hatte er alle damals erfundenen Gurte, Korsetts und Leibbinden ausprobiert. Wie die meisten fettleibigen Männer ließ er seine Kleider zu eng schneidern und achtete auf die leuchtendsten Farben und den jugendlichsten Schnitt. War er nachmittags endlich angekleidet, brach er zu einer Spazierfahrt durch den Park mit niemandem auf und kam dann zurück, um sich umzuziehen und im Piazza Coffee House mit niemandem zu dinieren. Er war eitel wie ein Mädchen; und vielleicht war seine extreme Menschenscheu eine der Folgen seiner extremen Eitelkeit. Falls Miss Rebecca ihn erobern kann, und das gleich bei ihrem Debüt im gesellschaftlichen Leben, so muss sie ein junger Mensch von außergewöhnlicher Schläue sein.

Ihr erster Schachzug bewies erhebliches Geschick. Als sie Sedley einen sehr gut aussehenden Mann nannte, wusste sie, dass Amelia es ihrer Mutter weitererzählen würde, die es vermutlich Joseph weitererzählen oder sich zumindest über das Kompliment freuen würde, das ihrem Sohn gemacht worden war. Das tun alle Mütter. Hätten Sie Sycorax gesagt, ihr Sohn Caliban sei so schön wie Apoll, sie hätte sich gefreut, sogar als die Hexe, die sie war. Vielleicht hatte Joseph Sedley das Kompliment ja auch selbst gehört: Rebecca hatte laut genug gesprochen, und er hatte es tatsächlich gehört, und zuinnerst überzeugt, dass er ein sehr schöner Mann sei, durchströmte das Lob jede Faser seines gewaltigen Leibes, und er verspürte ein freudiges Kribbeln. Dann allerdings kam der Rückschlag. »Hält mich das Mädchen etwa zum Besten?«, dachte er, stürzte schnurstracks zum Klingelzug und wollte sich, wie wir gesehen haben, entfernen, bis die Scherze seines Vaters und die flehentlichen Bitten seiner Mutter ihn bewogen, innezuhalten und zu bleiben. In zweifelnder und aufgewühlter Stimmung geleitete er die junge Dame hinunter zum Diner. »Glaubt sie wirklich, dass ich schön bin«, fragte er sich, »oder treibt sie nur ihr Spiel mit mir?« Wir haben davon gesprochen, dass Joseph Sedley eitel war wie ein Mädchen – der Himmel hilf! Die Mädchen brauchen den Spieß doch nur umzudrehen und von einer ihrer Geschlechtsgenossinnen zu sagen: »Sie ist eitel wie ein Mann«, sie hätten allen Grund dazu. Bärtige Wesen sind ebenso begierig auf Lob, ebenso wählerisch bei ihrer Toilette, ebenso stolz auf ihre persönlichen Vorzüge, sich ihrer Anziehungskraft ebenso bewusst wie nur irgendeine Kokette dieser Welt.

So gingen sie denn nach unten – Joseph sehr rot im Gesicht, Rebecca sehr sittsam, die grünen Augen zu Boden geschlagen. Sie war ganz in Weiß gekleidet, die bloßen Schultern weiß wie Schnee – Inbegriff sanfter, schutzloser Unschuld und demütiger jungfräulicher Schlichtheit. »Ich muss ganz ruhig sein«, dachte Rebecca, »und starkes Interesse an Indien zeigen.«

Nun haben wir bereits gehört, dass Mrs Sedley für ihren Sohn ein wunderbares Currygericht, ganz wie er es liebte, zubereitet hatte; und im Verlauf des Diners wurde Rebecca eine Portion dieser Speise angeboten. »Was ist das?«, fragte sie und warf Mr Joseph einen flehentlichen Blick zu.

»Ganz kapital«, sagte er – sein Mund war voll davon, sein Gesicht vom wonnevollen Genuss des Hinunterschlingens stark gerötet. »Mutter, es ist genauso gut wie meine eigenen Currys in Indien.«

»Oh, wenn es ein indisches Gericht ist, muss ich davon kosten«, sagte Miss Rebecca. »Ich bin sicher, alles, was da herkommt, muss gut sein.«

»Gib Miss Sharp etwas Curry, meine Liebe«, sagte Mr Sedley lachend.

Rebecca hatte das Gericht noch nie probiert.

»Finden Sie es so gut wie alles andere aus Indien?«, fragte Mr Sedley.

»Oh, ausgezeichnet!«, sagte Rebecca, die vom Cayennepfeffer Höllenqualen litt.

»Versuchen Sie eine Chili dazu«, sagte Joseph ernsthaft interessiert.

»Eine Chili«, sagte Rebecca, nach Luft schnappend. »O ja!« Sie glaubte, Chili sei, wie schon der Gleichklang mit chill vermuten ließ, etwas Kühlendes, und bekam einige Chilischoten auf den Teller. »Wie frisch und grün sie aussehen!«, sagte sie und nahm eine davon in den Mund. Sie war schärfer als das Currygericht; Fleisch und Blut konnten es nicht länger ertragen. Sie legte die Gabel ab. »Wasser, um Himmels willen Wasser!«, rief sie. Mr Sedley brach in Gelächter aus (er war ein ungeschliffener Mann, an der Börse tätig, wo man lustige Streiche liebte). »Die kommen tatsächlich aus Indien, das kann ich Ihnen versichern«, sagte er. »Sambo, bring Miss Sharp etwas Wasser.«

Joseph, der den Scherz großartig fand, stimmte in das väterliche Gelächter ein. Die Damen lächelten nur verhalten. Sie fanden, dass die arme Rebecca zu sehr litt. Diese hätte den alten Sedley am liebsten erwürgt, schluckte die Kränkung jedoch ebenso hinunter wie zuvor das abscheuliche Currygericht, und sobald sie wieder sprechen konnte, sagte sie mit drolliger, gutgelaunter Miene:

»Ich hätte an den Pfeffer denken sollen, den die Prinzessin von Persien aus Tausendundeine Nacht in die Sahnetörtchen streut. Streut man in Indien Cayennepfeffer in die Sahnetörtchen, Sir?«