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Was und wer ist die Pflanze? Seit Jahren beschäftigen wir uns mit diesen Fragen. Entstanden ist eine Sammlung von Fragmenten, die nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch persönliche Erfahrungen und Beobachtungen wiedergeben. Das Buch erzählt von Eigenheiten der Pflanzen »jenseits der Blattränder« und ihren Kommunikationskünsten, ebenso von ihren Beziehungsnetzen, die sie mit anderen Lebewesen und uns Menschen knüpfen. So erfahren wir, wie Pflanzen mit Duftstoffen kommunizieren oder dass das Wurzelsystem einer jungen Roggenpflanze fast fünf Kilometer pro Tag wächst und wie es mit Pilzfäden ein dichtes unterirdisches Netz bildet, über das auch Nährstoffe und Informationen ausgetauscht werden. Ein weiteres Fragment berichtet aus der neuesten Forschung: Pflanzen erinnern sich an vergangene Ereignisse - und vererben diese Erinnerungen sogar an ihren Nachwuchs. So können sich Tomaten, die einmal von Raupen attackiert wurden, beim zweiten Mal viel effizienter wehren. Und auch deren Nachkommen sind gegen Fraßfeinde besser gewappnet - sie haben die Erinnerungen an den Raupenangriff von ihren Eltern geerbt. Pflanzen sind also keine passiven und isolierten Objekte. Sie sind Subjekte im großen Beziehungsgeflecht der Natur, in das auch wir eingebunden sind. Da stellt sich die Frage unserer Verantwortung ihnen gegenüber neu.
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Seitenzahl: 186
Die Herausgeberin
Florianne Koechlin, geboren 1948, ist Biologin und befasst sich mit neuen Erkenntnissen zu Pflanzen und anderen Lebewesen (insbesondere mit der Kommunikation von Pflanzen und ihren Beziehungsnetzen), mit zukunftsfähigen Konzepten in der Landwirtschaft und den dazu nötigen Forschungsstrategien (www.blauen-institut.ch). Sie ist Autorin mehrerer Bücher, im Lenos Verlag publizierte sie Zellgeflüster (2005), PflanzenPalaver (2008) und, zusammen mit Denise Battaglia, Mozart und die List der Hirse (2012). Nebenbei betätigt sie sich in der Malerei (www.floriannekoechlin.ch).
Für ihre wertvolle Mitarbeit und ihre Diskussionsbeiträge danken wir Niklaus Bolliger-Flury, Martin Bossard, Bettina Dyttrich, Max Eichenberger, Eva Gelinsky, Roger Kalbermatten, Sabine Keller, Lorenz Kunz, Peter Kunz und Amadeus Zschunke. Liselotte Portmann vom Restaurant Bioland in Olten danken wir für die wunderbare Bewirtung.
Wie dieses Buch zustande kam
I. Wer ist die Pflanze?
Eine Pflanze ist Viele
Die Pflanze ist Standort
Eine Pflanze ist Kommunikation
Kommunikation oder Signalaustausch?
Die Pflanze ist Beziehung
Gefressen werden zum eigenen Vorteil?
Die Pflanze ist ein soziales Wesen
Die Pflanze ist ein Subjekt
Die Pflanze ist Teil des Absoluten – »Subjekt und Objekt sind nur eines«
Die Pflanze ist Umstülpung
Die Pflanze ist potentiell unsterblich
Wir sind mit der Pflanze verwandt
II. Was leistet das Pflanzengenom?
Pflanzengenome beinhalten Ungeahntes
Pflanzen erinnern sich an vergangene Ereignisse
Wissen vom Nichtwissen über Pflanzen
III. Wovon erzählt uns die Pflanze?
Pflanzen begründen unsere Kultur
»Processes of no return«. Über die zugreifende Naturwissenschaft
Wie Landwirte über Pflanzen denken
»Die Reispflanze war meine Lehrerin«
Schlaraffenland
An den Zeichen erkennt man die Pflanze: Signaturenlehre
Züchtung als »Gespräch«
IV. Was macht die Pflanze mit uns und mit anderen Lebewesen?
Die Pflanze speichert Licht und liefert es an Lebewesen
Pflanzen liefern die stoffliche Grundlage für alles terrestrische Leben
Die Pflanze sorgt für die lebensnotwendige Ordnung
microRNA: Neue Kommunikationsebene zwischen Pflanzen und Menschen?
Wie uns Pflanzen ausserdem helfen
Wie Pflanzen in die Sprache hineinwachsen
V. Pflanzen hören?
Vielleicht hören Pflanzen Mozart-Klänge und Klickgeräusche
Das Gras wachsen hören
VI. Wie verführen Pflanzen uns?
Wo die Pflanze zum Menschen wird
Farben, Duft und Geschmack – die sekundären Pflanzenstoffe
Pflanzen bezirzen den Stadtmenschen – nicht nur in Basel
Schönheit der Pflanzen
Ehrenpreis fürs Lungenkraut
Pflanzen als Kunstpartner
Pflanzen verstehen bedeutet Gegenseitigkeit
VII. Was fliesst dazwischen?
Die Pflanze ist Zwischenraum
Gefangen in einer Weltsicht
Wie Pflanzen uns Menschen domestizieren
Das sich wandelnde Kleid der Mutter Erde
Eine Nutzpflanze wird Unkraut und wieder Nutzpflanze
Unlösbare Verflechtungen von Mensch und Pflanze
VIII. Und unsere Verantwortung?
Gedanken zur Grundlage für die Würde auch der Pflanze
Wege zur Würde
Etwas über Verantwortung für und Nutzung von Pflanzen
Zuspruch der Würde als Regelung der eigenen Praxis
Würde der Pflanze als Grenzbegriff mit ethischen Konsequenzen
Rechte für Pflanzen
Epilog: Grundregeln der Ethik für Pflanzen
Anhang
Pflanzen neu entdecken – Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen
Züchtung als »Gespräch«. Rheinauer Thesen zur Ökologischen Pflanzenzüchtung
Anmerkungen
Literatur
Autorinnen und Autoren
Bildnachweis
Was und wer ist die Pflanze? Diese Frage war wegleitend für das vorliegende Buch. Darin geht es um die erstaunlichen Eigenheiten und Fähigkeiten von Pflanzen, darum, wie sie kommunizieren und Beziehungsnetze aufbauen, die sie mit ihrer Umgebung und mit uns verbinden.
Pflanzen gelten vielen Naturwissenschaftlern immer noch als eine Art Bioautomaten mit vorprogrammierten Reflexen. Doch in letzter Zeit wurde so viel entdeckt, dass solche Erklärungsmuster nicht mehr genügen. Eine Pflanze ist mehr. Vieles wissen wir nicht. Der Umgang mit Nichtwissen ist schwierig. Was aber die neuen Erkenntnisse zeigen: Es braucht ein anderes Herangehen an die Pflanze. Bisherige Vorstellungen über sie müssen korrigiert, die neuen Bilder über die Pflanze in unser Denken und in unseren Umgang mit ihr integriert werden. So kann Jenseits der Blattränder auch als Streitschrift wider mechanistische Denkmuster gelesen werden.
Seit über acht Jahren denken wir über das Wesen der Pflanze und ihre Rechte nach. Aus dieser Arbeit entstanden die Rheinauer Thesen I zu Rechten von Pflanzen. Sie wurden am 6. September 2008 am zweiten Fest der Vielfalt und der Sinne »1001 Gemüse & Co.« in Rheinau präsentiert. Im Juni 2011 folgten die Rheinauer Thesen II zur Ökologischen Pflanzenzüchtung. Nun legen wir die Fortsetzung vor.
Bei den Rheinauer Thesen I hatten wir in einem ersten Schritt versucht, uns vorsichtig und von verschiedenen Seiten her der Pflanze anzunähern. Daraus leiteten wir Rechte ab (siehe S. 195–203). Die Rheinauer Thesen II erschienen unter dem Titel Züchtung als »Gespräch«. Rheinauer Thesen zur Ökologischen Pflanzenzüchtung. Sie waren ein Plädoyer für eine Züchtung auf dem Feld, »im Gespräch« mit der Pflanze, denn Züchtung findet heute vorwiegend im Labor statt. Die Rheinauer Thesen II entwickelten sich zu einem Leitbild, das zu einer Art »Verfassung« für das Projekt zur Züchtung von Biosaatgut der Bio Suisse wurde (siehe S. 204–210).
Jenseits der Blattränder ist kein Thesenpapier mehr; es heisst darum auch nicht »Rheinauer Thesen III«. Das Buch besteht aus Fragmenten, es ist kein in sich geschlossenes Werk. Das war von Anfang an so gewollt. Fragmente sind Bruchstücke, Gedankensplitter und tastende Annäherungen. Sie sollen »nur« Ahnungen vermitteln, den Raum öffnen für das grosse Ganze. Unsere Fragmente sind unvollständig, notgedrungen. Sie geben nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch Erfahrungen und Intuitionen wieder. Wir haben den Blick auf das gerichtet, was zwischen den Pflanzen und ihren Partnern passiert. Wir haben insbesondere auch der Wirkung von Pflanzen auf den Menschen nachgespürt – wie sie uns in Form von Lebensmitteln, in der Landwirtschaft oder in der Ästhetik beeinflussen.
Wir wollten Grenzen ausloten, die wir selbst noch nicht kennen, an Orte gelangen, an denen wir mit den Rheinauer Thesen I und II noch nicht waren. Am Schluss hatten wir mehr Fragen als Antworten.
Die Beiträge wurden von den einzelnen Autorinnen und Autoren entworfen und dann in der ganzen Gruppe diskutiert. Alle Texte tragen deshalb eine persönliche Handschrift, zeigen einen jeweils eigenen Schreibstil. Es sind aber die Gruppendiskussionen, die das Wesentliche dieses Buches ausmachen. Sie inspirierten uns zu immer neuen Exkursen und zu immer neuen Verknüpfungen. Darum werden neben den Autorinnen und Autoren auch jene aufgeführt, die mitdiskutierten und uns dabei oft zu neuen Horizonten führten.
Unsere langen und intensiven Diskussionen machten auch deutlich, dass wir uns nicht immer einig darüber waren, wer die Pflanze ist. Wir merkten, dass wir die Pflanze in einigen Bereichen unterschiedlich betrachten und wahrnehmen. Diese Erfahrungen sind geprägt von persönlichen Hintergründen und Wertvorstellungen. Es gab zum Beispiel Diskussionen darüber, ob Formulierungen wie die folgende die Pflanzen vermenschlichen: »Wir stünden schliesslich vor einem Seienden, das nicht fordert, sondern duldet; das nicht von Eigensucht und Abgrenzung bestimmt lebt, sondern aus der Lust des Sichverströmens, gelenkt und gezogen von der Neigung zum Zusammenwirken. (…)« (S. 44f.). Diese Auffassung konnten einige unter uns nicht nachvollziehen. Andere hingegen machten dieselben Einwände gegen die Formulierung: »Pflanzen (…) haben Freunde und Feinde, bilden Allianzen, sie betreiben ›Vetternwirtschaft‹ (…) und verhalten sich abwehrend gegenüber Fremden. (…)« (S. 39). Wir lassen die Differenzen stehen. Sie ermöglichen verschiedene Zugänge zu den Pflanzen, machen verschiedene Türen auf.
Aus dem Ganzen ergeben sich Konsequenzen: Wenn Pflanzen mehr sind als blosse Objekte, wenn sie als vernetzte Subjekte eines grossen Beziehungsgeflechts, von dem auch wir Teil sind, angesehen und erfahren werden, dann stellt sich auch die Frage unserer Beziehungen zu ihnen neu. Welches ist unsere Verantwortung ihnen gegenüber?
Neue Erkenntnisse öffnen auch neue Strategien für eine Landwirtschaft von morgen. Und für einen sorgfältigeren (und bewussteren) Umgang mit Lebensmitteln.
Florianne Koechlin,März 2014
Florianne Koechlin
Pflanzen sind keine Kreaturen, die allein »dahinvegetieren«. Ganz im Gegenteil. Doch wie sehr sind sie von anderen Lebewesen abhängig? Welche Kooperationen gehen sie zum Beispiel mit Kleinstlebewesen ein?
In ihrem Wurzelstock kreieren Pflanzen eine nährstoffreiche Oase. Sie schwitzen eine Vielzahl von Nährstoffen aus: Zuckerverbindungen, Aminosäuren, organische Säuren, Enzyme, verschiedene Botenstoffe. Damit ernähren sie unzählige, verschiedenartige Lebewesen: Pilze, Bakterien oder Viren. Im Austausch helfen diese der Pflanze, Stickstoff und andere Nährstoffe aus dem Boden zu gewinnen, und schützen sie zudem vor Hitze, Dürre und Krankheitserregern. Die Pflanzen lassen sich die Kooperation mit den Bodenlebewesen etwas kosten: Es gibt unter ihnen solche, die bis zu siebzig Prozent aller selbstproduzierten Zuckerverbindungen an die Mitbewohner im Boden abgeben. Weizen und Gerste investieren zwanzig bis dreissig Prozent in das unterirdische Netzwerk. Man kann also sagen, dass Pflanzen diese Kleinstlebewesen im Wurzelbereich regelrecht füttern.
Wie wichtig dieses Zusammenleben tatsächlich ist, zeigen Versuche von Russell J. Rodriguez1 und seinem Team von der University of Washington in Seattle. Die Forscher untersuchten ein seltenes Gras (Dichanthelium lanuginosum), das bei siebzig Grad Celsius in den heissen Quellen des Yellowstone-Nationalparks wächst. Sie entfernten die Pilze, die im Innern des Grases leben. Das erstaunliche Resultat: Ohne diese Pilze ertrug das Gras die Hitze nicht mehr, es starb sofort ab. Dann isolierten die Forscher die Sporen des Pilzes und sprühten sie auf Weizensamen – Weizen wächst normalerweise nur bis achtunddreissig Grad Celsius. Mit den Pilzsporen gediehen die Weizenpflanzen sogar bei siebzig Grad und verbrauchten nur noch halb so viel Wasser.
Andere Kleinstlebewesen im Boden helfen Pflanzen, salzhaltige Böden zu ertragen. Werden Pilze aus dem Wurzelbereich des salzliebenden Dünengrases Leymus mollis auf Reispflanzen gesprüht, können diese ebenfalls auf salzhaltigen Böden gedeihen. Sie werden sogar fünfmal so gross und brauchen halb so viel Wasser wie normale Reispflanzen. Auch Dürre oder Kälte überleben Pflanzen meistens nur dank der Hilfe ihrer Mitbewohner unter der Erde.2, 3, 4
Viel wissen wir noch nicht über diese unsichtbaren, hochdynamischen Netzsysteme im Wurzelbereich. So sind überhaupt erst zwei Prozent aller Bodenmikroorganismen bekannt. Wie diese erstaunliche Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Pflanzen funktioniert, verstehen wir erst in Ansätzen, der Wurzelbereich ist Terra incognita. »Über die Bewegung himmlischer Körper wissen wir mehr als über den Boden unter unseren Füssen«, schrieb Leonardo da Vinci vor rund 500 Jahren. Das hat sich seither kaum geändert.
Eine Pflanze besteht aus einer Gemeinschaft mit Abermillionen Pilzen, Bakterien, Viren und anderen Lebewesen im Wurzelbereich. Die Pflanze ist ein grosses, engvernetztes Ganzes. Man könnte sagen: Eine Pflanze ist Innenraum und Aussenraum. Eine Pflanze ist Viele.
Martin Ott
Pflanzen, Menschen und Tiere haben Gemeinsamkeiten, mit der neuen Forschung kommen immer mehr zum Vorschein. Und doch gibt es fundamentale Unterschiede. Einer davon ist die innige Verbindung der Pflanze mit ihrem Standort, ein anderer die Omnipotenz der einzelnen Zellen. Wir sehen da einen Zusammenhang.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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