Das Buch der Seelen - Mechthild Gläser - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Buch der Seelen E-Book

Mechthild Gläser

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Magie der Bilder Seit Generationen gehört Elsies Familie ein Fotostudio. Elsie liebt die alten Kameras, die gemalten Bildhintergründe und die historischen Fotografien mit ihren gezackten weißen Rändern. Besonders das Bildnis des jungen Lords Aidan Storm hat es ihr angetan. Diesem Bild erzählt sie hin und wieder sogar ihre Sorgen. Was sie nicht weiß: Er kann sie hören. Als Aidans Foto eines Tages aus dem Album verschwindet, ist Elsie untröstlich. Aber dann taucht der junge Lord plötzlich wieder auf. Ausgerechnet auf Instagram … Wie in Emma und das vergessene Buch lässt Mechthild Gläser sich von einem Klassiker des neunzehnten Jahrhunderts inspirieren und erweckt das Bildnis eines jungen Mannes einfach einmal schnell zum Leben. Mechthild Gläsers wunderschöner Fantasyroman für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren führt nach Schottland ins malerische Edinburgh und verbindet fantastische Motive aus Das Bildnis des Dorian Gray mit einer zarten, humorvollen Liebesgeschichte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 455

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalts­verzeichnis

Zehn Jahre zuvor

  1  Magische Fotos

  2  Das Haus am Tweeddale Court

  3  Vor langer Zeit

  4  Schatten

  5  White Lily

  6  Unerwartetes Wiedersehen

  7  Die Jagd beginnt

  8  Halloween

  9  Lunch mit Lord

10  Werwolf

11  Gesichter am Fenster

12  Die entscheidende Frage

13  Unterwelt

14  Heimkehr

15  Überraschungsparty

16  Rosie

17  Die Verliese von Rosemore

18  Hinter den Bildern

19  Ein Friedhof bei Nacht

20  Das fehlende Teil

21  Wahrheiten

22  Johns Vermächtnis

23  Mensch oder Monster

24  Letzte Aufnahmen

Wir alle schreiten durch die Gasse, aber einige wenige blicken zu den Sternen auf.

Oscar Wilde

Zehn Jahre zuvor

Elsie MacDonald war sechs Jahre alt, als es passierte.

Sie spielte heimlich auf dem Dachboden, wo sie zwischen Kisten, ausrangierten Möbeln und Kameras hindurchkroch. Staub tanzte in der Luft. Elsie musste niesen und wischte die schmutzigen Hände an ihrem Pullover ab. Und dann, als sie wieder aufsah, entdeckte sie es: uralte Papiere, die aus einer Ritze zwischen den Dachsparren hervorlugten.

Etwas Seltsames umgab die vergilbten Seiten, ein Schimmer, ein Flirren. Elsie hätte es nicht in Worte fassen können. Doch sie streckte sich danach aus und schon einen Herzschlag später hielt sie es in den Händen: ein Buch, eine ganze Welt.

Das Album.

Der Deckel bestand aus schlichtem schwarzem Karton, abgegriffen, die Kanten angestoßen. Kein Titel, keine Verzierungen. Darunter zartgewebtes Seidenpapier und Fotos voller Gesichter aus einer längst vergangenen Zeit. Gestalten in bauschigen Kleidern und Spitzenhauben leuchteten Elsie entgegen. Außerdem gezwirbelte Schnurrbärte und verblichene Landschaften und ein Hund mit Zottelfell und gewaltigen Zähnen.

Die gezackten Ränder der Fotos schienen ihr wie Fenster in ein schwarz-weißes, vergessenes Universum, durch das Elsie nun blätterte. Seite um Seite, Aufnahme um Aufnahme.

Bis sie schließlich auf sein Bild stieß.

1

Magische Fotos

»Hätte ich doch bloß die Leica mitgenommen«, murmelte ich und balancierte über den Heizkörper des Mädchenklos. Gleichzeitig bediente ich die Zoomfunktion der Handykamera. Außerdem reckte ich mich in die Höhe und ließ mein Handgelenk abknicken, um die perfekte Einstellung zu finden.

Doch noch immer bekam ich die weiße Plastiktüte, die in den Lichtschacht des Fensters geraten war, nicht so recht ins Bild. Zumindest nicht so, dass es mir gelungen wäre, ihr anmutiges Tanzen im Wind einzufangen, ohne dessen Magie zu verlieren. Das Ganze sah so sorglos aus. Schwerelos. Frei. Und auf dem Handydisplay einfach nur blöd.

»Ehrlich, ich brauche eine vernünftige Blende«, erklärte ich Aidan grummelig und lehnte mich noch ein Stück nach hinten. Vielleicht, wenn ich bloß ein bisschen mehr von der schräg einfallenden Nachmittagssonne erwischte … Ja, das könnte funktionieren. Ich bog den Rücken weiter, verrenkte mir den Hals und … verlor das Gleichgewicht. Verdammt!

Mein linker Fuß rutschte vom Heizkörper, mein Ellenbogen knallte schmerzhaft auf die Fensterbank und ich stürzte rückwärts in den Raum hinunter. Mit der Hüfte prallte ich schließlich gegen die Tür der hintersten Toilettenkabine, was immerhin verhinderte, dass ich zu allem Überfluss auch noch auf dem Po landete.

Ich strich die hellblaue Bluse meiner Schuluniform glatt und rieb über meinen Arm. Dann schaute ich mich um und versicherte mich, dass keine meiner Mitschülerinnen das peinliche Finale dieser Kletterpartie beobachtet hatte.

Da der Gong bereits vor ein paar Minuten das nahende Ende der Pause verkündet hatte, befanden sich die anderen allerdings längst auf dem Weg zum Unterricht. Zum Glück.

Und Aidan würde mich nicht auslachen. Natürlich nicht.

Mein Blick streifte ihn kurz, dann wanderte er zu der vollgestopften Schultasche auf dem Fußboden. Das Ding platzte förmlich aus allen Nähten, weil wir ausgerechnet heute den großen Atlas hatten mitbringen sollen. Dazu das Album … Am Morgen war einfach kein Platz mehr für meine geliebte Analogkamera gewesen. So ein Mist!

Die Tüte tanzte schon etwas weniger majestätisch im Lichtschacht. Mir lief die Zeit davon.

»Findest du, ich sollte es noch einmal versuchen? Nur ganz kurz?«, fragte ich Aidan und hangelte mich erneut an der Fensterbank in die Höhe. »Ich meine«, ächzte ich, »wenn ich bis morgen warte, ist es nämlich zu spät und …«

Die Tür flog auf.

»Elsie!« Benisha stürzte herein. »Also, das glaube ich jetzt nicht!« Entgeistert starrte sie mich an, die großen dunklen Augen weit aufgerissen. »Dein Referat! Hast du das etwa vergessen?«

»Quatsch, ich …« Verlegen stieg ich vom Heizkörper. Wie hatte mir nur entfallen können, dass ich gleich in Gesellschaftskunde über das Fotostudio meiner Familie referieren sollte? Ein recht dankbares Thema übrigens, weil ich natürlich Tonnen von Anschauungsmaterial hatte auftreiben können. »Ich komme sofort, ich wollte nur kurz etwas fotografieren und …«

»Schon klar«, sagte Benisha. »Was war es heute? Das Schimmern einer gesprungenen Fliese im Neonlicht?«

Benisha kannte mich zu gut. Nicht umsonst waren wir seit dem Kindergarten beste Freundinnen. Und dafür, dass sie es mir nicht übel nahm, wenn ich mich hin und wieder in Details verlor, die andere nicht einmal bemerkten, mochte ich sie noch lieber. Denn seit ich damals mit neun ein Foto von Dad im Atelier gemacht und dabei eine kleine Raupe auf seinem Oberarm mit aufgenommen hatte, die keinem von uns aufgefallen war, konnte ich einfach nicht anders. Erst in der Dunkelkammer hatte ich das winzige Tier erspäht, das Dad bei der Arbeit über die Schulter zu blicken schien. Von diesem Moment an war es um mich geschehen gewesen.

Ich war zu einer Art Schatzsucherin geworden, ständig auf der Jagd nach diesem ganz besonderen Zauber, der Wahrheit hinter der Wahrheit. Als würde meine Kamera zu einem Kern der Realität vordringen, der dem menschlichen Auge ansonsten verborgen blieb. Etwas, das sich in den scheinbar unwichtigsten Kleinigkeiten verstecken konnte. Es war wie eine Sucht.

»Fast«, sagte ich und deutete auf die sich noch immer zart hin und her wiegende Tüte.

»Verstehe.« Benisha versuchte noch einen Moment lang, mich streng anzugucken. Dann musste sie doch grinsen. »Dieses Mal war ich aber nah dran, oder?«

Ich nickte. Die Fliese schräg über dem Wasserhahn sah im Übrigen tatsächlich recht ungewöhnlich aus. Sie hatte so ein grünliches Muster und …

»Nein!« Benisha griff nach meinem Handgelenk und zerrte mich durch den Raum. »Echt jetzt, MrsSmith macht dir die Hölle heiß, wenn du schon wieder zu spät kommst.«

»Okay, ist ja gut.« Ich entwand mich aus ihrer Umklammerung und ließ demonstrativ das Handy sinken. »Das war ein Witz. Ich bin sofort da, ich muss nur zusammenpacken.«

»Gut«, sagte Benisha, schnappte sich das Album, das auf dem Waschtisch lag, und klappte es zusammen. »Außerdem hast du dich schon wieder mit einem deiner Fotos unterhalten, stimmt’s?«

»Na ja«, murmelte ich.

Benisha schüttelte lächelnd den Kopf. Dann reichte sie mir das Album und schaute auf ihre Armbanduhr. »Wir haben jedenfalls noch schätzungsweise anderthalb Minuten.« Sie hob ihren Zeigefinger. »Ich laufe schon einmal vor und starte deine Präsentation. Und du, Miss Leibovitz, folgst mir gefälligst in Lichtgeschwindigkeit.«

»Einverstanden«, seufzte ich. »Danke.«

Benisha machte auf dem Absatz kehrt und hastete davon.

Ich wandte mich meinen Sachen zu. Das Handy quetschte ich in das vordere Fach der Umhängetasche, die Jacke legte ich mir über den Arm. Jetzt noch das Album. Ich schloss die Finger um die Knotenkette, mit der die Fadenbindung endete, und zwirbelte sie, wie ich es schon getan hatte, als ich klein gewesen war.

Nachdem ich das vergilbte Fotoalbum aus dem vorletzten Jahrhundert damals mit sechs oder so auf unserem Dachboden entdeckt hatte, war es irgendwie zu meinem ständigen Begleiter geworden. Warum genau, hätte ich nicht sagen können. Aber schon seit etwa zehn Jahren lag es Abend für Abend auf meinem Nachttisch und inzwischen kannte ich die Details eines jeden Bildes in seinem Innern in- und auswendig. In jedem einzelnen von ihnen schien mir mehr von der Realität eingefangen worden zu sein, als sich auf den ersten Blick erschloss. Für mich beinhalteten sie quasi den ultimativen Zauber, dem auch ich hinterherjagte, wann immer ich eine kaputte Fliese oder eine verirrte Plastiktüte fotografierte.

Ich hatte mir die Bilder außerdem schon so oft angesehen, dass es mir so vorkam, als wären all die schwarz-weißen Gestalten mit ihren historischen Outfits und den seltsamen Frisuren tatsächlich alte Freunde. Und einer von ihnen war mir im Laufe der Zeit besonders ans Herz gewachsen.

Lord Aidan Sean Colin Storm, 13. Viscount of Glencoe, geboren 1883 auf Rosemore Castle stand in verschnörkelter Schrift unter dem Foto des Jungen, der in etwa mein Alter haben musste. Ich schätzte ihn auf sechzehn oder siebzehn. Nur sein Bild war beschriftet, der einzige Name im gesamten Album.

Als Kind hatten mich vor allem der verschwommene Hintergrund und das zerzauste Haar des Lords fasziniert. Während die meisten Fotografien aus dem späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert steif und gestellt wirkten, sah diese hier fast schon wie ein moderner Schnappschuss aus. Als hätte Aidan Storm inmitten eines Gewitters gestanden und sich spontan zur Kamera umgedreht. Er schaute einen so direkt an, dass man das Gefühl hatte, ihm alles sagen und ihn alles fragen zu können.

Darüber hinaus sah der Typ, am Rande bemerkt, ziemlich gut aus. Die gerade Nase und die klaren Kanten seines Kiefers verliehen ihm zusammen mit den unordentlichen Locken zugleich Eleganz und etwas Verwegenes. Eine durchaus ansprechende, wenn auch ungewöhnliche Kombination (vor allem für damals). Die meisten seiner Zeitgenossen hatten sich das Haar nämlich mit fettiger Pomade an den Kopf gekleistert und trugen borstige Schnurrbärte mit nach außen gedrehten Spitzen. Nun ja, Benisha hatte recht, ich musste dringend los.

Widerwillig ließ ich die Knotenkette los. Beinahe wäre mir in diesem Moment der zähnefletschende schottische Hirschhund entgegengesegelt, den ich Muffin getauft hatte. Du meine Güte! Ein paar der Fotos konnten nach über einem Jahrhundert wohl eine Portion frischen Leim vertragen.

»Wahrscheinlich müsste ich euch alle mal wieder festkleben«, murmelte ich. Darum würde ich mich am besten gleich nachher kümmern, sobald ich das lästige Referat hinter mich gebracht hatte. Ich strich mir das Haar hinter die Ohren und packte das Album ein.

Es gongte schon wieder.

Okay, damit war ich nun offiziell zu spät.

Der Flur der Wise Oak School lag wie ausgestorben. Eilig sprintete ich in Richtung von MrsSmiths Klassenzimmer, das sich im nächsten Quergang befand. Im Laufen öffnete ich noch einmal die Umhängetasche, um die Karteikarten mit den Stichpunkten herauszukramen. Ich hatte sie gestern Abend in eine Klarsichthülle gesteckt und in einem der Seitenfächer der Tasche verstaut. Zumindest hatte ich das vorgehabt.

Leider tasteten meine Finger ins Leere. Herrje! Hoffentlich waren die Dinger bloß zwischen die Hefte gerutscht!

Ich durchwühlte meine Sachen und ärgerte mich noch mehr über die fehlende Kamera. Mit der Leica hätte ich sicher im Handumdrehen eine gute Aufnahme hinbekommen. Dann hätte ich mich in Ruhe auf den Vortrag vorbereiten können und stände längst vor meinen Mitschülern. So jedoch bog ich nun um die Ecke des Korridors, ohne darauf zu achten, was um mich herum geschah oder wer noch zu Gesellschaftskunde hastete, und rannte ungebremst in jemanden hinein.

Es krachte. Meine Schulter knallte gegen einen Oberarm, ich geriet ins Schlingern, stolperte.

»Aua!«, rief eine weibliche Stimme.

Unterdessen plumpste ich nun doch noch unsanft auf den Po. Meine Tasche flog ein paar Meter weiter, bevor sie ebenfalls auf dem Boden aufschlug. Natürlich verkehrt herum, sodass ihr gesamter Inhalt sich im Flur verteilte. Heute klappte aber auch gar nichts.

»Spinnst du?«, fauchte die Stimme.

Ich blinzelte und erkannte Stellas erschrockenes Gesicht. Auch sie hatte es von den Füßen gerissen. Sie hielt sich den Arm und funkelte mich an. »Bist du blind oder was?«

»Tut mir leid. Ich hab nicht aufgepasst.«

»War ja klar.« Stella kroch ein Stück von mir weg, als wäre ich eine Art Naturkatastrophe oder so, vor der man sich lieber in Sicherheit brachte. Sie zückte ihr Handy und kontrollierte ihr Spiegelbild mit der Selfiekamera.

Nachdem sie festgestellt hatte, dass ihr Goldhaar perfekt saß und der pinkfarbene Lidschatten nicht verschmiert war, wandte sie sich wieder mir zu. »Du siehst echt schlimm aus. Ist das eine tote Fliege an deinem Rock?«

»Kann sein.« Ich zuckte die Schultern. Die Fensterbank des Schulklos zählte definitiv nicht zu den saubersten Orten der Wise Oak. Allerdings war das gerade meine geringste Sorge.

»Igitt!« Stella verzog das Gesicht. Dann rappelte sie sich auf und stakste durch das Chaos meiner Habseligkeiten. Immerhin waren die Karteikarten aufgetaucht und lagen überall verstreut. Rasch klaubte ich sie auf.

Stella beobachtete mich einen Moment lang dabei, dann seufzte sie, bückte sich und fing an, meine Stifte einzusammeln.

»Danke, das ist nett.«

Stella nickte.

Normalerweise versuchten wir, einander, so gut es ging, zu ignorieren. Besonders in der Schule. Obwohl wir seit fünf Jahren die gleiche Klasse besuchten und unsere Eltern sich, nun ja, neuerdings ziemlich gut verstanden, hatten wir nicht wirklich etwas gemeinsam. Stella mochte alles, was perfekt war: Instagram-Filter, Sommerkleider mit Blumenmuster und angesagte Partys. Natürlich hatte sie in allen Fächern Bestnoten.

Ich hingegen stand darauf, ganze Wochenenden in unserer Dunkelkammer zu experimentieren, die alte Plattensammlung meines Vaters zu hören oder mit Grandma und Benisha vom Wohnzimmerfenster aus Leute zu beobachten und dabei Butter Fudge zu futtern.

In Stellas Augen war ich der Inbegriff einer Langweilerin, mit der zu sprechen sie sich nur im Notfall herabließ. Ihre plötzliche Hilfsbereitschaft überraschte mich daher schon ein bisschen. War sie etwa doch nicht so oberflächlich?

»Das hier gehört dir auch?«, fragte sie nun.

Ich war dabei gewesen, meine Hefte und Bücher zurück in die Tasche zu stopfen, doch Stellas Tonfall ließ mich trotz des Zeitdrucks innehalten. Ich sah auf.

Sie balancierte das Album auf ihren Knien und blätterte mit spitzen Fingern. »Uh, die sind gruselig! Sind das Verwandte von dir?«

»Nein. Das brauche ich für mein Referat. Mein Ururgroßvater hat die Bilder gemacht.« Ich streckte die Hand aus. Es gefiel mir nicht, das Album bei Stella zu sehen.

»Dann war er wohl kein sonderlich guter Fotograf. Das hier zum Beispiel ist total überbelichtet.« Sie deutete auf das Porträt der Frau in Spitzenbluse. »Ihre Augen sind komplett weiß.«

»Ja, bei manchen Aufnahmen stimmt etwas nicht. Aber damals waren die Möglichkeiten der Nachbearbeitung auch sehr begrenzt, also …«

»Also musste man mit so hässlichen Bildern leben oder zu einem anderen Fotografen gehen«, unterbrach Stella mich. Noch immer betrachtete sie neugierig Seite um Seite.

Meine Freude über ihre Hilfe verpuffte so rasch, wie sie aufgekommen war. »Wir müssen zum Unterricht«, sagte ich und zog den Reißverschluss der Tasche zu. »Kann ich das wiederhaben?«

»Klar«, murmelte Stella, den Blick weiterhin auf die Seiten geheftet. »In einer Sekunde, ich frage mich nämlich …«

Doch ich erfuhr nicht mehr, was sie sich fragte, denn in diesem Moment trat MrsSmith auf den Gang hinaus. »Elsie! Stella! Was soll das werden?«, rief sie. »Ab ins Klassenzimmer. Sofort!«

Wieder streckte ich die Hand nach dem Album aus, aber Stella ignorierte es eiskalt. »Ja, natürlich, Entschuldigung.« Sie marschierte an unserer Lehrerin vorbei, mein Album hatte sie unter den Arm geklemmt.

Ich folgte ihr durch die Tür, zu fassungslos sogar, um wegen des eingeschalteten Beamers und meiner auf die Leinwand projizierten Präsentation nervös zu werden. Die ganze Klasse wartete bereits auf das Referat. Die Vorhänge waren zugezogen, das Licht im Klassenraum ausgeschaltet worden und unter der Überschrift Atelier MacDonald – fotografische Ablichtungen seit 1867 leuchtete ein Bild unseres Hauses gespenstisch in die Runde.

»Äh, Stella?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

Stella, die bereits zu ihrem Platz in der vorletzten Reihe gestapft war, blickte auf. »Mhm?«

»Mein Album«, sagte ich tonlos.

»Ach so.« Sie klappte es zu und reichte es an Abigail weiter, die es Tristan gab, vor dem wiederum Sophie saß.

»Könnten wir dann endlich anfangen?«, erkundigte sich MrsSmith. Sie ging auf die sechzig zu, trug am liebsten Strickjacken mit Katzen drauf und war eigentlich wirklich nett. Als ich auf die Wise Oak gekommen war und sie erfahren hatte, dass meine Mum uns damals verlassen hatte, bevor ich drei Jahre alt gewesen war, hatte sie mir angeboten, mich jederzeit an sie zu wenden, sollte ich ein Problem haben, das ich lieber nicht mit meinem Vater besprechen wollte. Das hatte ich bisher zwar nie getan (kurz danach war außerdem Grandma bei uns eingezogen), aber ihre freundliche Geste vergaß ich nicht.

Jetzt allerdings war von ihrer mütterlichen Art nur wenig zu spüren. Genervt presste sie die Lippen aufeinander. »Die Stunde hat schon vor sieben Minuten begonnen«, informierte sie mich. Selbst die gestickte Katze auf der Brusttasche ihrer Bluse schien mich tadelnd anzusehen. »Das ist nun schon das zweite Mal in diesem Monat.«

»Es tut mir leid, ich … es wird nicht wieder vorkommen«, stammelte ich und steuerte das schmale Stehpult neben der Leinwand an. Dort platzierte ich meine Karteikarten. Dann wandte ich mich der Klasse zu. Besorgt suchte ich die Reihen nach meinem Album ab. Warum dauerte es denn bloß so lange, das Ding nach vorne zu geben?

Schließlich entdeckte ich es bei Sebastian, der grinsend darin herumblätterte und etwas murmelte, das nach »voll die Glupschaugen« klang.

Benisha, die meinem Blick gefolgt war, drehte sich um und pflückte das Album von seinem Tisch. Erst als ich kurz darauf den abgegriffenen Einband unter meinen Fingerspitzen fühlte, atmete ich auf.

Ein letztes Mal versicherte ich mich, dass es die richtige Präsentation war, die Benisha gestartet hatte.

Dann war ich bereit.

Benisha strahlte mich an. Neben ihr reckte Lucas, ihr Freund (die beiden waren seit drei Wochen zusammen), die Daumen in die Höhe und nickte mir zu.

Ich klammerte mich ans Pult. »Hallo, also, äh, ich begrüße euch zu meinem Vortrag über, na ja …« Ich verschluckte mich an meinem Satz und räusperte mich. Die Karteikarten waren im schummrigen Licht des Klassenraums nicht so gut zu lesen, wie ich gehofft hatte. Überhaupt gehörte das hier nun wirklich nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Zwar hatte ich nicht direkt Lampenfieber oder so. Aber wohl fühlte ich mich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit trotzdem nicht. Wahrscheinlich, weil mein Platz schon immer mehr hinter der Kamera gewesen war als davor.

Wieder glitt mein Blick zu Benisha und wieder lächelte sie mich an.

Für einen Moment schloss ich die Augen, atmete tief ein und langsam aus. Ich musste das hier einfach hinter mich bringen. Ein Schulreferat über ein Thema aus meinem Leben. Weil MrsSmith fand, dass wir damit üben konnten, uns zu präsentieren. Also gut, dann würde ich ihnen eben von unserem Atelier berichten. Und zwar die wahre Version, nicht das, was bereits seit über hundert Jahren über uns erzählt wurde. Immerhin bekam ich so die Chance, ein paar Dinge klarzustellen.

»1867 eröffnete mein Urururgroßvater Angus MacDonald sein Atelier am Tweeddale Court«, begann ich erneut, dieses Mal mit festerer Stimme. »Damals arbeitete er noch mit kollodiumbeschichteten Glasplatten und die Belichtung einer Aufnahme dauerte eine ganze Weile. Deshalb sieht man auf Bildern aus dieser Zeit häufig Geländer oder Säulen, an denen sich die Menschen anlehnen konnten, um leichter so lange stillzuhalten.«

Hinter Benishas schwarz glänzenden Zöpfen schoss eine Hand in die Höhe. Sie gehörte Sebastian, der sich normalerweise kaum am Unterricht beteiligte.

Ich stutzte. »Oh, äh, du hast schon eine Frage?«

Sebastian nickte. »Stimmt es, dass er sich für einen Hexer hielt, dieser Angus MacDonald?«

»Nein, er war Fotograf«, erklärte ich, doch so leicht gab Sebastian sich nicht geschlagen.

»Es heißt, er hätte mit schwarzer Magie experimentiert, Geisterbeschwörungen und so was.«

»Unsinn! Das haben sich die Leute nur ausgedacht.«

»Aber zumindest verrückt war er.« Sebastian senkte seine Stimme zu einem unheilvollen Flüstern herab. »Ich meine, wer behauptet, mit den Seelen der Toten zu sprechen …«

»Du glaubst aber auch alles, was man so redet, oder?«, murmelte Benisha.

»Auf diesem Bild seht ihr jedenfalls eine unserer ersten Kameras«, versuchte ich meinen Vortrag fortzuführen. »Das Teil erscheint im Vergleich zu heutigen Apparaten riesig. Aber für damalige Verhältnisse war es supermodern, weil …«

»Was ist mit den Séancen auf dem Greyfriars Friedhof?«, meldete sich nun auch Abigail zu Wort. »Mein Opa hat uns Kindern früher erzählt, dass die MacDonalds dort Gräber geöffnet hätten.«

»Vielleicht lassen wir Elsie erst einmal ihre Präsentation halten und sparen uns die Fragen für das Ende auf«, schlug MrsSmith vor. »Ihr könntet euch Notizen machen.«

»Angeblich hat er sogar damit geprahlt, gegen einen Werwolf gekämpft zu haben«, platzte es trotzdem aus Sophie heraus.

Auf meiner Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Verdammt! Es kursierten anscheinend noch weitaus mehr absurde Geschichten über uns als gedacht. Ich knetete meine Hände, dann schüttelte ich den Kopf und entschied mich für die Flucht nach vorn: »Mir ist selbstverständlich bewusst, dass ein gewisser Ruf unsere Familie umgibt. Das ist ja auch kein Wunder«, sagte ich. Bereits seit Generationen wohnten wir in dem windschiefen großen Haus im Herzen der Altstadt Edinburghs. In unserem Atelier hingen all die Fotos von Menschen, die schon lange tot waren. Wir galten als absolute Freaks. Und die Geister-Foto-Touren durch die Highlands, die mein Vater für Touristen anbot, trugen nicht gerade dazu bei, daran etwas zu ändern. Wären wir finanziell nicht so sehr auf die Einkünfte daraus angewiesen gewesen, hätte Dad diesen Blödsinn schon längst aufgegeben, das stand fest. »Es gehört in gewisser Weise zu unserem Geschäftsmodell.«

Ich seufzte. »Fakt ist allerdings, dass mein Urururgroßvater Angus MacDonald nie in irgendwelchen Hokuspokus verstrickt war. Sein Sohn John, also mein Ururgroßvater, interessierte sich für Alchemie und ihren Nutzen in der Fotografie. Er experimentierte mit verschiedenen Legierungen und Linsen. Nach allem, was wir wissen, war er außerdem ein wenig exzentrisch und erzählte besonders nach einem Glas Whisky gerne die eine oder andere haarsträubende Story. Er hatte einfach viel Fantasie und ein Fotolabor, in dem es zuweilen merkwürdig roch. Aber das war es dann auch schon. Wie bei den meisten Mythen ist die Wahrheit leider viel unspektakulärer, als man erwarten würde.« Ich klickte eine Folie weiter. »Also, zurück zum Atelier.«

Für die nächsten sechseinhalb Minuten gelang es mir tatsächlich, über Fotografie zu sprechen. Niemand unterbrach mich, als ich die Entwicklung der trockenen Gelatineplatte beschrieb (ziemlich cool, weil die Kameras dadurch viel kleiner wurden und kein Stativ mehr benötigten) oder den Hype, der entstand, als plötzlich jeder diese handlichen Carte-de-Visite-Fotos haben wollte.

Leider war mir nicht klar, ob ich die Klasse doch noch für mein Thema hatte gewinnen können oder sie schlicht in eine Art komatösen Zustand hineingelangweilt hatte. Aber Benisha lächelte noch immer, meine anfängliche Nervosität hatte sich gänzlich gelegt und ich beschloss, zum krönenden Finale des Vortrags zu kommen.

»Könnte jemand das Licht wieder einschalten?«, bat ich. »Zum Abschluss möchte ich euch einige Bilder zeigen, die um das Jahr 1900 von John MacDonald geschossen wurden.« Ich griff nach dem Album und hielt es hoch. »Zu seiner Zeit waren Bilder wie diese das Markenzeichen unseres Ateliers.«

Die Deckenbeleuchtung ging an. Ich lehnte den Einband gegen meine Brust und schlug die erste Seite auf. Es war die mit der Dame mit den weißen Augen.

»Unheimlich«, entfuhr es Abigail.

Ich nickte. »Die Fotos haben einen Charme, der nicht jedermanns Geschmack ist.« Mein Blick huschte zu Stella, die abwesend auf ihrem Collegeblock herumkritzelte. Ihr plötzliches Interesse an meinem Album war also doch nicht so groß gewesen. Offenbar hörte sie gar nicht mehr zu. Nun ja, egal.

»Ich finde die Aufnahmen allerdings großartig. Allein die Tiefe und der Kontrast sind erstaunlich für den damaligen Stand der Technik. Das fasziniert mich schon, seit ich …«

Ich stutzte. Während ich sprach, hatte ich weitergeblättert. Als Nächstes hätte Muffin, der grimmige Hirschhund, kommen müssen, dessen Lefzen so eindrucksvoll abgelichtet worden waren, dass man meinte, ihn hecheln zu hören.

Doch zeigen konnte ich ihn der Klasse nicht.

Die Seite war leer.

Was? Ich blinzelte, aber es bestand kein Zweifel: Wo noch vor Minuten Muffins Porträt an einem letzten Rest Kleber gehangen hatte, war nur ein Schatten auf dem verblichenen Papier übrig geblieben.

Nein!

Meine Knie schienen unter mir nachgeben zu wollen.

»Krass, hast du einen Geist gesehen?«, wollte Sebastian wissen. Er sah sich im Raum um. »Sind wir etwa nicht allein?«, flüsterte er.

Ein paar Leute kicherten.

»Einen Moment«, murmelte ich. Hatte sich Muffins Bild bei meinem Sturz auf dem Flur endgültig gelöst und war zwischen die übrigen Fotos gerutscht? Auf dem Korridor hatte jedenfalls nichts mehr von meinen Sachen gelegen. Dessen war ich mir sicher. Oder sollte ich dort zuerst nachsehen? War es in irgendeine entfernte Ecke geflattert? Ich war drauf und dran, hinauszurennen, doch ich zwang mich dazu, wenigstens halbwegs logisch vorzugehen. Ich senkte das Album auf das Rednerpult hinab. Mit fliegenden Fingern ging ich durch die Seiten.

Wo steckte Muffin bloß?

Ich schwitzte jetzt stärker, mein Brustkorb verengte sich. Einen Herzschlag später fiel es mir schwer, überhaupt zu atmen.

Muffin war nämlich nicht der Einzige, der fehlte.

Tränen traten mir in die Augen.

»Ist alles in Ordnung?« Benisha stand mit einem Mal neben mir. »Ist dir nicht gut?«

Ich antwortete nicht. Weder konnte ich sprechen noch glauben, dass meine geliebten Fotos fort waren. Muffin war weg, ebenso die verschleierte Braut. Auch von dem kleinen Mädchen mit dem Haar, das bis zu den Knöcheln reichte, und dem Mann im dunklen Mantel und Zylinder fehlte jede Spur. Sie waren doch nicht allesamt lose gewesen!

Nein, nein, nein!

In was für einem Albtraum war ich hier gelandet?

Mir wurde schwindelig und Benisha legte mir einen Arm um die Taille, um mich zu stützen. »Ich glaube, sie sollte sich setzen«, hörte ich sie aus weiter Ferne sagen. »Sie hat sich schon in der Pause etwas krank gefühlt. Wahrscheinlich kriegt sie eine Erkältung oder so.«

Die Worte drangen wie durch Watte an mein Ohr, während mich der schlimmste Verdacht von allen beschlich.

Aidan!

Bitte, flehte ich in Gedanken. Bitte nicht er!

Fast hätte ich das Album zu Boden gefegt, so überstürzt schlug ich die letzte Seite auf. Und das war der Augenblick, in dem etwas in mir zerbrach.

Denn Lord Aidan Storm war ebenfalls verschwunden.

2

Das Haus am Tweeddale Court

Waren meine Bilder gestohlen worden? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass jemand so etwas tun würde. Aber was sollte sonst mit ihnen passiert sein? Beim Zusammenpacken auf dem Schulklo klebten die Bilder schließlich noch (mehr oder weniger) im Album und dann, am Ende meines Referats, plötzlich nicht mehr. Hatte Stella sich die Fotos geschnappt? Oder Sebastian, um ein paar Glupschaugen-Souvenirs mit nach Hause zu nehmen?

»Du musst sehr an diesem Familienerbstück hängen. Es tut mir leid, dass es beschädigt wurde«, sagte MrsSmith, während sie mir zusammen mit Benisha ein großes Glas Wasser einflößte. Anschließend liefen wir den gesamten Weg von den Toiletten bis zum Klassenzimmer ab und spähten in jeden Winkel, ob die verlorenen Bilder nicht doch bloß herausgefallen waren. Ich hoffte natürlich, Muffin, Aidan und die anderen einfach wiederzufinden. Nur durch einen dämlichen Windstoß in eine Ecke des Korridors geweht. Der Klebstoff war ja nun einmal nicht mehr der beste und der Aufprall nach meinem Zusammenstoß mit Stella unsanft gewesen. Aber leider konnten wir keinen von ihnen entdecken.

Auf dem Heimweg versuchte ich etwa zwanzig Mal, Stella auf dem Handy zu erreichen, und schickte ihr mindestens genauso viele Nachrichten, um sie nach den Bildern zu fragen. Eine Antwort erhielt ich jedoch nicht. Und machte das allein sie nicht schon verdächtig? Als ich die Stufen zu unserer Haustür emporstieg, zitterte ich vor Wut und Erschöpfung. Ja, ich musste unbedingt mit Stella sprechen! Bei ihr würde ich anfangen. Ich brauchte diese Bilder nämlich! So verrückt es auch klang, ich konnte einfach nicht ohne sie sein. Nicht ohne Aidan.

Das altmodische Schloss knarzte, als ich den Schlüssel darin drehte.

»Elsie! Gut, du bist da!«, rief mein Vater von irgendwo aus dem Studio, kaum dass ich den schwarz und weiß gefliesten Flur betreten hatte. »Kannst du dich um Grandma kümmern? Sie hat wieder einen dieser Tage und ich muss das hier noch fertig machen.«

Ich schloss die Augen und blinzelte die Tränen fort, die sich beim Gedanken an die verschwundenen Bilder schon wieder hineingeschlichen hatten. »Wo ist sie denn?«, fragte ich, stellte die Tasche ab und hängte meine Jacke an die Garderobe. Meine Schuhe tauschte ich gegen weiche Filzpantoffeln.

Genau wie der Rest des Hauses war auch der Eingangsbereich hoffnungslos vollgestopft mit Dingen. Zu viele Generationen der MacDonalds hatten ihre Spuren hinterlassen und im Laufe der Zeit mehr Ohrensessel, Lampen und Teekannen angehäuft, als wir wohl je brauchen konnten. Die Kisten voller Fotoplatten, Abzüge und Negative, die sich zudem überall türmten und Staub magisch anzogen, machten es nicht besser.

»Küche«, kam es von Dad. »Danke, Schatz.«

Ich linste um die Ecke. Das Studio wurde nur vom Schein eines Computerbildschirms erleuchtet. Mein Vater saß mit dem Rücken zu mir und bearbeitete die Bilder einer vierköpfigen Familie in Kilts, die sich oben beim Monument auf Calton Hill hatte ablichten lassen. Die Eltern lächelten in so unnatürlichem Zahnpastaweiß, dass ich auf Amerikaner tippte.

»Ich glaube, sie will für nachher einen Kuchen backen«, murmelte Dad, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Das spärliche Haar stand ihm vom Kopf ab, als hätte er es sich gerauft. Seine Schultern hingen müde herunter.

»Okay.« Ich schob mich an der Standuhr und einem ausrangierten Stativ vorbei in Richtung Treppe und war schon ein gutes Stück hinaufgestiegen, als ich es mir anders überlegte und noch einmal umkehrte. Mit langen Schritten hastete ich zur Tür zurück und schnappte mir die Tasche mit dem Album.

Nach dem heutigen Vorfall war ich paranoid.

Auf dem Weg nach oben knarrten die ausgetretenen Stufen trotz der Teppiche, mit denen sie ausgelegt waren, unter jedem meiner Schritte. Meine Hand glitt wie stets über das geschnitzte Geländer, von dem die Farbe abblätterte. Es war meine Art, meinem Zuhause Hallo zu sagen. Denn natürlich kannte ich jede Biegung in- und auswendig und ich hätte mich nicht wirklich festhalten müssen. Ich würde mich blind in diesem Haus zurechtfinden.

Über dem Erdgeschoss, auf dessen Fläche sich das Studio, die Dunkelkammer und das alte Fotolabor erstreckten, lagen noch drei weitere Etagen. Im ersten Stock befanden sich das Esszimmer, eine Art Wohnzimmer, das Gesellschaftszimmer hieß und dessen Mobiliar ausnahmslos unbequem war, eine Toilette sowie unsere Küche. Darüber hatten Dad und Grandma ihre Schlafzimmer. Außerdem gab es dort noch Dads Büro, ein weiteres Wohnzimmer, in dem auch unser Fernseher stand, und das große Badezimmer.

In der dritten Etage schließlich fanden sich mein Zimmer, das ehemalige Nähzimmer meiner Urgroßmutter sowie ein Gästezimmer. Außerdem gab es mehrere Abstellkammern und einen schmalen Gang, an dessen Ende eine weitere Treppe hinauf zur Luke des Dachbodens führte.

Benisha, deren Familie in einem Loft mit weißen Ledersofas und mehr Fensterfronten als Wänden lebte, verglich unser Haus gerne mit dem Kaninchenbau aus Alice im Wunderland, wo es in jedem Winkel etwas zu entdecken gab. Wobei Kerzenstummel, vergilbte Zeitschriften und angeschlagenes Geschirr, auf das man bei uns gefühlt in jedem beliebigen Schrank stieß, irgendwann ihren Reiz verloren hatten. Vor allem, weil ich im Laufe der Jahre etwa eine Million Fotos von all dem Krempel gemacht hatte.

Als Kinder hatten Benisha und ich allerdings ganze Samstage damit verbracht, nach altem Spielzeug oder ungewöhnlichen Fotografien zu stöbern. Nachdem ich das Album auf dem Dachboden gefunden hatte, war ich eine Weile lang regelrecht besessen davon gewesen, weitere Aufnahmen dieser Art aufzutun. Das war mir zwar nicht gelungen, aber unsere Suche hatte uns immerhin eine Puppe ohne Arme, einen ausgestopften Fuchs und einen Brief meiner Ururgroßmutter an meinen Ururgroßvater eingebracht. In Letzterem bat sie ihn in schnörkeliger Handschrift, doch etwas weniger Zeit auf Rosemore Castle draußen in den Highlands zu verbringen und stattdessen nach Hause zu kommen und endlich einmal wieder den Rasen zu mähen.

Auch jetzt wuchs das Gras in unserem Garten übrigens viel zu hoch. Schon vom Flurfenster aus war zu erkennen, dass wir dort draußen eher eine Wiese voller Unkraut als einen gepflegten Rasen besaßen. Im Grunde war der komplette Innenhof zugewuchert, genauso wie der Geräteschuppen. Selbst wenn wir es also gewollt hätten: Um an die Gartengeräte zu kommen, hätten wir uns erst einen Weg dorthin freischneiden müssen, was ohne Gartengeräte natürlich schwierig war. Ein unlösbares Problem, was sollten wir tun?

Unsere Nachbarn regten sich deshalb schon seit Jahren auf, aber Dad und ich hatten meistens andere Sorgen, als uns mit den Frasers über unsere wilden Rhododendren zu streiten. Zum Beispiel die Rechnungen für Strom und Wasser oder Grandmas Medikamente.

Und heute kamen auch noch meine verpatzte Aufnahme von der tanzenden Tüte und die verschwundenen Fotos hinzu. Das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust schien sich von Minute zu Minute weiter auszubreiten. Ich drückte meine Tasche an mich und betrat die Küche.

Grandma saß am Tisch, in der einen Hand hielt sie einen zur Hälfte geschälten Apfel, in der anderen ein Messer. Ihr Kinn war auf ihre Brust gesunken und sie schnarchte leise, während rohes Ei von der Tischkante tropfte. Die Schalen lagen bereits auf dem Boden. Außerdem klebte überall Mehl.

Ja, es sah ganz so aus, als hätte Grandma versucht zu backen.

Ich platzierte meine Tasche auf einem Stuhl in ausreichendem Sicherheitsabstand zu der Sauerei auf dem Boden. Dann bahnte ich mir meinen Weg zur Spüle und angelte nach einem Lappen.

Meine Großmutter schlief friedlich weiter, während ich um ihre Füße herumwischte, Apfel- und Eierschalen aufsammelte und klumpiges Mehl vom Tisch kratzte. Erst als ich ihr vorsichtig das Messer aus der Hand nahm, regte sie sich.

Verwirrt rückte sie ihre Brille zurecht. »Elsie«, nuschelte sie. »Irgendetwas wollte ich …« Sie schaute sich im Raum um. »Wenn ich doch nur draufkäme.« Ihr Blick fiel auf den Apfel in ihrer Hand. »Hast du Hunger?«

»Nein, schon in Ordnung«, sagte ich, obwohl mein Magen tatsächlich bereits knurrte. In der Schule hatte es heute zum Lunch wieder diesen undefinierbaren Eintopf gegeben, von dem ich meistens nur ein paar Löffel herunterbrachte, bevor meine Fantasie mit mir durchging bei der Frage, woraus dieses Gericht wohl bestehen mochte. »Du machst Apfelkuchen?«

Grandma legte den Kopf schief. »Wie bitte?«

»Du machst Apfelkuchen?«, wiederholte ich lauter. Offenbar hatte sie ihre Hörgeräte vergessen.

Erneut sah Grandma sich um, sie schien zu überlegen, dann nickte sie langsam. »Ja, ich backe. Ich backe uns einen schönen Apfelkuchen zum Nachtisch. Steven bekommt doch heute Abend wieder Besuch von diesem Mädchen«, erklärte sie, wobei sie mehr schrie, als dass sie sprach.

»Ja, ich weiß«, murmelte ich. »Ich hole dir deine Hörgeräte, Moment.«

»Was sagst du?«

»Bin gleich wieder da.«

»Tut mir leid, ich habe dich nicht verstanden.« Sie betastete ihre Ohren. »Kannst du vielleicht nach meinen Hörgeräten schauen?«

Ich nickte und machte mich auf den Weg in ihr Zimmer, das von der Tapete über die Vorhänge bis zu den Kissenbezügen in ein rosafarbenes Blümchenmuster getaucht war. Selbst Grandmas Hauskittel, die sie über den Blusen mit Spitzenkragen zu tragen pflegte, passten dazu. »Als wollte sie jederzeit mit ihrer Umgebung verschmelzen können«, hatte Benisha einmal gemeint.

Ich fand die Hörgeräte auf der Kommode neben dem Bild von Great-Great-Grandpa in dem schnörkeligen Rahmen. Kurz darauf kehrte ich in die Küche zurück. Während Grandma sich die Dinger umständlich in die Ohren friemelte, rührte ich den halbfertigen Teig um und versuchte abzuschätzen, welche Zutaten wohl darin und welche neben der Schüssel gelandet waren.

In letzter Zeit überschlug sich Grandma regelrecht, wenn es um besagtes Mädchen ging, mit dem Dad sich seit etwa einem Vierteljahr traf. Dianne war die erste Frau, auf die er sich einließ, seit Mum uns damals verlassen hatte. Also hätte ich wohl genauso froh darüber sein sollen wie Grandma. Es tat ihm gut, nicht länger allein zu sein, und ich versuchte ja, mich für ihn zu freuen. Ehrlich! Leider fand ich Dianne mit ihren künstlichen Fingernägeln und dem Getue, das sie um alles und jeden veranstaltete, ziemlich nervig. Wieso zum Beispiel war es notwendig, bei jedem zweiten Satz, den mein Vater sagte, seinen Arm zu tätscheln, als wäre er ein Hund, der ein Kunststück gelernt hatte?

Außerdem war Dianne Stellas Mutter und allein diese Tatsache gefiel mir ganz und gar nicht. Vor allem, weil Dad und sie wohl darauf hofften, dass wir doch noch Freundinnen würden. Zumindest hatte es in letzter Zeit häufiger Unternehmungen zu viert gegeben: einen Bummel auf dem Wochenmarkt, eine Wandertour hinauf zu Arthur’s Seat und gemeinsame Abendessen, bei denen Stella und ich einander anschwiegen. Viele davon.

Noch am Morgen hatte mich die Aussicht auf das Dinner innerlich aufstöhnen lassen. Jetzt allerdings musste ich zugeben, dass die Dinge ein wenig anders lagen. Denn immerhin würde Stella mir nicht so leicht ausweichen können, wenn ich sie nachher auf meine Bilder ansprach. Notfalls könnte ich sie mit dem Apfelkuchen vergiften und ihr das Gegenmittel erst im Austausch gegen meine Fotos verabreichen …

»Wie war es denn heute in der Schule, Liebes? Hattest du nicht so eine Sache? Eine Klassenarbeit oder so?«, erkundigte sich Grandma derweil.

Ich berichtete ihr von meinem Referat und dass einige es natürlich nicht hatten lassen können, nach John MacDonald zu fragen.

»Ach, diese alten Geschichten!« Grandma winkte ab und schaffte es dabei, schon wieder etwas Mehl auf den Fußboden zu wischen. »Ich bin sicher, du hast das toll gemacht.«

»Na ja.«

»Kannst du mir mal ein Ei geben?«

»Klar.« Ich ging zum Kühlschrank und brachte gleich auch noch die Milch mit.

Grandmas Apfelkuchen waren übrigens stets ein Gedicht, auch wenn sie die Zutaten scheinbar wahllos miteinander vermengte und jedes Mal etwas anderes vergaß. Die Erfahrung eines ganzen Lebens machte diese Ungenauigkeiten wohl wett.

Auch heute duftete es schon bald im ganzen Haus herrlich verheißungsvoll. Während wir vor dem Ofen saßen und dem Teig dabei zusahen, wie er sich aufplusterte und goldbraun verfärbte, blätterte ich durch das Album. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, dass die Fotos tatsächlich weg sein sollten. Warum hatte Stella sie genommen? Sie konnte damit doch überhaupt nichts anfangen, oder?

»Schätzchen?« Grandma betrachtete mich von der Seite. Bis gerade eben hatte sie noch vor sich hin gesummt, doch nun wirkte sie mit einem Mal ernst. Ihr Blick wanderte zwischen mir und der leeren Seite, auf der Aidan geklebt hatte, hin und her. »Was ist das?«

Als ich ihr erklärte, was geschehen war, wich für einen Moment jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. »Oh, das ist nicht gut, dieses Album ist doch kein Spielzeug«, sagte sie leise. »Ich dachte, Großvater hätte es vor seinem Tod irgendwo vergraben, an einem sicheren Ort. Jedenfalls hat er das immer behauptet.«

»Was? Wieso das denn?«

Sie beugte sich vor und öffnete den Backofen, um mit einem Holzstäbchen in den Kuchen zu piksen. »Ein paar Minuten muss er noch.«

»Warum hätte Great-Great-Grandpa es vergraben sollen? Das sind doch bloß Fotos.«

»Was?«

Ich hielt ihr das Album unter die Nase.

Grandma schien es jedoch zum ersten Mal wahrzunehmen. »Was sind das für Bilder?«

»Von Great-Great-Grandpa«, sagte ich.

»Wirklich?«

»Gerade meintest du, er hätte vorgehabt, sie zu verbuddeln oder so? Wäre es nicht einfacher gewesen, sie zu verbrennen, wenn er sie schon loswerden wollte?«

»Komisch«, murmelte Grandma und wiegte den Kopf hin und her. »Räum das lieber weg. Deine Schulaufgaben haben in der Küche jedenfalls nichts zu suchen.« Sie zupfte am Saum ihres Kittelkleides. »Irgendetwas wollte ich … Wenn ich nur draufkäme …«, murmelte sie. »Ah, der Kuchen! Haben wir noch Puderzucker?«

Ich zeigte ihr die Frau mit den weißen Augen. »Weißt du mehr über sie?« Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mein Vater den alten Aufnahmen auf meinem Nachttischchen je Beachtung geschenkt hätte. Sie hatten viele Jahre so selbstverständlich dort gelegen, dass mir gar nicht aufgefallen war, dass ich noch nie mit meiner Großmutter über sie gesprochen hatte.

Leider schien sich ihr Gedächtnis wieder einmal ausgeklinkt zu haben. Kaum hatte sie den Puderzucker aus dem Schrank gefischt, begann sie auch schon damit, ihn auf ihren Pantoffeln zu verteilen.

Pünktlich zum Dinner thronte der Kuchen auf der Anrichte im Esszimmer. Grandma, die wieder zuckerfrei war und ihren Kittel gegen eine Strickjacke mit Perlenknöpfen eingetauscht hatte, saß zufrieden am Kopfende des Tisches. Dianne, Stella und ich hatten an den Längsseiten Platz genommen, Dad wanderte von einem zum anderen und verteilte Nudeln und Soße auf unseren Tellern.

Er nannte das Gericht »Pasta al Steven« und servierte es aus antiken Porzellanschüsseln. Über den Arm hatte er sich eine weiße Stoffserviette gelegt, wie ein Kellner in einem schicken Restaurant. So hoffte er wohl, unsere Gäste darüber hinwegtäuschen zu können, dass er es erst in letzter Sekunde in die Küche geschafft hatte und die »Soße« aus einem Glas Pesto bestand, das er mit einer Packung passierter Tomaten verrührt hatte. Das Ganze war recht klumpig geraten.

»Eine Spezialität unseres Hauses«, erklärte er, während er Stella auftat. »Ganz altes Familienrezept.«

»Aus der Zeit, bevor es Kochbücher gab?«, murmelte diese kaum hörbar und erntete dafür einen bösen Blick von ihrer Mutter.

»Es sieht köstlich aus, Darling«, sagte Dianne und strahlte meinen Vater an. Für einen Mittwochabend hatte sie ein ziemlich elegantes Kleid gewählt, schwarz und mit einem tiefen Rückenausschnitt. Das Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen und auf ihren Fingernägeln schimmerten winzige Strasssteinchen.

Dad hingegen trug seine abgewetzte Hose, außerdem ein Hemd mit Karomuster und die Brille mit dem goldenen Rand, die etwas schief auf seiner Nase hing, seit er sich letztes Frühjahr versehentlich auf sie gesetzt hatte. Sein Haar stand immer noch von seinem Kopf ab, obwohl er sich gekämmt hatte.

»Dann erzählt doch einmal. Hattet ihr einen schönen Tag?«, fragte er in die Runde, nachdem alle mit einer ordentlichen Portion Pasta al Steven versorgt waren und er sich gegenüber von Grandma niedergelassen hatte.

»Oh, wie zauberhaft von dir, dich danach zu erkundigen.« Dianne streichelte seinen Arm. (Fehlte nur noch, dass sie ihm über den Kopf wuschelte und »Braver Junge« sagte.) »Im Büro lief es heute in der Tat sehr erfreulich.« Ihre Mundwinkel zuckten, als könne sie es selbst kaum glauben. »Es gibt vielleicht einen Interessenten für Oak House«, verkündete sie stolz.

Dianne arbeitete als Immobilienmaklerin und das große alte Haus neben unserer Schule befand sich schon seit einer halben Ewigkeit im Portfolio ihrer Firma, ohne dass sich jemand für den baufälligen Kasten hatte erwärmen können. Obwohl Dad und Dianne erst relativ kurz zusammen waren, hatte ich mindestens schon fünf Geschichten über diesen gammeligen Ladenhüter der Agentur gehört, der möglichst verkauft werden sollte, bevor er endgültig einstürzte. Der bröckelnde Putz und die vernagelten Fenster, die man von unserem Schulhof aus sehen konnte, wirkten aber auch wirklich nicht gerade einladend. Außer vielleicht für einen Vampir oder so.

»Cool«, sagte ich und probierte meine Pasta, die überraschend gut schmeckte. »Das ist lecker!« Ich deutete auf meinen Teller.

»Wirklich?« Dads Augen funkelten.

»Oh ja. Wenn alles klappt, wird die Provision, nun ja, sie wird ziemlich fantastisch sein«, fuhr Dianne fort, die in Gedanken wohl bereits den Kaufvertrag für Oak House formulierte. »Selbstverständlich werde ich versuchen, den Preis noch etwas in die Höhe zu treiben. Und dann unterzeichnen sie hoffentlich, bevor die nächste Regenfront kommt und die Löcher im Dach zu auffällig werden. Oder der Schimmel im Keller.« Sie lachte gekünstelt.

Irgendwo im Haus ertönte ein Seufzen. Hatte Grandma wieder versehentlich den Fernseher angelassen?

»Aber meinst du nicht, das könnte, äh, unfair sein?«, gab Dad zu bedenken. »Den Käufern die Schäden zu verschweigen, meine ich? Ist so etwas überhaupt rechtens?«

»Du hast so ein gutes Herz, Darling. Das mag ich an dir besonders.«

Jetzt verdrehte ich doch ein bisschen die Augen. Mir gegenüber tat Stella das Gleiche. Dann widmete sie sich wieder ihrem Smartphone unter der Tischplatte, auf dem sie schon die ganze Zeit über immer wieder herumtippte.

»Ich hatte nach der Schule versucht, dich zu erreichen«, sagte ich zu ihr.

»Mhm.« Mit ihrer freien Hand stocherte sie geistesabwesend in ihren Nudeln herum. »Hab ich gesehen.«

»Ach, ich weiß nicht. Es ist ein ganz normales Herz, schätze ich«, murmelte Dad derweil und wurde rot. Dianne legte den Kopf schief und lächelte ihn an, er lächelte zurück. Die beiden küssten sich.

Aus dem Fernseher im Stockwerk über uns seufzte es erneut.

»So ein schönes Paar!«, freute sich Grandma. »Ich habe übrigens extra für euch gebacken. Einen, äh … Birnen-, nein, einen Apfelkuchen, genau. Am besten schneide ich ihn schon einmal an.« Sie stemmte sich aus ihrem Stuhl in die Höhe und schlurfte zur Anrichte hinüber.

Ich beugte mich zu Stella vor. »Es geht um die Fotos, ich brauche sie zurück«, raunte ich ihr zu. Das hier war meine Gelegenheit: Solange die anderen abgelenkt waren, würde sie vermutlich eher mit sich reden lassen. Auf jeden Fall könnte sie mir die Bilder einfach wiedergeben, ohne unseren Eltern irgendetwas erklären zu müssen. Wobei mich die Erklärung brennend interessiert hätte.

Stella schaute jedoch nicht einmal von ihrem Telefon auf. »Welche Fotos?«, entgegnete sie mit reichlich Verzögerung.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Fotos, die aus meinem Album verschwunden sind.«

»Die gruseligen Teile sind weg?«

Mein Mund klappte auf und wieder zu. Panik wallte in mir auf.

Stella blinzelte. »Herrje, du glaubst wirklich, ich könnte sie dir stibitzt haben?«

»Bevor wir zusammengestoßen sind, waren sie noch da. Danach nicht mehr. Und du hast das Album am längsten von allen in den Händen gehalten«, präsentierte ich die Fakten, während mich zugleich die ernüchternde Ahnung beschlich, dass das natürlich gar nichts bewies. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie meine Anrufe ignoriert hatte. Verdammt.

Stella legte die Stirn in Falten. »Also, erstens: Du hast mich über den Haufen gerannt wie eine Geisteskranke und ich hab dir bloß netterweise mit deinem Krempel geholfen«, erklärte sie. »Zweitens: Ich habe keinen Schimmer, wo deine Bilder sind. Außerdem drittens: Ich muss mal dringend aufs Klo.« Sie erhob sich.

Da Grandma uns den Rücken zuwandte, während sie mit dem Kuchenmesser hantierte, und Dad und Dianne einander noch immer tief in die Augen sahen, interessierte sich niemand dafür, dass ich ebenfalls aufstand.

Ich folgte Stella auf den Flur hinaus und, weil ich schon einmal dabei war, bis ins Bad, das gleich gegenüber vom Esszimmer lag.

»Äh, Elise! Hey, was soll das?« Stella versuchte, mich zurück auf den Gang zu schieben. »Ich muss echt pinkeln.«

»Dann hat Sebastian sie genommen, oder?« Verzweifelt baute ich mich zwischen Waschbecken und Toilette auf. Die Vorstellung, Aidan nie wieder zu sehen, war einfach zu viel für mich. »Konntest du von deinem Platz aus irgendetwas beobachten? Hat er die Fotos vielleicht herausgerissen, während ich zum Pult rübergegangen bin?«

»Kann sein, was weiß ich?«

»Oder Abigail? Ihr seid doch befreundet. Würde sie so etwas machen? Sie interessiert sich für Vintage-Mode, richtig?« Fieberhaft überlegte ich, welchen Weg genau das Album durch die Reihen genommen hatte, bevor es wieder bei mir angekommen war.

Stella stützte die Hände in die Seiten. Inzwischen schien sie mich endgültig für verrückt zu halten. »Was soll dieses Verhör, Elsie? Und wieso kannst du mich deshalb nicht mal fünf Minuten in Ruhe …«

In diesem Moment seufzte es schon wieder. Doch dieses Mal konnte ich das Geräusch besser zuordnen. Unser Fernseher war schon einmal eindeutig nicht die Quelle. Es sei denn, er hatte sich an seinem Kabel in die Tiefe gestürzt und baumelte nun von außen an der Fassade.

»Was war das?«, wollte auch Stella wissen.

»Keine Ahnung.« Ich schob mich am Handtuchhalter vorbei und öffnete das Badezimmerfenster.

Ein Schatten huschte aufgescheucht davon in Richtung zweite Etage. Eine Taube? Oder ein Eichhörnchen, das in den Efeuranken an unserem Haus hochkletterte?

»Was ist los?«, flüsterte Stella.

Ich legte einen Finger auf meine Lippen. Lautlos lehnten wir uns nebeneinander aus dem Fenster und verrenkten die Hälse, um nach oben zu schauen.

Wir hatten Mitte Oktober und natürlich war es um diese Uhrzeit längst dunkel. Wäre die Straßenbeleuchtung nicht gewesen, die unsere Gasse mit einem gelblichen Schimmer überzog, man hätte wohl kaum die eigene Hand vor Augen erkannt. Doch auch so war es schwierig, Genaueres in der Finsternis über unseren Köpfen auszumachen. Hangelte da wirklich ein Schatten zwischen den Schatten, der dort nicht hingehörte?

Es raschelte, als sich etwas bewegte. Nur eine Armeslänge von meinem Gesicht entfernt. Ich zuckte zurück, dann beugte ich mich noch weiter hinaus.

»Was?«, formten Stellas Lippen.

Ich deutete auf die Stelle links oberhalb des Fensters. Sie rückte ein Stück näher und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Da ist doch überhaupt nichts«, murmelte sie, während die Dunkelheit wieder in Unruhe geriet.

Ein Schaudern schien nun wie eine Welle durch die Efeuranken zu laufen. Die Blätter raschelten auf eine Art und Weise, die seltsam falsch klang. Außerdem schlug mir plötzlich so ein muffiger Geruch entgegen, der mich an Erde und Schimmel erinnerte.

Ich schluckte. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Das war bestimmt nur eine Maus«, meinte Stella. »Oder eine Eule.« Sie zog sich wieder ins Innere des Badezimmers zurück. »Am besten, wir machen das Fenster zu«, erklärte sie und versuchte, mich ebenfalls nach drinnen zu zerren. Aber ich rührte mich nicht.

»Ich brauche meine Kamera«, wisperte ich. Das Rascheln bewegte sich weiter über die Hauswand. Jetzt bogen sich sogar ein paar Ranken in der Nähe meines Zimmers auseinander. Als würde ein unsichtbares Gewicht sie nach unten ziehen oder …

Stella schnaubte in meinem Rücken. »Ernsthaft? Du willst Fotos davon machen? Von einer Maus im Dunkeln? Die außerdem schon längst abgehauen ist?«

»Na ja, ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das wirklich eine …«

»Von mir aus«, fiel Stella mir ins Wort. »Habt ihr dann noch eine andere Toilette, die ich benutzen kann?«

»Eine Etage höher«, antwortete ich. Das Album hatte ich vor dem Abendessen wohlweislich in meinem Schreibtisch eingeschlossen, wo es hoffentlich in Sicherheit wäre.

»Großartig«, sagte Stella noch, dann ließ sie mich allein. Die Badezimmertür fiel ins Schloss.

Ich blinzelte und lehnte mich so weit vor, dass ich aufpassen musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und auf die Straße zu stürzen. Irgendwo weiter oben erklang erneut dieses Seufzen, das ich vorhin schon gehört hatte. Nur war es eigentlich gar kein Seufzen, sondern eher ein Wind, der durch die Blätter fuhr und dabei eine Art Wimmern erzeugte. Schaurig und traurig und … irgendwie gefährlich.

Echt jetzt? Ich schluckte. Das hier war nicht richtig, die ganze Situation, es … passte nicht zusammen. Eine Gänsehaut kroch über meinen Nacken und ich fröstelte. Nein, ohne Kamera käme ich nicht weiter. Da verbarg sich ganz eindeutig eine Wahrheit hinter der Wahrheit, das spürte ich genau.

Dennoch kostete es mich einige Überwindung, die Schatten aus den Augen zu lassen und das Fenster zu schließen, um meine Leica aus dem Studio im Erdgeschoss heraufzuholen. Beinahe wäre ich die Treppe hinuntergefallen, so eilig sprintete ich nach unten, schnappte mir den Apparat und stürzte wieder hinauf. Nur um kurz darauf erneut das Badezimmerfenster aufzureißen und mich – dieses Mal bewaffnet mit einer Fotolinse – hinauszulehnen.

Das Jammern war noch immer da. Es hallte inzwischen von den Häuserwänden wider und schien nun die gesamte Gasse auszufüllen. Ich erwartete schon, dass jeden Moment die pingeligen Frasers aus dem Nachbarhaus kämen, um nach der Ursache des Geräusches zu forschen. Doch nichts dergleichen geschah, auch dann nicht, als sich das Wimmern allmählich in ein Flüstern verwandelte, dessen Quelle, so kam es mir vor, überall und nirgends zugleich war.

Ein Flüstern, das mich hinauslocken wollte? Oder bildete ich mir das nur ein?

Durch den Sucher der Kamera zoomte ich die zitternden Efeuranken über meinem Kopf heran, bis ich einen sich zwischen ihnen kräuselnden Schatten ins Bild bekam. Hastig schoss ich ein Foto nach dem anderen. Aber bereits jetzt hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass die meisten Aufnahmen zu verschwommen sein würden, um etwas darauf zu erkennen. Trotzdem fotografierte ich weiter. Minutenlang.

Schließlich bildete die Luft überall in der Gasse feine Wirbel und ich traute mich kaum noch, zu blinzeln. Unaufhörlich ließ ich den Auslöser der Kamera klicken. Gerade so, als gelte es, jeden Quadratzentimeter unserer Straße zu dokumentieren. Mein Blitzlicht tauchte die Ranken in ein grelles Flackern.

Und dann entdeckte ich doch etwas zwischen den Schatten.

Etwas, dass so durch und durch falsch war, dass ich mir mit einem Mal nicht mehr sicher war, ob ich seine geheime Wahrheit wirklich ergründen wollte.

Denn plötzlich flackerten dort zwei rot glühende Punkte in der Dunkelheit. Wie glimmende Zigarettenstängel flammten sie inmitten des Efeus auf.

Und bereits einen Herzschlag später schwebten sie direkt auf mich zu.

Aber das konnte natürlich überhaupt nicht sein.

Erneut machte ich ein Foto, dann noch eines und noch eines. Jedes Mal schienen die glühenden Punkte näher heranzukommen. Nun hatten sie mich beinahe erreicht und …

Erst im allerletzten Moment ließ ich die Kamera sinken. Eine weitere Welle modrigen Gestanks schlug mir entgegen. Verdammt, was ging hier vor sich? Was …

Ein eisiger Wind stob mir ins Gesicht, so heftig, dass es mich von den Füßen riss. Ich taumelte nach hinten, zerrte am Griff des Fensters. Mit aller Kraft knallte ich es zu. Die Scheiben klirrten im Rahmen.

Gleich darauf krachte etwas von außen mit solcher Wucht dagegen, dass sie beinahe zersprangen.

3

Vor langer Zeit

Silvester 1899

Rosemore Castle erstrahlte im Licht Hunderter Kerzen. Im Gegensatz zu seinem Haus in der Stadt war es Aidan noch nicht gelungen, das Schloss mit elektrischen Illuminationen auszustatten. So weit draußen in den Highlands würde es wohl noch eine Weile dauern, die entsprechenden Leitungen zu verlegen. Auch sonst entbehrte Rosemore so viele Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Es war zugig und viel zu groß.

Aidan kam äußerst ungern hierher, viel lieber verbrachte er seine Zeit im pulsierenden Edinburgh. Doch seine Mutter hatte sich sehnlichst gewünscht, die Feiertage gemeinsam auf dem Stammsitz zu verleben, wie es Tradition war. Und wie hätte er ihr diesen Wunsch kaum ein Jahr nach dem Tod seines Vaters abschlagen können?

Es war sein erster Jahreswechsel als amtierender Lord Storm und dem würde Aidan gerecht werden. Er überprüfte den Sitz der silbernen Maske, die den oberen Teil seines Gesichts bedeckte und mit dem Revers seines Fracks um die Wette schimmerte. Dann stieg er die große Treppe hinab. Aus dem Ballsaal drangen bereits Fetzen von Musik und Stimmengewirr zu ihm hinauf.

Mit siebzehn Jahren war Aidan ein junges Familienoberhaupt, aber das bedeutete nicht, dass er sich der Verantwortung des Titels nicht gewachsen fühlte. Seine gesamte Erziehung hatte ihn schließlich auf diesen Weg vorbereitet. Er wusste, was zu tun war, was die Gesellschaft von ihm erwartete. Noch klarer stand ihm vor Augen, welche dieser Erwartungen er zu erfüllen bereit war und welche nicht.

Unten in der Eingangshalle thronte eine Kiefer, deren Wipfel fast bis hinauf zur gewölbten Decke reichte. Die Dienerschaft hatte sie mit allerlei Basteleien aus buntem Papier und Stroh geschmückt. Daneben stand seine Mutter in einer Robe aus schwarzem Samt und begrüßte die Gäste, ihre Augen verbarg sie hinter Federn und Spitze. Dennoch entging es Aidan nicht, dass ihre Züge sich aufhellten, als sie seiner ansichtig wurde.

Er trat auf sie zu.

»Aidan, wie schön!«, begrüßte sie ihn. »MrWilson sagte mir, dein Pferd habe ein Hufeisen verloren? Professor Brewner hätte dich nicht so knapp abreisen lassen dürfen. Erst am Silvesterabend, also wirklich!«

»Mutter.« Aidan drückte einen Kuss auf ihre behandschuhten Finger, die viel zu zerbrechlich waren. Alles an Lady Storm wirkte zart und durchscheinend, der dunkle Stoff ihres Kleides viel zu schwer für ihre dürre Gestalt. Der Kummer der letzten Jahre hatte sie bereits ausgezehrt, bevor ihr geliebter Ehemann von ihr gegangen war und sie mit ihrer Bürde allein gelassen hatte. Nun war auch sie kaum noch da, so kam es Aidan vor.

»Die Straßen hier draußen sind nun einmal eine Herausforderung. Aber ich habe es ja noch beinahe pünktlich geschafft«, sagte er und strich sich eine verirrte Locke aus dem Gesicht. »Wie geht es dir?«