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Borromäus Müller, genannt Borro, ist Außendienstmitarbeiter des Verlages "Für Jung und Alt". Seine Arbeit bringt es mit sich, dass er jede Nacht in einem anderen Bett schlafen muss. Dass er dies nicht allein tut, gibt seinem Leben die pikante Würze. Da ist das junge Bauernmädchen Gabi, das ihn zur Übernachtung auf die Almhütte einlädt, da ist die kleine unerfahrene Bärbel, ganz zu schweigen von Melitta, die in Borro sehr verliebt ist. Als er sich in Maria, seiner jungen Chefin, verliebt, ist es für ihn nicht einfach, sie von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu überzeugen. Denn Maria weiß von seinem Ruf und denkt nicht daran, sich dem Umschwärmten widerstandslos hinzugeben. Wird es Borro gelingen, nicht mehr jede Nacht in einem anderen Bett schlafen zu müssen?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 344
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Jede Nacht in einem anderen Bett
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1967 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718964
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Es war Mittagszeit. Die Geschäfte hatten geschlossen. Die kleine Stadt am See lag friedlich im Glanz der Sommersonne.
Klaus Velbert, Inhaber der größten Kolonialwarenhandlung am Platze, ruhte in seinem Schaukelstuhl in der halb verdunkelten Stube, die Hände über dem Bauch gefaltet. Der Geschäftsgang war zufriedenstellend, das Mittagessen gut gewesen.
Klaus Velbert versuchte an dies und das zu denken, an die Waren, die heute noch bestellt werden mußten, an den neuen Verehrer seiner Tochter, der zum Abendessen erwartet wurde, aber seine Gedanken verwirrten sich, er schloß die Augen, Schläfrigkeit überfiel ihn, er nickte ein.
In seinen Halbschlaf hinein tönten die Worte einer weichen Frauenstimme: »Liebst du mich?«
»Ich liebe dich!« antwortete eine warme dunkle Männerstimme voller Überzeugungskraft.
»Schwöre, daß du mich liebst!«
»Ich schwöre, daß ich dich liebe!«
Plötzlich war Klaus Velbert hellwach. Das war doch – war es denn möglich? – die Stimme seiner Frau! Unverkennbar seine Emma! Und wer war dieser Kerl, mit dem sie da Liebesgeständnisse austauschte? Frech und schamlos, obwohl sie doch wissen mußte, daß er sich hier im Nebenzimmer von den Strapazen der Arbeit ausruhte!
»Wirst du mich immer lieben? Immer, immer, immer?« forschte die Stimme Emmas leidenschaftlich.
»Ich werde dich immer lieben! Immer … immer … immer …!« kam die beschwörende Antwort.
Klaus Velbert sprang auf. Er nahm sich nicht die Zeit, die nach hinten hängenden Hosenträger wieder an ihren Knöpfen zu befestigen, er stolperte zur Tür, riß sie auf und – blieb wie angewurzelt stehen.
Frau Emmas Wangen glühten. Sie hielt die Hand eines schlanken, dunkelhaarigen jungen Mannes gefaßt und erklärte voll leidenschaftlicher Empfindung: »Dann will ich den Weg der Liebe mit dir gehen, Liebster!«
Der Kaufmann Klaus Velbert fand seine Sprache wieder. »Rrraaauuus!« brüllte er mit einer Lautstärke, wie sie seine Frau Emma noch nie von ihm gehört hatte. »Rrraaauuus!«
Der junge Mann, dem diese brüske Aufforderung galt, war offensichtlich überrascht, aber keineswegs bestürzt. Zwar hatte er die Worte: ›Reich mir die Hand, mein Leben, komm auf mein Schloß mit mir!‹ schon auf der Zunge, aber blitzschnell schaltete er um. Er klappte das Buch ›Der Führer in allen Lebenslagen zu, neigte kaum merklich den Kopf und stellte sich vor: »Borromäus Müller. Ich irre wohl nicht in der Annahme, den Hausherrn vor mir zu haben?«
Klaus Velbert mußte sich mit beiden Händen die Hose über dem Bauch festhalten, sein Hemd war am Kragen offen, graue Haare kräuselten sich auf seiner Brust. Ihm kam plötzlich zu Bewußtsein, daß er in diesem Aufzug eine komische Figur abgeben mußte.
»Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, fuhr Borromäus Müller schon fort, liebenswürdig und mit größter Selbstverständlichkeit, »ich habe so viel Gutes über Sie gehört, Herr von Velbert. Überall in der Stadt erzählt man, daß Sie ein vorbildlicher Geschäftsmann und Familienvater sind.«
Klaus Velbert war schon halb besänftigt, aber Borromäus Müller ließ ihm keine Zeit, seiner veränderten Stimmung Ausdruck zu geben. Während Frau Emma ihrem Gatten die Hosenträger befestigte, ihm das Hemd zuknöpfte, fuhr er pausenlos fort: »Ich hatte das Vergnügen, mit Ihrer sehr geschätzten Frau Gemahlin aus dem weltberühmten Buch »Der Führer in allen Lebenslagen das interessante Kapitel über das Liebeswerben durchzugehen. Ich kann Sie zu Ihrer Gattin nur beglückwünschen, Herr von Velbert, manche bekannte Schauspielerin könnte noch von ihr lernen. Wenn ich ein Filmregisseur wäre, ich würde Ihre Frau Gemahlin vom Fleck weg engagieren, das ist keine Redensart, Herr von Velbert, das ist meine ehrliche Überzeugung! Sie möchten mich fragen, wer ich bin? Was ich in Ihrem Hause zu suchen habe? Nun, das ist rasch erklärt. Ich vertrete gehobene, doch nützliche Literatur, den »Führer in allen Lebenslagen‹, aus dem Sie vorhin schon einen Ausschnitt gehört haben. ›Die glücklichste Ehe der Welt‹, ein Buch, das alle Eheleute studiert haben sollten, den ›Kräutersegen‹, das ›Kochbuch in gesunden und kranken Tagen‹, den »Briefsteller für jung und alt‹ und – ein ganz besonderer Genuß für Fortgeschrittene auf dem Gebiet der Liebe – den ›Sittenspiegel‹. Ohne Übertreibung kann ich behaupten: Es gibt kein Problem, das in meinen Büchern nicht behandelt wird! Und ich bin in der glücklichen Lage, Ihnen diese Werke zu einem durchaus erschwinglichen Preis anbieten zu können. Vorbei sind die Zeiten, wo Bücher nur einem bevorzugten Stande zugänglich waren. Kein Mensch kann sich heute mehr den Luxus erlauben, ungebildet zu sein. Wer die Bände meines Verlages ›Für jung und alt‹ im Haus hat, spart Geld und Ärger. Bitte, schauen Sie sich die Bücher doch einmal an, Herr von Velbert, ganz unverbindlich, versteht sich. Sie sind in feinstes Leinen gebunden, das Papier ist federleicht. Beachten Sie die elegante Goldprägung auf dem Lederrücken! Diese Werke sind Schmuckstücke für jeden Bücherschrank! Und dabei sind sie wirklich nicht teuer, sie können in monatlichen Raten bezahlt werden. Wir haben Vertrauen zu unseren Kunden. Glauben Sie mir, Herr von Velbert, ich habe nur Ihr Interesse im Auge, wenn ich Ihnen sage: Schließen Sie die letzte Bildungslücke, stellen Sie sich an die Spitze der Wissenden, seien Sie ein Vorbild Ihrer Familien! Bedenken Sie: Wissen ist Macht!«
Klaus Velbert konnte nicht umhin, ein Buch nach dem anderen in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Er fühlte sich beschämt und glücklich zugleich. Wie hatte er auch nur eine Sekunde an der Treue seiner Emma zweifeln können, anstatt stolz zu sein, eine solche Frau, aus der ein Filmstar hätte werden können, zur Gattin zu haben! Und außerdem, Borromäus Müller gefiel ihm. Er sah gut aus, und was er sagte, hatte Hand und Fuß. Dabei war er durchaus nicht unbescheiden, er hatte noch Respekt vor der älteren Generation, den man im allgemeinen bei den jungen Leuten von heute so sehr vermissen mußte. Ein junger Mann wie dieser Buchvertreter hätte ihm als Schwiegersohn nicht schlecht gefallen.
Borromäus ließ den Kolonialwarenhändler in aller Ruhe die Bücher durchblättern, störte ihn nicht in seinen Überlegungen. Er hatte Zeit, genausoviel Zeit, wie der Kunde brauchte, um zu einem Entschluß zu kommen.
»Was kosten die Bücher«, fragte Klaus Velbert endlich, »wenn ich die Piepen gleich auf den Tisch des Hauses lege? Wieviel können Sie Skonto einräumen?«
Frau Emma strahlte auf, schlang ihre festen Arme um den Hals des Gatten und küßte ihn mitten auf den Mund. »Ich hab’s ja gewußt, Klaus, du würdest nicht nein sagen. Du bist doch der Beste! Paß auf, was wir für einen Spaß mit den Büchern haben werden! Zuerst wollen wir das Kapitel Liebe durchnehmen … von Liebe kann man nie genug wissen.«
Alle Bände aus seiner Kollektion durfte Borromäus auf den Bestellschein setzen, und dann kam der Augenblick, den er schon im voraus befürchtet hatte. »Darf ich um eine Anzahlung bitten?« mußte er fragen.
Wie er erwartet hatte, waren Herr und Frau Velbert von der Tatsache, Zahlung leisten zu müssen, ohne eine Ware zu erhalten, sichtbar unangenehm berührt. Ungehalten runzelte Klaus Velbert die Stirn, und einen Augenblick lang sah es so aus, als ob das ganze schöne Geschäft sich noch in letzter Minute zerschlagen würde.
»Eine Anzahlung wollen Sie haben?« knurrte er. »Sind Sie denn berechtigt, Anzahlungen entgegenzunehmen?«
Borromäus reichte dem Kaufmann seinen Ausweis und die Bescheinigung des Verlages, daß er berechtigt war, zwanzig Prozent der Kaufsumme sofort zu kassieren. Mißtrauisch und gründlich prüfte Klaus Velbert die Papiere; den Füllfederhalter, mit dem er den Bestellschein unterschreiben wollte, hatte er schon aus der Hand gelegt.
Borromäus warf Frau Emma einen hilfeflehenden Blick aus seinen dunklen Augen zu, und Frau Emmas Herz schlug schneller. – ›Schöne Augen hat er‹, dachte sie, ›und überhaupt, was für ein lieber Mensch! Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, ich weiß nicht ….‹
Klaus Velbert riß seine Gattin aus ihren Träumereien. »Na, Emma«, fragte er, »was hast du für ein Gefühl bei diesem Geschäft? Du weißt, ich verlasse mich in solchen Sachen auf dich!«
»Ich habe keine Bedenken, Klaus«, antwortete Frau Emma rasch, »wir leben ja auch nicht von der Arbeit, sondern vom Reingewinn.«
Dem Kaufmann gefiel diese Antwort, er schmunzelte zufrieden. Eine verdammt kluge Frau war seine Emma, das mußte man ihr lassen!
»Na, dann wollen wir mal«, sagte er, nahm den Füllfederhalter wieder auf und unterschrieb.
Frau Emma hatte inzwischen schon seinen Rock aus der Stube nebenan geholt, zog seine Brieftasche heraus und reichte sie ihrem Mann mit einem zärtlichen Kuß auf die Wange.
Mit dem guten Gefühl, einen günstigen Abschluß gemacht zu haben, zählte Klaus Velbert zwanzig Prozent der Kaufsumme auf den Tisch.
»Nichts für ungut, junger Freund.«
»Sie können auch zu unserer Verwandtschaft gehen, Herr Müller«, fügte Frau Emma strahlend hinzu, »zu den Schneiders, zu den Grünnings, und, wenn Sie wollen, auch zu den Blaskopfs. Bestellen Sie ihnen einen schönen Gruß von uns!«
»Ja, und sagen Sie: Bildung ist nötig und schaden kann sie nie«, bestätigte Klaus Velbert schmunzelnd, dabei dachte er: ›Wenn ich geblecht habe, dann sollen’s die anderen ruhig auch.‹
Borromäus Müller hatte sein Köfferchen schon wieder gepackt. Wenn er ein Geschäft abgeschlossen hatte, hielt er sich nie eine Minute länger als nötig bei seinen Kunden auf. Er verabschiedete sich vom Hausherrn. Frau Emma begleitete ihn noch zur Wohnungstür hinaus.
Tief sah er ihr in die Augen, tief beugte er sich über ihre Hand, »Ich danke Ihnen«, flüsterte er innig, »Sie sind eine wunderbare Frau!«
Und dann war er gegangen.
Frau Emma stand noch eine ganze Weile im Korridor, mit geschlossenen Augen und träumte diesen Worten nach. ›Sie sind eine wunderbare Frau!‹ – Sie wußte, nie würde sie diese Worte vergessen, nie!
Borromäus Müller schlenderte mit seinem Köfferchen in der Hand durch die kleine Stadt – ein gutaussehender, gepflegter junger Mann. Kein Wunder, daß die Frauen und Mädchen ihm verstohlen nachschauten. Borromäus Müller oder Borro – wie ihn seine Freunde und die Frauen, die ihn liebten, nannten – Borro merkte es nicht einmal. Er war guter Laune, mit sich und der Welt zufrieden, er hatte wieder einmal Erfolg gehabt.
Es war so einfach, Erfolg zu haben. Man mußte nur zu allem ja sagen können. Borro sagte immer zu allem ja. Immer behielten die Kunden recht. Jede Frau, von der er eine Bestellung haben wollte, war für ihn ›gnädig‹, war schön und liebenswert, hatte recht mit allem, was sie sagte. Bei den Männern vertrat er immer gerade die politische Richtung, die seinem Kunden paßte. Oft wußte er nachher selber nicht mehr, was er eigentlich geredet hatte. Borro hatte lernen müssen, seine eigene Meinung zu unterdrücken – und es war ihm nicht einmal sonderlich schwergefallen. Nur manchmal wußte er nicht mehr recht: Hatte er überhaupt noch eine eigene Meinung?
Selten dachte er ernsthaft über diese Dinge nach. Er war ein guter Vertreter, seine Kollegen sagten – der geborene Vertreter.
Durch Zufall war er zu diesem Beruf gekommen, so zufällig, wie die meisten anderen seiner Kollegen. Als er aus dem Krieg nach Hause kam, hatte er auf gut Glück auf ein Zeitungsinserat: ›Redegewandte Damen und Herren für interessante Reisetätigkeit gesucht‹ geschrieben. Er hatte keine Berufsausbildung, und hier schien ihm eine passable Gelegenheit zu liegen, auf einfache Weise Geld zu verdienen. Einfach war diese Tätigkeit nicht, das hatte er bald genug bemerkt, aber sie lag ihm, und was anfangs nicht mehr als eine vorübergehende Beschäftigung für ihn sein sollte, wurde ihm bald zum wirklichen Beruf.
Borro kannte alle Tricks. Die Hausmeisterinnen in den großen Mietshäusern der Städte, die Wirtsfrauen in den kleinen Orten, die Klatschbasen waren seine Freundinnen. Er versorgte sie mit Süßigkeiten, Kochrezpeten, Ratschlägen bei Krankheiten, verteilte Bonbons und kleine Scheidemünzen unter ihre Kinder, blies ihnen bunte Ballons auf. Dafür aber wurde er von seinen Freundinnen vor Schaden bewahrt. Er erfuhr Lebensgewohnheiten und Familienverhältnisse seiner zukünftigen Kunden; nur wirklich zahlungskräftige Kunden wurden ihm empfohlen.
Borro wußte, worin das Geheimnis seines Erfolges lag; nicht die Güte der Ware, die er anbot, war entscheidend, nicht die Stimmung, in der er seine Kunden antraf – nur an ihm selber lag es, ob er gut oder schlecht verkaufte. Wenn er kein Geschäft machen konnte, war er selber es, der versagt hatte.
Von Haus zu Haus zog Borro mit seinem Musterkoffer, klingelte an mancher Tür. Schon im voraus wußte er, was dann geschehen würde: Schritte im Flur, Stimmen: »Wenn es ein Vertreter ist, dann mach die Tür erst gar nicht auf!« – Das Guckloch wurde aufgeklappt, eine Stimme fragte mißtrauisch: »Was wollen Sie?«
Wenn Borro dann lächelte, sein charmantes, strahlendes, bewährtes Lächeln, glaubten die Leute immer, er wäre gekommen, um einen Besuch abzustatten. Sein Auftreten war überzeugend.
Einen Spalt breit wurde die Tür geöffnet, und »Schöne Grüße von Frau Emma«, richtete Borro freundlich aus oder: »Herr Liebknecht wird Sie dieser Tage besuchen.«
Weiter wurde die Tür geöffnet, und dann fiel der Blick auf Borros Musterkoffer. »Es tut mir leid«, wurde ihm gesagt, »aber wir brauchen nichts … nein, wirklich, wir wollen nichts kaufen.«
»Sie sollen doch nichts kaufen«, beeilte sich Borro zu versichern, »ganz gewiß nicht! Ich bin nur gekommen, um Grüße zu bestellen und einen Auftrag auszurichten.«
Wer könnte da noch widerstehen? Weit wurde die Tür geöffnet. »Bitte, kommen Sie herein!«
Im Korridor wurde Licht angeknipst, und Borro begann zu plaudern. Er erzählte, was ihm gerade einfiel, vieles war erfunden, manches die Wahrheit. Er wurde in die ›gute Stube‹ geführt, ein Familienmitglied nach dem anderen kam herein, jedes wurde von Borro herzlichst begrüßt.
Und dann – es konnte nicht anders kommen! – war der Moment da, wo man ihn fragte, woher er denn mit Frau Emma oder mit Herrn Liebknecht bekannt war.
Lächelnd und ganz nebenbei öffnete Borro seinen Musterkoffer. »Ich habe Frau Emma eines dieser hochinteressanten Bücher verkauft. Übrigens konnte Herr Liebknecht, nachdem er sich mit einigen dieser Bücher befaßt hatte, die Prüfung für die gehobene Beamtenlaufbahn ablegen.«
»Bücher? Oh! Sind die aber schön!«
Viele Kunden kauften wegen der Einbände, wegen der goldgeschmückten Buchrücken, sie werteten die Bücher wie Möbelstücke oder Nippes. Ohne Aufdringlichkeit begann Borro seine Bücher anzupreisen, erzählte gewandt und launig, wieviel Glück er mit ihnen schon hatte vermitteln können.
Von Hand zu Hand wanderten die Bücher, wurden begutachtet. Ohne Hast wartete Borro. Er wußte, es braucht Zeit, wenn man ein gutes Geschäft tätigen will. Bereitwillig beantwortete er alle Fragen, die man ihm stellte, blieb gut gelaunt, auch wenn der Kunde noch so unentschlossen war.
Selten verließ er eine Familie, ohne einen Auftrag in der Tasche zu haben.
Borro liebte seinen Beruf. Er wußte, daß es viele Menschen gab, die sich nicht überwinden konnten, einen Buchladen aufzusuchen, die nicht nach einem Kochbuch oder nach einem ›Führer in allen Lebenslagen oder nach dem Buch ›Die glücklichste Ehe der Welt‹ fragen mochten. Er brachte diese Bücher ins Haus, machte den Kauf leicht.
Und mehr als das, er brachte seinen Kunden gute Laune, eine kleine Abwechslung, sagte ihnen nur schöne und nette Dinge.
Ja, Borro liebte seinen Beruf. Wenn es ihm auch an schlechten Tagen selbst nicht leicht wurde, aufdringlich an fremde Türen zu klopfen, so wußte er doch, daß sein Beruf ein Bestandteil der modernen Wirtschaft war, daß es Menschen wie ihn geben mußte.
Borro hatte gut verkauft, und wie immer, wenn er Erfolg gehabt hatte, wollte er sich ein angenehmes Wochenende gönnen.
Er holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr einige Kilometer weiter, in einen eleganten Kurort am Bodensee. Blau strahlte der Himmel, bunte Wimpel flatterten, Motorboote brausten pfeilgerade, Segelboote kurvten elegant. Die Alpen am Schweizer Ufer schienen sehr nah.
Borro parkte seinen Wagen in der Nähe eines Nobelhotels. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß ein gutes Bett für einen Reisenden wichtiger ist als alles andere: Schlecht geschlafen – schlechte Laune und schlechte Geschäfte; gut geschlafen – blendende Laune und viel Erfolg.
Er trat in die Hotelhalle und verlangte ein Einzelzimmer. Es wurde ihm mitgeteilt, daß man leider, leider nur Zweibettzimmer frei hätte.
Borro kannte das, es war überall das gleiche. Die Direktoren, Geschäftsführer, Portiers, boten immer zuerst die Zweibettzimmer an, sie brachten mehr Geld als die Einzelzimmer. Mit seinem charmanten Lächeln und einem liebenswürdigen Schwall von Worten gelang es Borro fast immer, sich ein Einbettzimmer zu erobern.
Diesmal war es ein besonders harter Fall. Die Sekretärin, der er sein Anliegen vortrug, beharrte kühl und eisern darauf, daß sie nichts machen könne, da tatsächlich kein Einbettzimmer frei wäre.
Borro unterbrach sich mitten im Satz. »… verzeihen Sie, gnädige Frau … aber … wir kennen uns doch!«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Aber ganz gewiß! Ich erinnere mich doch genau … Sie trugen ein graues Kostüm … nicht wahr, Sie besitzen doch ein graues Kostüm?«
»Das wohl«, mußte die Sekretärin zugeben.
»Na also … wenn ich nur wüßte …« Borro redete; was er erzählte, war frei erfunden, aber wer konnte das beweisen? Er hielt viel von dem Sprichwort: ›Beim Reden kommen die Leute zusammen«. Und so redete er, mehr noch, er brachte die Sekretärin dazu, aus sich herauszugehen, er brachte sie zum Lachen und fast zu der Überzeugung, Borro tatsächlich schon seit langem zu kennen.
Er bekam ein Einzelzimmer, ein kleines Zimmer im dritten Stock mit Blick auf den See.
Borro bedankte sich strahlend.
Mit einem Blick auf den Ehering, den die Sekretärin trug, fragte er: »Verheiratet?«
»Nein …«
»Warum dann der Ring?«
»Abwehr.«
»Muß das sein?«
»Im Dienst … ja!«
Borro beugte sich über das Pult. »Wann sind Sie außer Dienst?«
»Für Sie … nie! Sie sind in diesem Hause Gast, und ich bin Angestellte.«
»Ach so! Der Gast darf keine privaten Gefühle äußern … auch wenn sie ehrlich sind?«
»Gefühle …? Entschuldigen Sie … ich bin im Dienst!«
Sie schob ihm den Block mit den Meldezetteln zu und wandte sich an den nächsten Gast. Aber ihre Gedanken blieben bei Borromäus Müller, der ihr mit seinen Schmeicheleien doch Freude gemacht hatte. Er gefiel ihr. Durfte man einem Mann wie ihm Glauben schenken?
Während Borro den Meldezettel ausfüllte, hörte er, wie sich bei einem Ehepaar, das hinter ihm stand, ein Streit anspann. Es drehte sich offenbar um einen verlorengegangenen Gepäckschein.
»Aber ich weiß es genau!« rief die Frau. »Du hast mir den Schein aus der Hand genommen, damit ich ihn nicht verliere.«
»Typisch! Typisch du! Genau umgekehrt war es!« behauptete der Mann. »Ich habe dir den Schein in die Hand gedrückt und gesagt: ›Verlier ihn nicht!‹ An jedes Wort kann ich mich noch erinnern.«
»Joachim!«
»Es ist immer dasselbe – wer sich auf eine Frau verläßt, der ist verlassen!«
»Joachim«, bat die Gattin, »glaub mir’s, du hast mir den Gepäckschein aus der Hand genommen.«
Aber ihr Gatte ließ sich nicht beruhigen. »Willst du mich Lügen strafen?« rief er wütend.
»Schrei nicht!« Seine Frau verlor jetzt auch die Geduld. »Ich bitte dich, schrei nicht! Wir sind nicht zu Hause!«
»Leider! Mir wäre es hundertmal lieber, wir wären zu Hause geblieben.«
»Du wolltest ja verreisen.«
»Ich? Du hast doch immer von einem grünen See und blauem Himmel geschwärmt!«
»Sei gerecht, Joachim! Du wolltest doch wegen deines Ischias …«
»Ischias! Immer muß mein Ischias herhalten! Du wolltest deine Kleider ausführen, deshalb sind wir verreist!«
Borro hatte seinen Meldezettel ausgefüllt, er schob ihn der Sekretärin zu und drehte sich um. Er konnte sich nicht enthalten, das streitende Ehepaar amüsiert zu beobachten.
»Bitte, Joachim, schrei nicht so, wir fallen auf«, mahnte die Gattin mit gedämpfter, aber immer noch weithin vernehmbarer Stimme.
»Für mein Geld kann ich auffallen, soviel ich will! Meinen Gepäckschein will ich haben!«
»Den Gepäckschein hast du doch! Du mußt ihn haben! Schau doch mal genau nach!«
»Das habe ich schon getan. Ich habe alle Taschen umgekrempelt und …«
»Joachim! Beherrsche dich!«
»Immer muß ich mich beherrschen. Wo der Gepäckschein ist, will ich wissen!«
Borro trat auf den Herrn zu, mühsam verkniff er sich ein Lächeln. »Darf ich Sie auf Ihren Hut aufmerksam machen? Der Gepäckschein steckt im Band.«
»Was? Wie bitte? Hut …?« stotterte der Mann völlig konsterniert. Er nahm seinen Hut ab und starrte den Gepäckschein, der tatsächlich im Band steckte, eher wütend als erleichtert an. »Du verfluchtes Biest«, murmelte er.
»Joachim!«
»Ich meine doch den Gepäckschein!«
»Machen Sie sich nichts daraus«, tröstete Borro, »so was kann vorkommen. Irren ist menschlich.«
Die Gattin lächelte Borro liebenswürdig an. »Ich danke Ihnen. Sie haben uns aus einer scheußlichen Situation geholfen.« Sie reichte ihm die Hand. Dann wandte sie sich wieder an ihren Gatten. »Na, Joachim, was glaubst du, wer hat nun den Gepäckschein an deinen Hut gesteckt?«
»Hör auf damit! Du hast doch gehört, Irren ist menschlich«, knurrte er kleinlaut.
Jetzt mußte Borro wirklich lachen; er zündete sich rasch eine Zigarette an.
»Sie haben gut lachen!« fuhr ihn der Ehemann an. »Seien Sie mal erst fünfundzwanzig Jahre verheiratet.«
»Sie sollten mal das Buch ›Führer in allen Lebenslagen‹ lesen, dann könnten Ihnen solche Sachen nicht mehr passieren.«
»Danke! Wir lesen nicht.«
»Aber, Joachim, nun sei doch nicht wieder so!« rügte die Gattin. »Was ist das für ein Buch?« wandte sie sich an Borro. »Und wo kann man es bekommen?«
»Bei mir.« Eins, zwei, drei, hatte Borro seinen Musterkoffer geöffnet.
Neugierig betrachtete das versöhnte Ehepaar die Bücher. Schließlich kauften sie nicht nur den ›Führer in allen Lebenslagen‹, sondern auch das ›Kochbuch für gesunde und kranke Tage‹ und ›Die glücklichste Ehe der Welt‹.
»Darin kannst du nachlesen, wie man seinen Gatten richtig behandelt«, erklärte der Ehemann anzüglich.
»Hoffentlich steht auch drin, wie man mit seiner Frau umgehen muß!« parierte die Gattin. »Was würdest du machen, wenn du nicht so ein Lämmchen wie mich zur Frau hättest, Joachim? Eine andere wäre dir schon längst weggelaufen. Habe ich nicht recht, Joachim?«
»Aber ich bitte Sie«, mischte Borro sich ein, »solche Lehren haben doch Sie beide gar nicht nötig. Sie sind das glücklichste Ehepaar, das ich kenne.«
»Finden Sie?« fragte der Ehemann verblüfft.
»Aber ja«, erklärte seine Frau fröhlich, »er hat vollkommen recht. Wir sind das glücklichste Ehepaar auf der Welt. Nicht wahr, Joachim?« Und rasch küßte sie ihn mitten auf den Mund.
Borro ließ sein Gepäck aus dem Wagen holen und fuhr mit dem Lift nach oben. Wie jedesmal, wenn er ein Hotelzimmer betrat, untersuchte er als erstes das Bett. Fast immer hatte er dort etwas gefunden, heute war es ein Liebesbrief. Borro las ihn ohne Gewissensbisse mit viel Vergnügen: ›Geliebter Schatz‹, stand dort, ›es ist mir ganz unmöglich, ein Auge zuzutun, immerfort muß ich an Dich denken. Ich schwöre Dir, noch nie habe ich eine Frau so geliebt wie Dich. Jetzt weiß ich, daß ich ohne Dich nicht mehr leben kann. Du mußt mir glauben, ich werde alles in Bewegung setzen, um mich scheiden zu lassen! Ich werde Dir die Sterne vom Himmel holen, ich schwöre es Dir!‹ – Und in diesem Stil ging es weiter, vier Seiten lang.
Borro hatte den Brief noch nicht zu Ende gelesen, als sein Gepäck gebracht wurde. Zugleich mit dem Hausdiener kam das Stubenmädchen herein, blieb zögernd in der Tür stehen.
Borro betrachtete sie mit Wohlgefallen, sie war jung und hübsch, eine wahre Augenweide. »Nun, was gibt’s, mein schönes Kind?« fragte er lächelnd.
»Entschuldigen Sie, bitte, … sind Sie der Herr vom Film?«
Borro war überrascht. »Wie kommst du denn darauf?«
Aber schon führte das Stubenmädchen einen vollendeten Spagat auf dem Parkettboden vor, zeigte noch einen glänzenden Handstand, richtete sich wieder auf und sah sich im Zimmer um. »Schade, daß es hier so eng ist, sonst könnte ich auch noch einen Salto vorführen.«
»Stop!« rief Borro erschrocken, denn es sah ganz so aus, als ob sie trotz der Enge zum Sprung ansetzen wollte. »Stop! Ich glaub’s dir auch so.«
»Na also!« sagte das Stubenmädchen befriedigt. »Und nun … wie ist es? Können Sie mich zum Film bringen oder nicht? Wenn ich ein Star bin, kriegen Sie natürlich Prozente von meinem Honorar.«
»Tut mir leid, mein schönes Kind«, bedauerte Borro, »ich habe gar keine Beziehungen zum Film. Und außerdem glaube ich, du gehörst eher in den Zirkus.«
»Sie sind nicht vom Film?«
»Leider nein.«
»O Gott! Dann bitte ich um Entschuldigung. Dann muß ich … ich muß mich in der Zimmernummer geirrt haben.«
»Macht nichts, macht gar nichts«, tröstete Borro sie.
Das Stubenmädchen war schon zur Tür geeilt. »Hoffentlich sind Sie mir nicht böse! Sie gefallen mir nämlich.«
»Das höre ich gern«, gestand Borro lächelnd, »hast du denn keine Angst, ich könnte dich verführen?«
»Angst? Schon … aber das ist ja das Schöne … die Angst.« Und – husch – war sie draußen. Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloß.
Vergnügt begann Borro die Melodie ›Auf in den Kampf, Torero‹ vor sich hinzupfeifen. Splitternackt zog er sich aus, richtete sich die Wäsche und den Ausgehanzug. Die Schuhe putzte er selber. Für Schuhe gab er viel Geld aus, er mußte ja gut zu Fuß sein, unzähligemal am Tag treppauf und treppab laufen. Und die Kunden achteten auf die Schuhe.
Er drehte den Warmwasserhahn auf, wusch sich von Kopf bis Fuß, spülte sich mit eiskaltem Wasser ab. Genußvoll frottierte er sich, schlüpfte in die frische Unterwäsche, in Hemd und Hose.
Nun kam das Rasieren an die Reihe. Rasieren war für Borro zu keiner Zeit ein Vergnügen. Er hatte schon öfters versucht, sich einen Bart stehen zu lassen, einen richtigen Vollbart. Es ging nicht. Er hatte rote und blonde Härchen im Bart, die Kunden wollten keine Vollbärte. Vollbärtige konnten nur Heilkräuter verkaufen. Borro mußte sich rasieren, ob er wollte oder nicht. Nur ein schmales Schnurrbärtchen oberhalb des Mundes durfte stehenbleiben, das gefiel den Frauen.
Borro stand vor dem Spiegel, er pinselte Seife um Nase und Kinn.
Zaghaft wurde an die Tür geklopft.
»Herein«, brummte Borro.
Das Stubenmädchen schlüpfte herein. »Ich wollte nur fragen …« begann sie zögernd.
»Nur zu!« ermutigte Borro sie, ganz mit seiner Rasur beschäftigt.
»Was sind Sie denn, wenn Sie nicht vom Film sind?« platzte das Stubenmädchen heraus.
Borro lachte, ließ die Rasierklinge sinken. »Neugierig bist du also auch?«
»Sehr«, gab sie ohne weiteres zu.
»Wie heißt du denn?«
»Elsa.«
»Ein schöner Name«, lobte Borro wie es seine Gewohnheit war, »und was ich bin, möchtest du wissen?«
»Ja!«
»Ich verkaufe Bücher.«
»Bücher?«
»Ja. Wenn du den kleinen Koffer dort aufmachst, kannst du sie dir ansehen.«
Elsa ließ sich das nicht zweimal sagen, und während Borro seine Rasur beendete, bestaunte sie die Bücher mit vielen ›Ahs‹ und ›Ohs‹.
»Kann man die kaufen?« wollte sie schließlich wissen.
»Man soll sie kaufen«, erwiderte Borro und wischte sich den Rest des Seifenschaums aus dem Gesicht.
»Ich auch?«
»Wenn du magst.«
»Dies möchte ich gerne haben«, erklärte Elsa, »und dieses hier auch.« Sie wählte den ›Führer in allen Lebenslagen‹ und ›Benimm dich besser als die anderen‹. »Gibt es kein Buch, in dem drin steht wie man den richtigen Mann bekommt?« fragte sie vertrauensvoll.
»Nein, mein Kind, den richtigen Mann oder die richtige Frau zu bekommen, ist Glücksache.«
»Schade«, sagte Elsa. Ohne wieso und warum zu fragen, legte sie Borro die Anzahlung von zwanzig Prozent in die Hand. »Ich mag Sie«, bekannte sie freimütig, »daß Sie es nur wissen … auch wenn Sie nicht vom Film sind.«
Wenig später betrat Borro bester Laune das Hotelfoyer. Er hatte eigentlich vorgehabt, ein wenig über die Seepromenade zu bummeln, aber als er aus dem Salon Tanzmusik hörte, folgte er der Verlockung.
Die meisten Tische waren besetzt, von einem eleganten, verwöhnten, ein wenig snobistischen Publikum. Borro ließ seine Blicke über die anwesende Weiblichkeit gleiten, interessiert, aber ohne Abenteuerlust. Er suchte niemals Abenteuer, die Abenteuer kamen zu ihm.
Eine junge Dame auf der anderen Seite der kleinen Tanzfläche erweckte seine Aufmerksamkeit und fesselte sein Interesse, je länger er sie beobachtete.
Ihr Gesicht unter den kurz geschnittenen braunen Lokken wirkte herb, dunkel die Augen unter den dichten Brauen. Das kleine Kinn war fest und energisch, die freche Stubsnase gab ihrem Profil etwas überraschend Kindliches. Sie war nicht allein, neben ihr saß ein gepflegter gut erhaltener Fünfziger, liebevoll um sie besorgt.
Er konnte ihr Vater sein – oder war er ihr Gatte? Das war schwer zu entscheiden, heutzutage gab es ja die seltsamsten Ehen. Jetzt lachte sie, und mit einem Schlag wirkte ihr Gesicht weiblich und jung, die steile Falte über der Nasenwurzel war geglättet, weiße Zähne blitzten.
Das kleine Orchester stimmte einen langsamen Walzer an, und ohne sich über sein Tun Rechenschaft zu geben, erhob sich Borro und ging quer über die Tanzfläche auf die junge Dame zu. Er blieb knapp vor ihrem Tisch stehen und verbeugte sich. »Borromäus Müller«, stellte er sich vor, »gestatten Sie, daß ich Ihnen die Dame für einen Tanz entführe?«
Die junge Dame errötete. »Ich …« begann sie.
»Tanz nur, Maria«, sagte ihr Begleiter, »es wird dir guttun.«
Maria erhob sich gehorsam. Spröde lag sie in Borros Arm, eigenwillig setzte sie ihre Schritte. Borro stolperte. Einen Augenblick ärgerte er sich, dann mußte er lächeln. Er zog sie fester an sich, zwang sie, seiner Führung zu folgen, ließ ihr keine Möglichkeit, aus der Reihe zu tanzen. Anfangs sträubte sie sich noch, dann gab sie nach, merkbar widerwillig erst, aber plötzlich wurde sie weich und locker in seinen Armen, paßte sich ihm an. Der gleiche Rhythmus durchflutete ihre Körper, es war ein beseligendes Erlebnis. Borro glaubte, noch nie so vollendet getanzt zu haben, noch nie mit einer so wunderbaren Partnerin.
Die Musik setzte aus, die Paare blieben abwartend stehen. Borro und Maria blickten sich an, atemlos, verzaubert. Marias dunkle Augen strahlten, jetzt erst sah er, daß sie blau waren, von einem tiefen, unwahrscheinlichen Blau. Wieder tanzten sie, und Borro wünschte sich sehnlichst. dieser Tanz möge nie zu Ende gehen. Aber er ging zu Ende, wie alles auf dieser Welt.
Borro mußte seine Partnerin an ihren Tisch, zu ihrem Begleiter zurückbringen. Dessen Platz war verlassen.
Maria runzelte die Stirn.
»Mir scheint, Ihr Gatte …« begann Borro.
Sie unterbrach ihn rasch, fast zornig: »Er ist nicht mein Gatte!«
Ein Kellner kam herbei. »Der Herr wurde zum Telefon gerufen!«
Marias Stirn glättete sich. Sie ließ sich auf ihrem alten Platz nieder, öffnete ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an, ehe noch Borro ihr Feuer reichen konnte.
Borro blieb zögernd stehen, sah auf Maria herunter. Noch immer glühten ihre Wangen. Sie war sehr schön.
Bei jeder anderen Frau hätte er sich, auch ohne dazu aufgefordert zu sein, an ihrem Tisch niedergelassen. Bei Maria wagte er es nicht. Er war befangen und begriff nicht, warum. Er ärgerte sich über sich selber, hatte das Gefühl, eine schlechte Figur zu machen, und konnte sich doch nicht überwinden, zu gehen.
Plötzlich sah sie auf. Sie schien sich erst jetzt wieder seiner Anwesenheit bewußt zu werden. Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Verzeihen Sie …«, sagte er.
Sie lud ihn mit einer Geste ein, sich zu setzen.
»Maria, ich …«, stotterte er und griff nach ihrer Hand.
Sie zog sie zurück, sah ihn fragend an.
»Bitte, hören Sie mich an«, brach es aus ihm heraus; er sprach sehr schnell, als befürchte er, von ihr unterbrochen zu werden, »ich weiß nichts von Ihnen, weiß nicht, ob Sie Fräulein oder Frau sind. Aber eines weiß ich, Maria: Ich liebe Sie! Wollen Sie meine Frau werden?«
Eine Blutwelle schoß Maria ins Gesicht. Sie drückte die Zigarette aus, erwiderte, ohne aufzusehen: »Ich kenne Sie ja nicht.«
Er spürte ihre Verlegenheit, erkannte, daß sie ihm nicht böse war und lachte erleichtert auf. »Ich … sehen Sie … von mir gibt es nicht viel zu erzählen«, berichtete er übermütig, »ich bin ein Mann, der jede Nacht in einem anderen Bett schläft. Nein, bitte, fassen Sie das nicht falsch auf, es ist nur so … ich bin Vertreter, bin dauernd auf der Achse. Ich bin Reisender des Verlages ›Für jung und alt‹, und ich sehne mich …«
Sie unterbrach ihn schroff. »Ach so!« sagte sie böse. »Ach … so ist das also!«
»Maria!« rief er erschrocken und wollte wieder nach ihrer Hand greifen. »Bitte, lassen Sie mich doch erklären …!«
Sie riß ihre Hand zurück, ergriff ihre Handtasche und erhob sich. »Jedes weitere Wort erübrigt sich«, sagte sie kalt.
»Maria … ich …« Auch er sprang auf.
»Ich weiß Bescheid«, sagte sie zornig, »Sie kennen mich nicht, nicht wahr? Sie wissen nichts von mir? Schön … dann wollen wir es auch dabei belassen.«
»Maria, es war doch nur Spaß, daß ich gesagt habe …«
»Was Sie sagen und gesagt haben, spielt gar keine Rolle. Daß Sie sind, wer Sie sind … das genügt mir.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und lief hinaus, durchaus nicht gefaßt und in der Haltung einer gut erzogenen jungen Dame, sondern wild und unbeherrscht wie ein trotziges Kind.
Drei Schritte eilte er hinter ihr her. Dann blieb er stehen, biß sich auf die Unterlippe. Es hatte ja doch keinen Zwecke oder sollte er?
Der Kellner nahm ihm die Entscheidung ab. »Die Rechnung, mein Herr …«
Borro mußte zahlen, nicht nur für sich, sondern auch für Maria und ihren Begleiter. Wütend warf er eine Banknote auf den Tisch, wartete nicht ab, bis der Kellner ihm herausgab, sondern verließ mit großen Schritten den Raum.
Noch immer flutete strahlender Sonnenschein in die Hotelhalle, noch immer lockte draußen der grüne See, aber Borro war alle Unternehmungslust vergangen. Er fuhr hinauf auf sein Zimmer und warf sich aufs Bett.
Fräulein Dr. Maria Kraemer aber hatte sich auf den Rücksitz ihres dunkelroten Achtzylinders geflüchtet, ganz tief in die Ecke kuschelte sie sich und weinte hemmungslos und wütend, herzzerreißend.
So fand sie zehn Minuten später ihr Begleiter, der Syndikus und Steuerberater Herbert Jahnke. »Aber, Maria!« rief er verständnislos. »Hat dir der Kellner denn nicht ausgerichtet, daß ich …? Bitte, entschuldige vielmals, aber ich mußte ans Telefon. Kallinger von Kallinger und Co. hat mich angerufen … du weißt doch, wegen der Sache … die … also ich bitte dich, Kindchen, nun hör endlich auf zu weinen! Ich kann das nicht ertragen. Wenn ich gewußt hätte, daß du es dir so zu Herzen nehmen würdest, ich hätte ihn natürlich gebeten, später zurückzurufen. Es tut mir leid, Kindchen, ehrlich, und ich verspreche dir …«
»Nenn mich nicht immer Kindchen!« protestierte sie schluchzend. »Ich bin kein Kind mehr … hast du denn immer noch nicht gemerkt, daß ich kein Kind mehr bin?«
Herbert Jahnke lachte. »Bitte, verzeih mir, Maria, aber hur ein Kind kann sich doch so aufregen, nur weil ihr Begleiter für fünf Minuten ans Telefon gerufen worden ist.«
»Erstens waren es nicht fünf Minuten, sondern mindestens … mindestens zwanzig … und zweitens weine ich ja gar nicht deswegen!«
»Nicht? Aber weshalb denn sonst? Ist etwas passiert?«
»Nein!« sagte sie und putzte sich energisch die Nase. »Nichts ist passiert … ich weine nur so zum Vergnügen.«
»Hat dich etwa dieser … dieser Karolus Müller beleidigt? Das kann ich mir eigentlich schlecht vorstellen, er war doch ein wirklich netter junger Mann.«
»Erstens heißt er nicht Karolus, sondern Borromäus …. und zweitens sieht man mal wieder, daß du nicht die Spur Menschenkenntnis besitzt, Herbert. Netter junger Mann!« Maria schnaubte wütend. »Daß ich nicht lache!«
»Also, entschuldige schon, aber mir schien er genau der Typ zu sein, der den Frauen gefällt.«
»Den Frauen vielleicht … aber mir nicht! Mir sind solche geschniegelten Laffen einfach widerlich … verstehst du? Widerlich!«
»Na schön, Maria«, sagte Herbert Jahnke friedfertig, »ich glaub’ dir’s ja. Es tut mir leid, daß ich dich mit ihm habe tanzen lassen, verzeih, bitte. Ist nun alles wieder gut?«
»Nichts ist gut! Ich könnte … platzen vor Wut könnte ich! Dieser unverschämte Kerl! Oh, wenn ich ihm doch zeigen könnte, wie sehr ich ihn verachte … diesen scheinheiligen Lügner, diesen gemeinen Menschen!«
»Aber ich begreife nicht, Maria! Was hat er dir denn getan?«.
»Einen Heiratsantrag hat er mir gemacht. Stell dir vor, einen Heiratsantrag!«
»Aber das ist doch keine Beleidigung. Maria, das ist doch höchstens ein Kompliment für dich.«
»So … findest du?«
»Natürlich! Ich glaube, du bist die erste Frau in der Weltgeschichte, die sich durch einen Heiratsantrag beleidigt fühlt.«
»Weißt du denn auch, was er ist?«
»Woher sollte ich!«
»Du kennst ihn also nicht? Nie gesehen … seinen Namen nie gehört?«
»Bestimmt nicht, Maria … wie kommst du darauf?«
»Er ist Vertreter … Vertreter für den Verlag ›Für jung und alt‹. So, jetzt weißt du es!«
»Bist du sicher?«
»Er hat es mir ja selber gesagt.«
»Aber, Maria, gerade das beweist doch, daß er …«
»Ein Hochstapler ist!« unterbrach ihn Maria zornig. »Ein Mitgiftjäger. Ein Heiratsschwindler, was weiß ich!« Und wieder strömten ihre Tränen.
Borro lag auf seinem Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt, und starrte zur Decke. Er versuchte sich zu entspannen, versuchte zu träumen, versuchte seine Gedanken zu konzentrieren – nichts half, er mußte immer und immer wieder an Maria denken. Nur an Maria.
Viele Mädchen und Frauen kreuzten täglich seinen Weg, viele Mädchen und Frauen hatten ihm schon gefallen. Unzählige Male hatte er schon gesagt: ›Ich liebe dich!‹, oft hatte er es selber geglaubt, oft war es auch nur ein Spiel gewesen. Unzählige Schwüre hatte er getauscht, unzählige Versprechen gemacht, nur eines hatte er noch nie gesagt, nie und zu keiner Frau: ›Willst du mich heiraten?‹
Heute aber hatte er es gesagt, und es war ihm ernst damit gewesen, und gerade diese, die einzige Frau, hatte ihn von sich gestoßen. Zornig war sie geworden, empört und beleidigt.
Nein, das stimmte ja gar nicht. Nicht sein Heiratsantrag war es gewesen, der Maria gekränkt hatte. Sie war errötet, war verlegen geworden, aber keineswegs wütend. Zornig wurde sie erst, als er ihr von seinem Beruf erzählt hatte. Oder war es diese Bemerkung gewesen, daß er jede Nacht in einem anderen Bett schlief? Nein, sein Beruf war es, der sie abstieß. ›Nicht, was Sie sagen oder was Sie gesagt haben, spielt eine Rolle, sondern nur, was und wer Sie sind!‹
War es denn eine Schande, Vertreter zu sein?
›Vielleicht hat Maria rechte dachte Borro, ›vielleicht ist es wirklich eine Schande. Sind wir Vertreter nicht wirklich ein Pack? Ohne Charakter, ohne Haltung, ohne eine eigene Meinung? Die häßlichste Frau, das garstigste Kind muß man schön finden, den dümmsten und flegelhaftesten Mann muß man bewundern, über die ödesten Witze lachen – denn sonst bekommt man keinen Auftrag. Und nur darauf kommt es uns an – einen Auftrag zu bekommen! Bevor wir abends in irgendeinem Gasthof in unser naßkaltes Bett steigen, summieren wir die Barzahlungen, schicken unsere Bestellscheine an den Verlag, und sind noch stolz, wenn wir recht viele Aufträge bekommen haben. All die Demütigungen, die wir einstecken müssen, sind schon vergessen. Sind sie es wirklich? Nein, man kann es nicht vergessen, niemand kann das. Auch wenn wir eins, zwei, drei, fünf, zehn Gläser leeren, um die bitteren Erinnerungen herunterzuspülen, es gelingt nie. Da sitzen wir dann beisammen, die sogenannten Mitarbeiter im Außendienst, die Versicherungsreisenden, die Textilreisenden, die Buchreisenden, trinken ein Glas nach dem anderen, versuchen uns selber und die anderen zu belügen, drehen auf, geben an. Herrgott, was sind wir doch alle für tolle Kerls! Aber wenn dann einer richtig betrunken ist, und fast immer ist einer dabei, der nichts vertragen kann, dann heult er los vor lauter Elend.
Dann werden Karten hervorgeholt und Würfel, Stunde um Stunde wird gespielt, bis manch einer alles verloren hat, was er am Tag so bitter schwer hat verdienen müssen.
Ja, wir sind schon ein Pack, ein rückgratloses Pack, Maria hat ganz recht. Die Leute haben recht, wenn sie rufen: ›Es ist nur ein Reisender, laßt ihn klingeln!‹ – ›Mach den Hund los!‹ – ›Wirf einen Groschen hinunter, damit er Ruhe gibt!‹
›Wie konnte ich es bloß wagen, Maria um ihre Hand zu bitten? Was habe ich ihr denn zu bieten? Ein Auto, das ich für meinen Beruf brauche, ein kleines Bankkonto, das ist alles. Kein Haus, keine Wohnung, keine Sicherheit, nichts. Wenn ich krank würde, müßte ich in einem fremden Bett liegen, meine Ersparnisse würden draufgehen. Erst würde meine Uhr, dann würden meine Manschettenknöpfe auf’s Leihamt wandern, auch der Musterkoffer, die Kleider.
Nein, in dieses Elend darf ich keine Frau mit hineinziehen, es wäre ein Verbrechen!‹
Borro warf sich hin und her auf seinem Bett, draußen war es schon ganz dunkel geworden. Er konnte nicht schlafen. ›Aber ob ich mich nicht ändern könnten‹, dachte er, ›wenn ich eine Frau wie Maria hätte … bestimmt würde alles anders! Ich würde mehr verdienen, viel, viel sparsamer sein … wenn ich wüßte, wofür ich arbeite, wofür ich spare. Wenn ich ein Zuhause hätte, eine Frau, die auf mich wartete, wenn ich … ‹
Borro fühlte sich allein wie nie in seinem Leben. Ob er nach Elsa klingeln sollte? Sie würde ihn gerne trösten, sie würde heiter und unbeschwert plaudern, würde lieb und gut zu ihm sein.
Borro stand auf, baute die Schaumgummimatratze um, warf das Keilkissen aus dem Bett, zog sich splitternackt aus, legte sich zwischen die Laken.
Er wollte nicht nach Elsa klingeln, keinen Menschen wollte er sehen – keinen Menschen außer Maria. Aber Maria machte sich nichts aus ihm, verachtete ihn – und doch mußte er sie lieben!
Mit einem plötzlichen Entschluß stand er auf und zog sich an.
Es hatte keinen Zweck, schlafen konnte er doch nicht, lieber wollte er Spazierengehen.
Er schloß das Zimmer ab und fuhr hinunter.
Die Seepromenade lag dunkel im Schatten der Ulmen. Auf den Bänken hockten Liebespaare eng beieinander, sahen nicht Borro, sahen nicht den schlafenden See, die funkelnden Lichter. Sie fühlten nur sich selber, ihre Liebe, ihre Sehnsüchte. Zärtlich geflüsterte Worte drangen zu Borro. Er fühlte sich verlassen, elend und einsam wie nie zuvor.
Auf einer der Bänke lang ein schlafender Mann, die Kleidung zerrissen, Bartstoppeln im Gesicht. Eine Zehe drängte sich aus dem Schuh.
Borro blieb stehen, sah auf den Landstreicher nieder. ›Ein armer Mensch, ein verlassener Mensch‹, dachte er, vielleicht werde ich auch so enden, wer weiß.‹
Er zog einen Geldschein aus der Brieftasche, steckte ihn behutsam in die Jackentasche des Mannes. Der grunzte im Schlaf.