11,99 €
Sie sucht ein neues Zuhause … … und findet Geheimnisse. Es ist schon fast Nacht, als Jane in Thornfield ankommt. Es nieselt, aber die Wolken reißen auf und der Mond erhellt für einen Moment das alte Schloss. Das hier ist also ihr neues Zuhause: Jane soll sich als Au-Pair um Audrey, die kleine Tochter der Branwells, kümmern. Leider scheint Audreys älterer Bruder Liam irgendein Problem zu haben. Und wo sind eigentlich die Eltern der beiden? Als plötzlich auch noch Seerosen im Ballsaal blühen, fragt sich Jane: Gibt es noch mehr Geheimnisse auf Branwell Hall? Zauberhaftes Retelling des Klassikers Eine moderne Jane Eyre trifft auf das geheime Volk der Fae. Charlotte Brontes Klassiker, fantastisch neu interpretiert als fesselnde Fantasy Romance. Wie in ihren vorherigen Büchern Emma und das vergessene Buch und Die Buchspringer entführt Mechthild Gläserin eine Welt voller Fantasy mit literarischem Hintergrund.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 386
Inhaltsverzeichnis
Seit vielen Jahrhunderten …
1 Thornfield
2 Neue Heimat
3 Branwell Hall
4 Der Fremde im Wald
5 Mr Branwell
6 Zerbrochene Spiegel
7 Wunschbaum
8 Seerosen
9 Unerwartete Besucher
10 Sommertag
11 Hirschkönig
12 Bibliothek
13 Niall
14 Limerick
15 Angriff
16 Labyrinth
17 Fae-Handel
18 In den Hügeln
19 Zu Hause
Seit vielen Jahrhunderten erzählte man sich in Thornfield die alten Geschichten. Von den Hügeln und ihren seltsamen Bewohnern. Von den Krähen, vor denen man sich besser in Acht nehmen sollte. Und manchmal, in besonders stürmischen Nächten, so hieß es, stimmte sogar der Wind in den Baumkronen mit ein und die Blätter wisperten von jenem mächtigen Hirsch, den bei Tageslicht niemand zu erwähnen wagte. Aber natürlich waren das alles nur Märchen.
1
Thornfield
Bei jedem Halt stiegen Leute aus, jedoch kaum jemand ein. Als der Busfahrer sein Gefährt schließlich die steile Küstenstraße nach Thornfield hinauflenkte, war ich tatsächlich die einzig verbliebene Reisende.
Nicht einmal den Regen schien es in diese Einöde zu ziehen, er hatte sich in ein Nieseln verwandelt. Dafür beschien der Mond für einen Moment ein Schloss, das auf einer Anhöhe thronte und dessen Zinnen sich schwarz vor dem Nachthimmel abhoben. Dann kam die letzte Biegung und dahinter lag das Dorf.
Der Bus hielt bei der verwitterten Kirche im Zentrum des Orts, und sobald ich in meinen nassen Klamotten in die Abendluft hinaustrat, begann ich zu zittern. Dennoch hatte ich es nicht eilig. Jetzt nicht mehr.
Ich lehnte den Koffer an die niedrige Mauer des Kirchhofs, hinter welcher sich ein Gräberfeld voller bemooster Steinkreuze erstreckte, und atmete tief durch. Der irische Wind zerrte an meinen Kleidern und schmeckte leicht salzig. Aus der Ferne drang außerdem ein Grollen an mein Ohr. Waren das Wellen, die sich an Klippen brachen? Ich seufzte. Auch das Meer würde ich also in Kürze zum allerersten Mal sehen.
Thornfield.
Selbst die Dunkelheit der Nacht hatte hier etwas Beruhigendes an sich. Der stumme Kirchturm schien wohlwollend auf mich hinabzublicken. Irgendwo krächzte eine Krähe zur Begrüßung.
Ich war zu Hause. Endlich!
Wobei, noch nicht ganz.
Der Waldweg musste irgendwo am Rande des Dorfs beginnen. Nur wo? Ich tippte »Bell Cottage« in die Navigationsapp meines Handys, wie ich es in Düsseldorf schon gefühlt eine Million Mal in den letzten Monaten getan hatte, und wartete.
Bloß blieb der Bildschirm heute reglos. Verdammt. Ich hatte keinen Empfang.
Mein Blick schweifte die menschenleere Straße entlang. Es war schon spät und hinter den Schaufenstern der wenigen Geschäfte herrschte Finsternis. Lediglich aus einem gedrungenen Bau am Ende der Häuserreihe sickerte ein gelbliches Schimmern. »O’Connor’s« stand in keltisch stilisierter Schrift über der Tür. Also gut.
Im Inneren des Pubs war es warm und stickig. Zwei ältere Männer saßen an der Bar und spielten Karten, an einem Tisch in der Ecke hockte eine Frau und löffelte Eintopf. Aus dem Radio drang Folkmusik und ein Mädchen mit pink gefärbtem Pferdeschwanz, das in etwa mein Alter haben musste, summte leise mit, während es ein Tablett mit schmutzigen Gläsern durch den Raum balancierte. Als die Kellnerin meinen Koffer und mich entdeckte, verstummte sie jedoch und lächelte stattdessen entschuldigend. »Tut mir leid, wir schließen in fünf Minuten.«
»Schon gut, ich wollte sowieso nur fragen, in welche Richtung es zum Bell Cottage geht«, erklärte ich.
»Bell Cottage?«, wiederholte sie und hob eine gepiercte Braue. »Was willst du denn da? Einen Exorzismus durchführen?«
»Ich dachte mehr ans Übernachten.«
»Ha, ha«, entfuhr es dem Mädchen, als hätte ich einen schlechten Scherz gemacht. »Typisch Touristin. Von wo kommst du denn? Nein, warte, sag nichts. Dein Akzent … Bist du Niederländerin?«
»Deutschland«, sagte ich. »Aber gebürtig stamme ich eigentlich aus der Ge…«
Sie ließ mich nicht ausreden. »Also gut, einen Kaffee kann ich dir machen. Und den Rest vom Stew wärme ich auch noch einmal auf. Aber dafür hilfst du mir dann später beim Abwischen der Tische, Deal?«
»Äh«, begann ich.
»Perfekt. Ich bin übrigens Abbie.«
»Jane«, stellte ich mich vor.
»Cool. Setz dich, ich komme gleich zurück.« Sie verschwand mitsamt ihrem Tablett durch eine schmale Tür hinter dem Tresen.
Überrumpelt trat ich noch für einen Moment von einem Fuß auf den anderen. Dann siegten Müdigkeit und Hunger. Denn wenn ich es so recht überlegte, hatte ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen. Am Flughafen in Limerick war ich viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, im strömenden Regen das richtige Busterminal zu finden. Doch nun ließ die Aussicht auf eine heiße Suppe meinen Magen jubilieren.
Den Koffer bugsierte ich daher kurzerhand in die Ecke neben der Garderobe. Dann ließ ich mich an einem Tisch in der Nähe nieder und pellte mich aus der nassen Jeansjacke. Unterdessen packten die Männer an der Bar das Kartenspiel zusammen und leerten ihre Pints.
»Gute Nacht, Abbie«, rief der Kleinere von beiden und erhielt darauf eine unverständliche Antwort aus den Tiefen der Küche.
»Mollie.« Der andere nickte der Frau mit dem Eintopf zu.
»Steve«, grummelte diese. »Jeremiah.«
Die Männer verließen den Pub.
Mollie starrte noch ein oder zwei Minuten auf die Tischplatte. Dann erhob sie sich ebenfalls und schlüpfte in eine bunt gemusterte Strickjacke. »Von dem Cottage halt dich besser fern, Kleine«, sagte sie im Vorbeigehen und ohne mich anzusehen.
Einen Herzschlag später war ich allein.
Okay, ich entnahm aus alldem, dass das Haus meiner Großmutter offenbar in keinem allzu guten Zustand war. Möglicherweise würde ich mehr renovieren müssen, als ich gehofft hatte. Natürlich hatte der Anwalt, der mir vor ein paar Monaten zu meinem achtzehnten Geburtstag mein Erbe eröffnet hatte, erwähnt, dass das Gebäude seit Jahren leer stand. Dennoch …
»Vorsicht, heiß!« Abbie stellte eine dampfende Schüssel vor mir ab. Darin schwamm eine köstliche Mischung aus Kartoffeln, Möhren, Weißkohl und Quinoa. Ein himmlischer Duft nach Thymian, Lorbeer und Guinness stieg mir in die Nase. »Danke schön«, sagte ich.
Abbie grinste. »Na, so was, du kannst ja sogar lächeln.«
Während ich zu essen begann (der Eintopf schmeckte sogar noch besser, als er roch), brachte Abbie den versprochenen Kaffee und goss sich ebenfalls eine Tasse ein. Dann zog sie einen weiteren Stuhl heran und streckte die Füße aus. »Ah, das tut gut. Donnerstags morgens kommen hier immer die Lieferungen. Deshalb bin ich seit sechs Uhr früh auf den Beinen.«
»Oh, das klingt anstrengend.«
»Yep. Aber dafür sind die Vorräte fürs Wochenende nun aufgefüllt.« Sie pustete sich eine pinkfarbene Ponyfranse aus der Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr helles Shirt extrem tief ausgeschnitten war. Von ihrem rechten Schlüsselbein nach unten zog sich eine Tätowierung über die Haut. Schriftzeichen, die ich nicht entziffern konnte. Außerdem wollte ich nicht unhöflich sein und zu sehr dorthin starren.
Ich wandte meinen Blick wieder ihrem Gesicht zu. »Danke«, sagte ich noch einmal. »Ich habe heute auch schon einen langen Tag hinter mir. Deshalb wäre es wirklich nett, wenn du mir den Weg zum Cottage erklären könntest. Natürlich nachdem ich dir mit den Tischen geholfen habe.«
Abbie musterte mich über den Rand ihrer Tasse hinweg. »Du kannst dort nicht schlafen, Jane, glaub mir. Ich weiß nicht, was das Internet oder wer dir darüber erzählt hat. Aber ich hoffe, du hast nicht zu viel für die Übernachtung bezahlt. Man hat dich nämlich definitiv abgezockt. Das Ding hat nicht einmal mehr ein Dach. Und nachts wagt sich sowieso niemand in die Hügel hinaus.«
»Wieso das denn nicht?« Gab es hier etwa wilde Tiere? Wölfe vielleicht?
Doch statt zu antworten, zuckte Abbie lediglich mit den Schultern. Wieder beobachtete sie mich. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihre vollen Züge. »Dein Haar ist ziemlich ungewöhnlich. So fein und zart. Fast wie man es dem Kleinen Volk nachsagt.«
»Ähm.« Verlegen versuchte ich, mit den Händen etwas Ordnung in meinen vom Wetter zerstörten Pixiecut zu bringen.
»Mhm.« Nun betrachtete sie die noch immer triefnasse Jeansjacke auf der Stuhllehne hinter mir und anschließend meinen Koffer. Ihr Blick blieb an der aufgeklebten Mondmotte hängen, von der ich hoffte, dass sie das verkratzte Gepäckstück, das ich in einem Diakonieladen erstanden hatte, etwas weniger schäbig wirken ließ. »Ich mag Nachtfalter«, sagte Abbie und deutete auf den Sticker. »Und der sieht cool aus. Ziemlich echt.«
»Danke, hab ich selbst gemacht.«
»Wow.« Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. Wieder schien sie eine Weile lang nachzudenken. Sie wiegte den Kopf hin und her, dann traf sie offenbar eine Entscheidung und nickte. »Also gut, der Plan ist folgender: Heute Nacht schläfst du auf meiner Couch«, informierte sie mich in einem Ton, der keine Widerrede erlaubte. »Morgen suchen wir dir dann eine geeignete Unterkunft.«
»Oh, äh …«
»Wie lange hast du denn vor zu bleiben? Eine Woche? Zwei? Oder bist du auf der Durchreise? Die Küste entlang? Sprachreise? Work and Travel?«
»Au-pair«, sagte ich, als sie Luft holte und mir so endlich die Chance gab, zu Wort zu kommen. »Montag fange ich an. Die Familie heißt Branwell und müsste auch irgendwo hier in Thornfield …«
Abbies Augen weiteten sich »Oh. Mein. Gott!«, rief sie, wobei sie jedes Wort einzeln betonte. »Warum sagst du das denn nicht gleich?«
»Na ja …«
»Perfekt, perfekt, perfekt«, murmelte Abbie und strahlte mich an. »Dann wirst du also eine Weile hier sein. In diesem Fall: Herzlich willkommen in Thornfield, Jane aus Deutschland.« Sie schüttelte mir die Hand, in welcher ich noch immer den Suppenlöffel hielt. »Ich bin Abbie O’Connor und führe diesen Pub in fünfter Generation. Falls die Branwells dich nerven, zeige ich dir gern den Geheimgang in ihren Weinkeller und – Oh, warte, kennst du die Familie überhaupt schon?«
Ich schüttelte den Kopf. »Die Bewerbung lief über eine MrsFairfax.«
»Klar. Verstehe. Natürlich hat Olivia das geregelt.«
»Wie meinst du das?«
Abbie klatschte in die Hände. »Also gut, iss deine Suppe. Wir haben hier noch einiges zu tun und ich bin echt müde.«
Gehorsam löffelte ich weiter. Zwar hätte ich Abbie gerne noch ein bisschen ausgefragt über das Cottage und natürlich auch meine zukünftigen Arbeitgeber. Aber sie schien tatsächlich kurz davor, jeden Moment auf ihrem Stuhl einzunicken. Also gut, dann eben nicht. Es war nett von ihr, mir einen Schlafplatz anzubieten, obwohl sie mich ja überhaupt nicht kannte.
Ein paar Minuten später reichte Abbie mir einen feuchten Lappen. Während sie den Spiegel über der Bar polierte und anschließend in der Küche mit Gläsern und Töpfen klapperte, kümmerte ich mich, wie abgemacht, um die Tische sowie den Tresen.
Das Holz der Möbel war alt und abgenutzt und fühlte sich beinahe weich unter meinen Händen an. Die Zeit hatte Ecken und Kanten rund geschliffen, Maserung, Kerben und Glasabdrücke bildeten geheimnisvolle Symbole. Und der Dielenboden knarzte unter meinen Füßen, als wollte er mir all die Geschichten zuraunen, die sich unter den fünf Generationen der O’Connors in diesem Raum zugetragen hatten. Wieder überkam mich dieses Gefühl, am genau richtigen Ort zu sein. Als hätte ich diese Tische in meinen Träumen bereits Hunderte Male abgewischt.
Schließlich kehrte Abbie in den Gastraum zurück. Wir mussten noch die Stühle hochstellen und fegen, dann war es geschafft.
Abbie gähnte. »Danke«, sagte sie und sperrte die Tür mithilfe gleich mehrerer massiv wirkender Riegel ab. Gemeinsam wuchteten wir meinen Koffer die Treppe zur ersten Etage hinauf.
»Du meine Güte, was hast du da drin?«, ächzte Abbie, als wir bereits nach ein paar Stufen eine kurze Pause einlegen mussten.
Ich beugte mich vor und versuchte, eine der abgenutzten Rollen zu fassen zu kriegen, um das Gewicht besser auszubalancieren. »Na ja, genau genommen ist das alles, was ich besitze. Entschuldige«, erklärte ich und wich Abbies Blick aus. Verflucht! Das Ganze würde sehr viel besser klappen, wenn meine Arme etwas länger oder wenigstens nicht so schmächtig gewesen wären!
»Verstehe.« Wir setzten uns erneut in Bewegung. Die nächsten Stufen bewältigten wir glücklicherweise schon besser.
»Nee, tut mir leid, ich verstehs doch nicht«, platzte es aus Abbie heraus, als wir schließlich keuchend und schnaubend den obersten Treppenabsatz erreichten. »Du hast wirklich so richtig alles alles dabei? Weil, ich meine, als Au-pair bleibt man doch meistens nur ein paar Monate oder vielleicht maximal ein Jahr und dann –«
»Ja, aber ich gehe nicht wieder zurück nach Deutschland.« Nach all den Umzügen in meinem bisherigen Leben sollte dieser hier mein letzter sein. Das hatte ich mir geschworen.
Abbie legte die Stirn kraus. »Und deine Familie?«
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. Abbie sah mich einen Moment lang an. Dann nickte sie. »Okay«, sagte sie und kramte einen weiteren Schlüssel hervor. »Dann, ähm, komm doch erst mal rein.«
Sie öffnete die Tür und wir betraten eine kleine, äußerst altertümliche Wohnung. Zwar hatte ich nicht erwartet, ein flippiges Apartment voller Poster mit rosahaarigen Mangagestalten vorzufinden. Aber dass so gar nichts auf die junge Frau hindeutete, die hier oben lebte, überraschte mich schon ein bisschen.
Abbie führte mich durch einen mit orientalisch gemusterten Teppichen ausgelegten Flur vorbei an einer Standuhr, deren Pendel lautlos hin- und herschwang. Als Nächstes kamen wir in ein Wohnzimmer, vor dessen Kamin mehrere Sessel und ein Sofa mit geschnitzten Füßen und grünem Samtbezug standen. Auf einem Tischchen thronte eine Vase mit Trockenblumen auf einem vergilbten Häkeldeckchen.
»Das ist alles noch von meinem Grandpa«, sagte Abbie und deutete auf die Wand gegenüber, an welcher sich Stapel alter Zeitungen bis zur Decke hinauf türmten. »Er hat alles Mögliche gesammelt und ich schaffe es nicht, mich davon zu trennen. In meinem Zimmer stehen siebzehn Schachspiele und ich kenne nicht einmal die Regeln.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich schaue sie mir gern an, um mich an Grandpa zu erinnern. Er ist letztes Jahr gestorben.«
»Das tut mir leid.«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Du kannst es dir jedenfalls auf der Couch gemütlich machen. Das Bad ist da vorne. Ich bringe dir noch ein paar Laken und Kissen. Oh, und falls du durstig wirst, in der Küche steht Wasser, bediene dich gerne.«
Eine Viertelstunde später lag ich eingemummelt in eine warme Decke auf dem Samtsofa und konnte nicht fassen, wie gut es tat, sich auszustrecken. Endlich war ich also wieder trocken und satt. Meine Füße steckten in Wollsocken, die ich ganz unten in meinem Koffer gefunden hatte.
In Deutschland war der Mai bereits beinahe sommerlich warm gewesen, an manchen Tagen hatte ich im T-Shirt rausgehen können. Doch hier in Thornfield wehte ein rauer Wind von der See heran und die Nächte wurden noch empfindlich kalt. Abbie hatte sogar die Glut im Kamin noch einmal entfacht, bevor sie sich ins Zimmer nebenan zurückgezogen hatte. Zum Glück hatte ich auch Winterklamotten mitgenommen. Weil ich, wie gesagt, alles dabeihatte. Schließlich wollte ich bleiben, am besten für immer.
Ich lauschte auf das Knistern des Feuers, das mich langsam einlullte, während die flackernden Flammen die Schatten unter der Zimmerdecke zum Tanzen brachten. Normalerweise brauchte ich stets lange, um Ruhe zu finden. Dann warf ich mich in den Kissen herum und konnte einfach keine Position finden, die bequem genug war. Doch heute bereitete mir das Einschlafen keinerlei Probleme.
Die Aufregung, die Strapazen der Reise, die Ankunft in meiner neuen, meiner wahren Heimat, das alles hatte mich vollkommen erschöpft. Sowohl mein Körper als auch mein Geist genossen daher die dringend notwendige Erholung und nicht einmal die Vorfreude darauf, morgen endlich zu meinem Cottage hinauszuwandern, konnte mich noch wach halten. Wie von selbst glitt ich hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Lediglich ein einziges Mal schreckte ich in dieser ersten Nacht in Thornfield auf. Und zwar, weil plötzlich ein Poltern ertönte.
Weiter unten im Haus rumpelte und donnerte es, als würde jemand von außen an der verriegelten Tür rütteln. Um sie mit Gewalt zu öffnen. Es klang ziemlich wütend und mir lief ein Schauder über den Rücken. Wer wollte bloß so dringend hereinkommen? Und warum? Aber schon nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei.
Vielleicht hatte ich mir den Lärm auch bloß eingebildet? Hatte ich doch geträumt?
Noch bevor ich weiter über die seltsamen Geräusche nachdenken konnte, war ich auch schon wieder eingeschlafen.
Vor vielen Jahren lebte ein kleines Mädchen namens Katherine Bell in Thornfield und die Hütte im Wald war das einzige Zuhause, das es kannte.
Ein Zuhause mit windschiefem Dach und einem Ofen, der zuweilen furchtbar qualmte.
Auch lag das winzige Haus weit entfernt vom Dorf zwischen Bäumen und Farnen, wo Tage und Nächte einsam werden konnten.
2
Neue Heimat
Am nächsten Morgen lud Abbie mich zu einem ausgiebigen Frühstück ein. Wie sich herausstellte, liebte sie es zu kochen und servierte neben Porridge und gebackenen Bohnen auch ein fantastisches Omelett. Letzteres briet sie in einer mit Blümchenmuster verzierten Emaille-Pfanne aus einer weiteren Sammlung ihres Großvaters.
»Also«, begann sie, als wir schließlich satt und zufrieden am Küchentisch saßen und noch einen Espresso tranken. »Dann erzähl mal, warum willst du so dringend zu dieser Bruchbude im Wald?«
Ich nippte an dem winzigen Tässchen in meiner Hand. Für einen Moment verfing sich mein Blick beim Fenster in Abbies Rücken. Sonnenlicht bahnte sich dort seinen Weg zwischen verblichenen Vorhängen hindurch und das Stückchen blauen Himmels, das ich dazwischen erspähte, versprach einen wunderbaren Frühlingstag. Ich seufzte. »Um dort zu wohnen«, erklärte ich. »Ehrlich, es soll nämlich mein neues Zuhause werden.«
Abbie schnaubte. »Bisher hatte ich dich eigentlich nicht für eine Verrückte gehalten. Oder zumindest nur für ein bisschen verrückt. Ich meine, dein Koffer ist so gigantisch und schwer, da könnte wer weiß was drin sein. Eine Bombe, eine Leiche, ein –«
»Bücher«, sagte ich rasch. »Ich lese gern.«
»Ja, klar. Und mit Büchern meinst du in Wahrheit Steintafeln. Wahrscheinlich mit Keilschrift drauf. So richtig massive Platten aus Granit, würde ich schätzen.«
Ich kicherte. »Genau. Eigentlich sind es seeeehr alte Comics. Aus der Zeit vor der Erfindung des Papiers. Von Höhlenmenschen gemeißelt.«
Abbies Augen leuchteten. »Deshalb konntest du auch nur im Schutz der Dunkelheit reisen. Irre schwierig, solches Zeug ins Land zu schmuggeln.«
»Ja.« Ich stellte die Espressotasse mit dramatischer Geste auf dem Tisch ab. »Das Leben als Steintafel-Comic-Kurierin ist nicht leicht. Zum Glück habe ich den geheimen Unterschlupf im Cottage.«
Sie verkniff sich ein Grinsen. »Also geht es ums Geschäft?«
Ich schüttelte den Kopf und wurde wieder ernst. »Nein, ich will wirklich dort einziehen. Meine Grandma hat es mir vererbt, wovon ich erst kürzlich erfahren habe. Aber jetzt, da ich es weiß, konnte ich nicht anders, als herzukommen.«
Abbie starrte mich an. »Du bist eine Bell?« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Es hieß, der eine Sohn sei nach Deutschland gegangen, nachdem sein Bruder und dessen Frau diesen schrecklichen Autounfall hatten, bei dem nur ihr Baby überlebte.« Ihre Augen weiteten sich. »Oh nein! Du bist …«
»Das Baby.« Ich nickte. »Zuerst hat meine Grandma mich aufgenommen, daran kann ich mich gar nicht erinnern, weil ich noch so klein war. Doch dann wurde sie krank und man brachte mich zu meinem Onkel nach Düsseldorf, aber …« Ich brach ab. »Jedenfalls wollte ich, schon solange ich denken kann, eines Tages wieder zurückkehren.« Ich nagte an meiner Unterlippe. »Ist das Cottage denn wirklich so eine Bruchbude?«
»Nun …« Abbie hob entschuldigend die Hände. »Soweit ich weiß, war deine Grandma die Letzte aus eurer Familie, die in Thornfield lebte. Als sie starb, damals war ich noch ein Kind, kümmerte sich dann niemand mehr um ihr Häuschen und mit den Jahren hat der Wald es sich … na ja, man könnte sagen, er hat es sich zurückgeholt.«
»Ich muss trotzdem unbedingt dorthin.«
Abbie wiegte den Kopf hin und her. »Es wäre mir zwar lieber, du würdest das lassen, aber …« Sie seufzte. »Ich verstehe, dass du es vermutlich mit eigenen Augen sehen musst, um es zu glauben. Also werde ich dich hinbringen, allerdings nur kurz. Und nur dieses eine Mal, okay?«
»Klar.« Ich strahlte sie an. Wenn sie mir den Weg zeigte, würde ich ihn beim nächsten Mal sicher auch allein finden.
Gemeinsam räumten wir den Tisch ab. Zehn Minuten später traten wir aus dem Pub.
Für einen Moment blendete mich die Helligkeit des Vormittags. Meine Haut sog das Sonnenlicht auf wie ein Schwamm, gierig, als hätte ich zuvor in immerwährender Dunkelheit gelebt. Was natürlich Quatsch war. Auch in Deutschland schien schließlich gelegentlich die Sonne. Trotzdem fühlte es sich hier so anders an. Freier. Friedlicher.
Eine zarte Wärme breitete sich überall dort aus, wo die Strahlen mich trafen, und schien von meinen Wangen und Handgelenken aus direkt in meine Seele zu fließen. Nicht einmal der noch immer heftige Seewind, der an meinem Hoodie und meiner weiten Jeans zerrte, ließ mich heute frösteln. Weil dies hier mein Neuanfang war, nein, überhaupt der Anfang meines wirklichen Lebens. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Ich liebe diese klaren Tage auch«, murmelte Abbie neben mir. Sie sperrte die Tür hinter uns ab und zupfte an meinem Ärmel. »Dann komm, ich muss spätestens um eins zurück sein und bis zum Cottage ist es ein Stück.«
Unsere Schuhe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster der gewundenen Dorfstraße und ich war froh, dass Abbie mir erlaubt hatte, meinen Koffer noch eine kleine Weile länger bei ihr unterzustellen. Denn so konnte ich mich voll und ganz auf die Umgebung konzentrieren.
Zunächst einmal waren da nämlich die Farben: Unter dem Blau des Himmels, das mir bereits beim Frühstück ins Auge gestochen war, leuchteten rote, violette und pinkfarbene Blumenrabatten neben Fenstern und Hauseingängen um die Wette. Dazwischen strahlten weiß getünchte Steinfassaden. Und überall blitzten Grüntöne in allen Schattierungen auf: Wiesen und Moose, ein bewaldeter Abhang, Farne am Wegesrand. Ich konnte mich gar nicht sattsehen. Immer wieder wurde mein Blick außerdem von der graublauen, glitzernden Fläche zu meiner Linken angezogen, die bis an den Horizont reichte.
»Ich weiß«, sagte Abbie, der dieser Umstand nicht verborgen blieb. »Normalerweise bringe ich Neuankömmlinge ja als Erstes runter zum Meer. Aber in deinem speziellen Fall geht es in die entgegengesetzte Richtung, tut mir leid.«
»Ich bitte darum«, sagte ich und wandte dem Atlantik demonstrativ den Rücken zu. »Wen interessiert schon der Ozean?«
»Jaaa, total langweilig.« Sie grinste mich an und ich spürte, dass ich ebenfalls lächelte. Doch dann veränderte sich schlagartig etwas in Abbies Gesicht. »O Gott, pass auf!«, rief sie und packte mich bei den Schultern.
Im letzten Moment riss sie mich zur Seite, als eine schwarze Limousine mit abgedunkelten Scheiben an uns vorbeibrauste. Beinahe hätte das Ding mich erwischt, in einem solchen Affenzahn preschte es durch die Gasse. Wenn Abbie mich nicht beiseitegerissen hätte … Ich taumelte gegen eine niedrige Mauer und hielt mich daran fest.
Das Auto bog bereits am Ende der Straße um eine Kurve und verschwand aus meinem Sichtfeld.
»Du meine Güte, was war das denn?«, keuchte ich.
»Typisch«, schnaubte Abbie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das war einfach nur typisch. Manche Leute glauben leider, ihnen gehört die Welt. Aber ich will nicht schlecht von deinen Arbeitgebern sprechen. Liam hat es nicht leicht, seit seine Eltern auf Weltreise sind, also … hey, kann ja mal passieren, dass man jemanden umfährt.« Sie reichte mir eine Hand und zog mich weiter. »Auf zu Bell Cottage!«, sagte sie betont fröhlich.
»Meine Arbeitgeber?«, stammelte ich verwirrt. Meine Gastfamilie besaß einen solchen Wagen? Vermutlich gehörte auch ein passender Chauffeur dazu? »Dann sind die Branwells, äh … Sind sie reich oder so was?«, erkundigte ich mich im Gehen.
Abbie pustete gegen ihre Ponyfransen und starrte mich an. »Jep, könnte man so sagen. Also, wenn man es vorsichtig ausdrückt. Hat Olivia Fairfax das etwa nicht erwähnt? Hattest du kein Online-Vorstellungsgespräch oder so?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es lief alles schriftlich ab. Sie hatten über eine Agentur die Anzeige geschaltet, dass sie ein Au-pair für eine Siebenjährige suchen. Ich habe meine Bewerbung geschickt. Dann kam eine E-Mail als Zusage.« Wenn ich so darüber nachdachte, war das Stellenangebot tatsächlich sehr vage formuliert gewesen. Außer dem Ort und dem Alter des Mädchens hatte es kaum Infos enthalten. Und den Namen Branwell hatte ich überhaupt erst erfahren, nachdem ich zugesagt und den Termin für meinen ersten Arbeitstag abgesprochen hatte. Genauso wie das erfreulicherweise gar nicht so üble Gehalt.
»Klar. Verstehe«, murmelte Abbie, genau wie gestern Abend. »Sie wollten natürlich verhindern, dass sich die falschen Leute melden.«
Ich blieb stehen. »Bitte, kannst du mir vielleicht erklären, was hier los ist? Was habe ich nicht mitgekriegt?«
Abbie seufzte. »Sagt dir Branwell Hall etwas?«
»Nein.«
»Aber du hast auf dem Weg hierher das Schloss bemerkt? Das riesige? Oben auf den Steilklippen? So ein schwarzes, protziges Gemäuer mit etwa einer Million Türmchen und Erkern?«
»J-ja?«
»Okay. Dann weißt du jetzt, wo du arbeiten wirst.«
»Was?«
»Tja.« Abbie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Pech gehabt. Und jetzt komm, wir müssen uns wirklich beeilen, wenn wir es noch bis zum Cottage schaffen wollen.«
Erneut setzten wir uns in Bewegung. Raschen Schrittes führte Abbie mich vorbei an einem kleinen Supermarkt und einem Handarbeitsladen, in dessen Schaufenster neben Wollknäueln auch bunt gemusterte Pullover ausgestellt wurden. Hinter der üppig gefüllten Kuchentheke eines Cafés erkannte ich Mollie aus dem Pub. Kurz darauf erreichten wir eine Abzweigung in Richtung Wald und die Straße wurde merklich schmaler und steiler.
Schließlich ließen wir das letzte Haus hinter uns und auch das Kopfsteinpflaster wich einem Kiesweg. In Serpentinen führte dieser den Hügel hinauf und durch einen kleinen Wald. Auf der Karte im Internet hatte es ausgesehen, als befände sich das Cottage ganz nahe am Rand von Thornfield. Doch der Höhenunterschied sorgte dafür, dass der Pfad unzählige Biegungen machte. Und das Unterholz wurde dabei dichter und dichter.
Im Schatten des Blätterdachs kreiste ich innerlich noch eine ganze Weile um die Branwells und ihr ungewöhnliches Zuhause. Wie die Familie wohl sein würde? Bisher hatte ich mir keine allzu großen Gedanken um meinen neuen Job gemacht. Wichtig war schließlich nur, dass er mir ein Leben in Thornfield ermöglichte. Und eigentlich änderte das, was Abbie mir eröffnet hatte, daran nicht wirklich etwas, oder? Solange ich ein bisschen Geld verdienen würde, um mein Cottage zu renovieren, wäre alles andere unwichtig.
Trotzdem machte mich der Gedanke an das düstere Schloss und die Limousine, die mich vorhin beinahe überfahren hatte, nervös.
Der Wald präsentierte sich derweil von seiner besten Seite, das Grün um uns her leuchtete so intensiv, als würde es vibrieren. Außerdem begleitete ein Vogelkonzert unseren Weg. Die Luft war feucht und sauber und roch durchdringend nach Moos und Fichtennadeln.
Zu Hause, dachte ich und verschob meine Grübeleien über die Branwells auf später. Ob meine Großmutter mich auf diesem Pfad spazieren getragen hatte? Eine Gänsehaut kroch über meine Arme.
Abbie ging nun langsamer. Mit einem Mal schien sie zu zögern, ließ sich schließlich sogar ein paar Schritte hinter mir zurückfallen.
Ich wandte mich zu ihr um. »Ist alles in Ordnung?«
»Sicher«, sagte sie und setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen jedoch nicht erreichte. »Wir sind fast da. Es ist gleich dort vorn.« Sie ruckte mit dem Kinn zur nächsten Biegung des Pfads.
Ich zog die Stirn kraus. »Aber du, äh, würdest lieber nicht weitergehen?«
»Doch, klar.« Abbie lachte ein wenig aufgesetzt. Dann gab sie es auf und schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt erzählt man sich so einiges über diesen Ort, und als ich das letzte Mal hier war, damals muss ich ungefähr zehn gewesen sein …« Sie schluckte. »Es war eine Mutprobe und ich habe die Nacht in keiner guten Erinnerung«, gab sie zu.
»Okay«, sagte ich. »Weißt du … Ich kann auch allein weitergehen.«
Abbie betrachtete jetzt die Spitzen ihrer Boots. »Dann warte ich hier auf dich.«
»Top.« Ich streckte einen Daumen in die Höhe, atmete einmal tief durch und setzte meinen Weg fort. Nur noch um diese Kurve, dann war es so weit!
Das Herz in meiner Brust pochte, während der weiche Waldboden zugleich jegliches Geräusch meiner Sneaker verschluckte. Ich machte einen weiteren Schritt, dann den nächsten und noch einen, ging an einem Gebüsch vorbei und …
… erreichte die Lichtung.
Tränen schossen mir in die Augen.
Es war das Cottage meiner Großmutter! Weiß getünchte Wände, das windschiefe Dach … sogar die Bank neben dem Eingang!
Das alles fühlte sich sofort vertraut an. Obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, spürte ich, dass ich schon einmal hier gewesen war. Dies war mein Ort!
Ich, Jane Bell, hatte ein Zuhause.
Vorsichtig näherte ich mich dem Gebäude, legte eine Hand auf das alte Gemäuer, atmete. Zuhause. Träumte ich? Plötzlich fürchtete ich, dass sich mit einer zu hastigen Bewegung alles in Luft auflösen könnte. Als wäre diese Hütte nichts als eine Vision. Eine Wunschvorstellung, die nur in meiner Fantasie existierte.
Doch die Steine ruhten warm und rau unter meinen Fingerspitzen. Echt und lebendig. Beinahe hatte ich den Eindruck, ein Zittern durchliefe den bröckelnden Türrahmen. Spürte das Cottage dieselbe Erleichterung darüber, dass ich zurückgekehrt war, wie ich?
»Hallo«, flüsterte ich und das Rauschen des Waldes schien mir zu antworten.
Die Tränen strömten nun über meine Wangen. Ich konnte gar nicht mehr mit dem Heulen aufhören. Endlich kam ich heim!
Doch es stimmte, was Abbie gesagt hatte: Das Haus war verfallen. Von den Fensterscheiben hingen nur noch vereinzelte Scherben in den Rahmen. Das Weiß der Fassade war schmutzig und kaum noch zu erkennen unter Efeu und Moos. Und das Dach hatte etwas von innen durchbrochen.
Verdammt, war das etwa ein Baum?
Die Haustür hing lediglich noch in einer Angel und quietschte, als ich sie aufstieß. Überall zwischen den Bodendielen wuchsen Farne. Staub und Schmutz tanzten im schräg einfallenden Sonnenlicht, als ich mich nun langsam hineinwagte.
Ein schmaler Flur, in dem ein von Spinnweben und Flechten bedeckter Besen lehnte, führte zu einem Raum, an dessen einer Wand ich die Überreste eines Ofens entdeckte. Ein Küchenschrank lag auf dem Boden, das Holz morsch und geborsten, sein Inhalt verstreut und zerbrochen. Überhaupt stand ich in einem Meer aus Scherben und Holzsplittern und … ja, in der Mitte des Zimmers wuchs tatsächlich ein Baum.
Krass!
Ein Weißdorn hatte seine Wurzeln durch die Dielen der Wohnstube gegraben, während seine Krone irgendwann das Dach gesprengt haben musste. Du meine Güte, wie schnell war das Ding in den 15Jahren seit Grandmas Tod gewachsen?
Außerdem hingen überall in den Zweigen Stofffetzen. Manche davon waren bereits vollkommen verwittert und in Auflösung begriffen. Andere wirkten noch recht neu. Und darüber hinaus so, als hätten Menschen sie dort hineingeknotet. Ich umrundete das Gewächs, darauf bedacht, nicht über die Trümmer von Stühlen und Sesseln zu fallen. In der Ecke raschelte es, weil ich wohl irgendein kleines Tier aufgeschreckt hatte. Doch mein Blick hing weiter an dem Baum im Zentrum des Hauses.
Was bedeuteten die Tücher? Was war aus diesem Ort geworden?
Die Renovierung würde in jedem Fall deutlich aufwendiger ausfallen, als ich gehofft hatte. Aber das war mir egal. Ich würde es schon irgendwie schaffen. Das musste ich einfach.
Erneut streckte ich die Hand aus, dieses Mal, um den Weißdorn zu berühren. Doch noch bevor ich die Baumrinde unter meiner Haut spürte, ertönte ein weiteres Geräusch. Nun allerdings von irgendwo außerhalb der Hütte. Es knackte und raschelte so plötzlich im Unterholz, dass ich erschrocken in meiner Bewegung innehielt.
»Du willst mir sagen, dass wir wieder losmüssen, richtig?«, rief ich, weil ich davon ausging, dass Abbie mir doch gefolgt sein musste. »Ich komme sofort.«
Statt einer Antwort drang ein weiteres Ächzen aus dem Gehölz. Oder war es ein Keuchen?
»Ist alles in Ordnung?« Ich ließ meine Hand endgültig sinken und trat vor die Hütte. »Abbie? Hast du …« Ich brach ab.
Es war nicht Abbie.
Es war ein Hirsch.
Das Tier stand mitten auf der Lichtung, nur wenige Meter von mir entfernt. Das mächtige Geweih schimmerte im Sonnenlicht, die breiten Hufe gruben sich in den Waldboden. Und der Blick seiner dunklen Augen bohrte sich in meinen.
Ich hatte noch nie Wild aus nächster Nähe gesehen und kannte mich nicht wirklich mit der Flora und Fauna Irlands aus. Doch selbst mit meinem begrenzten Wissen begriff ich, dass dieses Tier alt sein musste. Es war riesig, das Geweih umspannte seinen Kopf wie eine Baumkrone und war etwa vier- oder fünfmal so breit wie sein Träger. Außerdem ragte es mehrere Meter in die Höhe. Das Gewicht musste enorm sein. Doch der Hirsch balancierte seinen Kopfschmuck mühelos.
Stolz schaute er mich an. Er schien sich nicht im Geringsten vor mir zu fürchten. War er hergekommen, um mich zu begrüßen? Ich schluckte, wollte einen Schritt auf ihn zu machen.
In diesem Moment legte der Hirsch den Kopf in den Nacken, öffnete das Maul und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Sein Schrei schlug mir so unerwartet und wütend entgegen, dass ich instinktiv zurückwich. Panisch stolperte ich rückwärts über die Schwelle der Hütte.
Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Noch immer röhrte der Hirsch. Es war ein lang gezogener, gefährlicher Laut, der mir durch und durch ging.
Verdammt. Ich tastete nach dem alten Besen an der Wand, falls das Biest sich im nächsten Moment auf mich stürzen sollte. Immerhin würde das Geweih es ihm erschweren, mich in dem schmalen Hauseingang zu erreichen.
Oder?
Ich biss mir auf die Lippe. Endlich fand meine Hand den Besen. Ich griff danach und machte mich bereit, mich zu verteidigen, während der Hirsch endlich wieder verstummte. Wieder funkelte er mich an. Dann wandte er sich plötzlich ab und trabte davon. Er verschwand so rasch wieder im Dickicht, wie er aufgetaucht war.
Einen Herzschlag später erschien Abbie hinter dem Gebüsch. Sie war kreidebleich und außer Atem, als wäre sie gerannt. »Jane!«, rief sie ängstlich. »Was ist passiert? Was war das für ein Lärm?«
Ich stellte den Besen zurück. Mit wackligen Knien ging ich zu ihr. »Mich hat, glaube ich, ein Hirsch angeröhrt«, sagte ich und hörte selbst, wie zittrig meine Stimme klang. War das gerade wirklich geschehen?
»Ein Hirsch?« Abbie wurde noch eine Spur blasser, wobei ich nicht gedacht hatte, dass dies möglich wäre. »Bist du sicher?«
»Äh, ja, es war komisch.« Ich zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall nicht gerade freundlich, würde ich sagen.« Ich deutete über meine Schulter. »Außerdem kann ich im Cottage wohl wirklich noch nicht schlafen. In meinem Wohnzimmer wächst ein Baum.«
Abbie schaute sich nervös um. »Ich weiß«, murmelte sie. »Und jetzt lass uns bitte, bitte von hier abhauen.«
Schweigend machten wir uns auf den Rückweg ins Dorf, der nicht weniger beschwerlich war als der Aufstieg. Abgesehen davon, dass das Haus meiner Großmutter eine ziemliche Ruine war und vermutlich einige Monate vergehen würden, bis ich dort einmal ein Wochenende verbringen, geschweige denn einziehen konnte, lag es auch echt weit draußen.
Aber ich würde das hinkriegen. Natürlich würde ich das! Denn ich brauchte diesen Ort zu dringend und weder ein Baum noch ein Hirsch konnten mich davon abhalten, mir hier mein Zuhause zu schaffen.
Und bis es so weit war, fand sich eine andere Lösung.
Als Au-pair würde ich ohnehin erst einmal bei den Branwells unterkommen, mir blieb also ein ganzes Jahr, um das Haus bewohnbar zu machen. Blöd war nur, dass ich MrsFairfax meine Ankunft erst für Montag angekündigt hatte …
»Klar, du bleibst das Wochenende über bei mir«, meinte Abbie sofort, als ich ihr meine Überlegungen mitteilte. Wir hatten die Dorfstraße nun beinahe erreicht, und je weiter wir uns von Bell Cottage entfernten, umso mehr Farbe kehrte in Abbies Wangen zurück.
»Danke, das ist sehr nett. Bloß, falle ich dir denn nicht zur Last? Du musst doch arbeiten und ich will auf gar keinen Fall im Weg sein.«
»Quatsch. Ich meine, freitags und samstags ist es immer stressig. Aber ich finde bestimmt trotzdem noch etwas Zeit, dir die Gegend zu zeigen. Wobei, ach Mist!« Sie biss sich von innen auf die Wange. »Morgen muss ich die neue Karaoke-Maschine in Limerick abholen und meine Mutter wollte dann mit hierherkommen und auch bei mir übernachten und …«
»Okay«, sagte ich und hob abwehrend die Hände. »Ich kriege das auch anders hin.«
»Wirklich?«
Wir bogen um die Ecke bei Mollies Café und ich nickte. Ich war sogar äußerst gut darin, allein klarzukommen. Es war sozusagen meine Spezialität. Vermutlich, weil ich bisher bei so ziemlich allem in meinem Leben auf mich gestellt gewesen war. »Ja, kein Problem.«
Doch Katherine liebte diesen Ort, so bescheiden ihre Behausung auch sein mochte, für sie gab es keinen schöneren Platz.
Nicht für allen Reichtum der Welt, hätte sie die Lichtung im Wald eingetauscht.
Nicht einmal für ein Schloss.
3
Branwell Hall
Schon die Auffahrt war so beeindruckend lang, ich brauchte das dazugehörige Schloss gar nicht zu sehen, um mir vorzustellen, wie verboten reich die Branwells sein mussten. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, meinen Koffer die Allee hinaufzubugsieren. Die knorrigen Eichen, welche die Straße zu beiden Seiten säumten, schienen mich mitleidig dabei zu beobachten. Aber wenigstens spendeten sie Schatten, sodass ich in der Nachmittagssonne nicht zu sehr ins Schwitzen geriet. Ein Krähenkonzert begleitete meinen Weg, als wollten die Tiere mich anfeuern.
Schließlich erreichte ich einen gekiesten Vorplatz von der Größe eines Fußballfeldes und die nicht weniger überdimensionierte Treppe zum Haupteingang.
Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Gemäuer. Mit ihrer Schätzung von einer Million Türmchen und Erkern lag Abbie wahrscheinlich gar nicht so falsch. Der Bau war riesig. Und alt. Unzählige Bleiglasfenster schimmerten mir entgegen. Die Fassade bestand aus groben unregelmäßigen Steinquadern, die im Laufe der Jahrhunderte nachgedunkelt sein mussten und nun beinahe schwarz waren.
Obsidian, dachte ich, obwohl Branwell Hall wohl kaum aus abgekühlter Lava bestand. Trotzdem hatte das Schloss etwas an sich, diese Urtümlichkeit der Bögen und Zinnen, den archaischen Schwung des Treppenaufgangs … irgendwie hätte es mich doch nicht gewundert zu erfahren, dass das Zuhause der Familie Branwell eines Tages aus dem Inneren der Erde emporgewachsen sei.
Aber vielleicht rührte dieser Eindruck auch nur daher, wie das Gebäude sich so perfekt in die Landschaft einfügte. Es schmiegte sich auf die Kuppe des Hügels, als wollte es ihn umarmen, und schien den Himmel selbst auf den unzähligen Dächern zu balancieren. Unmittelbar hinter dem Schloss fiel der Rasen außerdem steil ab. Das Tosen der Brandung drang aus der Tiefe zu mir herauf und ich war versucht, mir als Erstes einen Weg um Branwell Hall herum zu suchen, um einen Blick auf den Ozean zu erhaschen.
Aber natürlich blieb ich vernünftig.
Tatsächlich hielt ich sogar kurz Ausschau nach einer Art Dienstboteneingang oder so. Immerhin war ich eine Angestellte. Aus Büchern und Filmen wusste ich, dass derartige Häuser stets über mehr als eine Tür verfügten. Das Portal am oberen Ende der Treppe war aber auch geradezu lächerlich groß und viel zu prunkvoll für ein einfaches Waisenmädchen wie mich. Jeder der von steinernen Wasserspeiern umrahmten Türflügel reichte vier oder fünf Meter in die Höhe. Wären die Stufen nicht gewesen, man hätte mit einer Pferdekutsche hindurchfahren können.
Oder mit einer Limousine mit abgedunkelten Scheiben.
Ich schluckte, denn leider war es dennoch der einzige Eingang, den ich erspähte. Na gut. Stufe um Stufe schleppte ich den Koffer nach oben und wollte schon nach der Klingel tasten, doch das war nicht nötig. Einer der beiden Türflügel öffnete sich, kaum dass ich den letzten Absatz erreicht hatte. Obwohl das Ding aus massivem Eichenholz bestand, schwang es so lautlos zur Seite, als wäre es leicht wie eine Feder. Zum Vorschein kam eine Frau mittleren Alters, die unmittelbar dahinter gewartet haben musste.
»Oh«, entfuhr es mir wenig geistreich. Ich biss mir auf die Lippe. »Ich meine: Guten Tag, mein Name ist Jane Bell und ich bin das neue Au-pair.«
Die Frau nickte freundlich. Sie trug einen Hosenanzug und Perlenohrringe und musterte mich durch eine schmale Brille. Ihre Augen waren so blau wie der Himmel und lagen in kleinen Nestern von Lachfältchen. »Ich weiß«, sagte sie. »Unsere Kameras haben Sie schon am Tor zur Auffahrt registriert. Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen.«
Verlegen deutete ich auf den Koffer.
»Ich verstehe.« Die Frau schenkte mir nun ein warmes Lächeln. »Andererseits hatten wir Sie erst am Montag erwartet. Von daher sind Sie zugleich überpünktlich, Miss Bell.«
Vermutlich erkannte sie mich von dem Foto, das ich meinen Bewerbungsunterlagen beigefügt hatte.
»Ja«, sagte ich und trat von einem Fuß auf den anderen. »Eigentlich hatte ich etwas anders geplant. Leider gab es ein Problem mit meiner Unterkunft.«
»Sie wollten in Bell Cottage übernachten.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich horchte auf. Das hatte ich in meinem Lebenslauf definitiv nicht erwähnt … »Woher wissen Sie davon?«
»Wir haben Sie im Zuge des Bewerbungsverfahrens selbstverständlich durchleuchten lassen. Ihr Erbe blieb dabei nicht verborgen. Aber MrBranwell war der Meinung, dass wir Sie trotzdem einstellen sollten. Obwohl oder, nun ja, vielleicht sogar gerade weil seine Familie nicht das Einzige ist, was Sie nach Thornfield führt.«
»Mhm«, machte ich und blinzelte. Hatten die etwa einen Privatdetektiv oder so was auf mich angesetzt?
Auch die Frau erkannte nun wohl, dass die Situation etwas seltsam war. Sie schüttelte den Kopf. »Herrje, aber jetzt kommen Sie doch erst einmal herein. Ich werde uns eine Tasse Tee bringen lassen und dann können wir alles Weitere besprechen.« Sie trat beiseite. »Ich bin übrigens Olivia Fairfax. Sie können ruhig Olivia sagen.«
MrsFairfax, pardon, Olivia führte mich durch eine marmorne Eingangshalle. Der Boden war hier so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Eine weitere, einschüchternde Treppe, dieses Mal aus schimmerndem Mahagoni, führte in die oberen Stockwerke. Dort erkannte ich eine Galerie voller Büsten und Gemälde. Unter der Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter und hinter einer weiteren offen stehenden Flügeltür erhaschte ich einen Blick auf eine Art Ballsaal. Doch obwohl das Schloss uralt sein musste, befand es sich in tadellosem Zustand. Kein Staubkorn schien eine Chance innerhalb dieser Mauern zu haben. Keine Marmorfliese zeigte einen Riss, die Fensterscheiben glänzten frisch poliert.
Zu meiner Erleichterung öffnete Olivia schon bald eine hinter Tapeten verborgene Tür und brachte mich durch einen etwas schlichteren Korridor schließlich in einen behaglichen Salon, dessen Mobiliar dem von Abbies Grandpa nicht unähnlich war. Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch mit einer Vase frischer Feldblumen. Olivia wies auf einen der beiden Stühle und ich setzte mich. Während sie ein Smartphone zückte und etwas darauf eintippte, sah ich in den Garten hinaus.
Ich hatte mich nämlich getäuscht. Hinter dem Schloss fiel der Hügel zwar abrupt zu den Steilklippen ab. Jedoch gab es dazwischen noch eine Senke. Darin lag, vor dem Seewind geschützt, eine parkähnliche Anlage mit Rosenbüschen und kleinen Springbrunnen. Inmitten einiger Hecken ragte etwas in die Höhe, das ich für das Dach eines Pavillons hielt.
»Wow«, flüsterte ich lautlos.
Olivia hatte es wohl gesehen, denn sie lächelte mich schon wieder an. »Es tut mir leid, dass wir Sie ein wenig im Dunkeln gelassen haben über dieses Anwesen«, begann sie. »Unglücklicherweise hat die Familie viele Neider und das beschränkt sich nicht nur auf die Konkurrenten von MrBranwells Firmen. Wir sind daher sehr vorsichtig, wem wir Zutritt gewähren. Aber wir freuen uns sehr, dass Sie nun bei uns sind. Audrey ist schon ganz aufgeregt, Sie kennenzulernen. Und natürlich bekommen Sie schon heute ein Zimmer auf Branwell Hall, das ist kein Problem. Ich habe Anweisung gegeben, es herzurichten. Oh, da kommt ja auch der Tee.«
Ein Mann mit rotem Haar und Sommersprossen war in der Tür erschienen und platzierte ein Tablett zwischen uns.
»Danke, Jonathan«, sagte Olivia und griff nach der Kanne. »Nehmen Sie Zucker, Jane?«
»Äh, nein, danke.« Ich war noch immer überfordert von all dem Reichtum. Aber ich musste mich zusammenreißen. Schließlich war ich kein Kind mehr und das hier meine erste richtige Arbeitsstelle. Während der Mann den Raum wieder verließ, atmete ich tief durch. Dann räusperte ich mich. »Ich bin froh, dass mein Hintergrundcheck zufriedenstellend ausfiel, allerdings hätte ich gerne vorher davon gewusst«, erklärte ich.
Olivia presste die Lippen zusammen, als würde sie mir insgeheim zustimmen. »Der junge MrBranwell neigt zu extremer Umsichtigkeit.«
Ich nippte an meinem Tee und nahm dann gleich noch einen Schluck. Das Gebräu schmeckte köstlich! Was immer das war, konnte man jedenfalls nicht mit dem Hagebuttentee vergleichen, den es während der letzten zehn Jahre in den diversen Kinderheimen, in denen ich gelebt hatte, so häufig zum Abendbrot gegeben hatte. »Sie haben geschrieben, Audrey sei gerade sieben geworden. Ist sie Ihre Tochter?«, erkundigte ich mich.
Olivia lachte. »Aber nein! Ich bin hier die Hausdame. Zwar stehe ich schon seit vielen Jahren im Dienst der Branwells, aber ich kümmere mich im Wesentlichen ums Personal und den Unterhalt des Schlosses. Audrey ist natürlich MrBranwells Schwester. Die Eltern der beiden hatten sie eigentlich in einem Internat untergebracht, aber Miss Audrey hatte dort in letzter Zeit derartige Albträume, dass ihr Bruder sie nun nach Hause geholt hat. Das arme Ding vermisst seine Eltern schrecklich, seit sie letztes Jahr auf Weltreise gingen. Daher muss ich Sie auch vorwarnen, Audreys Launen sind nicht immer einfach zu handeln.«
»Mhm.« Ich wiegte den Kopf hin und her. Mit Kindern, denen ihre Eltern fehlten, hatte ich schon mehr als genug Erfahrung sammeln können. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft ich in den vergangenen Jahren eines oder manchmal auch gleich mehrere der Jüngeren getröstet hatte, wenn sie sich einsam und verlassen gefühlt hatten. Und ich wusste ja selbst, wie es sein konnte. So lange hatte ich darum gekämpft, dass die Familie meines Onkels mich akzeptierte. Und am Ende war ich doch immer allein gewesen. »Ich denke, damit komme ich klar.«
»Das hatte ich gehofft.« Olivias Handy vibrierte. »Ihr Zimmer ist nun bereit«, informierte sie mich nach einem Blick aufs Display. »Wie wäre es, wenn ich Sie hinbringe und unterwegs schon einmal durch das Haus führe?«
»Gern«, sagte ich und trank den Rest meines Tees mit einem großen Schluck aus. Der war einfach zu lecker, um ihn stehen zu lassen.
Olivia erhob sich und ich tat es ihr nach.
In der nächsten halben Stunde kam ich aus dem Staunen kaum noch heraus. Olivia zeigte mir zuerst den Dienstbotentrakt, in welchem außer ihr selbst mehrere Zimmermädchen, ein Koch, ein Chauffeur, eine Gärtnerin und Jonathan, der Butler, der uns den Tee gebracht hatte, eigene Apartments bewohnten. Von dort aus ging es in die gewaltige Schlossküche. Hier fand sich neben einer offenen Feuerstelle aus früheren Zeiten allerdings auch eine moderne Kochinsel, die es wohl mit jedem Restaurant der Welt hätte aufnehmen können. Außerdem gab es einen langen, gemütlichen Esstisch für die Angestellten.
Besonders beeindruckte mich der Korridor mit den Glöckchen an altmodischen Klingelzügen. Sie waren mit Schildchen versehen, auf denen Dinge wie »Kinderzimmer«, »Rauchersalon«, »Gartenzimmer«, »Bibliothek«, »Bankettsaal« oder »Remise« standen. Laut Olivia wurde das System heute allerdings nicht mehr genutzt. WLAN habe sich als praktischer erwiesen.
»Erbaut wurde der älteste Teil von Branwell Hall übrigens im sechzehnten Jahrhundert von Andrew Branwell, einem Vorfahren des aktuellen MrBranwell«, erklärte Olivia und führte mich über eine Stiege, die hinter einer mit Tapeten beklebten Tür endete, zum herrschaftlichen Teil des Gebäudes. »Selbstverständlich hat die Familie das Schloss im Laufe der Zeit immer mehr erweitert und modernisieren lassen.« Sie deutete auf einen gläsernen Aufzug in der Ecke des seitlichen Treppenhauses, das wir nun durchquerten.