9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Auf einer abgelegenen Shetlandinsel lernt Amy ein altes Familiengeheimnis kennen: Sie ist eine Buchspringerin und kann in jede Geschichte der Weltliteratur springen und dort mit den Figuren interagieren. Diese Gabe ist bald von unschätzbarem Wert, denn ein Dieb treibt in der literarischen Welt sein Unwesen! Er stiehlt grundlegende Ideen aus Texten und zerstört so ganze Geschichten. Die Geschichte ist ein abwechslungsreicher und kreativer Streifzug durch die Weltliteratur. Leser*innen können sich auf witzige Begegnungen mit Werther, Alice im Wunderland und Co. freuen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 425
Prolog
Will rannte. Er rannte und rannte.
Die Insel kam ihm größer vor als sonst und seine Brust schmerzte, so lange war er bereits gelaufen. Durch das Moor, in jeden Winkel der Ebene, zum Strand hinunter, am Friedhof entlang, nach Lennox House, ins Dorf, zum Steinkreis, durch die Bibliothek, zurück zu seiner Hütte, bis hinter die letzten Nebelschwaden, die die Burg der Macalisters umgaben.
Nichts.
Mit ihm rannte der Hund. Seine schwarzen Ohren flogen im Wind, die mächtigen Pranken hinterließen Abdrücke im Moor. Wieso waren da nicht noch mehr Fußspuren? Warum fanden sie ihn nicht? Niemals hätte er den Hund zurückgelassen. Er musste also irgendwo sein. Was hatte er noch gesagt, bevor er hinausgegangen war? Er hatte doch nur spazieren gehen wollen, oder?
Sie rannten weiter, den schmalen Weg zu den Klippen hinauf. Der Hund voraus, Will hinterher. Doch auch hier oben war niemand. Natürlich nicht. Schon gar nicht bei diesem Wetter. Ein Sturm war aufgekommen, es regnete jetzt. Sie blieben stehen, wo die Welt endete. Nein, es war natürlich nur die Insel, die endete. Die Welt ging weiter, mit einem Abgrund und dem Wasser, das irgendwo an den Horizont und dahinter an andere Inseln stieß. War er am Ende dort? Hinter dem Horizont?
Sie blickten eine Weile auf die See hinaus. Mit einer Hand kraulte Will den Hund hinter den Ohren, mit der anderen schirmte er seine Augen ab, um besser sehen zu können. Vergebens.
Das Ungeheuer hatte viele, viele Jahre geschlafen.Tief, tief in seiner Höhle, wo es am dunkelsten war.Lange, lange, während die Zeit über es hinwegrauschte.Und es hatte davon geträumt, wie es wäre, zu erwachen.Es hatte so lange geschlafen, bis niemand mehr von seiner Existenz wusste. Anfangs hatten sich die Bewohner des Königreichs vielleicht noch verschwommen an das schreckliche Wesen erinnert. Aber mit der Zeit war es zu einer dunklen Ahnung verblasst. Jetzt jedoch, gerade als das Vergessen die Menschen vollständig einhüllte, jetzt war der Moment gekommen, da das Ungeheuer von Neuem die Augen aufschlug.
1
Es war einmal eine Insel
Es waren einmal Alexis und ich, die Dinge in Koffer warfen. Pullover, Hosen, Socken. Ich riss die Sachen aus meinem Schrank und schleuderte sie in den aufgeklappten Trolley hinter mir. Alexis tat im Nebenzimmer das Gleiche. Wir achteten beide kaum darauf, wonach wir griffen, ob wir unsere Lieblingsklamotten erwischten oder nicht. Das Wichtigste war nämlich, dass wir uns beeilten. So hatten wir es abgesprochen. Denn wenn wir in Ruhe und mit einer Liste packten, wie wir es sonst taten, wäre uns sicher bald aufgefallen, wie übergeschnappt wir uns verhielten.
In meiner Familie waren alle verrückt. Jedenfalls sagte Alexis das immer, wenn ich sie fragte, warum sie im Alter von siebzehn Jahren mit einem einzelnen Koffer und mir in ihrem Bauch ihre schottische Heimat verlassen hatte. Sie war damals einfach so nach Deutschland gegangen. Schwanger und noch nicht einmal volljährig. Hals über Kopf abgehauen, ausgerechnet nach Bochum. Inzwischen war ich ebenfalls beinahe siebzehn Jahre alt (na ja, vierzehn Monate fehlten noch) und anscheinend hatte ich das Verrückt-Gen geerbt. Auch ich hatte heute Morgen beim Frühstück, das war jetzt eine Stunde her, spontan beschlossen, das Land zu verlassen. Über das Internet hatten wir einen Flug bei einer Billig-Airline gebucht, der uns noch heute Nachmittag fortbringen würde. Vorher brauchten wir bloß noch zu packen. Hastig wühlte ich ein paar Unterhosen und BHs aus einer Schublade hervor.
»Nimm den warmen Anorak mit, Amy«, sagte Alexis, die ihren bis zum Rand gefüllten Koffer in mein Zimmer rollte und versuchte, mein Kopfkissen dazuzuquetschen. Darunter erkannte ich ihre Cordhosen aus Biobaumwolle und ein mit bunten Äpfeln bedrucktes Shirt von DaWanda.
»Ich glaube nicht, dass ich im Juli eine Daunenjacke brauche«, murmelte ich. Auch mein Koffer war inzwischen gut gefüllt, allerdings hauptsächlich mit Büchern. Bei den Klamotten hatte ich mich auf das absolut Nötigste beschränkt. Frei nach dem Motto: Lieber eine Strickjacke weniger, als auf einen meiner Lieblinge verzichten.
»Du unterschätzt das Wetter dort«, sagte Alexis, betrachtete die Zusammenstellung meines Gepäcks und schüttelte die mahagonifarbenen Locken. Ihre Augen waren verquollen und rot, weil sie die ganze Nacht geweint hatte. »Nimm doch deinen E-Book-Reader mit. Reicht das nicht?«
»Aber Momo und Stolz und Vorurteil habe ich nicht als E-Books.«
»Die hast du doch beide schon gefühlte hundert Mal gelesen.«
»Was, wenn ich sie dort zum hundertundersten Mal lesen will?«
»Glaub mir, Amy, die haben genug Bücher auf dieser verdammten Insel. Du hast ja keine Vorstellung.«
Ich strich mit den Fingerspitzen über den zerlesenen Einband von Momo. Schon oft hatte ich mir gewünscht, hinter einer verzauberten Schildkröte herlaufen zu können, die mir den Weg durch mein Leben zeigte. Ich brauchte dieses Buch. Es tröstete mich, wenn ich traurig war. Ich brauchte es gerade jetzt.
Alexis seufzte. »Aber sieh zu, dass du die Jacke noch irgendwie reinbekommst, ja? Es kann dort ziemlich rau werden.« Sie setzte sich auf den Koffer und zerrte am Reißverschluss. »Ich fürchte, das Ganze ist sowieso keine gute Idee«, ächzte sie. »Bist du dir sicher, dass es der einzige Ort ist, an dem du dich ablenken kannst?«
Ich nickte.
Das winzige Boot schaukelte auf den Wellen, wurde hin und her geworfen, als spielte die See Ball mit ihm. Blitze zuckten über den Himmel, an dem sich dunkle Gewitterwolken ballten, und tauchten das Meer in ein unwirkliches Grau, ein Grau aus plötzlich aufflackerndem Licht, vermischt mit dröhnendem Donner. Das Wasser hatte die Farbe von Schiefer angenommen und es regnete in Strömen, regnete graue Tropfen, schwer und spitz, die auf die Wellen niederprasselten und ihre Kämme schärften. Zusammen mit der Steilküste, die sich am Horizont auftürmte und an deren Klippen sich tosend die Wassermassen brachen, ergab sich ein beeindruckendes Naturschauspiel. Es war Furcht einflößend, schrecklich und zugleich wunderschön.
Wobei, so wunderschön nun auch wieder nicht. Mein Problem bei der Sache war nämlich, dass ich tatsächlich in genau diesem winzigen Boot inmitten des Unwetters saß und mich mit aller Kraft an meinem Sitz festklammern musste, um nicht über Bord zu gehen. Gischt spritzte auf und in unsere Gesichter. Alexis versuchte, unser Gepäck zu retten, während der Mann, der uns übersetzen sollte, den Motor aufheulen ließ.
Der Regen war plötzlich gekommen und hatte mich binnen Sekunden bis auf die Haut durchnässt. Ich fror und alles, woran ich denken konnte, war anzukommen. Egal wo, Hauptsache, irgendwo, wo es warm und trocken war. Bei unserem Flug von Dortmund nach Edinburgh hatte noch hell und ungetrübt die Sonne geschienen. Zwar waren durchaus ein paar Wolken zu entdecken gewesen, als uns die Propellermaschine anschließend bis zum Flughafen Sumburgh auf Mainland, der größten Shetlandinsel vor der schottischen Küste, gebracht hatte, aber mit diesem Weltuntergangsszenario hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Ich blinzelte gegen das Brennen des Salzwassers in meinen Augen an, während eine neuerliche Welle unser Boot herumwarf und beinahe Alexis' selbst gefilzte Umhängetasche eroberte. Es fiel mir zunehmend schwerer, mich festzuhalten. Längst hatte der eiskalte Wind meine Finger taub werden lassen, sodass sie mir kaum noch gehorchten. Wenn man in einem Buch von so einem Sturm las, war er doch bedeutend angenehmer. Selbst wenn ich mich fürchtete und gruselte oder die schlimmste Katastrophe erlebte, beim Lesen blieb irgendwo stets dieses Warme-Wolldecke-auf-der-Couch-Gefühl. Davon fehlte nun jede Spur und mir wurde klar, dass ich echte Stürme im Gegensatz zu literarischen nicht leiden konnte.
Die nächste Welle war noch ungnädiger als die vorherige und überspülte mich komplett. Es war keine gute Idee, genau in diesem Moment panisch nach Luft zu schnappen, denn dabei verschluckte ich mich an einer riesigen Ladung Wasser. Hustend und röchelnd versuchte ich, das Meer in meiner Lunge wieder loszuwerden, während Alexis mir auf den durchnässten Rücken klopfte. Dabei ging ihre Tasche nun doch über Bord. Verdammt! Doch Alexis schien den Gedanken, all unsere Sachen jemals heil an Land zu bringen, sowieso abgehakt zu haben und blickte ihrem Hab und Gut nicht einmal nach.
»Gleich haben wir es geschafft, Amy. Gleich!«, rief sie, der Wind trug ihre Worte davon, kaum dass sie ihre Lippen verließen. »Denk daran, wir sind freiwillig hier. Wir werden bestimmt wunderschöne Ferien auf Stormsay verbringen.« Das sollte wohl fröhlich klingen, aber ihre Stimme krächzte vor unterdrückter Panik.
»Wir sind hier, weil wir auf der Flucht sind«, antwortete ich, allerdings zu leise, als dass Alexis es hätte hören können. Ich wollte weder sie noch mich an die eigentlichen Gründe unserer Reise erinnern. Wir waren schließlich von zu Hause geflohen, um zu vergessen. Um zu vergessen, dass Dominik Alexis verlassen hatte und zu seiner Frau und seinen Kindern zurückgekehrt war. Einfach so, aus heiterem Himmel. Und um zu vergessen, dass diese umnachteten Vollidioten aus meiner Stufe … Nein, ich hatte mir vorgenommen, nicht einmal mehr daran zu denken.
Der Motor an der Außenwand des Bootes heulte mit dem Sturm um die Wette, der Regen wurde heftiger, trommelte auf meinen Kopf und meine Schultern nieder und peitschte mir ins Gesicht. Na ja, noch nasser konnte ich nicht werden. Dennoch war ich froh, als die Insel tatsächlich näher zu kommen schien. Stormsay, die Heimat meiner Vorfahren. Durch einen Vorhang aus nassem Haar spähte ich zum rettenden Ufer hinüber und hoffte, dass der Bootsführer sein Handwerk verstand und wir nicht an den Klippen zerschellen würden.
Die Felswand sah massiv aus, scharfkantig und tödlich. Sie erhob sich zwanzig oder dreißig Meter über die schiefergrauen Wellen und ganz oben an der Kante, dort wo der Wind besonders gefährlich raste, dort …
… stand jemand.
Zuerst dachte ich, es sei ein Baum. Doch dann begriff ich, dass es ein Mensch war, der sich gegen den Sturm lehnte und aufs Meer hinaussah. Eine Gestalt mit kurzem Haar und flatterndem Mantel beobachtete uns von dort oben. Sie hatte eine Hand über die Augen gelegt, die andere ruhte auf dem Kopf eines riesigen schwarzen Hundes.
Zitternd starrte ich zurück, während das Boot beidrehte. Wir ließen die Klippen hinter uns und kämpften uns in einem Bogen an das östliche Ufer der Insel heran. Die Gestalt wurde kleiner und verschwand schließlich aus meinem Blickfeld.
Dafür erreichten wir nun einen Anlegesteg. Zwar war der halb überspült und schwankte gefährlich, doch unser Kapitän schaffte es mit wenigen Handgriffen, das Boot daran festzumachen. Wir taumelten an Land. Endlich.
Die Uferböschung war glitschig und der Regen weiterhin dicht, aber wir hatten unser Ziel erreicht. Stormsay. Das Wort schmeckte nach Geheimnissen. Es klang verheißungsvoll und zugleich ein wenig unheimlich. Ich war noch nie hier gewesen. Alexis hatte die Insel lange nicht einmal erwähnt, bis mir irgendwann in der Grundschule aufgefallen war, dass nicht alle Kinder von ihren Eltern Deutsch und Englisch lernten, dass mein Name irgendwie anders war. Amy Lennox. Und selbst da hatte Alexis nur sehr stockend zugegeben, dass wir aus Schottland stammten. Eigentlich hatte sie sich damals, mit siebzehn nämlich, geschworen, nie wieder zurückzukehren. Doch nun …
Wir stapften eine schlammige Straße entlang, in der die Räder unserer Trolleys einsanken. Rechts und links standen vereinzelte kleine Häuser, nur eine Handvoll Hütten mit schiefen Dächern, Lehmwänden und Fenstern aus gewölbtem Glas, hinter denen hier und da gelbes Licht waberte. Ich fragte mich, in welcher von ihnen meine Großmutter wohl wohnte, und hoffte zugleich, dass die Häuschen im Inneren wetterfester waren, als sie von außen aussahen.
Der Mann, der uns hergebracht hatte, murmelte etwas von Pub und Bier und verschwand hinter einer Tür. Alexis hingegen ging unbeirrt auch am letzten der Häuschen vorbei. Sie schien wild entschlossen, auch diesem kümmerlichen Rest von Zivilisation den Rücken zu kehren, und ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Schon wieder war mein Koffer in einem Matschloch eingesunken und ich zerrte mit aller Kraft am Griff, um ihn zu befreien. »Deine Mutter wohnt aber schon in einer Art, äh, Haus, oder?«, knurrte ich und fragte mich, warum ich nicht nachgehakt hatte, was genau an meiner Großmutter denn so verrückt war. Verrückt, das konnte schließlich auch bedeuten, dass sie Baumrinde aß, Kleider aus Tannenzapfen trug und unter freiem Himmel mit den Tieren des Waldes zusammenlebte …
Statt zu antworten, wedelte Alexis nur mit den Armen in die Dunkelheit vor uns und bedeutete mir, ihr zu folgen. In diesem Moment löste sich der Koffer mit einem Ruck, den ich nicht erwartet hatte. Schlamm spritzte mir bis zu den Wangen hinauf. Na super!
Während Alexis auch mit ihren nassen Haaren umwerfend aussah (so, als wäre sie geradewegs einer Shampoowerbung entstiegen), fühlte ich mich mehr und mehr wie eine halb ertrunkene Ratte. In Gedanken missmutig vor mich hin fiepend, stapfte ich weiter.
Die Straße wurde zu einem Feldweg und noch ein wenig matschiger, die Lichter blieben hinter uns zurück. Inzwischen war kaum noch etwas von dem kleinen Dorf zu sehen, allein der eisige Wind wehte treu an unserer Seite und durch die Maschen meines nassen Wollpullovers. Tropfen klatschten mir ins Gesicht, als ich wieder zu Alexis aufschloss. Also gut, spazierten wir eben in die Pampa hinein.
»Auf den Klippen stand jemand. Hast du ihn auch gesehen?«, keuchte ich, um mich von dem Gefühl abzulenken, jeden Moment zu erfrieren.
»Auf Shakespeares Seat? Bei dem Wetter? Das sollte mich aber sehr wundern«, murmelte Alexis so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Warte, ich nehme deinen Koffer«, bot sie mir von der Kuppe des Hügels aus an, auf den sie gerade gestiegen war.
Ich hievte ihr das Ding entgegen, dann erklomm auch ich die Anhöhe. Oben angekommen, erkannte ich, dass wir eine Art Plateau erreicht hatten. In der Ferne waren neue Lichter zu sehen und Türme wie von einer Burg, die sich vor dem Nachthimmel abzeichneten. Auch ganz in der Nähe leuchtete es hell, zumindest hinter ein paar Fenstern des riesigen Herrenhauses zu unserer Rechten. Der Weg gabelte sich hier. Geradeaus ging es weiter in die Ebene hinein.
Doch Alexis bog tatsächlich rechts ab und marschierte auf ein schmiedeeisernes Tor zwischen zwei Hecken zu, hinter dem ich so etwas wie einen Park oder eine mit Kies ausgelegte Einfahrt mit einem Springbrunnen in der Mitte vermutete. In Filmen zumindest gab es bei solchen Anwesen fast immer Kieswege zwischen geometrisch geschnittenen Büschen, Statuen, Kletterrosen, gerne auch Oldtimercabrios. Man brauchte schließlich eine eindrucksvolle Kulisse, vor der sich das Liebespaar anschmachten oder der Mörder gejagt werden konnte … Das Haus hinter dem Tor sah jedenfalls schon von Weitem prachtvoll aus. Unzählige Erker wuchsen aus dem alten Gemäuer, kleine Türmchen und Schornsteine aller Art ragten in den Himmel und kratzten an den Gewitterwolken. Hinter den Fenstern waren schwere Vorhänge zu erkennen, zwischen denen flackerndes Kerzenlicht hervorblitzte.
Der Regen wurde noch einmal stärker, die einzelnen Tropfen verbanden sich zu einem Schleier, als wollten sie das Herrenhaus im letzten Moment vor uns verbergen. Aber dazu war es längst zu spät. Wir hatten die Insel betreten, es gab kein Zurück mehr.
Alexis legte die Fingerspitzen auf die verschnörkelte Klinke des Tores und atmete tief durch. »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich«, murmelte sie schließlich und stieß das Tor auf.
»Was?«, fragte ich.
»Ach, das ist nur der Anfang von einem Roman, den ich hier oft … gelesen habe.« Sie seufzte.
»Verstehe«, sagte ich, obwohl das nicht wirklich der Fall war. Allerdings schlugen meine Zähne inzwischen so laut aufeinander, dass ich ohnehin kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.
Wir zogen und schleppten unser Gepäck durch einen kleinen Park aus Kieswegen und geometrisch geschnittenen Büschen, vorbei an einem Springbrunnen und mehreren Kletterrosen und die Stufen einer Freitreppe aus Marmor hinauf. Nur das Oldtimercabrio fehlte. Ohne weitere Umschweife betätigte Alexis den Klingelknopf.
Drinnen gongte es vernehmlich.
Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis die Eichentür geöffnet wurde und eine riesige, runzlige Nase dahinter zum Vorschein kam. Sie gehörte einem alten Mann im Anzug, der uns über die Gläser seiner Brille hinweg musterte.
»Guten Abend, MrStevens. Ich bin es, Alexis.«
MrStevens nickte knapp. »Natürlich, Ma'am. Das habe ich wohl erkannt«, sagte er und trat beiseite. »Haben wir Sie erwartet?«
»Nein. Aber ich würde gern mit meiner Mutter sprechen«, sagte Alexis. MrStevens nickte erneut und half ihr, ihren ramponierten Koffer über die Schwelle zu wuchten. Als er mit altersfleckigen Fingern nach meinem Trolley greifen wollte, wich ich ihm blitzschnell aus. Ich hatte das Ding so weit geschleppt, da würde ich doch auf den letzten Metern nicht einen Greis damit behelligen, der sicher noch schwächer auf der Brust war als ich! Allerdings sah MrStevens mich so streng und ungreisenhaft an, dass ich ihm den Koffer schließlich doch überließ und meine Hände stattdessen in meinen Hosentaschen vergrub. Und wirklich, das Gewicht unseres Gepäcks schien ihm keinerlei Probleme zu bereiten.
»Wow«, entfuhr es mir, kaum dass wir dem Regen entflohen waren.
Die Eingangshalle des Herrenhauses war größer als unsere gesamte Wohnung. Wer bei uns zu Hause den Flur betrat, fand sich in einem winzigen, dunklen Schlauch wieder, in dem sich eine uralte Gänseblümchentapete von den Wänden schälte. Zwar hatte Alexis mit einem Perlenvorhang und einer Zimmerpalme versucht, es ein bisschen gemütlicher zu machen, doch der Charme des Hochhauses blieb hartnäckig. Das Wohnzimmer, das zugleich Alexis' Schlafzimmer war, die Küche mit den Fliesen aus den 1970ern, das Bad und mein Zimmer, in dem der Teppich mit den Jahren Wellen geworfen hatte, wirkten wie Kartons. Kartons aus Beton mit winzigen Fenstern, in denen auch Bücherregale und bunt getupfte Teekannen nicht viel gegen das Grau ausrichten konnten.
Der Flur meiner Großmutter dagegen war fantastisch. Die Decke wölbte sich so hoch über unseren Köpfen, dass mir beim Betrachten der Malereien darauf fast schwindelig wurde. Der Künstler hatte allerdings keine dicken nackten Engel auf Wolken oder ähnlich beliebte Motive gewählt, sondern Menschen mit Büchern gemalt. Manche lasen, andere deuteten auf prall gefüllte Regale und wieder andere hatten sich aufgeschlagene Bücher auf die Gesichter gelegt. Dazwischen prangte immer wieder das gleiche Wappen, es zeigte auf weinrotem Grund einen grünen Hirsch mit ausladendem Geweih, der auf einem Bücherstapel thronte. In der Mitte der Eingangshalle hing ein Kronleuchter, dessen Arme aus goldenen, aneinandergereihten Buchstaben bestanden. An den holzvertäfelten Wänden waren in regelmäßigen Abständen dazu passende Leuchter angebracht, dazwischen befanden sich ebenfalls Hirschwappen. Den Boden bedeckten bunte Orientteppiche mit Schriftzeichen darauf, die ich noch nie gesehen hatte, und an der gegenüberliegenden Wand führte eine Treppe in die Höhe, deren Eichengeländer aus geschnitzten Büchern bestand. Möglicherweise hatte ich meine Lesesucht von meiner Großmutter geerbt, überlegte ich.
»Wenn Sie mir bitte folgen. Um Ihr Gepäck kümmere ich mich später«, sagte MrStevens. Für einen Mann in seinem Alter hielt er den Rücken auffallend gerade und seine polierten Schuhe verursachten nicht das kleinste Geräusch auf den edlen Teppichen.
Wir hingegen hinterließen schmatzende, schlammig tropfende Fußspuren. »Ähm, sollen wir vielleicht lieber auf Socken …?«, raunte ich Alexis zu. Doch die schüttelte abwesend den Kopf. Erst jetzt fiel mir auf, dass sich ihre Hände in den Stoff ihres Wollmantels gekrallt hatten. Sie nagte an ihrer Unterlippe, ihr Blick huschte hin und her.
Nun gut. Wir mussten uns beeilen, um mit dem Butler Schritt zu halten. Weil es mir trotzdem peinlich war, so viel Dreck zu machen in der schönsten Eingangshalle, die ich je betreten hatte, versuchte ich es damit, neben den Teppichen zu laufen. Die darunter liegenden glänzenden Holzdielen würden sich wenigstens leichter reinigen lassen.
Sie waren allerdings auch bedeutend rutschiger. Schon nach wenigen Schritten verlor ich auf dem Film aus Schmutz und Regenwasser unter meinen Turnschuhen das Gleichgewicht, meine Füße glitten unter mir weg. Ich ruderte noch einen Sekundenbruchteil mit den Armen durch die Luft (wobei ich unglücklicherweise MrStevens' wie in Zement gegossene Frisur streifte und es tatsächlich schaffte, sie in Unordnung zu bringen), dann landete ich unsanft auf meinem Po. Verdammte Mistkacke!
Der Butler wandte sich um und betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen durch seine nun schief sitzende Brille, sagte jedoch nichts. Das Haar an seinem Hinterkopf stand in die Höhe wie die Federn eines Kakadus.
»'tschuldigung«, nuschelte ich.
Alexis reichte mir wortlos eine Hand, um mir aufzuhelfen. Sie war derlei Unfälle von mir gewohnt und nannte mich in solchen Situationen gerne tröstend ihr »Giraffenkind«, weil meine Arme und Beine anscheinend einfach zu lang waren, um mir zu gehorchen. Ich fühlte mich tatsächlich oft wie eine Giraffe zwischen all den anderen Mädchen in meinem Alter, die in den letzten Jahren weibliche Figuren bekommen hatten, anstatt wie ich immer dünner und länger zu werden. Eine Giraffe mit Rollschuhen an den ungelenken Füßen.
Ich ließ mich von Alexis wieder in die Höhe ziehen und verzichtete darauf, mir das schmerzende Hinterteil zu reiben, um mir einen letzten Rest Würde zu bewahren. MrStevens ging weiter, seine Frisur saß erstaunlicherweise wieder bombenfest. Inzwischen hatten wir die Eingangshalle durchquert und er führte uns durch eine in die Täfelung eingearbeitete Tür in einen langen Flur, eine Treppe hinauf, einen weiteren Flur entlang … Ich machte mir gerade Gedanken darüber, dass ich im Leben nicht mehr aus diesem Haus herausfinden würde, wenn ich hier verloren gehen würde, als wir schließlich einen Salon erreichten, in dem ein mit Seidenstoff bezogener Diwan stand.
»Bitte.« Er bedeutete uns, Platz zu nehmen, und machte sich daran, einen ausladenden Kamin zu befeuern. Wir setzten uns nicht, denn das kurz darauf prasselnde Feuer war viel verlockender. Alexis und ich stellten uns so nahe wie möglich an die warmen Flammen, während der Butler verschwand. Die Wärme traf meine Haut mit einem Knistern. Wie winzige Stromschläge kroch sie in meine Hände und mein Gesicht. Ich schloss die Lider und genoss das rotorange Glühen, das ich noch immer sehen konnte. Bloß von meiner nassen Kleidung prallte die Hitze des Feuers ab wie von einem Schutzpanzer. Nur hier und da schlängelte sie sich durch die Maschen. Langsam.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand und darauf hoffte, dass die Wärme bis zu meinen Knochen vordrang, vielleicht waren es nur wenige Augenblicke. In jedem Fall kam MrStevens viel zu rasch zurück. »Mairead Lennox, Lady of Stormsay«, verkündete er.
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen und dem Kamin den Rücken zu kehren.
Wie anscheinend alle Frauen der Familie war auch meine Großmutter groß. Sie war sogar noch größer als Alexis und ich. Oder schien das nur so, weil sie ihr weißes Haar zu einem imposanten Knoten aufgesteckt hatte? In jedem Fall lagen in ihrem Gesicht inmitten von Nestern feiner Fältchen die gleichen dunklen Augen, die auch Alexis und ich besaßen. Ihre Nase war ein wenig zu lang, die Lippen ein wenig zu schmal. Dennoch musste sie einmal sehr schön gewesen sein. In ihrem Kleid aus dunkelgrüner Seide, das am Hals von einem weißen Kragen und einer Brosche geschlossen gehalten wurde, wirkte sie, genau wie ihr Haus, als stamme sie aus einer anderen Zeit. An einem Band um den Hals trug sie eine schmale Lesebrille, deren Rahmen mit winzigen roten Steinen besetzt war.
Eine Weile lang sahen Alexis und sie einander schweigend an. Alexis, die in ihrer viel zu nassen, viel zu bunten Kleidung dastand und mit den Händen den Stoff ihres Mantels knetete, sodass feine Tröpfchen daraus hervorquollen. Für mich war Alexis immer so etwas wie die vegane Reinkarnation von Pippi Langstrumpf gewesen. Stark, mutig, anders als andere. Eine Mutter, der es egal war, wenn die Leute verächtlich schnaubten, weil sie auf dem Weg zum Kindergarten mit ihrer fünfjährigen Tochter laut singend über eine Mauer balancierte. So nervös zu sein, passte nicht zu ihr. Doch sie war es.
Alexis fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während der Blick meiner Großmutter zu mir wanderte. Sie musterte mich, zwischen uns hing unausgesprochen eine Frage, doch ich hatte keine Ahnung, welche. Auch Alexis schwieg noch immer. Ich schluckte, Lady Mairead hob erwartungsvoll die Brauen. Das Feuer in unserem Rücken knisterte, von draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Die Kletterrosen und Geometriebüsche stemmten sich raschelnd gegen den Sturm, der ums Haus pfiff. Die Nasenflügel meiner Großmutter blähten sich, als sie einatmete. Das Wasser aus unseren Haaren und Klamotten rann an uns herab und bildete Pfützen zu unseren Füßen.
Alexis blieb weiterhin stumm.
Das war doch nicht auszuhalten!
»Ähm, also ich bin Amy«, entfuhr es mir schließlich. »Freut mich, dich … äh, ich meine natürlich Sie kennenzulernen«, stammelte ich und fügte, weil Lady Mairead nicht gleich reagierte, sicherheitshalber noch ein »Mi…lady?« hinzu. Man wusste schließlich, dass adlige Leute manchmal eigen sein konnten, wenn es um ihre Titel ging. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, beugten sich meine Knie zudem zu so etwas wie einem verunfallten Knicks. Nicht gerade elegant. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss.
Die Mundwinkel meiner Großmutter formten die Andeutung eines Lächelns. »Ist sie etwa deine …?«, fragte sie Alexis. »Kann das wirklich wahr sein?« Sie tat einen Schritt auf mich zu und fuhr mit den Fingerspitzen über meine Wange und die Linie meines Kinns entlang.
Neben mir nickte Alexis. »Ich bin jung schwanger geworden.«
»Ah ja«, sagte Lady Mairead und jetzt lächelte sie wirklich. »Nun, Amy, dann bin ich wohl deine Großmutter«, erklärte sie und fuhr in einer Sprache fort, von der ich annahm, dass es Gälisch war: »Ceud mìle fàilte!« Zum Glück wechselte sie sofort wieder ins Englische. »Tausendmal willkommen auf Lennox House, Am–«
»Mach dir keine Hoffnungen«, fiel Alexis ihr ins Wort. »Wir sind nicht deswegen zurückgekommen.«
»Nein? Weshalb dann?«
Alexis atmete tief ein, als koste es sie Überwindung, mit ihrer Mutter zu sprechen. »Wir mussten mal raus und wussten nicht wohin«, begann sie. »Es war vielleicht etwas überstürzt, aber … Jedenfalls wollen wir nur eine Weile hierbleiben und uns … erholen, das ist alles. Amy hat jetzt Sommerferien. In ein paar Wochen müssen wir wieder nach Hause.«
Natürlich wusste Alexis genau, dass ich meine Schule inzwischen hasste. Ich wollte meine »Freunde« nie wiedersehen. Allerdings hatten wir uns, als wir beschlossen hatten, am besten gleich das Land zu verlassen, nicht darüber unterhalten, für wie lange das sein sollte. Möglicherweise würden wir irgendwann wirklich nach Deutschland zurückkehren müssen. Immerhin hatte ich noch immer vor, in drei Jahren Abitur zu machen und danach Medizin zu studieren. Aber darüber wollte ich mir jetzt erst einmal keine Gedanken machen und auch meine Großmutter wischte die Einwände meiner Mutter mit einem Wink ihrer schlanken Hand fort. »Wenn ihr bleiben wollt, dann weißt du, was meine Bedingung ist. Sie muss lesen. Solange ihr hier seid, wird sie lesen, und dann, wenn die Ferien vorüber sind, kann sie selbst entscheiden.«
»Lesen? Was soll das heißen?«, fragte ich. »Wieso sollte ich lesen müssen?«
Alexis seufzte. »Das ist eine lange Geschichte, Schatz. Es hat mit unserer Familie zu tun, aber es ist nicht wichtig. Wir –«
»Sie weiß es nicht«, sagte meine Großmutter tonlos. »Sie weiß es nicht.« Ihre Lippen kräuselten sich, als habe sie in eine Zitrone gebissen.
»Was weiß ich nicht?«
Lady Mairead setzte zu einer Erklärung an, doch Alexis ließ ihre merkwürdige Nervosität nun endgültig hinter sich. »Nicht heute Abend, okay?«, beschied sie meiner Großmutter. »Dafür habe ich jetzt keine Nerven mehr. Amy ist durchgeweicht und halb erfroren, genau wie ich. Die letzten Wochen waren für uns nicht einfach und es in diesem Sturm bis hierher zu schaffen, sowieso nicht. Lass uns morgen weiterreden.«
Zuerst sah es so aus, als wollte meine Großmutter widersprechen, doch dann fiel ihr anscheinend auf, dass ich noch immer zitterte. »Also gut«, sagte sie. »MrStevens wird eure Zimmer herrichten und euch ein Bad einlassen.«
Kurze Zeit später lagen Alexis und ich in einer Wanne von der Größe eines Schwimmbeckens. Wenn ich mich hinstellte, reichte mir das Wasser bis über die Hüften, und wenn ich meine Beine eng genug zusammenfaltete, konnte ich sogar anderthalb Schwimmzüge vom einen Ende bis zum anderen machen. Allerdings waren wir viel zu kaputt, um uns noch sportlich zu betätigen. Lieber ließen wir uns im heißen Wasser treiben und tauten unsere gefühllosen Zehen auf. Zwischen uns bauschten sich duftende Schaumberge. Auch unter der Decke des Marmorbads hing ein Kronleuchter aus goldenen Buchstaben.
Auf dem Weg durch die verschachtelten Korridore des Herrenhauses hatte ich Alexis gefragt, was denn genau das Problem war, das sie und Lady Mairead damit hatten, ob ich nun las oder nicht. Diese Frage beantwortete sich schließlich von selbst. Ich würde die Ferien über nämlich ganz sicher nicht nicht lesen. Immerhin war es seit Jahren meine liebste Beschäftigung, mich durch das Angebot der Stadtbibliothek zu arbeiten. Aber Alexis hatte nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: »Du weißt doch, Amy, diese ganze Familie ist verrückt.«
Erschöpft dümpelten wir nun durch die Hitze, die fast ein bisschen wehtat auf meiner kalten Haut und sich langsam bis ins Innere meines Körpers ausbreitete. Ich trieb dicht unter der Oberfläche, bewegte nicht einen Muskel und beobachtete meine dünnen langen Haare, die sich im Wasser verknoteten und in Zeitlupe hin und her wiegten. Ihr Rotschimmer war nur ein trauriger Abglanz von Alexis' wilder Mähne und im nassen Zustand sah man ihn kaum. Trotzdem kam ich mir ein wenig wie eine Seeanemone am Grund eines tropischen Meeres vor. Das musste ein schönes Leben sein, bei dem man nichts anderes zu tun brauchte, als sich in die warme Strömung zu lehnen.
Gerade als ich dachte, dass ich doch ganz froh war, nicht wirklich eine Seeanemone zu sein, weil es mir ohne Bücher da unten am Meeresgrund wahrscheinlich ziemlich schnell langweilig werden würde, wurde der sanfte Wellengang stärker, denn Alexis bewegte sich. Zuerst paddelte sie quer durch die Wanne, dann holte sie tief Luft und tauchte unter. Sie blieb fast zwei Minuten am Grund der Wanne hocken und als sie an die Oberfläche kam, sahen ihre Augen aus, als habe sie schon wieder Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Vermutlich verfluchte sie gerade den Tag, an dem sie auf der Schafweide des Biobauernhofs, auf dem sie arbeitete, umgeknickt war und in der Notaufnahme von dem gut aussehenden Arzt eine Schiene verpasst bekommen hatte. Dominik hatte sich zu rasch in ihr Herz und unsere Familie geschlichen. Die beiden waren nur ein knappes Jahr zusammen gewesen, aber er hatte sofort dazugehört. Er hatte Steaks in unserer veganen Küche für sich und mich gebraten. Er war mit uns Schlittschuh laufen gegangen … Ich vermisste ihn. Er war der Einzige, den ich vermisste.
»Wir werden bestimmt wunderschöne Ferien auf Stormsay verbringen«, zitierte ich Alexis, um sie zu beruhigen. Und ich meinte es auch so. Denn alles war besser, als zu Hause zu sitzen, wo einen alles an alles erinnerte. Wo Alexis Liebeskummer hatte und wo mir Leute aus einer Schule begegnen konnten, in der man nicht gnädig war zu jemandem, der zu viele Einsen und zu wenig Oberweite bekam.
Alexis blinzelte die Tränen fort. »Ja«, sagte sie. »Ja, du hast recht.« Sie sah mich eine Weile lang an. Plötzlich grinste sie und zog einen der Schaumberge zu sich heran. »Sag mal, Amy, kann es eigentlich einen perfekteren Anfang für einen Urlaub geben als eine ordentliche Badeschaumschlacht?« Lächelnd bewaffnete ich mich ebenfalls.
Später, kurz bevor ich in eine warme Decke gehüllt einschlief, lauschte ich dem Sturm vor dem Fenster. Zwischen das Heulen und Tosen des Windes schien sich ein anderes Geräusch zu mischen, das wie das Schluchzen eines Kindes klang. Weinte dort draußen etwa jemand im Moor? Nein, das bildete ich mir bestimmt nur ein.
Die Prinzessin lebte in einem Schloss mit silbernen Zinnen und Fenstern aus buntem Glas. Es stand auf einem Hügel, von dem aus man das ganze Königreich sehen konnte.
Jeden Tag stieg sie hinauf bis in die Spitze des höchsten Turmes und blickte in die Ferne. Sie kannte ihr Königreich, sie kannte es gut. Allerdings nur von Weitem, denn sie verließ das Schloss niemals.
Seit ihr Vater, der König, und ihre Mutter, die Königin, gestorben waren, wagte sie sich nicht mehr hinaus. Zu gefährlich erschienen ihr Wiesen und Seen, zu undurchdringlich die Wälder. In einem alten Märchen, an das schon lange niemand ihrer Untertanen mehr glaubte, hieß es, ein Ungeheuer lauere irgendwo verborgen, tief in einer Höhle.
Die Prinzessin fürchtete das Ungeheuer.
2
Die Geheime Bibliothek
Am Morgen schreckte ich aus einem Albtraum, in dem mich Fotos und Gelächter verfolgt hatten. Die Bilder hatten mich in der Schwimmbadumkleide gezeigt, ohne mein Bikinioberteil, geknipst vom Handy einer angeblichen Freundin. Eingestellt in die Facebookgruppe unserer Stufe. »Du bist dabei, bei Extrem Schön!«, hatte Paul eines der Fotos kommentiert, als hätte ich diverse Schönheitsoperationen vor laufenden Fernsehkameras nötig, um überhaupt ein normales Leben führen zu können. Im Traum hatte ich mich auf dem Schulklo eingeschlossen und heimlich geheult.
Im wahren Leben auch.
Die Fotos waren wirklich von Jolina gemacht worden und sie waren wirklich über Facebook und WhatsApp geteilt worden, sodass alle, die gerade Langeweile hatten, mich nackt sehen und darüber lachen konnten. Es war kindisch und dumm.
Weh tat es trotzdem.
Vor allem, weil ich gedacht hatte, Jolina und ich seien Freundinnen. Doch anscheinend wollte sie ab jetzt lieber dazugehören, als sich mit mir abzugeben, der Streberin, dem Bücherwurm, der Langweilerin. Alexis hatte mir wieder und wieder gesagt, wie falsch sie lagen, dass es nicht stimmte, was sie über mich sagten, dass ich hübsch war und liebenswert und ein toller Mensch. Ich wusste, dass es vor allem der Neid auf meine zu guten Noten und mein fließendes Englisch war, der sie nach etwas suchen ließ, womit sie mich fertigmachen konnten. Aber irgendetwas in mir glaubte ihnen insgeheim trotzdem. Auch wenn es idiotisch war, da war ein schmerzender Punkt in meiner Seele, ein winziges Loch, aus dem mein Selbstvertrauen sickerte.
Aber das würde ich nicht zulassen, ich hatte es mir geschworen. Ich würde die Fotos und das Gelächter einfach vergessen. Und Stormsay sollte mir dabei helfen.
Entschlossen blinzelte ich die Bilder der Nacht fort und fand mich in einem Himmelbett wieder. Massen von rot kariertem Stoff bauschten sich über meinem Kopf und uferten zu vier schweren Vorhangwänden aus. Mein Bett bildete quasi ein eigenes kleines Zimmer im Zimmer. Einen Kokon, in dem nur ich mich befand, ach ja, und der E-Book-Reader neben meinem Kopfkissen natürlich. Es fühlte sich fast so an wie früher, wenn ich mir Höhlen aus alten Decken gebaut und mich mit meinen Lieblingsbüchern darin versteckt hatte. Ich blieb noch einen Augenblick liegen, beobachtete die Lichtfetzen, die hier und da durch die Stoffritzen krochen und ein Muster auf die bestickte Bettdecke malten. Dann stand ich auf.
Das Gästezimmer, in dem MrStevens mich untergebracht hatte, war nicht besonders groß, aber genau wie der Rest des Hauses prachtvoll eingerichtet. Die Tapeten bestanden aus dunkelroter Seide, von der mir ein Blumenmuster entgegenschimmerte, es gab einen Sessel mit vergoldeten Beinchen, eine Kommode, über der ein Spiegel hing, und eine breite Fensterbank, in der Kissen lagen, sodass man gut darin sitzen konnte, um in den Park und die Moorlandschaft hinauszusehen.
Mein schmutziger Koffer stand mitten im Raum wie ein Fremdkörper. Ich war gestern viel zu müde gewesen, um ihn auszupacken. Auch jetzt zog ich lediglich achtlos ein paar Kleidungsstücke heraus – eine Jeans, ein Shirt und eine lange Strickjacke mussten genügen. Meine Garderobe war sowieso nicht besonders abwechslungsreich: Im Gegensatz zu Alexis hatte ich es nicht so mit buntgemusterten Kleidern und Ringelstrumpfhosen. Am liebsten trug ich Erdfarben, Khaki oder Schwarz.
Direkt gegenüber dem Himmelbett befand sich die Tür zu einem Bad, das ich mir mit Alexis teilen sollte. Dort reihten sich bereits ökologisch verträgliche Schmink- und Cremetiegel sowie Haarspangen mit Blütenbesatz und gebatikte Haarbänder auf dem Waschbeckenrand und der darüber angebrachten Ablage. Alexis hatte sich also schon eingerichtet. Vermutlich saß sie bereits beim Frühstück.
Auch ich war inzwischen ziemlich hungrig, immerhin hatte ich seit ein paar Butterbroten am Dortmunder Flughafen gestern Mittag nichts mehr gegessen. Rasch sprang ich unter die Dusche und danach in meine Klamotten. Mein nasses Haar band ich zu einem Pferdeschwanz. Anschließend trat ich auf den Flur hinaus, um mich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen.
Zum Glück wurde ich rasch fündig. Schon nach wenigen Schritten wiesen mir die aufgebrachten Stimmen von Alexis und meiner Großmutter den Weg. Unglücklicherweise schienen sich die beiden anzuschreien. Zuerst war es nur ein unverständliches Brüllen, doch je näher ich kam, umso mehr Worte verstand ich.
»… kannst sie nicht zwingen!«, rief Alexis. »… lieber gar nicht erst hergekommen, wenn ich gewusst hätte …!«
»… hast du denn gedacht?«, antwortete meine Großmutter, »… ist das Erbe unserer Familie … nicht vorenthalten!«
»… Erbe ist mir scheißegal!«
»Wenn ihr bleiben wollt …!«
»… argh!«
Ich stieg eine Wendeltreppe hinab und bog in einen weiteren Flur, die Stimmen wurden deutlicher. Sie schienen aus einem Raum am Ende des Ganges zu kommen.
»Sie liest doch gerne, oder?«, fragte Lady Mairead. »Wieso wehrst du dich dann so dagegen? Ich wette, es wird ihr gefallen.«
»Hast du etwa vergessen, was bei mir damals passiert ist?«
»Nein, natürlich nicht. Aber du hattest einfach das falsche Buch erwischt. Das ist alles.«
»Trotzdem. Es war schrecklich. Das will ich nicht für Amy. Sie braucht diese Bücher nicht.«
Ich hatte die Tür, hinter der ich die beiden vermutete, inzwischen erreicht und stieß sie auf. Alexis und Lady Mairead saßen in einer Art Wintergarten, zwischen ihnen ein gedeckter Tisch, auf dem Toast, Würstchen, Eier, Speck und Marmelade standen. Außerdem entdeckte ich einen Stapel Pfannkuchen. Mein Magen knurrte vernehmlich. Aber zuerst musste ich herausfinden, warum Alexis und meine Großmutter stritten.
»Was ist los? Welche Bücher brauche ich nicht?«, fragte ich.
Alexis zuckte zusammen und ließ beinahe die trockene Scheibe Toast fallen, an der sie geknabbert hatte. Lady Mairead lächelte. »Guten Morgen, Amy. Wie war deine erste Nacht auf Lennox House?«
»Gut«, sagte ich. »Ich, äh, mag mein Himmelbett.«
»Das ist schön. Möchtest du vielleicht etwas frühstücken?« Meine Großmutter wies auf einen freien Platz. »Leider sind wir nicht auf eure Essgewohnheiten eingestellt. Wir haben zwar schon etwas aus Lerwick geordert, aber das wird wohl erst morgen hier eintreffen. Wie wäre es in der Zwischenzeit mit einem Toast?«
»Danke«, sagte ich und lud mir Würstchen und Speck auf den Teller. »Ich ernähre mich nicht vegan.« Alexis mochte es zwar nicht besonders, wenn ich Fleisch aß, aber sie wusste, dass mein Körper mehr Kalorien brauchte als ihrer, weil er anscheinend alles gleich verbrannte. Ich lebte daher nach einem einfachen Grundsatz: Wenn sich die Gelegenheit bot, etwas Fettiges zu essen, würde ich sie nicht auslassen.
Doch Alexis schien es im Moment ohnehin egal zu sein, was ich zu mir nahm. Sie funkelte meine Großmutter noch immer an. Ihre Kiefer mahlten aufeinander.
Lady Mairead hingegen beobachtete zufrieden, wie ich das Essen in mich hineinschaufelte. »Deine Mutter hat es dir bisher nicht erzählt, aber wir haben hier auf Stormsay eine ganz besondere Bibliothek. Sie ist sehr groß und sehr … geheim«, begann sie schließlich. »Manche Schriften sind über zweitausend Jahre alt und stammen aus der berühmten Bibliothek von Alexandria. Unsere Vorfahren haben sie dort vor dem Feuer gerettet und dann die Bibliothek auf Stormsay gegründet. Würdest du sie vielleicht gerne sehen? Es gibt dort Bände von unschätzbarem Wert.«
Ich schaute fragend zu Alexis hinüber, aber die war wohl zu sehr damit beschäftigt, ihre Mutter mit Blicken zu töten. Jedenfalls sagte sie nichts. Und ich konnte eigentlich nichts Falsches daran finden, sich mal unverbindlich eine Bibliothek anzusehen, vor allem wenn sie der eigenen Familie gehörte. »Ähm, ja«, nuschelte ich zwischen zwei Bissen. »Klar.«
»Sehr schön.« Lady Mairead nickte. »Dann wird MrStevens dich gleich hinbringen.«
»Von mir aus.« Ich nahm mir noch einen Pfannkuchen, während Alexis der Kragen platzte.
»Na gut«, rief sie. »Sie kann es probieren. Allerdings nur unter einer Bedingung.«
Lady Mairead hob die Brauen. »Welche soll das sein?«
Alexis umklammerte die Kante des Tisches so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ihr gebt ihr ein Kinderbuch«, erklärte sie. »Etwas ganz Harmloses. Eine Geschichte, bei der ihr absolut gar nichts passieren kann. Ich meine es ernst. Ihr gebt ihr ein Kinderbuch oder wir reisen noch heute wieder ab.«
»Herrje«, murmelte meine Großmutter und ehrlich gesagt dachte ich das Gleiche: Herrje, das Verrückt-Gen der Familie schlug wieder zu. Anscheinend kontrollierte es nun Alexis.
Besagte Bibliothek war nicht etwa in Lennox House untergebracht, sie befand sich überhaupt nicht in einem Haus. Als MrStevens (heute dem Glanz nach zu urteilen mit einer Extraportion Pomade im Haar, um gegen alle Angriffe von tollpatschigen Besucherinnen gefeit zu sein) mich ins Moor hineingeführt hatte, hatte ich zuerst geglaubt, er würde mich zu der Burg am anderen Ende der Insel bringen, in der laut meiner Großmutter eine Familie namens Macalister lebte. Aber schließlich war er an einer Art Hügel stehen geblieben, auf dessen Kuppe riesige Steinquader aufgeschichtet waren. Sie bildeten einen Ring aus mehreren Toren, so ähnlich wie Stonehenge, und ihre porösen grauen Körper waren von Moos und Flechten bewachsen. MrStevens deutete jedoch nicht auf die altertümlichen Monumente, sondern auf einen Höhleneingang am Fuß des Hügels.
»Hier ist es«, sagte er und nahm eine brennende Fackel aus einer Halterung an der Felswand. »Wir betreten nun die Geheime Bibliothek, Ma'am«, erklärte er feierlich.
»O…kay?«, sagte ich skeptisch, doch MrStevens' strengem Blick wagte ich nicht zu widersprechen. Außerdem gefiel es mir, dass er mich Ma'am nannte.
Der steinerne Gang verlief zunächst ein paar Meter bergauf, doch im Zentrum des Hügels endete er plötzlich. Dafür hatte man dort Treppenstufen in den Fels gemeißelt, die uns in die Tiefe führten. Ich strich mit den Fingerspitzen über die rauen Wände, während ich MrStevens in die Dunkelheit folgte.
Die Treppe war steil.
Und sie war lang.
Eine gefühlte Ewigkeit verging, während wir Schritt um Schritt, Stufe um Stufe um Stufe hinabkletterten. Die Bibliothek lag nicht in dem Hügel mit dem Steinkreis, wie ich zuerst vermutet hatte. Sie lag darunter. Tief, tief darunter. Wir mussten uns längst in den innersten Eingeweiden der Insel befinden, vielleicht sogar schon unterhalb des Meeresspiegels. Ich bildete mir ein, von ferne das Rauschen der Wellen zu hören. Wer war nur auf die Idee gekommen, ausgerechnet an einem solchen Ort eine Bibliothek einzurichten?
Die Treppe endete so abrupt, wie sie begonnen hatte, und der Geruch von altem Papier stieg mir in die Nase. Hier begannen die Bücherregale. Sie bestanden aus dunklem Holz und waren jeweils etwa drei Meter hoch. In regelmäßigen Abständen gab es schmale Leitern, die man verschieben konnte. Die Bretter bogen sich unter der Last von Folianten und ledergebundenen Büchern, dazwischen entdeckte ich aber auch Taschenbücher und vergilbte Schriftrollen. Überall zweigten Gänge aus Regalreihen ab. Was Lady Mairead gesagt hatte, stimmte: Diese Bibliothek war gigantisch und uralt.
Sie wurde erfüllt vom Wispern der Worte, dem Locken all der Geschichten, die darauf warteten, gelesen zu werden, einem raschelnden Versprechen, das in der Luft hing. Wie viele Abenteuer verbargen sich hier zwischen Papier und Tinte, wie viele große Liebesgeschichten, wie viele epische Schlachten? Schon jetzt liebte ich diesen Ort. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte die Bücher gestreichelt, vielleicht eines von ihnen in die Hand genommen und darin geblättert, um von den Taten eines tragischen Helden zu lesen. Meine Schritte wurden langsamer, doch MrStevens führte mich unaufhaltsam tiefer ins Innere der Bibliothek, deren Gänge ein Labyrinth zu bilden schienen.
Obwohl immer wieder Lampen zwischen den Regalen glommen, war es zu dunkel, um die gesamten Ausmaße des Höhlensystems zu erkennen. Und die Gänge verschachtelten sich weiter und weiter ineinander. Irgendwann allerdings weiteten sich die Wände aus Büchern zu einer Art Raum, der ein bisschen aussah wie ein Klassenzimmer. Ein ziemlich altmodisches zwar mit Schulbänken aus wurmstichigem Holz, deren Tischplatten man aufklappen konnte, um im Fach darunter Hefte aufzubewahren. Aber ja, es war tatsächlich ein Klassenzimmer und am meisten daran störte mich, dass es nicht leer war.
Vorn in der ersten Reihe saßen ein Junge und ein Mädchen in meinem Alter und an der Tafel stand ein kahlköpfiger Mann in Mönchskutte. Eine unsichtbare Faust legte sich um meinen Magen und drückte ihn zusammen. Ich musste meine Füße dazu zwingen, weiterzugehen.
»Guten Morgen, Glenn. Ich bringe Ihnen Amy Lennox. Die Lady wünscht, dass ihre Enkelin am Unterricht teilnimmt. Hat man Sie davon in Kenntnis gesetzt?«, fragte MrStevens und der Mann an der Tafel nickte. »Ah ja, vielen Dank. Wir haben schon auf Sie gewartet.«
Unterricht? In meinem Kopf schrillte eine Alarmglocke los. Das hier war also wirklich eine Schule. Und ich war die Neue. Noch dazu in den Ferien, na, herzlichen Glückwunsch! Ein bitterer Geschmack legte sich auf meine Zunge. Stormsay hatte mich schließlich auf andere Gedanken bringen sollen und nicht … Das Mädchen in der ersten Reihe hatte die gleichen blonden Haare wie Jolina. Ich schluckte.
Der Lehrer winkte mich zu sich. Seine Brauen waren so buschig, als wollten sie das Fehlen des Haares auf seinem Kopf ausgleichen. Auf seiner Stirn begann ein gezacktes Muster aus wulstigen Narben, das sich weiter nach oben über seine Glatze zog wie ein Spinnennetz. Über dem linken Auge trug er eine Augenklappe. Er tat so, als bemerkte er meinen entsetzten Blick nicht, und schüttelte meine Hand. »Ich bin Glenn und unterrichte schon seit vielen Jahren die Mitglieder der Familien Lennox und Macalister. Schön, endlich wieder eine Lennox unter uns zu haben.« Er wies auf die beiden Schüler. »Dies sind Betsy und William Macalister, die Tochter und der Neffe des Laird. Das ist Amy Lennox, die Enkelin der Lady.«
»Hi«, nuschelte ich.
»Hallo.« Das Mädchen trug einen Reif aus Satin in der perfekt glänzenden blonden Mähne, ihre Wimpern waren lang und tiefschwarz getuscht. Sie musterte mich von oben bis unten. Der Junge hingegen nickte nur und lächelte kurz, dann schrieb er weiter in sein Heft. Sein Haar war dunkel und stand in alle Richtungen ab, als hätte er die Nacht draußen inmitten des Sturms verbracht.
Während die beiden irgendetwas in einem Shakespeare-Sonett unterstreichen sollten, traten Glenn und ich an eines der Bücherregale in der hintersten Ecke des Klassenzimmers. Endlich hatte ich die Gelegenheit, mir einzelne Bücher genauer anzusehen. Mein Blick strich über Lederrücken mit golden eingeprägten Buchstaben. Alice im Wunderland stand dort neben Ronja Räubertochter, Der Zauberer von Oz und Die unendliche Geschichte. In einem Einband aus rotem Leder entdeckte ich Das Dschungelbuch.
»Eure Clans lesen seit jeher, aber sie lesen anders als andere Menschen«, begann Glenn. »Denn in euren Familien wird seit der Antike von Generation zu Generation eine besondere Gabe vererbt. Dazu teilen sie sich diese Bibliothek.«
»Aha«, machte ich und Glenn seufzte.
»Ja, ich weiß, du hast keine Ahnung, was ich dir hier zu erklären versuche. Die Lady sagt, deine Mutter hat alles vor dir geheim gehalten. Deshalb ist es vermutlich das Beste, wenn ich dir zeige, was ich meine. Wir kommen gleich dazu, aber vorher musst du eines noch wissen: Die Familien Macalister und Lennox haben nicht immer so friedlich zusammen auf dieser Insel gelebt. Seit dem Mittelalter fochten sie verbissen eine blutige Fehde aus und irgendwann vor ungefähr dreihundert Jahren erreichte die Feindschaft der beiden ihren Höhepunkt. Im Streit kam es damals zu einem Feuer, bei dem unter anderem ein besonders wertvolles Manuskript verbrannte. Es war die einzige schriftliche Fassung einer Sage, die damit für immer verloren ging. Seitdem haben die Familien einen Waffenstillstand geschlossen und widmen sich ausschließlich dem Schutz der Literatur und der Bewahrung der Bücher, die du hier siehst. Deshalb haben wir die Bibliothek auch so weit unter der Erde eingerichtet und halten ihre Existenz vor jedem geheim, der nicht Mitglied einer der beiden Familien ist oder sich ihr Vertrauen erworben hat. Alles, was wir tun, und alles, was du von nun an tun wirst, muss dem Wohl der Geschichten dienen. Das musst du versprechen, bevor wir beginnen, denn …«
Das rote Leder des Dschungelbuchs schimmerte mir verheißungsvoll entgegen. Lies mich, rief es in meinen Gedanken. Lies mich!
»Amy?«
Meine Hand zuckte in Richtung der Bücher. Im letzten Moment konnte ich sie daran hindern, einfach nach einem zu greifen. Schnell zog ich meinen Arm zurück, tat so, als habe ich mich an der Wange kratzen wollen, und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Dabei stieß ich allerdings unglücklicherweise an eine der Leitern, die vor dem Regal lehnten und die daraufhin zur Seite wegkippte und mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf dem Boden aufschlug. Während mir die Röte ins Gesicht schoss, drang ein verächtliches Schnauben aus Richtung der Schultische zu mir herüber.
Glenns Lippen zuckten, als müsse er sich ein Lächeln verkneifen, doch fast im gleichen Augenblick sah er mich schon wieder mit freundlicher Strenge an.
Er räusperte sich und fuhr fort, als sei nichts gewesen. »Also, Amy?«
»J…ja?«
»Schwörst du, beim Lesen stets dem Schutz der Geschichten zu dienen und nichts zu tun, was sie zerstören oder verändern könnte?«
»Ähm, natürlich«, sagte ich. Wie, bitte schön, sollte man denn eine Geschichte kaputt machen, indem man sie las?
»Gut«, sagte Glenn. »Deine Mutter möchte, dass du deine Wahl zwischen diesen Büchern hier triffst. Hast du eventuell schon etwas ins Auge gefasst?«
Eine halbe Stunde später betraten Glenn, Betsy, William und ich den Steinkreis auf der Kuppe des Hügels. In meinen Händen ruhte weich, rot und schwer Das Dschungelbuch. Natürlich war ich beim Aufstieg auf dem nassen Gras ausgerutscht, doch das Buch hatte ich gerade noch vor einem Sturz in den Dreck bewahren können. Dafür zierten meine Jeans an den Knien nun braungrüne Matschflecken und ich fühlte mich noch trampeliger gegenüber Betsy, die elegant den Hügel hinaufschritt, und William, der wie ein zufälliger Spaziergänger am Ende unserer kleinen Gruppe folgte. Ich fragte mich, warum wir ausgerechnet hier draußen lesen sollten, wo der Wind schon wieder empfindlich kalt geworden war. Auch Betsy und William trugen Bücher unter den Armen, Glenn hingegen hatte eine geflochtene und modrig aussehende Strandmatte mitgebracht, die er unter einem der Tore des Steinkreises mitten im Schlamm ausrollte. »Will, würdest du bitte den Anfang machen?«, fragte er anschließend.
»Gern«, sagte der Junge. Seine Stimme war tiefer, als ich erwartet hatte, seine Augen hatten die gleiche Farbe wie der Himmel über uns. Sturmblau. Außerdem war er groß und dürr, so wie ich, aber sein Körper wirkte sehnig, als wäre er trotzdem kräftig. Zielstrebig ging er auf die Matte zu und legte sich darauf, sodass sein Kopf genau unter dem steinernen Bogen lag. Dann klappte er sein Buch auf und schob es sich über das Gesicht. Auf dem Cover erkannte ich die Abbildung eines riesigen Hundes. Der Hund von Baskerville stand darüber, es war ein Sherlock-Holmes-Roman. Ich kannte die Geschichte, denn ich hatte sie vor vier Jahren zu Weihnachten bekommen. Allerdings wirkte der Hund auf meinem Buch nicht ganz so gruselig. Während ich den Einband betrachtete, bewegte sich dieser plötzlich ein Stück nach unten, das Buch landete auf der Matte. Für einen Moment glommen die Seiten auf.
Ich blinzelte. Nein, das konnte nicht sein! Ich blinzelte noch einmal, weil ich nicht verstand, was ich sah. Doch es blieb dabei: Will war verschwunden. Nur das Buch lag noch im Steinkreis. »Was?«, entfuhr es mir.
»Diese Steine bilden die Porta Litterae«, erklärte Glenn. »Sie sind der Eingang in die Welt der Geschichten.«
»Aber …« Es wollte noch immer nicht in meinen Kopf, dass Will sich anscheinend von einer Sekunde zur nächsten in Luft aufgelöst hatte.
»Er ist jetzt in seinem Buch«, sagte Betsy und lächelte überheblich. »Kein Grund zur Panik, das ist für uns ganz normal.«