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Der unbekannte Tote auf den Klippen.
Die junge Gärtnerin Mags Blake wird von dem Historiker Sam Hawthorn um Hilfe gebeten. Er arbeitet an einer Festschrift über die Klosterinsel St. Michael’s Mount, und Mags soll ein Kapitel über die Gärten der Insel schreiben. Bei ihren Recherchen stößt sie in einer Kapelle auf die nackte Leiche eines alten Mannes – niemand scheint ihn zu kennen. Als ein Freund von Mags unter Verdacht gerät, mischt sie sich mit Sam in die Ermittlungen ein. Dabei stoßen sie auf ein jahrzehntealtes Geheimnis. Und zwischen den beiden knistert es gewaltig …
Ein weiterer Kriminalfall für Mags Blake vor der traumhaften Kulisse Cornwalls.
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Seitenzahl: 232
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Mary Ann Fox, Jahrgang 1978, verdiente sich ihr erstes Geld in einer Gärtnerei. Der Liebe wegen ging sie nach dem Studium nach England und arbeitete dort als Fremdenführerin, als Deutschlehrerin und dann im Botanischen Garten in Oxford. Sie arbeitet und lebt mittlerweile in Hamburg- Altona.
Der unbekannte Tote auf den Klippen
Die junge Gärtnerin Mags Blake wird von dem Historiker Sam Hawthorn um Hilfe gebeten. Er arbeitet an einer Festschrift über die Klosterinsel St. Michael’s Mount, und Mags soll ein Kapitel über die Gärten der Insel schreiben. Bei ihren Recherchen stößt sie in einer Kapelle auf die nackte Leiche eines alten Mannes – niemand scheint ihn zu kennen. Als ein Freund von Mags unter Verdacht gerät, mischt sie sich mit Sam in die Ermittlungen ein. Dabei stoßen sie auf ein jahrzehntealtes Geheimnis. Und zwischen den beiden knistert es gewaltig …
Ein Kriminalfall vor der traumhaften Kulisse Cornwalls
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Mary Ann Fox
Je dunkler das Grab
Ein Cornwall-Krimi
Inhaltsübersicht
Über Mary Ann Fox
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Informationen zu St. Michael’s Mount
Impressum
The autumn air is clear,
The autumn moon is bright.
Fallen leaves gather and scatter,
The jackdaw perches and starts anew.
We think of each other – when will we meet?
This hour, this night, my feelings are hard.
Li Bai
***
Wie hatte es nur in wenigen Sekunden so nebelig werden können? Mags Blake stand fluchend auf dem schmalen Damm, der bei Ebbe die Klosterinsel St. Michael’s Mount mit dem gut dreihundert Meter entfernten Festland verband, und merkte mit einem Schaudern, wie ihr bereits das Wasser der nahenden Flut über ihre heißgeliebten Chucks schwappte. Das war nicht gut. Das war wirklich nicht gut. Mags, an der Küste Cornwalls aufgewachsen, kannte das Meer und seine Gezeiten. Sie kannte die Gefahren – und war trotzdem wie einer dieser gedankenlosen Touristen einfach losgegangen. Im September. In der Dämmerung. Und schuld war nur Sam, wer auch sonst.
Sie atmete tief durch. Der mittelalterliche Damm mit seinen vom Wasser glatt geschliffenen Pflastersteinen ragte bei Ebbe vielleicht einen Meter aus dem Grund. Er verlief in einer leichten Kurve leicht steigend bis zur Insel. Mags wusste das, sie war schon einmal hier gewesen. Ihr Heimatdorf Rosehaven lag nur eine Stunde Fahrt mit dem Auto entfernt, und ihr Vater hatte sie schon als Kind in den Garten mitgenommen, der sich an den Hang schmiegt.
Aber zwischen dem Ahnen, wie ein Weg verlief, und dem Sehenkönnen, wo genau er verlief, lag ein großer Unterschied.
Sie musste sich entscheiden. Eine Drehung um hundertachtzig Grad, um wieder zurück nach Marizion zu gehen, dort die nassen Schuhe auszuziehen und in ihrem betagten VW-Transporter zurück nach Rosehaven zu fahren. Sie würde es sich mit einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen in ihrem Lieblingssessel bequem machen.
Oder sie könnte weiter geradeaus laufen, um auf der Insel Sam zu treffen, der ihre nassen Füße und ihre mittlerweile vom feuchten Nebel wild gelockten Haare sicherlich mit seinem typischen ironischen Lächeln begutachten würde.
Sam Hawthorn und sein Lächeln.
Nach den Ereignissen im Sommer war er nach Oxford verschwunden und hatte sich bis auf zwei alberne Postkarten nicht gemeldet. Bis heute Morgen, als Mags vom Klingeln ihres Telefons wach geworden war. Bevor sie sich fluchend aus dem Schlaf und dann aus ihrem Bett befreien konnte, war schon das Band angesprungen. Sams Stimme ertönte:
»Mags? Ich bin es, Sam. Ich bin auf St. Michael’s Mount und könnte hier deine Hilfe gebrauchen. Kannst du kommen? Bitte.«
Bevor sie das Telefon erreichte, hatte er schon aufgelegt. Keine Nummer hinterlassen, keine Zeit genannt. Einfach nur: Komm. Sie hatte sich fest vorgenommen, seine Nachricht zu ignorieren, da ohnehin viel zu tun war. Sie führte ihr eigenes Unternehmen, den Evergreen Garden Service. Sie hatte gut zu tun, das wusste Sam auch. Sie konnte nicht einfach so alles stehen und liegen lassen, nur weil er sie darum bat. Verdammt.
Seufzend setzte sie weiter einen Fuß vor den anderen. Die Insel konnte nur noch wenige Meter entfernt sein, durch den Nebel sah sie ein schwaches Leuchten. Sicherlich die Lichter der Hafenhäuser. Wenn sie sich richtig erinnerte, gab es dort einen kleinen Pub für die Touristen. Der Gedanke an ein Bier und einen warmen Platz am Feuer – und jeder Pub in Cornwall, der etwas auf sich hielt, hatte eine Feuerstelle – ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Sie merkte, wie der Weg langsam steiler wurde und ihre Füße nicht länger durch Wasser gingen. Gleich hatte sie es geschafft.
Erleichtert atmete sie auf, als sie plötzlich mit dem Fuß gegen etwas Weiches stieß. Erschrocken trat sie einen Schritt zur Seite und merkte zu spät, dass sie dem Rand des Dammes gefährlich nahe gekommen war. Mags strauchelte, konnte ihr Gleichgewicht nicht halten und fiel. Sie spürte, wie ihr Kopf gegen etwas Hartes krachte, dann wurde ihr schwarz vor Augen.
»Was in aller Welt hattest du dort draußen zu suchen?«
Mags stöhnte und rückte behutsam den Eisbeutel an ihrem Kopf zurecht, den ihr die Wirtin des Pubs gereicht hatte.
»Wenn Adam nicht durch Zufall selbst draußen gewesen wäre, dann wärst du ertrunken!«
Sams Stimme dröhnte in ihren Ohren.
Unter einem vorwurfsvollen und zugegebenermaßen auch sehr besorgten Blick hielt er ihr erneut drei Finger vor die Augen.
»Wie viele Finger?«
Mags stöhnte auf.
»Sam, drei! Drei Finger. Ich habe mir eine dicke Beule und wahrscheinlich eine Erkältung eingehandelt, aber ich habe keine Gehirnerschütterung.«
Sie zog die dicke Wolldecke noch etwas fester um sich und rutschte näher an das Feuer.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Sam Hawthorn, der etwas schlaksige Mann mit seiner unvermeidlichen Cordhose, sich besorgt im Pub umblickte. Er war Historiker an der Universität Oxford und anscheinend mal wieder dabei, Material für sein Steckenpferd, die Geschichte Cornwalls, zu sammeln. Sie hatte ihn im Sommer im Haus der Familie Williams kennengelernt. Bei dem Gedanken an ihr erstes Treffen musste sie lächeln, was sie allerdings schmerzhaft an die Beule an ihrem Kopf erinnerte. Sie hatte sich eines Morgens heimlich in den herrschaftlichen Garten des Landsitzes geschlichen, auf dem Sam zu Gast war. Er hatte sie im Garten gesehen und es geschafft, sie innerhalb weniger Sekunden zur Weißglut zu bringen. Das schaffte er immer. Sie wusste mittlerweile, dass sich hinter seinem leicht blasierten Tonfall eher Unsicherheit als Arroganz versteckte, aber trotzdem: Sam blieb Sam, und sie war sich nicht sicher, was sie von seinem Interesse an ihr halten sollte.
Die Tage im Garten von The Shelter waren tragisch gewesen und hatten für Mags mit einer lebensbedrohlichen Situation geendet. Sie hatte damals in der Nacht auf den Klippen ein weiteres Stück ihrer ohnehin schon geringen Unbeschwertheit verloren.
Seufzend lehnte sie sich zurück und blickte sich in dem holzvertäfelten Innenraum des Pubs um.
Der Tresen schien aus einem einzigen langen Stück Eichenholz gezimmert zu sein, an den Wänden hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von Fischerbooten und ihren Besatzungen. Hinter dem Tresen standen blank polierte Flaschen in Reih und Glied. Die dunkle Decke war niedrig und vom Feuer der letzten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte geschwärzt.
Elsa Sands, die Wirtin, war vielleicht fünfzehn Jahre älter als Mags selbst und war wie eine aufgescheuchte Glucke um Mags geschwirrt, nachdem sie in den Pub getragen worden war. Sie hatte Mags in eines der Gästezimmer gebracht, sie in Sekunden ausgezogen und unter eine heiße Dusche gestellt, danach mit einem flauschigen Handtuch abgerubbelt und in einen ausgebleichten Schlafanzug und eine Decke gepackt und sie so vor den Kamin gesetzt. Vor ihr stand eine Tasse Tee mit einem ordentlichen Schuss Whisky, und sie hatte das Gefühl, gleich aus den Ohren zu dampfen.
Sie erinnerte sich an ihren Sturz und einen scharfen Schmerz, und dann war sie, nass bis auf die Knochen, in den Armen eines Riesen aufgewacht.
Nicht eines wirklichen Riesens, nein, aber in den Armen eines der größten Männer, die sie je gesehen hatte.
Bevor sie ihn etwas hatte fragen können, war er schon geduckt durch die Tür in den Pub getreten. Ihr Eintreten hatte die Gespräche am Tresen für einige Sekunden verstummen lassen. Dann waren alle auf sie zugestürmt, Mags hatte einen kurzen Blick auf Sams vertrautes Gesicht werfen können, bevor Elsa sie unter ihre Fittiche genommen hatte.
Sams Stimme holte sie zurück.
»Also noch mal: Was in Teufels Namen hattest du da draußen zu suchen? Ich dachte wirklich, dass du vernünftiger seist als ein ahnungsloser Tourist, der bei Dämmerung und Nebel ins Watt geht.«
»Du hast angerufen und gesagt, dass ich kommen soll.«
Mags hörte sich sprechen, bevor sie ernsthaft über ihre Worte nachgedacht hatte, und biss sich wütend auf die Zunge. Auf Sams Gesicht erschien langsam ein Lächeln, das nach und nach zu einem Grinsen wurde.
»Sieh an.«
Mags schnaubte entrüstet und wollte gerade erklären, dass sie es schon alleine auf die Insel geschafft hätte, aber ein Blick in die besorgten Gesichter um sie herum ließ sie verstummen.
Adam saß am Tresen, lächelte sie an, eine Tasse heiße Milch in der Hand und einen weißen Schnurrbart über seiner Oberlippe. Die Tasse wirkte, als gehörte sie zu einem Puppengeschirr. Mags hatte noch nie einen so großen Mann gesehen. Ohne ihn wäre sie vielleicht wirklich ertrunken.
Schaudernd zog sie die Decke noch enger um sich und machte sich bereit, den immer noch unverschämt grinsenden Sam in seine wohlverdienten Schranken zu weisen. Doch der nahm ihr schon wieder den Wind aus den Segeln.
»Aber du hast recht, ich brauche dich wirklich. Oder vielmehr brauche ich dein Wissen über Gärten.«
Damit hatte Mags nun nicht gerechnet. Natürlich kannte sie die Gärten der Insel. St. Michael’s Mount hatte, seinem vom Festland aus eher felsigen und schroffen Anblick zum Trotz, einen wunderschönen Garten zu bieten. Die Steine der Insel speicherten die Sonnenwärme, die Meeresluft sorgte für ausreichend Feuchtigkeit, und so schmiegten sich die herrlichsten subtropischen Pflanzen in die Nischen und Terrassen der Hänge. Sie war einmal mit ihrem Vater zur Zeit der Lilienblüte auf St. Michael’s Mount gewesen – die Insel war in den Duft von Tausendundeiner Nacht getaucht.
Aber was hatte Sam plötzlich mit Gärten zu tun?
»Ich bin von Timothy, einem meiner Studenten und zugleich dem Erben dieser Insel, gebeten worden, eine Festschrift zum Jubiläum der Stiftung der Insel an den National Trust zu erarbeiten. Du musst wissen, nicht nur die Gärten sind etwas Besonderes. Wenn ich die Quellen richtig deute – und ich bin gespannt, was ich in der Bibliothek der Burg noch alles finde –, dann können wir eine Besiedlung bis ins neunte Jahrhundert zurückverfolgen. Von den Gerüchten über einen Handelsstützpunkt der Phönizier ganz zu schweigen. Wobei dafür schlicht Beweise fehlen. Und seit die Familie von Sir Rupert auf der Insel ist, und das sind ja schlappe vierhundert Jahre, gibt es lückenlose Aufzeichnungen über fast alle Vorgänge. Die Kelten, die Römer, alle waren hier auf der Insel und …«
Mags sah das Leuchten in Sams Augen. Würde sie ihn nicht unterbrechen, könnte er sicherlich Stunden so weitersprechen.
»Sam? Sam, mein Kopf brummt. Warum ich, also warum interessierst du dich für die Gärten?«
Sam schien etwas kämpfen zu müssen, um aus seinem Vortrag wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Er blinzelte.
»Ach ja, die Gärten. Eigentlich wollte ich das selbst schreiben, ich meine, es kann ja nicht so schwer sein, ein bisschen über die Pflanzen hier …«
Mags zog die Augenbrauen hoch, aber bevor sie etwas sagen konnte, hob Sam schon abwehrend die Hände.
»Ja, ich weiß. Es ist viel komplizierter als gedacht, und ich habe mich da auch ein wenig verzettelt, und …«
Man konnte ihm ansehen, dass ihm der nächste Satz schwerfiel.
»Und ja, ich weiß einfach viel zu wenig über Gärten, und da der Garten hier ja auch noch so besonders ist … Außerdem gibt es da …«
Sam brach ab.
»Was gibt es da außerdem?«
Sam grinste schon wieder.
»Ich denke, das wirst du morgen schon sehen.«
Das war mal wieder typisch. Zuerst zugeben, dass er Hilfe brauchte, und sich dann aber hinter irgendwelchen Andeutungen verstecken.
»Morgen? Wie kommst du auf die Idee, dass ich morgen noch hier sein werde?«
Mags merkte, wie sich unter den Tee und den Whisky und die Wärme des Feuers langsam eine leichte Wut mischte.
»Sam, ich habe ein Geschäft, falls du es vergessen hast. Kunden, die auf mich warten. Vielleicht ist das in deinen Augen nicht so wichtig wie deine Studien, aber mir schon. Ich kann nicht einfach so morgen wieder herkommen, nur weil du beschlossen hast, dass das so ist.«
Sie merkte, wie sie sich verhaspelte, und wollte gerade weiterschimpfen, als Sam ihr den Wind aus den Segeln nahm.
»Nein, nein. Du sollst ja gar nicht morgen wieder herkommen, du bleibst einfach hier. Elsa hat ein freies Zimmer für dich, und ich habe vorhin bei Miss Clara angerufen, damit sie sich keine Sorgen um dich macht. Sie sagt, dass die Jungs morgen deine Aufträge schon alleine übernehmen werden.«
»Du hast was?«
Mags schnappte nach Luft. Miss Clara war ihre Freundin und außerdem die Vermieterin der alten Gartenscheune, in der sich Mags’ Büro und ihre Wohnung befanden.
»Wie kannst du es wagen …«
Sam war vorsichtshalber einige Schritte zurückgetreten.
»Warte doch erst einmal, bevor du mir den Kopf abreißt. Es ist schon nach neunzehn Uhr, es gibt kein Schiff mehr, das dich zurück nach Marizion fahren würde, und die Ebbe setzt erst in zwei Stunden ein – und bei Nacht ist es auf dem Damm viel zu gefährlich. Daher dachte ich …«
Mags drehte sich hilfesuchend um, doch auch Elsa schüttelte bedauernd den Kopf.
»Er hat recht, tut mir leid. Im Dunkeln würde ich sowieso niemanden über den Damm gehen lassen. Ich habe vorhin den Ofen angestellt, in einer halben Stunde gibt es Essen. Ein Stew, für das ich eine ganze Flasche von unserem dunklen Bier geopfert habe.«
Mags wollte weiterhin wütend sein, aber das war verdammt schwer, wenn man an einem warmen Feuer saß, eine Tasse Tee in der Hand hielt und der Gedanke an einen hausgemachten Eintopf einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
»Anscheinend bleibt mir keine Wahl, oder?«
***
Die Dunkelheit der Nacht schwand allmählich, und die Sonne schob sich über den Horizont. Die Schatten wichen zurück. Eine Dohle saß auf den Zinnen der Burgmauer und blickte über die Insel.
Früher war es ruhiger gewesen, nur die Fischer und die Burgbewohner hatten hier gelebt. Jetzt kamen immer mehr Menschen, zu Fuß oder mit dem Boot strömten sie am Morgen auf die Insel und verließen sie am Abend wieder. Aber das störte die Dohle nicht. Sie freute sich über die Essensreste, die am Pier und an den Bänken liegen blieben. Dieses Jahr hatte sie kein Nest gebaut. Ihr Partner war im Winter zum Festland geflogen und nicht zurückgekehrt.
Sie war alt, ihre Augen, die als Jungvogel hellblau und später dann in ein warmes Braun übergegangen waren, erstrahlten mittlerweile in einem fast reinen Weiß. Sie würde nie wieder ein Nest bauen.
Vom Hafen konnte sie die leisen Bewegungen des letzten Fischers der Insel hören. Die Möwen machten sich bereit, ihn und sein Schiff bei seiner morgendlichen Arbeit zu begleiten.
Bewegungen ließen die alte Dohle innehalten. Da waren Menschen. Weit unter ihr bewegten sich bei der kleinen Kapelle die Umrisse zweier Körper. Neugierig stieß sie sich von ihrem Platz ab und stieg in einem eleganten Bogen zuerst nach oben, um sich dann leise auf den Boden sinken zu lassen.
Stimmen, leise und gedämpft. Die beiden Menschen gingen in die Kapelle.
Sie wollte schon wieder zu ihrem Aussichtspunkt zurückkehren, als sie einen erstickten Schrei hörte. Neugierig sprang sie näher an die Tür.
Mags war wirklich versucht, sich die Decke noch einmal über den Kopf zu ziehen. Bei dem Sturz hatte sie doch mehr blaue Flecken davongetragen, als gedacht. Sie seufzte und wickelte die warme Daunendecke fester um sich. Zu Hause in Rosehaven musste sie meistens früh aufstehen, um das ganze Tagespensum zu schaffen. Der Sommer war zum Glück voll mit Aufträgen gewesen. Sie hatte neue Kunden für ihren Gartenservice gewonnen, was gut war, wirklich gut.
Sie arbeitete gerne und freute sich über jeden Penny, der den Berg an Schulden, den sie auf ihren Schultern trug, schrumpfen ließ. Dabei waren es noch nicht einmal ihre Schulden, oh nein. Arthur, ihr verstorbener Mann, war betrunken mit seinem Auto in voller Geschwindigkeit gegen einen Baum gekracht und hatte ihr hohe Schulden hinterlassen. Sie hatte nach und nach erfahren, wie sehr die nach außen hin so heile und erfolgreiche Fassade seiner Geschäfte sie getäuscht hatte und wie weit seine Probleme tatsächlich reichten. Der Verkauf des Hauses in Amerika, seiner teuren Uhren und Anzüge hatte bei weitem nicht ausgereicht. So war sie, zurück in ihrem Heimatdorf Rosehaven, auch noch gezwungen gewesen, ihr eigenes Elternhaus zu verkaufen, um wenigstens den drängendsten Schulden zu entkommen. Niemand wusste von diesen Schulden, und das sollte auch so bleiben. Sie wollte seinen Eltern, die ihren Sohn nach dessen Tod nach und nach zu einem Heiligen erhoben hatten, die Wahrheit nicht zumuten. Arthur ein Heiliger! Was für ein gemeiner Witz des Schicksals. Trotzdem schwieg sie, seiner Familie zuliebe, und ließ lieber die vielen teils neugierigen, teils gemeinen Spekulationen, warum sie Hab und Haus verkauft hatte, so gut es ging an sich abprallen.
Nur Miss Clara, ihre Vermieterin und Freundin, hatte sich nach und nach alles zusammengereimt und Mags zur Rede gestellt. So kam es, dass sie nun mietfrei in der umgebauten Gartenscheune der ehemaligen Postmeisterin von Rosehaven wohnte und Tag für Tag damit verbrachte, die Gärten anderer Leute anzulegen und zu betreuen. Sie liebte ihre Arbeit und sehnte den Tag herbei, an dem das verdiente Geld in ihrer eigenen Tasche und nicht mehr in den Taschen ihrer Gläubiger verschwinden würde.
Mags schüttelte sich und schlug die warme Decke nun doch mit einem heftigen Schwung zurück. Sie wollte und würde sich den beginnenden Tag nicht mit so finsteren Gedanken verderben. Und wenn sie im Bett liegen bliebe, würden sicherlich nur noch mehr davon auftauchen.
Mit einem leichten Frösteln ging sie zu dem kleinen Fenster und zog den Vorhang zurück. Licht fiel auf den Holzfußboden und ihre nackten Füße. Mags musste erst einmal blinzeln, bevor sie mit einem breiten Grinsen beide Fensterflügel aufstieß.
Das Licht war herrlich, und sie konnte von ihrem Fenster im ersten Stock des Pubs auf den kleinen Hafen der Insel blicken. Es war Flut, und der Geruch von Salzwasser und Tang stieg ihr in die Nase. Ein Fischerboot kehrte wohl gerade, von einem Schwarm Möwen umgeben, zurück und schob sich tuckernd Stück für Stück in die kleine Hafeneinfahrt.
Auch in ihrem Heimatort Rosehaven konnte sie das Meer riechen, aber der kleine Hafen lag geschützt in den Ausläufern des Hellford River. Doch St. Michael’s Mount war den Herbststürmen, die vom Meer kamen, sicherlich ungeschützt ausgesetzt. Wie musste der Wind im Herbst und Winter über der Insel toben!
Die große Gestalt, die auf der Mole stand, war unverwechselbar Adam – und sie sah ihm lächelnd einen Moment dabei zu, wie er auf seinen großen Füßen auf und ab wippte und dem einfahrenden Schiff entgegenblickte. Wahrscheinlich wartete er auf den Fang des Tages, um ihn zu Elsa in die Küche des Pubs zu bringen. Die ersten Touristen würden bald kommen.
Mags versuchte, ihren Kopf weiter aus dem Fenster zu strecken, um noch einen Blick auf den Rest der Insel zu werfen, aber das Fenster war zu klein, und so gab sie auf und beschloss, lieber nach unten in den Gastraum zu gehen. Wenn Adam schon wach war, war es die Wirtin sicherlich auch, und wo eine Wirtin war, war ein Becher mit heißem Tee nicht weit.
Gestern Nacht war sie zu müde und erschöpft gewesen, um sich in dem kleinen Zimmer umzusehen.
Dunkle Balken und ein schwerer Holzboden, der glatt und glänzend unter ihren Füßen lag. Ein bunter geknüpfter Teppich in den Farben der See lag vor dem Bett. Zwei kleine Aquarelle hingen an der Wand, die die Insel zeigten. Der Geruch von Lavendel und Bohnerwachs hing in der Luft.
Nur wo war ihre Kleidung?
Gerade, als sie sich damit abgefunden hatte, wieder mit dem großen Bademantel in den Gastraum zu gehen, klopfte es leise an ihrer Tür.
»Miss Blake?«
Eine sanfte Stimme drang fragend durch die Tür. Das war nicht Elsa, deren lautes Lachen Mags aus dem Gastraum nach oben schallen hörte.
»Ja, herein.«
Die Tür öffnete sich, und zwei große dunkelblaue Augen blickten auf Mags.
»Guten Morgen. Ich bin Julia. Meine Mutter meinte, sie würden sicherlich gerne einen Tee und ihre Kleidung haben.«
Mags hatte so fasziniert auf das vielleicht sechzehnjährige Mädchen geschaut, dass sie die Tasse mit Tee und die saubere und gebügelte Kleidung völlig übersehen hatte.
»Schneewittchen?«
Mags merkte zu spät, dass sie laut gesprochen hatte, und wurde rot.
Doch das Mädchen schien sie nicht gehört zu haben.
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass es unten im Gastraum in zehn Minuten Frühstück gibt.«
»Oh, ja. Danke.«
Elsas Tochter also.
Julia Sand war außergewöhnlich schön. Das Gesicht war blass und fein geschnitten, die Augen in einem dunklen Blau und die Haare schimmerten in dem gleichen satten Schwarzbraun wie die ihrer Mutter. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. So hatte sich Mags immer die Prinzessinnen im Märchen vorgestellt. Seufzend blickte sie in den Spiegel. Die wilden rotbraunen Locken schienen über Nacht ein Eigenleben entwickelt zu haben und standen ab. Als Mädchen hatte Mags sie immer zu einem dicken Zopf gebunden, um sie zu bändigen. Heute trug sie die Haare kürzer und ließ die Locken Locken sein. Nur bei der Gartenarbeit band sie sie mit einem Tuch zurück oder versteckte sie unter einer Mütze. Auf ihrer in ihren Augen zu breiten Nase leuchteten Sommersprossen auf, die sie als Teenager gehasst hatte und die ihr jetzt oft schlicht unpassend für eine erwachsene Frau erschienen. Ihre Haut, von der Arbeit im Freien bis in den Winter hinein gebräunt, würde nie blass und edel wirken. Sie seufzte wieder. Sie fühlte sich dennoch wohl in ihrer Haut. Mags streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und machte sich daran, den Morgenmantel gegen Jeans und Turnschuhe zu tauschen.
Im Gastraum roch es noch schwach nach dem Feuer der letzten Nacht, aber der leicht erdige und süße Geruch wurde überdeckt von dem Duft frisch gebackenen Brotes, gebratener Eier und Speck.
Mags steckte grade neugierig und hungrig ihre Nase in einen Topf, der auf einer Wärmeplatte auf dem Tresen stand, als sie Sams Stimme hörte.
»Porridge. Es ist verdammt gut, aber es gibt auch Eier und was immer dein Herz begehrt.«
Mags drehte sich um und lächelte den groß gewachsenen Mann an, der im Türrahmen lehnte.
»Kommst du, um mir Gesellschaft zu leisten, oder hattest du Angst, dass ich doch über Nacht die Insel verlassen haben könnte?«
Sam stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte in den Raum, um dicht vor Mags stehen zu bleiben.
»Beides.«
Er griff mit einer schnellen Bewegung an ihr vorbei und steckte sich ein Stück gebratenen Speck in den Mund.
»Und ich frühstücke immer hier.«
Mags merkte, wie sie bei Sams Bewegung die Luft angehalten hatte und trat jetzt genervt von sich selbst einen Schritt zur Seite.
»Aber du wohnst doch auf der Burg, oder?«
»Ja, als Gast von Timothy und seiner Familie. Aber Timothys Mutter, Lady Irene, frühstückt nicht. Timothy ist morgens wie die meisten Teenager in den Ferien nicht vor Mittag aus dem Bett zu bekommen, und Sir Rupert, Timothys Vater, Besitzer und Verwalter von St. Michael’s Mount, hält ein ausgiebiges Frühstück für Zeitverschwendung.«
Sam hatte sich einen Teller vom Tresen genommen und füllte ihn ohne mit der Wimper zu zucken bis zum Rand voll.
»Außerdem habe ich hier Gesellschaft von der Frau meines Herzens.«
Mags blickte mit großen Augen auf, sah dann aber, wie Sam in Richtung der großen zweiflügeligen Tür zur Küche blickte und jemandem zulachte.
Elsa Sands, die Hände in die Hüften gestemmt, lachte ebenfalls und kam herüber zu den beiden.
»Du bist ein fürchterlicher Charmeur, und ich würde ja wirklich in Versuchung geraten, wenn ich nicht wüsste, dass du mich nur wegen meiner Kochkünste in dein Herz geschlossen hast.«
Sie drehte sich zu Mags um und zwinkerte.
»Wenn Sie das Herz dieses Mannes haben wollen, müssen Sie ihm nur etwas Warmes kochen. Wie es scheint, bekommt er in Oxford nicht genügend zu essen.«
Mags wusste nicht, was sie sagen sollte. Hatte Sam sie nicht um Hilfe gerufen, und sie war extra gekommen, nur damit er nun vor ihren Augen mit Elsa flirtete? Sie zog die Augenbrauen zusammen, straffte ihre Schultern und lächelte Elsa an. Sie würde sich einfach von Sam nicht mehr aus der Ruhe bringen lassen.
»Das Frühstück ist phantastisch, danke. Und die ganze Mühe, die Sie mit meiner Kleidung hatten! Ich war sehr froh, als Julia sie mir brachte. Ihre Tochter ist ganz reizend.«
Elsa lachte und zog sich einen Stuhl an den Tisch von Sam und Mags.
»Reizend? Nun ja, wenn Sie ihr Aussehen meinen, ja. Ansonsten lassen Sie sich nicht von ihr täuschen. Ich liebe sie heiß und innig, verstehen Sie das nicht falsch, aber sie ist bei ihrer engelsgleichen Schönheit immer noch ein pubertierendes Mädchen. Eines, wie sie mir gestern in aller Ausführlichkeit vorgeworfen hat, das von ihrer herzlosen Mutter auf einer todlangweiligen Insel am Ende der Welt festgehalten wird.«
Elsas Augen strahlten eine Wärme und Liebe aus, während sie von ihrer Tochter erzählte, die bei Mags einen Hauch von Neid auslösten. Sie selbst hatte ihre Mutter kaum gekannt, nachdem diese sie und ihren Vater verlassen hatte, als Mags noch ein kleines Kind gewesen war. Sie hatte ein altes Foto von sich und ihrer Mutter, und kaum mehr als das.
»Wo geht Julia denn zur Schule? Fährt sie jeden Tag nach Marizion hinüber?«
»Ja, aber sie kann, wenn das Wetter im Winter und während der Frühlingsstürme zu rau ist, bei einer Freundin und deren Familie bleiben. Als sie kleiner war, hat sie immer zusammen mit Timothy darauf hingefiebert, dass am Hafen die schwarze Flagge aufgezogen wurde. An einem Black-Flag-Day fuhren weder Schiffe noch war der Damm sicher, und so hatten die beiden schulfrei. Jetzt würde sie wohl zu viel Stoff in der Schule verpassen und genießt es sicher auch, auf dem Festland shoppen zu gehen. Sie ist, seit Timothy in Oxford ist, der einzige Teenager auf der Insel. Aber zurzeit sind ja Ferien, da arbeitet sie hier bei mir und verdient sich damit etwas dazu. Also sie sollte bei mir arbeiten, denn seit sie Ihnen den Tee ins Zimmer gebracht hat, habe ich sie nicht …«
Elsa schaute auf, und Mags bemerkte, wie das Strahlen aus ihren Augen wich und nur noch ein höfliches Lächeln übrig blieb.
Der Grund dafür trat anscheinend gerade durch die Tür in den Pub. Mags wandte den Kopf.
»Guten Morgen, Elsa.«
»Marc.«
Die Wirtin stand auf und blickte Mags und Sam entschuldigend an.
»Marcs Ankunft zeigt mir, dass das morgendliche Schiff vom Festland angelegt hat. Ich werde also mal frischen Kaffee und Tee kochen, die Gäste kommen bestimmt bald.«