Jeden Tag ein bisschen Meer - Katharina Jensen - E-Book

Jeden Tag ein bisschen Meer E-Book

Katharina Jensen

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Beschreibung

Das Meer heilt alle Wunden

Linda liebt ihren Verlobten Markus, ihre Heimat Rügen, das Meer und ihre kleine Pension „Nordwind", die sie mit viel Leidenschaft führt. Eigentlich könnte alles perfekt sein und trotzdem spürt Linda, dass irgendetwas fehlt. Als der Schriftsteller Paul, der früher immer mit seiner Frau Paula zusammen in der Pension Urlaub machte, plötzlich alleine auftaucht, ist er völlig verändert. Seit dem Verlust seiner geliebten Frau ist Paul ein gezeichneter Mann. Lindas Helfersyndrom ist geweckt. Dass sie sich in den tieftraurigen Paul verliebt, ist nicht vorgesehen und als es trotzdem passiert, hebt das nicht nur ihre Welt völlig aus den Angeln ...

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Seitenzahl: 423

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Das Buch

Linda, 36, führt eine kleine Pension am untersten Zipfel der Insel Rügen. Fünf Jahre lang mietete sich das Ehepaar Paul und Paula aus Berlin immer im Juli in ihrer Pension ein. Es ist ein Paar, das Linda immer in Erinnerung geblieben ist und das sie für ihre aufrichtige Liebe und die Zärtlichkeit heimlich bewundert. Als nach einem Jahr Unterbrechung plötzlich nur noch Paul kommt, ist er völlig verändert. Er redet kaum, und so dauert es eine Weile, bis Linda erfährt, dass Paula gestorben ist. Linda selbst ist seit einem guten Jahr mit dem bodenständigen Markus zusammen. Sie ist zwar glücklich mit ihm, fühlt sich jedoch unter Druck gesetzt, weil Markus unbedingt mit ihr zusammenziehen möchte. Pauls tiefe Traurigkeit berührt sie, und so beschließt sie, ihn durch allerlei Inselablenkung und mit einem persönlichen Glücksmomenteprogramm aufzumuntern. Doch das ist gar nicht so einfach, denn Paul ist so in sich gekehrt, dass er von Lindas Hilfe zuerst einmal nichts wissen möchte. Außerdem ist Markus alles andere als begeistert von ihrem Engagement …

Die Autorin

Katharina Jensen, geboren 1984, verbrachte ihre Kindheit und Jugend an der Ostseeküste in Stralsund und auf der Insel Rügen, bevor sie zum Psychologiestudium und Arbeiten nach Berlin zog. An die Ostsee, vor allem auf die Insel Rügen, zieht es sie nach wie vor mehrmals im Jahr: Denn was gibt es Schöneres, als dort das leichte Wiegen der Dünen im Wind zu beobachten und den Sand zwischen den Zehen zu spüren?

Lieferbare Titel

An der Ostsee sagt man nicht Amore

KATHARINA JENSEN

JEDENTAG

EIN BISSCHEN

Meer

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2018 by Katharina JensenCopyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von Gettyimages/Sabine Lubenow/LOOK-foto Redaktion: Dr. Diana Mantel Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-21603-0V002
www.heyne.de

»Geh zu ihr und lass Deinen Drachen steigen, Augen zu, dann siehst Du nur diese eine!Halt sie fest und lass Deinen Drachen steigen!«

Ulrich Plenzdorf (aus dem Lied »Geh zu ihr« der Puhdys)

Für Ben

Im Hafen in Gager, 10. Juli

Paula,

jetzt bin ich wieder hier. Auf unserer Insel, an unserem Zufluchtsort, an dem wir so viele schöne Stunden verbracht haben. Stunden, die nur uns beiden gehörten. Hand in Hand. Arm in Arm. Ineinander verschlungen in der Blümchenbettwäsche in Zimmer 3. Die kleine Pension »Nordwind« in Gager sieht so aus wie immer. Mit ihrem Blick auf den verwinkelten Hafen und all die kleinen und großen Segelboote, die Kutter der Fischer, die schon morgens um fünf mit einem lauten Rattern auf den Bodden hinausfahren und nur den Geruch von Diesel zurücklassen. Und die abends im Licht des Sonnenuntergangs auf dem Wasser wiegen wie kleine Kinder in den Armen ihrer Mutter. Weißt du noch, wie wir damals, mit einer Flasche Wein an der Kaimauer sitzend, beschlossen haben zusammenzuziehen? Oder wie wir bei unserem letzten Urlaub hier die Entenmutter mit ihren Küken beobachtet und davon geträumt haben, unsere Familie zu vergrößern und aus zwei bald drei zu machen? Ich erinnere mich, wie der Ostseewind Deine braunen Haare zum Wirbeln gebracht hat. An die Sommersprossen, die auf Deiner Nase tanzten, wenn Du gelacht hast. Was Du hier besonders oft, besonders intensiv getan hast. Ich erinnere mich an Deine blassen Hände mit den langen schmalen Fingern, die zärtlich über die Haare an meinem Arm strichen. Ich erinnere mich an den Klang Deiner Stimme, die immer ein wenig zu laut sprach.

Und während ich jetzt wieder hier sitze, mit Blick auf den Hafen, habe ich fast das Gefühl, ich könnte Deine Anwesenheit spüren. Als würde Dein Atem an meinem Ohr kitzeln, während wir gemeinsam der Sonne zusehen, wie sie langsam in den Bodden sinkt. Und gleichzeitig ist es, als würde mein Herz brechen, als würde es wieder und wieder in tausend kleine Einzelteile zerspringen. Als sei all der Schmerz, den ich in den letzten Monaten, in diesen einundzwanzig Monaten und fünf Tagen, seitdem Du weg bist, ununterbrochen spüre. Ein Schmerz, unendlich wie das Meer. Ein Schmerz wie düstere Wellen, die mich mit sich ziehen, untergehen lassen und dann wieder ausspucken und an Land spülen. Ich liege im Sand, und ich atme und weiß doch nicht, wie ich weiterleben soll. Ich weiß nicht, was ich mit diesem Leben anfangen soll, ohne dich.

Ohne Dich macht nichts Schönes Sinn. Ohne Dich geht die Sonne morgens auf und abends wieder unter, es scheint der Mond, mal schmal, mal voll – aber all das bedeutet nichts. Meine geliebte Paula, meine große Liebe, ich vermisse Dich so sehr. Ich vermisse Dich jeden Tag, als sei es der erste Tag ohne Dich.

Dein Paul

Kapitel 1

Ich glaube, mein größtes Talent ist, dass ich den Gästen in meiner Pension »Nordwind« ein Gefühl der Geborgenheit gebe, ohne aufdringlich zu wirken. Wenn zum Beispiel ihre Kaffeetasse leer ist, dann versuche ich, sie so schnell wie möglich aufzufüllen, ohne den Gästen den Eindruck zu vermitteln, ich würde sie die ganze Zeit beobachten oder ihnen hinter dem kleinen Frühstücksbüfett geradezu auflauern.

Auch das richtige Frühstücksbüfett gehört zu den Kunststücken meiner Arbeit: Natürlich ist es ganz entscheidend, was dort angeboten wird. Bei mir gibt es zuallererst einmal Brötchen und Brot, jeden Morgen frisch von meiner Mama gebacken, die gleich nebenan ihre Bäckerei hat und mich auch sonst stets unterstützt. Die Marmeladen dazu koche ich selbst ein, je nach Saison mit Erdbeeren, Pflaumen oder Birnen (Rezepte stammen ebenfalls von meiner Mutti). Das Geschirr mit den zarten blauen Wellen am Rand, auf dem alles serviert wird, hat der Töpfermeister in Middelhagen entworfen und hergestellt. Die Wurst stammt von der Rügener Landschlachterei in Gademow. Und natürlich ist das Obst saisonal und kommt, soweit möglich, aus der Region. Die Verwendung von lokalen Produkten ist mir besonders wichtig, selbst wenn das meist etwas mehr Geld kostet.

Aber wenn wir Rüganer hier auf unserer Insel nicht zusammenhalten, wer denn dann? Immerhin sind wir eine verschworene Gemeinschaft, die im Winter schon mal gemeinsam vom Festland abgeschnitten sein kann, wenn die Straßen nicht schnell genug geräumt werden (der Winter überrascht den Winterdienst ja bekanntermaßen jedes Jahr).

Neben den Lebensmitteln habe ich kleine, selbst bemalte Schilder aufgestellt, auf denen steht, woher sie stammen (meine Kalligrafiefähigkeiten habe ich mir dank Internetvideos angeeignet – und ich bin mächtig stolz darauf!). Ich bin mir sicher, dass meine Gäste das besonders zu schätzen wissen. Immerhin schmeckt doch die Marmelade gleich noch viel besser, wenn man weiß, wer sie eingekocht hat und wenn sie in einem originellen kleinen Krug präsentiert wird. In der Mitte des Büfetts prangt, als i-Tüpfelchen sozusagen, immer ein großer Strauß bunter Feldblumen – da bekommt man morgens gleich gute Laune! Sowohl beim Pflücken als auch beim Angucken.

Es sind diese kleinen aber feinen Details, die mir an meiner Arbeit besonders viel Spaß machen. Vor allem aber liebe ich die Vielseitigkeit. Und dass ich in meiner Pension mein eigener Herr bin. Ich entscheide, was wichtig ist – gemeinsam mit meinen Gästen natürlich. Zwar habe ich vielleicht nicht die gleichen Profite wie die Bettenburgen in Binz oder Göhren, aber eben auch nicht den gleichen Druck, ständig noch mehr und mehr zu verdienen. Zu optimieren und dann noch ein bisschen mehr zu optimieren und alles bis ins letzte Detail auf Effizienz zu trimmen. Ich möchte jeden Tag etwas Besonderes schaffen, um Menschen damit glücklich zu machen. Das mag etwas hochgegriffen klingen … und damit genau richtig. Denn wenn meine Ziele schon zu klein sind, wie soll denn erst die Realität sein?

Mir fällt auf, dass die Käseplatte etwas Verstärkung gut gebrauchen könnte und laufe darum kurz in die Küche, um noch etwas mehr von unserem Inselkäse, dem Rügener Badejunge, zu holen. Wie so oft hänge ich weiter meinen Gedanken nach. Ja, es stimmt, so richtig viel Gewinn mache ich mit der Pension nicht. Mein Freund Markus meint ja öfter, dass ich wirtschaftlicher denken soll. Aber Markus – so viele positive Eigenschaften er sonst auch haben mag – ist wirklich kein guter Gastgeber. Er ist eher jemand, der die Dinge mit kühler Sachlichkeit auf Kosten und Nutzen abklopft, während ich mit dem Bauch entscheide. Und den Augen und dem Herzen. Ich möchte, dass Dinge schön aussehen und sich gut anfühlen. Deshalb würde ich zum Beispiel lieber einen Pullover kaufen, der besonders hübsch aussieht und meinetwegen etwas teurer ist, als zwei weniger schöne für den gleichen Preis. Für Markus zählen dagegen Funktionalität und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Wie das schon klingt: Preis-Leistungs-Verhältnis. Brrr! So technisch – da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wo das Preis-Leistungs-Verhältnis regiert, gibt es doch keinen Platz für Träume oder Visionen. Andererseits: vielleicht braucht jeder Träumer den Realisten in seinem Leben, um vollkommen zu sein? Schließlich findet Markus praktische Lösungen, wenn ich mal wieder den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann. Im Gegensatz zu mir braucht er keine hundert To-do-Liste-Listen, um durch den Alltag zu kommen – er weiß immer, was als Nächstes passieren soll, und lässt sich bei Weitem nicht so leicht ablenken wie ich. Insofern glaube ich schon, dass Markus und ich ein gutes Team sind. Er ist hundertprozentig für mich da, und ich kann mich immer voll und ganz auf ihn verlassen. Markus ist ebenfalls ein Fischkopf wie ich. Ich kenne ihn seit Kindertagen, denn er stammt aus dem Nachbarort. Wir beide sind Rüganer durch und durch, unsere Herzen schlagen im Takt der Wellen. Das sollte man niemals unterschätzen! Außerdem kommt er hervorragend mit meiner Mutter zurecht, und meine Mutter mag ihn auch sehr – was von großer Bedeutung für mich ist, denn meine Mutter ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Ihr Haus kann ich von der Pension aus sehen, und ich gehöre zu den »Kindern«, die auch mit Mitte dreißig immer noch gerne ihre Freizeit mit ihrer Mama verbringen.

Und genau wie meine Mutter sind meine Gäste für mich eben enorm wichtig, angefangen beim Frühstück, bei dem sie alles vorfinden sollen. Als ich das Frühstücksbüfett um Bärlauch- und sahnigen Rügener Käse ergänze, fällt mein Blick auf den gestern neu angekommenen Gast. Er sitzt alleine draußen am Tisch vor dem Fenster und hat mir halb seinen schmalen Rücken zugedreht. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, wenn auch nur sehr schwach. Der Mann, den ich auf etwa Ende dreißig und damit nur ein paar Jahre älter als mich selbst schätzen würde, scheint ganz vertieft in einen Text, den er gerade schreibt. In seiner Hand liegt ein eleganter Füllfederhalter, der gleichmäßig über die weißen Seiten gleitet und dort Worte verfasst, die ich nicht lesen kann. Nicht dass ich sie lesen würde, wenn ich es denn könnte. Wie gesagt, Privatsphäre ist ein heiliges Gut in meinem Haus. Der Mann mit dem dunklen Lockenschopf sieht mit seiner extrem blassen Haut aus, als sei er eine ganze Weile vom Tageslicht abgeschnitten gewesen. Und auch seine dunkle Kleidung hat nichts Sommerliches an sich. Als hätte der Winter bei ihm gerade erst geendet, und als wäre es höchstens März, aber niemals schon Juli. Sein Blick ruht auf dem Papier vor ihm und geht nur hin und wieder scheinbar ziellos ins Weite. Man könnte meinen, er genießt die Aussicht auf den kleinen Hafen und den Bodden, über den Möwen im gleichmäßigen Flug gleiten. Aber sein angespannter Körper verrät, dass ihn irgendetwas von diesem Genuss abhält. Er schaut nicht ins Weite, um den Ausblick zu bewundern, sondern um nur ja keinen Augenkontakt mit irgendjemand anderem aufzunehmen. Vielleicht weil man dann zu viel in seinem Gesicht lesen könnte – es ist offensichtlich, dass er keine Nähe wünscht. So, als würde er in einem Kokon sitzen: Er scheint ganz und gar verschlossen, als hätte er sich komplett abgenabelt vom Rest der Welt. Und wäre da nicht die verblasste Spur von Grübchen in seinem Gesicht, man könnte meinen, der Mann hätte jahrelang nicht gelacht. Oder am Ende noch nie! Ja, er hat etwas Tragisches an sich, als ob er mitten im Sommer erfroren wäre.

»Linda, Fritz ist am Telefon, er fragt, welchen Fisch du diese Woche bestellen möchtest?«, unterbricht unsere Köchin Christa, Gott sei Dank, meine Gedanken, die sich mal wieder (wie so oft) ähnlich einer Spirale immer schneller drehen, ohne wirklich irgendwo anzukommen – darum helfen mir ja auch die ewigen To-do-Listen immer so sehr, die ich jeden Tag in mein schönes Notizheft mit Ledereinband kritzle. Ich nicke ihr zu und übernehme dann das Telefongespräch mit Christas Mann Fritz, unserem »Hausfischer«. Mein Blick ruht jedoch weiterhin auf dem Profil des nun wieder emsig schreibenden Mannes dort draußen. Woher kenne ich ihn nur? Ach, es macht mich wahnsinnig, wenn mir solche Sachen nicht einfallen! Das ist, als wenn man den Namen eines bekannten Schauspielers sucht und dann tagelang an nichts anderes denken kann, bis er einem endlich einfällt und dann förmlich aus einem herausplatzt. Ich starre ihn weiterhin an, als er sich plötzlich in meine Richtung dreht. Kaum sehe ich seine eisblauen Augen, durchfährt es mich auf einmal wie ein Blitz. Das ist doch … aber das kann doch gar nicht wahr sein! Kann sich dieser Mann wirklich so verändert haben? Ich muss nachher gleich mal im Buchungssystem nachschauen. Als der Mann ankam, bin ich wahrscheinlich gerade unterwegs gewesen, zumindest kann ich mich nicht erinnern, ihn hier persönlich begrüßt zu haben – das muss wohl meine Mutter oder meine Kollegin Tamara übernommen haben.

»Linda?«, fragt Fritz am anderen Ende auf einmal, und meine Gedankenkette, an deren Ende der Name des gesuchten Gastes steht, reißt jäh ab. Schnell konzentriere ich mich nur noch auf das Gespräch. Glücklicherweise ist Fritz wortkarg wie immer – drei Worte am Stück zeugen bei ihm schon von einem angeregten Gespräch –, und gemeinsam beschließen wir ohne störenden Small Talk, dass meine Gäste in dieser Woche Scholle und Steinbutt auf der kleinen Bistrokarte finden werden. Zwei Fische, die Christa gerne und außerordentlich gut zubereitet.

Ich versuche, die Speisekarte jede Woche nach dem, was Fritz ins Netz gegangen ist, auszurichten. Neben Fisch gibt es außerdem immer noch Pasta und Quiche, sodass auch die Vegetarier etwas zu essen haben. Und das alles mit Gemüse, das ich im Garten hinter dem Haus anbaue, also einhundert Prozent Bio. Mittlerweile habe ich mich zu einer durchaus talentierten Gärtnerin gemausert – und das war harte Arbeit! Mir ging wirklich alles ein, egal wie oft oder wie wenig ich gegossen und gedüngt habe. Als ich schon aufgeben wollte im Glauben, dass ich einfach nicht über den berühmten grünen Daumen verfüge, entdeckte ich mein erstes Radieschen. Es strahlte mich eines Morgens mitten aus dem Unkraut in Pink-Weiß an, und ich juchzte vor Glück. Danach klappte es auf einmal mit dem Mangold, Kohlrabi und allen möglichen Salatblättern. Heute ernte ich selbst Gurken, Zucchini und Tomaten im Überfluss – und jeder, der selbst einen Garten hat, weiß, dass das die herausforderndsten Gemüsesorten sind. Und ich freue mich jedes Mal wahnsinnig, wenn ich weiß, dass es meine selbst gezogenen Radieschen und Co. sind, die da im Salat und all den anderen leckeren Speisen unseres kleinen Bistros landen.

Ich bin wirklich stolz darauf, dass meine Mutter und ich hier so etwas wie einen kleinen Familienbetrieb führen: die »Nordwind«, das Bistro und der kleine Laden mit ihren Backwaren, »Astrids Backstube«, benannt nach meiner Mama. Die Gäste wissen die persönliche Note bei uns zu schätzen. Hier werden sie noch mit Namen angesprochen und gehen nicht unter in der Anonymität eines Hotelkomplexes. Sie kommen gerne, weil die Atmosphäre gemütlich und das Essen mehr als lecker ist.

Das köstliche Essen liegt natürlich vor allem an meiner talentierten Köchin Christa und dem hervorragenden Fisch, den ihr Mann Fritz für uns fängt. Christa Kliesow kenne ich, seit ich ganz klein war, und sie ist eine der engsten Freundinnen meiner Mutter – und ihr Sohn Fritz junior war schon im Kindergarten einer meiner besten Freunde. Früher hat sie in einem großen LPG-Betrieb gekocht (so wie meine Mutter auch), und nach der Wende war sie viele Jahre arbeitslos. Als ich die Pension und das Bistro vor etwas mehr als sechs Jahren eröffnet habe, war mir sofort klar, dass Christa unsere Köchin werden musste. Zum einen weil ich wusste, dass ihre Kochkünste absolut unschlagbar sind, aber auch weil ich mich gerne mit Menschen umgebe, denen ich voll und ganz vertrauen kann. Und Christa ist einfach ein Fels in der Brandung. Die Tatsache, dass ich ihr damit nach vielen Jahren der Arbeitslosigkeit gleichzeitig wieder eine Aufgabe geben konnte, die ihr wirklich Spaß machen würde, war eine wunderbare Begleiterscheinung.

Meine Familie und ich leben seit vier Generationen auf der Insel Rügen. Und vielleicht macht mich das zu einer Langweilerin, aber ich wollte hier nie wirklich weg. Ich bin kein Mensch für die hektische Stadt, und nicht am Meer zu leben, scheint mir ebenfalls unvorstellbar. Manche Leute fragen sich wohl, ob sie was verpasst haben, wenn sie immer dort bleiben, wo sie sind – aber so geht es mir nicht. Ich muss nicht erst durch die halbe Welt hetzen, wenn ich einen Ort habe, der mir richtig gut gefällt.

Abgesehen davon: Es war immer mein Traum, eines Tages eine Pension zu eröffnen. Als dann vor acht Jahren mein Großvater starb und mir ein kleines Erbe hinterließ, wusste ich anfangs nicht, wie ich das Geld am besten anlegen könnte. Meine Mutter hatte noch gesagt, ich sollte einfach auf mein Herz hören und dann wüsste ich schon, was ich mit dem Erbe anfangen soll. Nur wollte mir mein Herz erst nichts sagen, es schwieg sich geradezu aus. Und ich wartete noch auf ein Zeichen, das mir irgendwie den Weg in die richtige Richtung weisen würde.

Aber dann, eines Tages, es war vielleicht vier Wochen nach der Beerdigung, ging ich an einem etwas stürmischen Tag am Hafen entlang ganz in Gedanken, wie meine Zukunft aussehen sollte. Und plötzlich wehten mir ein paar Zettel vor die Füße. Ohne groß nachzudenken, griff ich schnell nach ihnen, bevor sie ins Hafenbecken fielen, und drehte mich verwirrt um, wem denn diese Zettel weggeflogen waren – auf ihnen konnte ich unter anderem den Grundriss eines Hauses sehen. Ein älterer Mann im Anzug stürmte auf mich zu: »Junge Frau, hier! Danke, dass Sie meine Unterlagen aufgehalten haben! Ich dachte schon, ich muss gleich im Meer danach tauchen!«

Der Mann stellte sich als Makler vor, der das alte, seit Jahren leer stehende Haus am Hafen überprüfen sollte. Ausgerechnet dieses schöne alte Haus! Darin hatten wir als Kinder Verstecken gespielt und als Jugendliche heimlich geraucht – und jetzt sollte es abgerissen werden. Viele Jahre war es völlig vernachlässigt worden und verfiel mehr und mehr. Das Haus war zu DDR-Zeiten eine Gaststätte, eine der wenigen, die es gab und um die herum sich immer eine lange Schlange bildete (vor allem bei Regen). Aber nach dem Mauerfall war der alte Besitzer gestorben, und der neue hatte sich nicht mehr groß darum gekümmert, denn er lebte selbst in Hamburg. Ihm schien es egal zu sein, was aus dem schönen Gebäude wurde, und so war das große Reetdachhaus langsam verfallen.

Der Makler erzählte, dass der Besitzer keine Lust hatte, umständlich nach einem Käufer zu suchen und er es jetzt am liebsten einfach abreißen lassen würde. Da klopfte mein Herz auf einmal ganz laut und heftig, und ich wusste: Das war ein Zeichen, dass mir diese Unterlagen wortwörtlich vor die Füße geflogen waren! Ausgerechnet jetzt hatte ich das Geld und eine schöne Anlagemöglichkeit zugleich – das musste meinen Traum von einer Pension wahr machen!

Also nahm ich all meinen Mut zusammen und habe das Gebäude für einen sehr guten Preis gekauft. Der Verkäufer war so froh, das Gebäude endlich loszuwerden, dass ich gar nicht lange verhandeln musste. Der Name »Nordwind« war dann ebenso schnell gefunden, immerhin hatte mir der Wind (egal, ob er jetzt aus Nord, Süd oder Ost kam) das Angebot vor die Füße geweht – ich wollte mich damit selbst immer an dieses wunderbare Zeichen erinnern. Und so gehörte auf einmal dieses wunderschöne Haus (das eben nur ein wenig Renovierung und neuer Zuwendung bedurfte) mir, und ich habe die Investition keinen Tag bereut.

Natürlich, es ist nicht immer einfach, die monatlichen Raten des Kredits abzustottern, der für die Renovierung nötig war. Vor allem weil ich im Sommer so viel Geld einnehmen muss, dass es auch noch für die Wintermonate reicht, in denen wir hier ziemlich einsam und manchmal noch dazu völlig eingeschneit sitzen – aber ich brauche selbst nicht viel. Ich lebe in der kleinen Dachgeschosswohnung über den Pensionszimmern, und selbst wenn Markus nun schon seit einigen Monaten darauf drängt, dass ich doch endlich zu ihm ziehen soll, bin ich dort in meinen eigenen vier Wänden meist wunschlos glücklich. Zwar werde ich mit der Pension nicht reich, aber zum Glück ist das auch nicht mein Lebensziel. Das ist wohl eher, mich um andere Menschen zu kümmern, was mir die Pension eben voll und ganz bietet.

Ich fülle noch ein paar Kaffeetassen auf, schenke meinen Gästen ein sonniges Lächeln und gehe dann in meine kleine Büroecke neben der Rezeption. Dort klettere ich auf meinen (zumindest für mich) viel zu hohen Bürostuhl (mit meinen knapp 1,60 Meter ist quasi alles hoch) und fahre schnell den Computer hoch, um mich dann voll und ganz dem Reservierungssystem zu widmen. Es sieht gut aus, fast alle Tage im Juli und August sind ausgebucht. Unsere vier Doppelzimmer und die zwei Einzelzimmer sind gerade groß genug, dass Gäste sich hier auch mehr als ein paar Tage lang wohlfühlen können. Manche bleiben sogar ein paar Wochen, es gibt einige Urlauber, die im Frühjahr anreisen, wenn auf der Insel alles zu blühen beginnt, und die uns erst im Sommer, kurz bevor der große Ferienansturm kommt, wieder verlassen. Es gibt Urlauber, die schon an ihrem letzten Tag für das kommende Jahr, gleiche Zeit, gleiches Zimmer buchen. Es gibt Urlauber, die man schnell mit dem Namen kennt, weil sie so offen und sympathisch sind. Und solche, mit denen man erst etwas warm werden muss.

Als Kind (und ja, ich gebe es zu, sogar heute noch) war ich ein großer Fan der Sendung »Traumschiff«, und ein bisschen wie in der Serie ist das auch bei uns. Es gibt die großen und kleinen Dramen, an denen man teilnimmt (ob man will oder nicht – wenn das frisch vermählte Paar sich zum Beispiel beim Frühstück lautstark streitet, wessen Eltern nun mehr Geld zur Hochzeit beigesteuert haben, kann man das ja schlecht überhören), und die Gäste, die sich einfach mal aussprechen wollen (vor allem die allein reisenden älteren Herrschaften). Gut, ein Kapitänsdinner veranstalten wir hier nicht – aber wenn jemand während seines Aufenthalts in meinem Haus Geburtstag hat, fahre ich schon mal die Wunderkerzen zum Frühstück auf. Ich gestehe, dass es auch schon die einen oder anderen Gäste gibt, die mir besonders ans Herz gewachsen sind. Menschen, die immer wieder kommen und bei denen es mir jedes Mal schwerfällt, sie gehen zu sehen. Dazu gehört der zerstreute Professor Petersen, der jedes Jahr über Ostern aus Hamburg anreist und mit dem ich schon so viele lange Gespräche über Gott und die Welt geführt habe. Und für den ich immer ein paar besonders gute Flaschen Rotwein zur Seite stelle. Aber auch die Familie Meißner aus Sachsen, deren Zwillingsjungs ich kenne, seit sie noch nicht einmal laufen konnten – und nun sausen sie im Sommer bereits mit ihren Laufrädern über die Radwege.

Als das mit Markus und mir ernst wurde, hat er mir mal in einem Streit vorgeworfen, dass ich eben viel zu sehr an den Leben anderer Menschen teilhabe und mir viel zu wenig aus meinem eigenen (und wenn wir mal ehrlich sind auch aus seinem) mache. Ich glaube, er wollte damit wohl ausdrücken, dass ich nicht egoistisch genug bin und mich nicht genügend auf mich selbst (und auf ihn!) konzentriere. Aber so bin ich nun einmal. Ich nehme viel Anteil an dem, was anderen Menschen widerfährt, ob im realen Leben oder auch nur im Fernsehen. Was mich einmal berührt, geht mir jahrelang nicht aus dem Kopf. Natürlich weiß ich, dass diese Welt nicht perfekt ist und dass zu jeder gegebenen Zeit Unheil, Ungerechtigkeiten und Leid herrschen. Und dass ich dagegen nicht viel tun kann. Aber umso mehr sehe ich es als meine Pflicht an, mich wenigstens um die Menschen, die um mich herum sind, zu kümmern. Nicht wegzuschauen, wenn es ihnen schlecht geht. Da zu sein, wenn und wo man mich brauchen könnte. Selbst wenn es nur das perfekte Frühstück im Urlaub ist, das den Tag für meine Gäste dann umso schöner macht. Das halte ich für einen ungerechten Vorwurf, denn dass man sich für seine Mitmenschen interessiert, ist ja nun wirklich kein Verbrechen. Gerade in der Dienstleistungsbranche sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass man sich fragt, wie man die Kunden glücklich machen kann. Vor allem bei so einer Pension ist das eben manchmal mehr als nur ein 9-to-5-Job.

Nur als Beispiel: Wenn einer der Meißner-Zwillinge nachts plötzlich krank wird und sich auf sein Bettlaken erbricht, dann ist es für mich selbstverständlich, dass ich aufstehe und der Familie helfe. Ihnen neue Bettlaken bringe und so weiter und so fort.

In all den Jahren, die meine Mutter ihre kleine Bäckerei bereits betreibt, habe ich immer beobachtet, wie sie für ihre Kunden dieses gewisse Extra an Service angeboten hat. Sie hat sich nie darauf ausgeruht, dass es weit und breit keine andere Bäckerei wie »Astrids Backstube« gab. Ihr Angebot war weder nullachtfünfzehn, noch bestand es nur aus dem Minimum, das man eben sowieso leisten muss. Nein, sie kannte schon immer die Namen und Vorlieben ihrer Kunden. Und wenn jemand ganz dringend einen Geburtstagskuchen gebraucht hat, dann war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie diesen Wunsch wenn nötig über Nacht erfüllt hat. Bis heute ist sie, was das angeht, mein großes Vorbild.

Ich starre nachdenklich auf die Fotografien an der Wand gegenüber, Schwarz-Weiß-Bilder von der Insel, die ich während meiner Lehre gemacht hatte und die sicherlich nicht gut genug für eine Ausstellung waren, aber mir eben gut gefielen. Zumal sie mich an eine besondere Zeit in meinem Leben erinnerten: Damals war ich noch so jung und frei. Klar, ich war mitten in der Hotellehre, aber ich habe damals auch gemerkt, dass es genau das war, was ich machen wollte. Und trotz der Arbeit und Berufsschule hatte ich einfach noch viel mehr Zeit für meine Hobbys und andere schöne Dinge – Zeit, die ich mir heute einfach viel zu selten nehme. Vor allem weil die Pension mir gehört und ich damit auch eine unheimliche Verantwortung für mich und meine Mitarbeiter trage.

Beim Gedanken an die Vergangenheit fällt mir plötzlich ein, dass ich ja nachsehen wollte, ob der blasse Mann mit den dunklen Locken draußen wirklich derjenige ist, den ich wiedererkannt zu haben glaube, aber in diesem Moment kommt Markus hereingerauscht, weshalb ich ohne weitere Recherchen von meinem hohen Stuhl hüpfe und auf ihn zugehe.

»Na, mein Schatz«, begrüßt er mich mit einem schmatzenden Kuss und muss sich dabei mit seiner stattlichen Größe von 1,92 Meter weit nach unten beugen: »Hast du heute Nacht gut geschlafen?«

Ich nicke lächelnd und ziehe ihn sanft von den paar Gästen weg, die um diese Zeit noch frühstücken. Darunter sind auch ein paar Kinder, die um die Tische herum Fangen spielen. Markus beobachtet das mit einem Stirnrunzeln – Kinder und vor allem laut spielende Kinder konnten bei Markus noch nie große Begeisterung hervorrufen, weshalb ich ihn lieber in die Rezeption führe, wo es deutlich ruhiger ist. Mittlerweile ist sowieso meine Kollegin Tamara zur Unterstützung aufgetaucht und hat das Büfett ins Visier genommen. Blitzschnell erfasst sie, was nachgefüllt werden muss, und kümmert sich flink darum. Tamara kommt aus Polen und arbeitet nur in der Hochsaison bei uns. Im Winter geht sie dann nach Tirol und hilft dort in einem kleinen Skihotel aus. Sie hat zu Hause in Polen eine kleine Tochter, Mila, die bei der Großmutter aufwächst, und ich bewundere Tamara für die Opfer, die sie für ihre Familie bringt (dieses Jahr wird Mila sie endlich wieder an der Ostsee besuchen kommen, Tamara ist schon seit Wochen aufgeregt deswegen!). Vor allem aber ist sie mir in den letzten Jahren eine echte Freundin geworden mit ihrem unnachahmlichen Humor, ihrer Ehrlichkeit und der Gabe, Dinge immer irgendwie positiv zu sehen.

»Danke, wie ein Stein«, antworte ich Markus auf seine Frage nach meinem Schlaf und wuschele ein wenig durch seine Haare, weil er sonst immer so streng aussieht. Wie mein Kreditberater in der Bank.

»Ich dachte eigentlich, dass du gestern Abend noch zu mir kommen würdest«, sagt er. An seinem Ton höre ich, dass er die Enttäuschung noch nicht überwunden hat.

»Tut mir leid. Ich hatte einfach noch so viel zu tun. Nachdem ich alles für heute vorbereitet hatte, wollte ich nur noch in mein Bett fallen.« Ich streiche ihm leicht mit zwei Fingern über die Wange. Markus hat kaum Bartwuchs, deshalb fühlt sich seine Haut weich und samtig an. In Kombination mit seinen hellblonden Haaren könnte man ihn schon fast als Babyface bezeichnen, auch wenn das überhaupt nicht seinem Charakter entspricht. Denn Markus weiß auf jeden Fall, was er will. Er führt ein erfolgreiches Immobilienbüro mit drei Angestellten und einem Lehrling. Es gibt kaum ein Haus auf dem Mönchgut, das nicht über seinen Tisch geht (nur meine Pension war da mal eine Ausnahme). Und weil die Halbinsel im südlichen Rügen in den letzten Jahren immer beliebter wird, kann Markus immer höhere Verkaufspreise und damit auch Provisionen erzielen. Kurz nachdem wir zusammengekommen sind, hat er dann selbst ein wunderschönes Reethaus am Ende des Ortes, direkt am Deich mit Blick auf den Bodden, gekauft. Ehrlich gesagt, weiß ich selbst manchmal nicht, was mich davon abhält, in das Traumhaus einzuziehen. Aber manchmal habe ich das Gefühl, mir diesen letzten Rest an Selbstständigkeit erhalten zu müssen. Denn bei allen guten Eigenschaften, die Markus hat, kann er doch manchmal sehr bestimmend sein. In den fast zwei Jahren, die wir jetzt zusammen sind, haben wir uns zwar nur eine Handvoll Male wirklich gestritten, aber jedes Mal war der Grund, dass Markus einfach etwas über meinen Kopf hinweg entschieden hatte. Und ich bin nun einmal gerne mein eigener Boss.

Vielleicht liegt das daran, dass ich das von meiner Mutter nicht anders gelernt habe. Immerhin hat sie mich alleine aufgezogen und nebenbei immer gearbeitet. Sie hat mich früh zur Selbstständigkeit erzogen und mir Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein geradezu eingetrichtert. Ich weiß, dass sie es oft nicht leicht hatte, als alleinerziehende Frau ohne Partner, mit dem man Erziehungsfragen diskutieren und all die Verantwortung teilen konnte. Vielleicht wirkt ihr Verhalten mir gegenüber darum manchmal etwas widersprüchlich: Sie pocht darauf, dass ich für mich selbst verantwortlich bin, aber mischt sich dann selbst doch ganz gerne ein. Sie wollte immer, dass ich eine selbstständige Frau bin, und wünscht sich doch nichts mehr, als dass ich Markus bald heirate. Damit möglicherweise auch ein paar Träume von ihr wahr werden, die sich nie erfüllt haben.

Und hin und wieder frage ich mich schon, was zwischen ihr und meinem Vater vorgefallen ist. Warum er uns verlassen hat. Aber während ich als Teenager noch versucht habe, irgendetwas über meinen Erzeuger herauszufinden, ist mir das mittlerweile weniger wichtig geworden. Er war eben nicht da. An keinem meiner Geburtstage und auch nicht, als ich das Abiturzeugnis und meinen Abschluss von der Hotelfachschule erhalten habe. Das ist alles, was ich über ihn wissen muss. Und dass meine Mutter nicht erzählen will, was zwischen ihr und diesem Mann vorgefallen ist, muss ich akzeptieren. Auch wenn mir das nicht immer leichtgefallen ist.

»Wenn du endlich zu mir ziehen würdest, müssten wir diese Gespräche gar nicht mehr führen«, höre ich Markus wie aus weiter Ferne sagen.

Ich nicke geistesabwesend und sehe in diesem Moment, wie der blasse Gast mit den Locken die kleine Lobby betritt. Er sieht sich suchend um, und ich lasse Markus mit einem kurz angebundenen »Warte eben« zurück und laufe auf meinen seltsam verschlossenen Gast zu.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, frage ich freundlich, und als er meine Worte hört, scheint er sich geradezu zu erschrecken.

»Ähm«, beginnt er und räuspert sich dann, weil seine Stimme wie ein Reibeisen klingt. Eben wie die Stimme von jemandem, der kaum spricht. »Ich hatte eigentlich nur für ein paar Tage gebucht. Aber ich wollte fragen, ob es möglich ist, dass ich um eine weitere Woche verlängere.«

Unwillkürlich runzle ich die Stirn. Ich weiß, dass wir eigentlich ausgebucht sind. Aus irgendeinem Grund habe ich aber plötzlich das Gefühl, dass ich dem Mann seinen Wunsch unmöglich abschlagen kann. Also gehe ich mit ihm im Schlepptau zum Computer und öffne dann mein Buchungssystem.

Für einen Moment überlege ich, ob ich ihn mit Namen ansprechen soll. Mittlerweile bin ich mir fast hundertprozentig sicher, um wen es sich handelt. Aber was, wenn ich mich doch irre? Immerhin habe ich ihn seit zwei Jahren nicht gesehen. Und wo ist seine Begleitung, die sonst immer an seiner Seite war?

»Paul Schumann«, sagt er auf einmal, während ich noch abwäge, ob er es ist oder nicht.

Trotz meiner Vorahnung bin ich wirklich überrascht. Denn dieser Mann hat fast nichts mit dem Paul Schumann zu tun, an den ich mich erinnere.

To-do-Liste:

• Frühstücks00 auffüllen

• Fisch bestellen

• Zimmer 3 fertig vorbereiten

• Für Bootsführerschein anmelden

• Mama anrufen!!!

Kapitel 2

Paul Schumann kenne ich nämlich eigentlich nur im Doppelpack. Paul und Paula Schumann. Ein Ehepaar, das früher jedes Jahr im Juli in die »Nordwind« gekommen ist. Bestimmt vier oder fünf Jahre in Folge. Er ist so ein verkopfter Schriftsteller der ganz literarische, intelligente Bücher schreibt (ja, ich gebe zu, ich habe es nie geschafft, seinen angeblich großartigen Bestseller »Viermal Ewigkeit« zu Ende zu lesen) und sie eine Sängerin, wunderschön, mit einer wahnsinnigen Ausstrahlung. Zusammen waren die beiden für mich immer das Traumpaar schlechthin (und das nicht nur, weil sie schon wegen ihrer Vornamen sozusagen füreinander gemacht schienen) und dazu ausgesprochen liebenswürdig und höflich. Leider tauchten sie im vergangenen Jahr plötzlich nicht mehr auf, keine Ahnung, warum. Ich habe mich oft gefragt, was aus ihnen geworden ist und ob sie sich wohl getrennt haben und deswegen nicht mehr kommen. Und jetzt steht Paul Schumann alleine vor mir und sieht aus, als ob er gerade eine Naturkatastrophe überlebt hätte.

Ich versuche, meine Überraschung zu überspielen und lächle ihn freundlich an: »Oh, Herr Schumann, wie schön, Sie wieder begrüßen zu dürfen.« Dann beiße ich mir auf die Unterlippe und füge noch hinzu: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe.« Was natürlich nicht so ganz richtig ist, ich hatte ja geahnt, dass er es ist. Denn so ein Gesicht wie seins vergisst man nicht so einfach. Er nickt leicht, aber man sieht ihm an, dass er in Gedanken ganz woanders ist. Dann scheint er in diese Welt hier zurückzukehren und sagt lapidar: »Du kannst mich ruhig Paul nennen.«

Ich finde seine wenig förmliche Art mehr als sympathisch und erinnere mich in diesem Moment daran, dass wir natürlich längst beim »Du« waren. Immerhin ist Paul nicht zum ersten Mal hier. Kurz überlege ich, ob er sich an meinen Vornamen erinnert, oder ob ich ihn noch einmal sagen soll. Dann fällt mir ein, dass er ihn ja von dem kleinen Namenskärtchen ablesen kann, das an mein Revers geheftet ist.

»Und, ist noch was frei? Ich nehme auch die Dachkammer«, unterbricht er meine Gedanken. Paul lächelt nicht, als er das sagt. Stattdessen schimmert in seinen Augen ein seltsamer Ausdruck, den ich nicht recht einordnen kann. Er scheint irgendwie besorgt. Besorgt, dass ich kein Zimmer frei haben könnte. Dass er weg muss. Dass er irgendwohin zurückmuss, wo er nicht sein will. Ich schaue mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm vor mir und überlege fieberhaft, wo ich Paul unterbringen kann. Seine Worte hallen in meinem Kopf nach. »Ich nehme auch die Dachkammer.« Vielleicht ist das wirklich die Idee, denke ich plötzlich. Neben meiner kleinen Dachgeschosswohnung befindet sich tatsächlich noch ein Zimmer. Ich vermiete es normalerweise nicht an Gäste, weil es eigentlich viel zu klein ist, aber manchmal bringe ich einen Handwerker, der sich auf Wanderschaft befindet, dort unter – wobei diese in den letzten Jahren immer weniger geworden sind. In dem Zimmer gibt es ein Bett, einen Schreibtisch und sogar eine kleine Dusche und Toilette. Es ist alles andere als luxuriös, und wegen der Dachschräge könnte manch einer es als etwas beklemmend empfinden, dort zu übernachten – weswegen ich es eben normalerweise nicht anbiete. Abgesehen davon, dass ich direkt daneben wohne und die Wände nicht besonders dick sind – aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich mir bei dem stillen Paul Sorgen um Lärmbelästigungen machen muss. Und falls doch, kann ich ohne Probleme auch ein paar Nächte bei Markus übernachten.

Ich schaue den blassen Mann nachdenklich an. Er nimmt meinen Blick nur kurz auf und scheint dann schon wieder geistesabwesend durch mich hindurchzuschauen.

»Ich habe tatsächlich eine Dachkammer«, sage ich langsam, »sie ist aber nicht besonders luxuriös. Und sehr klein …«

»Das macht gar nichts«, antwortet er schnell. »Was würde sie denn pro Nacht kosten?«

Kurz muss ich überlegen, welchen Preis ich für die Kammer überhaupt verlangen kann. Ein normales Einzelzimmer in meiner Pension kostet in der Hauptsaison 85 Euro inklusive Frühstück. »40 Euro inklusive Frühstück«, antworte ich kurz entschlossen.

Er schaut mich überrascht an. »Das ist aber preiswert.«

»Das Zimmer ist auch wirklich klein«, sage ich lächelnd.

»Kein Problem. Ich brauche nicht viel«, er schaut nachdenklich auf seine schmalen Hände, »Ich habe ja eigentlich noch zwei Nächte in meinem Einzelzimmer gebucht, aber wäre es in Ordnung, wenn ich heute schon in die Dachkammer umziehe? Es würde mir helfen«, er zögert kurz, »nun ja, etwas Geld zu sparen.«

Ich nicke langsam und bin doch gleichermaßen verwundert. Soweit ich mich erinnern kann, wirkten die beiden, Paul und Paula, nie, als ob sie je finanzielle Probleme gehabt hätten. Und immerhin war Paul ein Bestsellerautor, sehr erfolgreich, soweit ich weiß. Aber so, wie Paul sich optisch völlig verändert hatte, konnte es ja auch sein, dass das nicht mehr der Fall war. Die Frage, wo Paula geblieben war, brannte mir auf der Zunge, aber natürlich verkniff ich es mir, ihn darauf anzusprechen. Wer weiß, wann die beiden sich getrennt hatten und ob der gute Paul schon drüber weg war. Alles, woran ich mich erinnere, wenn ich an dieses Paar dachte, das seit Jahren regelmäßig eine knappe Woche im Juli Urlaub hier machte, war eine pure Bilderbuchbeziehung. Ein Pärchen wie im Film, liebevoll, gut aussehend, charismatisch und sympathisch. Eines von diesen Paaren, die immer in ein angeregtes Gespräch miteinander vertieft waren, die ständig zusammen lachten, und selbst wenn sie zusammen schwiegen, wirkte es nie, als wenn sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Und irgendwie deprimierte mich der Gedanke, dass selbst solche scheinbar perfekten Paare irgendwann auseinandergehen.

»Ich würde das Zimmer noch etwas herrichten, und dann kannst du gegen Mittag rein«, sage ich kurz entschlossen. Natürlich würde ich mit dieser kurzfristigen Umbuchung etwas Geld verlieren. Andererseits kam ja durch die ungeplante Vermietung der Dachkammer dann wieder etwas mehr rein. Und selbst wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich einem Stammkunden seinen Wunsch nicht abgeschlagen.

»Vielen Dank«, Paul sieht mich mit seinen traurigen Augen an, und ich zweifle nicht einen Moment daran, das Richtige getan zu haben. Dann dreht er sich um und geht langsam mit seinem Rucksack in Richtung Ausgang. Ich schaue ihm nach und spüre auf einmal Markus’ Hand an meiner Hüfte.

»Was ist das denn für ein komischer Kauz? Der sieht ja fertig aus …«, raunt er mir zu, und sein Atem kitzelt an meinem Nacken.

»Hmm«, erwidere ich leise, »ich weiß auch nicht, was mit dem passiert ist, früher sah er ganz anders aus.«

»Ach, du kennst ihn?«

»Er und seine Frau kommen eigentlich immer im Juli. Bis auf das letzte Jahr, da kamen sie gar nicht. Und nun ist er alleine hier …«

»Ja Linda, Menschen trennen sich nun einmal. Wahrscheinlich ist sie ihm weggelaufen, kein Wunder, der ist aber auch ein komischer Kauz«, stellt Markus trocken fest und erntet dafür ein Augenrollen von mir.

»Nicht die beiden«, murmle ich dann noch, »die waren echt was Besonderes …«

Markus zuckt mit den Schultern. »Da steckste nicht drin … Geht uns ja auch nichts an. Mal was anderes, hast du heute Abend schon was vor?«

Ich schüttle den Kopf. In Gedanken gehe ich nun alle Möglichkeiten durch, was mit Paul und Paula passiert sein könnte, dass Paul so aussieht, wie er aussieht. Vielleicht hat sie ihn aus heiterem Himmel verlassen? Ihn betrogen? Oder ist gar wirklich mit einem anderen Mann weggelaufen? Obwohl das irgendwie alles nicht so recht zu dem Eindruck passt, den ich damals von ihr hatte. Aber man kann ja nicht in Menschen hineingucken …

»… Linda?«, höre ich auf einmal Markus wie aus weiter Entfernung fragen.

»Was, Schatz?«

»Woran denkst du gerade mal wieder?«

»Ähm, ich habe gerade überlegt, was ich für heute Mittag noch alles vorbereiten muss …«, antworte ich schnell. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich ihm nicht die Wahrheit sage. Aber ich sehe ihm an, dass er mir sowieso nicht ganz glaubt.

»Ich habe dich gefragt, ob wir heute Abend ein bisschen mit meinem Boot rausfahren wollen?«

»Ja klar, gerne«, sage ich und schenke meinem Freund mein schönstes Lächeln.

»Gut«, kommentiert er zufrieden und drückt mir dann einen feuchten Kuss auf die Lippen, »und hör auf, dir über deine Gäste solche Gedanken zu machen. Du bist hier nicht der Kummerkasten für verlorene Seelen.« Mit diesen Worten und einer leicht winkenden Handbewegung verabschiedet er sich.

Ich wische mir leicht mit der Rückenseite meiner Hand über die Lippen (ja, zugegebenermaßen mag ich feuchte Küsse nicht besonders) und versuche mir dann zu sagen, dass Markus recht hat. Besser, ich mische mich da nicht ein. Wenn dieser Paul reden will, wird er es schon tun. Und vielleicht ist es besser, wenn er es nicht tut. Denn es stimmt ja, mir gehen die Schicksale anderer Menschen immer viel zu nah. Dann stecke ich mir mein Handy in die hintere Tasche meiner Jeans und rufe Tamara zu, dass ich hochgehe, um die Dachkammer herzurichten.

Gegen halb eins taucht Paul Schumann wieder in der Lobby auf, als ich gerade über der Buchhaltung sitze. Ich winke ihm zu, und gemeinsam steigen wir die Treppen hoch. »Na, warst du ein bisschen am Strand?«, frage ich ihn freundlich, immerhin herrscht heute strahlender Sonnenschein, mit bestimmt 27 Grad draußen.

Er schüttelt leicht den Kopf. »Da waren mir viel zu viele Menschen. Ich habe mich deshalb hier in der Bucht auf einen der großen Steine gesetzt.«

Lächelnd nicke ich, obwohl ich den Gedanken, mehr als zwei Stunden einfach nur auf einem Felsen zu sitzen, merkwürdig finde. Andererseits, was hat man im Urlaub schon für Verpflichtungen – und jeder Mensch entspannt sich eben auf seine Art. Als wir oben ankommen, öffne ich die Tür zu dem kleinen Dachzimmer. Paul, der vielleicht knappe 1,80 Meter groß ist, muss sich kaum bücken, als er das Zimmer betritt. Markus mit seinen 1,92 Meter kracht hier immer an die Dachschrägen, weshalb er mich so ungerne in meiner Wohnung besucht.

»Klein, aber gemütlich«, sage ich mit Blick auf das Zimmer. Und wirklich, mit der frischen Bettwäsche und dem Obstkorb, den ich Paul noch auf den kleinen Tisch gestellt habe, macht das Zimmer einen mehr als einladenden Eindruck.

Paul antwortet nicht, sondern wendet sich nun dem runden Dachfenster zu, von dem man den Hafen von Gager und die Bucht vom Hagenschen Wiek sieht. Er scheint sich für einen Moment völlig in der Aussicht zu verlieren. »Was für ein toller Blick«, sagt er schließlich, und ich bin froh, dass er mit dem Zimmer zufrieden ist.

»Also«, sage ich und klatsche leicht in die Hände, »hier ist der Schlüssel. Sag mir Bescheid, wenn du deine Sachen aus deinem alten Zimmer geräumt hast.«

»Hab ich schon«, antwortet er, ohne den Blick vom Dachfenster abzuwenden. Dann dreht er sich doch um und zeigt auf seinen kleinen Rucksack.

»Oh, du reist aber mit leichtem Gepäck«, grinse ich, aber als er nicht reagiert und nur weiter aus dem Fenster starrt, verabschiede ich mich schnell und schließe leise die Tür hinter mir. Draußen bleibe ich noch einen Moment nachdenklich stehen und wundere mich wieder, was für ein seltsamer Einsiedlerkrebs aus dem Mann geworden ist, den ich als ruhig, aber dennoch witzig und vor allem offen in Erinnerung hatte.

Ein paar Tage lang sehe ich praktisch nichts von Paul Schumann. Er scheint sich in seinem Zimmer verschanzt zu haben, und manchmal entdecke ich ihn nicht einmal am Frühstücksbüfett. Ich habe keine Ahnung, womit er sich die Zeit vertreibt. Jeden Vormittag verschwindet er für ein paar Stunden, und in dieser Zeit reinigt meistens Tamara sein Zimmer. Am liebsten würde ich sie einfach fragen, ob sie etwas Auffälliges in dem Raum entdeckt hat, aber natürlich tue ich das nicht. Eigentlich ist es auch gar nicht meine Art, so neugierig zu sein. Ich weiß selbst nicht so genau, warum mich der traurige Mann so sehr beschäftigt. Manchmal lausche ich, ob ich irgendeinen Ton aus seinem kleinen Zimmer nebenan höre, aber da ist nichts.

In den letzten Nächten habe ich sowieso bei Markus geschlafen – und ich muss zugeben, dass es sehr schön war, in seinem großen, perfekten Haus aufzuwachen. Dort steht man auf und kann sofort einen der schönsten Ausblicke auf der Insel Rügen genießen. Mein Wecker scheucht mich immer kurz vor sechs aus dem Bett, und dann setze ich mich auf die kleine Holzbank vor Markus’ Haus, trinke einen Kaffee und genieße einfach nur die Stille. Eine Stille, die lediglich vom Schreien der Möwen unterbrochen wird.

Jeden Tag einen kleinen Ausflug ans Wasser, das hatte ich mir letzten Sommer noch fest vorgenommen, als ich mich vor lauter Arbeit in der Hochsaison kaum noch daran erinnerte, dass ich selbst eigentlich direkt am Meer wohne. Um mich herum lauter Touristen, die jeden Morgen glücklich zum Meer aufbrachen und abends noch viel glücklicher und braun gebrannt zurückkamen – nur ich blieb blass und sah das Meer nur vom Fenster aus. Darum hatte ich mir selbst versprochen, täglich entweder im Meer zu schwimmen oder mir einen Spaziergang dort zu gönnen oder wenigstens einen ruhigen Ausblick darauf zu genießen – wie eben in solchen Momenten am Morgen bei Markus!

Etwa fünfzehn Minuten später tuckert Fritz auf seinem Boot vorbei, wenn er pünktlich wie immer zum Fischen aufbricht, und das ist dann mein tägliches Startsignal. Es waren ruhige, entspannte Morgen gewesen bei Markus. Aber ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass dieser seltsam traurige Mann in meiner Pension mir ab und zu durch die Gedanken geflattert ist. Mit Markus habe ich darüber natürlich nicht gesprochen, ihm passt es ja sowieso nicht, dass ich mich so viel mit den anderen beschäftige. Doch egal, was ich mache: Paul Schumann geht mir einfach nicht aus dem Kopf.

So plätschern die Tage dahin, und ich tue das, was ich immer tue. Bis ich eines Abends mal doch wieder in meiner kleinen Wohnung übernachte. Markus hatte angekündigt, dass er lange arbeiten müsse – und so wohl ich mich manchmal auch in seinem Haus fühle, alleine bin ich dort äußerst ungern. Ich fühle mich immer ein wenig wie ein Gast und eben nicht richtig zuhause. Es sind eben nicht meine Möbel, meine Bilder und meine Deko (was auch daran liegt, dass Markus und ich uns selten auf etwas einigen können, wenn es um Einrichtungsgegenstände geht. Denn ich mag es romantisch-verspielt und gerne auch mal bunt, er liebt skandinavische Möbel, an denen keine Ecke zu viel ist).

Also sitze ich abends in meiner Wohnung, schaue die Tagesschau und blättere nebenbei in einer Zeitschrift, als ich plötzlich von nebenan Musik höre. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass die Klaviermusik aus Pauls Zimmer kommen muss und nicht von den Fernsehnachrichten. Aufmerksam geworden, schalte ich den Fernseher aus, hocke mich an die Wand, die zwischen meinem Wohnzimmer und seiner Kammer liegt, und spitze die Ohren. Es handelt sich um ein trauriges Klavierstück, sehr klassisch ohne irgendwelchen Schnickschnack, das der Mann rauf und runter hört. Ich lausche den Tönen eine ganze Weile, bis ich mir endlich ein Herz fasse und meine Wohnung verlasse, um an seine Zimmertür zu klopfen.

Paul öffnet erst nach einer Weile und ohne die Musik im Hintergrund zu stoppen. Er schaut mich aus geröteten Augen, die hinter einer kleinen runden Brille stecken, fragend an, und sofort bereue ich es, überhaupt rübergekommen zu sein. Was denkst du dir dabei, Linda?, frage ich mich in Gedanken streng selbst. Lass doch den armen Mann bloß in Ruhe. Warum willst du immer die Welt retten? Aber nun gibt es kein Zurück mehr, deshalb lächle ich Paul schief an. »Entschuldige die Störung, aber meine Wohnung ist ja nebenan, und ich habe die Klaviermusik gehört …«

»Ist sie zu laut?«, fragt er schnell, während er sich mit einer fahrigen Bewegung eine Locke aus dem Gesicht streicht, die daraufhin noch ein wenig auf seinem Kopf hin und her hüpft.

»Nee, nee, gar nicht«, bemühe ich mich schnell zu sagen, »Es ist nur …«, ich komme ins Stocken und weiß selbst nicht genau warum, »das Klavierstück ist wunderschön, und ich wollte fragen, von wem es ist.«

Über sein Gesicht huscht ein leichtes Lächeln, und in diesem Moment bin ich froh, gekommen zu sein, denn sonst hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass dieser traurige Mann überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zu lächeln.

»Das ist das Ständchen von Schubert«, er blickt verträumt an mir vorbei, »›Leise flehen meine Lieder‹…«

Ich muss zugeben, dass ich nicht so der Klassikfan bin, und insofern sagt mir Schubert natürlich etwas, aber auch nur gerade mal auf die Weise, wie man eben Mozart oder Beethoven kennt. Aus dem Musikunterricht mit Frau Heinz, die immer mit ihrem Zeigestab im Takt auf der Tischplatte mitklopfte und einem mit ihrer Strenge nicht gerade die Liebe zur klassischen Musik vermitteln konnte.

»Ach so«, antworte ich daher unschlüssig und fühle mich augenblicklich etwas dämlich. Ich wünschte, ich könnte etwas Klügeres zu dem Thema sagen und damit das Gespräch weiter am Leben erhalten. So etwas wie: »Ach ja, Schubert! Seine Schaffensperiode der Klavierkonzerte strotzte ja bekanntlich geradezu vor kompositorischer Eleganz.« Aber hätte ich so etwas zu sagen, wüsste ich ja auch, dass die Musik im Hintergrund von Schubert stammt und hätte von Anfang an gar nicht fragen müssen.

Paul und ich stehen uns einen Moment lang schweigend gegenüber, dann nimmt er seine Brille ab und reibt sich über die Augen. Ich nehme das als Wink mit dem Zaunpfahl, dass er müde ist und bestimmt keine Lust darauf hat, mich in die Geheimnisse der klassischen Musik einzuweihen. Mit einer seltsam ungelenken Handbewegung winke ich ihm zu. »Na gut, danke für die Info. Ich gehe dann mal wieder. Einen schönen Abend noch.«