Je süßer das Gift E-Book

Mary Ann Fox

• Herausgeber: Aufbau digital
• Kategorie: Krimi
• Serie: Mags Blake
• Sprache: Deutsch
• Veröffentlichungsjahr: 2022

Seitenzahl: 224

Beschreibung

Lilien, Leichen und Lemon Curd.

Die junge Gärtnerin Mags Blake begleitet als Expertin eine Reisegruppe zu den spektakulärsten Gärten in Südengland. Zwischen atemberaubender Natur und außergewöhnlichen Unterkünften könnte das Leben kaum schöner sein, doch irgendetwas stimmt nicht mit dieser scheinbar harmlosen Gruppe aus Garten-Enthusiasten. Bald häufen sich die seltsamen Vorfälle, bis einer von ihnen tödlich endet … Nun ist es an Mags herauszufinden, wer in der Reisegruppe nicht das ist, was er zu sein scheint. 

Cosy Crime vor der idyllischen Kulisse Südenglands – warmherzig und very British.

Leseprobe

Über das Buch

Eigentlich würde Mags nichts lieber tun, als mit Feuereifer an ihrem neuen Gewächshaus zu arbeiten. Doch als ihre Freundin Clara sie bittet, als Gartenexpertin eine Reisegruppe zu begleiten, lässt Mags ihren Ehemann Sam und ihr Cottage zurück und fährt mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe aus Gartenliebhabern in die schönsten Gärten Südenglands. Mags lernt nach und nach ihre Reisebegleiter kennen, genießt die wunderbare Natur und die ungewöhnlichen Hotels. Doch die gute Stimmung wird von einer Reihe mysteriöser Vorfälle getrübt, und eines Tages findet Mags die Leiche einer Mitreisenden im Liliengarten. Die Polizei glaubt an Selbstmord, doch in Mags keimt ein ungeheuerlicher Verdacht ...

Über Mary Ann Fox

Mary Ann Fox, Jahrgang 1978, verdiente sich ihr erstes Geld in einer Gärtnerei. Der Liebe wegen ging sie nach dem Studium nach England und arbeitete dort als Fremdenführerin, als Deutschlehrerin und dann im Botanischen Garten in Oxford. Sie lebt mittlerweile wieder in Hamburg und träumt von einem eigenen Garten, in dem sie das Meer rauschen hören kann.

Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Kriminalromane »Je tiefer man gräbt«, »Je dunkler das Grab«, »Je kälter die Asche«, »Je länger die Nacht«, »Je höher die Flut«, »Je lauter der Sturm« und »Je stiller der Tod« lieferbar.

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Mary Ann Fox

Je süßer das Gift

Ein Cornwall-Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Motto

Sissinghurst, Kent

Kapitel 1 — Rosehaven, Cornwall, drei Tage zuvor

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4 — Rosehaven, Cornwall

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10 — Sam Rosehaven

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21 — Sam Rosehaven

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 — Sam Rosehaven

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Liebe LeserInnen,

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

»War von Liebe überwältigt.«

Vita Sackville-West

Sissinghurst, Kent

Der Kuckuck ließ sich auf seinem bevorzugten Platz nieder, einem frei stehenden Ast der großen Buche. Es war noch früh am Morgen, und er genoss die ersten warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gefieder. Der Tag würde trocken und warm werden – und jetzt, Ende Mai, konnte er das aus vollem Herzen genießen. Sein Weibchen hatte ihr Ei erfolgreich in das Nest einer Amsel gelegt und war dann weitergezogen. Er würde noch einige Wochen am Rande des Gartens und der umliegenden Landschaft mit ihren weiten Feldern und Wiesen verweilen, bevor er sich auf seine weite Reise nach Afrika begab. Seine Art legte den langen Flug langsam zurück, hielt an, wenn sie neue Kraft brauchte, und hatte so nicht nur eine Heimat, sondern gleich mehrere. Doch hier war einer seiner Lieblingsplätze. Er sah sich um und ließ dann mehrmals laut seinen Ruf erschallen. Für die nächsten Wochen gehörte der Garten in den frühen Morgenstunden ihm, das war sein Recht, und alle sollten es wissen. Er würde sich erst auf die Wiesen zurückziehen, wenn die Reisebusse und die Menschen kamen. Menschen waren taub für die Bedeutung seine Rufe. Wie für so viel anderes auch.

Er schrie noch einmal stolz, stieß sich dann ab und ließ sich in einem sanften Gleitflug über den Garten mit seinen Mauern und Hecken treiben. Er mochte das Muster, das die Wege und Beete bildeten und das ihn an die mäandernden Flüsse und Ströme erinnerte, die er auf seinen Reisen jedes Jahr sah. Er überflog den weißen Garten mit den duftenden Rosen und dichten Ranken, den Senkgarten, aus dessen warmer Tiefe noch früh am Morgen die Wärme des letzten Tages zu spüren war, überquerte den Laubengang, durch dessen dunkle Blättermauern noch kein Lichtschein gedrungen war, und ließ sich schließlich auf dem Torbogen nieder, der den Eingang zum Liliengarten bildete. Vereinzelt hatte er Menschen in seinem Garten gesehen, aber sie liefen leise und still über die Wege, die Stimmen zu einem Flüstern gesenkt. Frühe Besucher, die ihn aber nicht stören würden. Noch einmal ließ er seinen Schrei ertönen, nur um sicherzugehen, gehört worden zu sein.

Vom Torbogen aus sah er, dass die stolzen Blumen ihre Blüten noch nicht geöffnet hatten, doch schon drang ihr süßer Geruch schwer zu ihm herauf. Er hatte auf seinen Flügen schon viele der wilden Verwandten der Lilie gesehen, aber die von Menschen geformten und veränderten Blumen hier waren mit nichts anderem zu vergleichen.

Nicht viele Tiere wagten sich in ihre Nähe, nur einige Insekten würden bald die geöffneten Blüten trunken von Duft umschwirren.

Er ließ seinen Blick über den von einer Steinmauer eingefassten Garten gleiten und stellte fest, dass er nicht alleine war. Vor einer Bank inmitten der Beete lag ein Mensch, zusammengekrümmt, aber nicht schlafend. Der Kuckuck flog auf und stieß warnend seinen Ruf aus.

Denn eingehüllt in das erste Morgenlicht hatte der Tod den Garten besucht.

1

Rosehaven, Cornwall, drei Tage zuvor

»Und du kannst wirklich nicht mitkommen?«

Mags Blake stellte ihren kleinen Reisekoffer neben sich ab und blickte in das Gesicht ihres Mannes. Die Morgensonne schien ihm sanft auf seine Sommersprossen, und seine Haare, noch vom Schlaf zerzaust, leuchteten rotgolden. Sie konnte nicht anders, als sich auf die Zehenspitzen zu stellen, mit einer Hand in sein Haar zu fassen und ihn näher an sich zu ziehen.

»Ich wünschte, das könnte ich. Du wirst mir fehlen.«

»Du mir auch.«

Mags seufzte und ließ ihn los. Sam, ihr Mann, die Liebe ihres Lebens und seines Zeichens Historiker und frischgebackener Jugendbuchautor, stand kurz vor der Abgabe seines neuesten Romans und hatte in den vergangenen Wochen jede freie Sekunde genutzt, um zu schreiben. Da sie selbst mit ihrem stetig wachsenden Unternehmen, dem Evergreen Gartenservice, gerade im Frühjahr bis über beide Ohren in Arbeit steckte, waren gemeinsame Stunden in letzter Zeit rar gewesen.

Der Gedanke an ihre Firma und die unzähligen Aufgaben, die sie dort erwarteten, ließ sie die Stirn runzeln. Nachdenklich schaute sie auf ihren Reisekoffer und dann über die Zufahrt vom Cottage hinüber zu den alten Stallungen, in denen sie im letzten Jahr ihr Büro und die Lagerräume eingerichtet hatte. Eingefasst von den grob gehauenen Steinmauern leuchteten die hellgrünen Fensterrahmen in neuer Pracht, und ringsherum rankten Clematis und wilder Wein um die Wette. Neben den Stallungen war eine Fläche von acht mal vier Metern freigelegt und einen Meter tief ausgehoben worden. Dort würde in zwei Wochen ihr neues Gewächshaus errichtet werden. Eine große Investition in die Zukunft, aber wenn sie erst einmal die Gärten, die sie mit ihrer Firma plante und umsetzte, mit eigenen Pflanzen bestücken könnte, würde es sich hoffentlich auszahlen. Auch viele der Ferienhausbesitzer, die den Evergreen-Service nutzten, um die Gärten ihrer Cottages perfekt aussehen zu lassen, wünschten sich neben einer dauerhaften Bepflanzung auch immer wieder neue leuchtende Beet- oder Kübelpflanzen. Bisher hatte sie die immer über ihre Freundin Cynthia, die eine Gärtnerei besaß, bezogen. Aber schon im nächsten Jahr würde sie ihre eigenen Pflanzen dafür nutzen können.

Nachdem sie im Winter viele erfolglose Stunden damit verbracht hatte, das perfekte Gewächshaus zu suchen, hatte sie sich schließlich selbst an den Zeichentisch gesetzt. Ein lang gestrecktes Haus mit Türen an beiden Enden. Parallel verlaufende, breite Arbeitstische auf zwei Ebenen, wo die unterschiedlichsten Blumen stehen könnten. Im Boden versenkt um einen Meter, wie es bei den frühen viktorianischen Gewächshäusern üblich war. So wurde die Wärme optimal bewahrt und die Gefahr, dass die zarten Pflanzen durch einen unerwartet späten Frost zerstört wurden, minimiert. Im Notfall würde sie das Gewächshaus auch mithilfe einer Solaranlage auf den Dächern der Stallungen beheizen können. Das Haus würde im Windschatten der Stallungen liegen und dadurch vor Stürmen geschützt sein. Vielleicht könnte sie auf der Wiese dahinter auch noch anfangen, erste eigene Bäume und Büsche zu pflanzen …

Sie schrak auf, als Sam sich neben ihr laut räusperte.

»Was?«

»Du hast so versonnen ausgesehen. Ich würde ja hoffen, dass ich der Grund dafür bin, aber ich befürchte, das Gewächshaus hat mir den Rang abgelaufen, oder?«

Mags wurde rot und griff nach seiner Hand.

»Erwischt. Ich kann es kaum erwarten, bis die Arbeiter die ersten Wände aufstellen. Am liebsten würde ich heute schon damit anfangen, die ersten Pflanzen auf die Tische zu stellen. Aber ich werde dich vermissen.«

Sie sah ihn nachdenklich an.

»Sam? Hab ich mich wieder einmal breitschlagen lassen?«

Ihr Mann schüttelte den Kopf.

»Das denke ich nicht. Ich glaube sogar, dass du auch ganz ohne die Überredungskunst von Miss Clara mitgefahren wärst – es ist doch perfekt, oder?«

Miss Clara war Mags’ ehemalige Vermieterin, ihre engste Vertraute und neben Sam der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Miss Clara war im letzten Jahr an Krebs erkrankt und hatte es nach Bestrahlung und Chemotherapie geschafft, ihn zurückzudrängen. Mags wusste, dass der Preis dafür hoch gewesen war und dass Clara riesige Angst vor neuen Tumoren hatte. Umso mehr genoss sie jede Sekunde, die sie mit ihrer Freundin verbringen konnte.

Als Clara dann vor einigen Wochen zu ihr gekommen war, um ihr von der Chance auf eine Gartenreise nach Südostengland zu erzählen, hatte sie nur kurz gezögert, dann aber schnell zugesagt.

Vor allem, da Mags, im Ausgleich für ihr Fachwissen und die Bereitschaft, als Gartenexpertin für die Gruppe zu fungieren, umsonst mitfahren durfte. Miss Claras Freundin Rose Callwey führte nämlich mit ihrer Frau Beth ein Reiseunternehmen, das sich auf exklusive Gartenreisen in England spezialisiert hatte.

Rose war dabei die Frau für alles Organisatorische, kümmerte sich um Unterkünfte, Transport, Essen und darum, dass es den Teilnehmern auch sonst an nichts fehlte. Und ihre Frau Beth war als Biologin und passionierte Gärtnerin für die Inhalte zuständig. Sie führte durch die Gärten, knüpfte Kontakte zu den Stiftungen, schaffte es, dass auch private Gärten ihre Tore öffneten, und konnte laut Miss Clara zu jedem Garten in England mehr erzählen als irgendjemand sonst, den sie kannte.

Miss Clara hatte Beth im Krankenhaus kennengelernt – auch bei der um einige Jahre jüngeren Frau hatte der Krebs zugeschlagen. Beth war, im Gegensatz zu Clara, noch so geschwächt, dass eine Reise nicht infrage kam.

Und da hatte Miss Clara, rührig wie immer, Mags ins Spiel gebracht. Sie selbst und ihr Mann Eric würden als Gäste mitreisen, Mags würde an Roses Seite den Teilnehmern als Fachfrau für alle Fragen zur Verfügung stehen.

Geplant war eine exklusive Gartenreise mit zehn Teilnehmern durch Südostengland. Und zum Abschluss der Reise ein ganzer Tag im Royal Garden in London. Ein Traum, doch Mags merkte, wie sich ihr Magen jetzt, wo es losgehen sollte, zusammenzog.

»Ja, es ist eine perfekte Gelegenheit, aber ich kenne die Gärten doch gar nicht so gut wie Beth. Was, wenn …«

Sam unterbrach sie.

»Du hast in den letzten Wochen alles, wirklich alles gelesen, was du über die Gärten in die Hände bekommen konntest, oder? Und du hast einige davon doch auch schon besucht.«

»Ja, aber das ist Jahre her. Ich war mit meinem Vater dort.«

Wie immer, wenn Mags an ihren Vater dachte, der vor Jahren bei einem Autounfall gestorben war, musste sie schlucken. Zu kurz war ihre gemeinsame Zeit gewesen, und sie wünschte sich sehr, dass er sehen könnte, was sie mittlerweile alles erreicht hatte.

»Das ist doch nicht schlimm. Du wirst dich zurechtfinden, du weißt, wie die Gärten aufgebaut sind. Du warst die letzten Tage ständig bis zur Nasenspitze in Büchern versunken. Du warst eine ganz vorbildliche Streberin, schlimmer sogar als ich!«

Mags merkte, wie sich der Anflug eines Lächelns in ihre Mundwinkel stahl.

»Wenn du das so ausdrücken willst.«

»Und in jedem der Gärten wird die Gruppe doch zusätzlich von einem der Gärtner geführt – du bist ja sozusagen nur die Frau im Hintergrund. Und was für eine Frau!«

Sam grinste, aber Mags nickte nur. Rose hatte sich ans Telefon gehängt und ihre Kontakte spielen lassen. Die Gruppe würde vor Ort jeweils von einer der Gärtnerinnen oder einem der Gärtner herumgeführt werden – und Mags wäre danach Ansprechpartnerin für alle zusätzlichen Fragen. Es war alles organisiert, nur hatte sie nicht damit gerechnet, so nervös zu sein. Lampenfieber. Eindeutig Lampenfieber. Dagegen war kein Kraut gewachsen.

»Also hol Luft, lass die Schultern fallen, und freu dich einfach auf die Woche. Du wirst Zeit mit Clara und Eric verbringen können, dabei eine Menge toller Gärten sehen, du wirst rundum versorgt werden und dich um nichts kümmern müssen. Deine Leute hier in der Firma können gut eine Woche ohne dich auskommen. Und ich bin ja auch noch da.«

Jetzt musste Mags doch lachen, und die Anspannung wich aus ihren Schultern.

»Sam, du hast keine Ahnung von meiner Arbeit. Du hast vor drei Wochen fast meinen Pfingstrosen den Garaus gemacht, weil du sie für Unkraut gehalten hast.«

»Aber ich kann so tun, als ob ich Ahnung hätte. Darin bin ich gut.«

Mags lächelte und musterte Sam dann prüfend.

»Sam Hawthorne, Gärtner und Geschäftsmann?«

»Ja, in einem anderen Leben wäre ich das vielleicht? Als Kind bin ich in sämtliche Rollen geschlüpft, die ich in Büchern finden konnte. Ich war schon ein umwerfender Geheimagent, ein verkannter, aber genialer Maler und ein gewitzter Pirat. Goldsucher und Superheld. Hochstapler, Zeitreisender und Mönch. Warum nicht auch Gärtner?«

»Du schreibst dir die Rolle also selbst?«

Sams Augen leuchteten, und Mags wusste, dass in seinem Kopf schon das fieberhafte Klackern der Tastatur zu hören war.

»Ich sollte dabei einen Hut aus Stroh und so eine Latzhose anhaben, wie die, die du immer trägst. Vielleicht hätte ich einen leichten cornischen Akzent – etwas breiter und gedehnter in der Aussprache? So wie du?«

Die letzten Worte hatte er ausgesprochen, als hätte er eine Kartoffel im Mund. Mags konnte es nicht glauben.

»Hey – so spreche ich nun wirklich nicht!«

»Ich wäre aber nicht verheiratet, sondern würde lieber allein in meinem Haus leben, in dessen ummauerten Garten ich das ein oder andere Geheimnis verberge. Vielleicht …«

Mags seufzte. Ihr Mann war innerhalb von Sekunden nicht mehr bei ihr, sondern inmitten einer Geschichte, die in seinem Kopf entstand. Ihr erschien es immer so wie im Märchen vom Zaubertopf, der weiter und weiter Brei kochte, bis der Brei das Haus und alles umher bedeckte. Blubbernde Grießbreigedanken.

Sie schüttelte den Kopf über diese alberne Vorstellung. Manchmal war Sams Phantasie ansteckend – und sie wusste, dass sie ihn unter anderem dafür liebte. Zu lange hatte sie sich selbst verboten, ihren Gedanken und Träumen genügend Platz zu geben.

Während Sam weiter an seiner immer absurder werdenden Geschichte über einen Gärtner in Cornwall spann, ließ sie ihren Blick schweifen, über den Garten, den sie um ihr Cottage herum geschaffen hatte, oder besser, den sie gerade dabei war, zu erschaffen.

Es war so viel passiert, Gutes wie Schlechtes. Sie hatte wahre Liebe gefunden, aber auch wahrhaft Böses erlebt. Sie griff unbewusst nach ihrer rechten Schulter, die dank der Gartenarbeit und der Leistung der Ärzte und Therapeuten nur noch selten schmerzte. Sie hatte gelernt, wie kurz und unberechenbar das Leben war. Spätestens seit ihrer Reise nach Belize wusste sie auch, dass es wichtiger war, im Hier und Jetzt zu leben, als sich an vergangene Hoffnungen und Träume zu klammern.

Sie hatte zusammen mit Sam aus dem alten Cottage ein Zuhause geschaffen, und aus den Stallungen einen Arbeitsplatz für mittlerweile fünf Mitarbeiter. Vor Jahren war sie in ihr Heimatdorf Rosehaven geflohen, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte. Heute war sie Teil der Dorfgemeinschaft und bereit, das Ihrige dazu beizutragen, Rosehaven und seine Bewohner zu schützen. Sie hatte hier Bäume gepflanzt und dabei selbst Wurzeln geschlagen. Und sie hatte Sam gefunden, lieben gelernt und mit großen Augen beobachtet, wie er neben ihr in Windeseile ebenfalls Wurzeln schlug und Rosehaven als seine neue Heimat annahm.

Es mochte vielleicht einigen Menschen merkwürdig vorkommen, wie viel Arbeit, Zeit und auch Geld sie in ihren Garten am Cottage steckte und noch stecken würde, aber für sie war er der Ort, an dem sie daheim war.

Noch gestern Abend im Bett hatte sie neben Sam gesessen und ihm aus Portrait eines Gartens vorgelesen, dem Buch, in dem Vita Sackville-West und Harold Nicolson über ihre Arbeit und ihre Liebe zu dem Stück Land schreiben, das später einmal weltberühmt werden sollte: Sissinghurst. Auch dorthin würde sie ihre Reise führen. Die Schriftstellerin Vita und ihr Mann Harold hatten 1930 den verfallenen Landsitz in Kent mitsamt seines von Brombeerranken bedeckten und völlig überwucherten Gartens gekauft. Mit harter Arbeit und großem finanziellen wie körperlichen Einsatz hatten sie dort über Jahre ein Paradies geschaffen, das bis heute Bestand hatte. Vor allem Vita, gekleidet in einen über und über mit Taschen und Schlaufen für ihre Gartengeräte ausgestatteten Hosenanzug, das eindrucksvolle Gesicht von einem Strohhut beschattet, hatte unermüdlich an ihrem Traum gearbeitet. Sissinghurst war das Eldorado vieler Gärtner – und ein lebendiges Zeugnis dessen, wozu zwei Menschen mit einer gemeinsamen Vision fähig waren.

Mags dachte an den Satz, den Vita nach ihrer ersten Besichtigung der Ruinen von Sissinghurst in ihr Tagebuch geschrieben hatte.

»War von Liebe überwältigt …«

Sie lächelte und merkte, wie sich endlich etwas in ihr ausbreitete, das bisher bei all der Arbeit noch keinen wirklichen Raum gefunden hatte. Vorfreude. Sie würde auf Reisen gehen!

2

»Dumme Gans!«

Mags wurde von Sams Fluch aus ihren Gedanken gerissen.

»Bitte?«

Doch er sah – zu seinem Glück – nicht sie an, sondern über ihre Schulter hinweg in Richtung Cottage. Und jetzt sah auch Mags, wie ein weißer Ball schnell auf sie zugerannt kam und dabei heftig mit den Flügeln schlug.

»Agatha!«

Mags hatte sich schon am Abend von ihrer Gans verabschiedet und ihr in aller Ruhe und zu Sams Amüsement erklärt, warum sie wegginge und dass sie aber in einer Woche auf jeden Fall wiederkommen werde. Agatha mochte es ganz und gar nicht, wenn ihr heiß geliebter Mensch wegfuhr und sie dann auch noch mit diesem Mann alleine ließ.

Mit einem letzten Flügelschlag und einem lauten Quaken kam die mittlerweile ausgewachsene und beeindruckend große Gans vor Mags zum Stehen und sah sie erwartungsvoll an. Augenrollend bückte sich Mags und hob mit einem Ächzen die gut fünf Kilo schwere Agatha in ihre Arme.

»Ich dachte, sie ist bei Arthur im Gehege?«

Sam war vorsichtshalber einen Schritt zurückgetreten, er hatte schon ausreichend Erfahrung mit Agathas kräftigem Schnabel gemacht.

»Wahrscheinlich nutzt Arthur die Gelegenheit und versucht wieder, in der Küche den Kühlschrank zu öffnen.«

Arthur war der Gänserich, den Mags von ihren Freunden zu Weihnachten bekommen hatte, damit Agatha nicht mehr alleine war. Die Hoffnung, dass ein Gefährte an ihrer Seite die Gans etwas friedlicher machen würde, hatte sich nicht erfüllt. Agatha und Arthur hatten einfach beide Mags zu ihrem Lieblingsmenschen erklärt. Sie duldeten Sam nur dann, wenn er ihnen Futter brachte, und verteidigten als Dank dafür aber das Cottage und den Garten mit all ihrer Energie.

Ein leises Klirren aus dem hinteren Teil des Hauses schien Sam recht zu geben, und er eilte um die Hausecke, um den Inhalt des Kühlschrankes vor dem ziemlich verfressenen Gänserich zu retten.

Mags strich Agatha, die nun leise schnaubend ihren Schnabel in die Haare ihres Menschen streckte, über das weiße Gefieder.

»Ich bin ja bald wieder da. Und du musst so lange auf die beiden Männer aufpassen. Die machen sonst nur Blödsinn. Aber das muss ich dir ja nicht erst erklären, oder?«

Die Gans schien Mags zu verstehen und knabberte vorsichtig an ihrem Ohrläppchen. Ein Knabbern, das zu einem erschrockenen Kneifen wurde, als oben an der Straße ein lautes Hupen zu hören war.

»Au!«

Mags setzte Agatha unsanft ab und rieb sich das Ohr.

»Das ist doch nur Mr Smith mit dem Bus.«

Die Gans schien nicht überzeugt zu sein und breitete drohend die Flügel aus. Anscheinend hatte sie den Bus als feindlich eingestuft. Mags musste lachen und griff nach ihrer Tasche. Auch Sam war wieder um die Ecke des Hauses gebogen, ein wütendes Quaken hinter ihm und eine weiße Daune in seinen Haaren zeigten, dass er den Gänserich erfolgreich aus der Küche geworfen hatte.

»Was für ein Anblick!«

Mags musste Sam recht geben. Mr Smith war Rosehavens Automechaniker, mittlerweile offiziell im Ruhestand, auch wenn er es sich nicht nehmen ließ, für einige Kunden noch selbst unter die Hebebühne zu kriechen. Um, wie er es sagte, nicht vor Langeweile einzugehen, hatte er seinen historischen Reisebus aus den fünfziger Jahren in unzähligen Stunden Arbeit zu einem wahren Schmuckstück umgebaut. Schon früher war er für die Vereine in Rosehaven als Fahrer unterwegs gewesen oder hatte Touristen auf den geblümten Bänken des Busses durch Cornwall chauffiert. Inzwischen hatte er den alten Dieselmotor des Busses gegen einen hochmodernen Brennstoffzellenmotor ausgetauscht, der mit Wasserstoff betrieben wurde.

Unter der alten rot-weißen Lackierung des Busses, den polierten Chromleisten und den breiten Sitzen steckte mittlerweile mehr Technik als in einem Kleinflugzeug. Der Bus war Mr Smiths Lebensaufgabe – und Mags bewunderte, wie er ihn mit viel Leidenschaft, Wissen und Geschick in etwas verwandelt hatte, das ins 21. Jahrhundert passte. Mr Smith scherzte, dass er mehr Anträge auf Fördergelder und Genehmigungen gestellt hatte als jeder andere Einwohner Cornwalls, aber er war erfolgreich gewesen und hatte es mit seinem Bus bis in die landesweiten Nachrichten geschafft. Auch Vertreter von London Transport hatten sich neugierig auf den Weg bis ins beschauliche Rosehaven gemacht, um den Umbau zu begutachten. Die großen roten Doppeldecker Londons waren zu Mags’ Kindheit noch mit stinkenden Dieselmotoren ausgestattet gewesen, und immer noch wunderte sie sich, wenn sie die Hauptstadt besuchte, dass es nicht mehr stank. Oder wenigstens nicht mehr so sehr wie früher …

Auf jeden Fall war Mr Smiths Bus ein oft fotografiertes Motiv der Touristen und eine kleine Sehenswürdigkeit Rosehavens. Und so kam es dann auch, dass Miss Clara, rührig wie immer, Rose Callwey vorgeschlagen hatte, doch gleich auch Mr Smith und seinen Bus für ihre nächste Gartenreise zu engagieren.

Der Bus hupte erneut, und Mags konnte sehen, wie Miss Clara ihr durch eines der Fenster zuwinkte. Neben ihr rutschte ihr Mann Eric Johnson, ein ehemaliger Kriminalbeamter und leidenschaftlicher Rosenzüchter, ungeduldig auf seinem Platz herum und schaute auf seine Uhr.

»Es geht los! Mach keinen Blödsinn, während ich nicht auf dich aufpassen kann!«

Das Blitzen in Sams Augen verriet, dass er Mags aufziehen wollte.

Sie schnaubte nur und gab ihm einen Abschiedskuss, was Agatha zu einem wütenden Quaken provozierte. Mags fuhr der Gans noch einmal über das Gefieder, blickte auf ihr Haus und ihren Garten und ging, den Koffer fest in der Hand, auf den Bus zu.

Die Reise würde in einem Hotel in East Grinstead beginnen, wo auch die anderen Teilnehmer im Laufe des Nachmittags eintreffen würden. Am Abend gäbe es dann das erste gemeinsame Essen und ein Kennenlernen. Mags war gespannt, wer außer ihnen alles an der Fahrt teilnehmen würde. Am nächsten Morgen würden sie dann die wenigen Meilen bis Leonardslee Gardens fahren – dort würde die erste Führung stattfinden. Mags war noch nicht dort gewesen, da der Garten in den letzten Jahren geschlossen und dann aufwendig restauriert worden war, freute sich aber insbesondere auf die dort lebenden Wallabys. Ursprünglich hatten wohl unzählige Tiere den waldähnlichen Park bewohnt, von denen aber nur die kleinen australischen Beuteltiere als Publikumsmagnet geblieben waren. Sie hatte sich ein wenig über Roses Auswahl des eher unbekannten Gartens als Startpunkt der Reise gewundert – allerdings waren eine private Führung und ein Blick hinter die Kulissen vielleicht doch Dinge, die vielen der Teilnehmer gefallen könnten. Sie hatte gestern auf der Seite des Gartens nachgesehen, und ein großer Teil der alten und riesigen Rhododendronbüsche würde noch blühen. Mags seufzte, da sie eine tiefe Abneigung gegen die Büsche hatte, die zwar in eine Parklandschaft passten, sich jedoch durch Vögel in der gesamten cornischen Landschaft verbreitet hatten und vor allem den eigentlich hier heimischen niedrigen Gehölzen immensen Schaden zufügten.

Die Nacht würden sie in einem Hotel in der Nähe verbringen, einem Haus, das schlicht Blackmill hieß und Rose Callwey zufolge ein wahres Kunstwerk sei. Was immer das auch heißen mochte. Mags hatte gezielt nicht im Internet nach den Hotels und B & Bs gesucht, in denen sie übernachten würden. Sie liebte es, sich überraschen zu lassen, und freute sich einfach auch darauf, rundum verwöhnt zu werden.

Bis Sissinghurst war es von dort aus nicht weit, und früh am nächsten Morgen würden sie dann noch vor allen anderen Besuchern in den Garten gelassen werden. Zwei Stunden für die ungestörte Erkundung des Gartens. Mags freute sich auf die Anlage wie ein Kind auf den Weihnachtsmann. Sie konnte es kaum erwarten. Sie würden zwei Tage dort und in der zum Garten gehörenden Pension bleiben und am vierten Tag weiter nach Godinton House fahren. Ein ganz schöner Kontrast zu Sissinghurst, da Godinton ein formaler Landschaftsgarten war, wie er im Buche stand. Eine Übernachtung in einem Hotel, das dort an einer alten Wassermühle angebaut war und zumindest auf den Bildern sehr elegant aussah. Dann würde es weiter Richtung Westen gehen, zu den Wisley Gardens, Petworth House und schließlich am letzten Tag bis vor die Tore Londons und zu den Royal Botanic Gardens. Dort würde die Reise dann enden – ein krönender Abschluss.

Mags hievte ihren Koffer in eines der seitlich am Bus angebrachten Fächer und stieg dann mit einem Lächeln die Treppe hinauf. Endlich hatte die Vorfreude über ihre Nervosität gesiegt, und sie lachte fröhlich.

Die Reise konnte beginnen!

3

Am späten Nachmittag hatte der Bus nach sieben langen Stunden Fahrt das Hotel am alten Marktplatz von East Grinstead erreicht, und seitdem kam Mags aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Old Coachhouse, erbaut im Jahr 1880, wirkte wie aus der Zeit gefallen. Die hohen Fenster im Erdgeschoss waren mit hellen Spitzengardinen und Blumen in Messingtöpfen geschmückt. Die breite Treppe, die zu einer Drehtür führte, wurde von einem Baldachin aus dunkelrotem Stoff geschützt, und der Portier – es gab wirklich einen Portier, der die Tür aufhielt und sie mit einem herrlich übertriebenen vornehmen Akzent willkommen hieß – trug eine ebenfalls weinrote Uniform, an der jeder auf Hochglanz polierte Knopf im Sonnenlicht funkelte.

Die Koffer wurden von zwei jungen Männern aus dem Bus geladen, auf einen ebenfalls messingfarbenen Wagen gehoben und lautlos ins Innere des Hauses gebracht.