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Michael Warren kann sich an das wichtigste Ereignis seines Lebens nicht erinnern: Im Alter von drei Jahren verschluckt er ein Hustenbonbon – und droht daran zu ersticken. Zehn Minuten soll er, so heißt es, nicht geatmet haben, und während dieser zehn Minuten wird Michael hinfortgerissen in eine andere Welt, wo er als Ehrenmitglied der ›Bande der Todtoten‹ zahlreiche fröhliche wie furchterregende Abenteuer erlebt. Dabei erfährt er am eigenen Leibe, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, von Leben und Tod kaum an der Oberfläche der Realität kratzen: Unsere Wirklichkeit ist nur die unterste Ebene eines mehrstöckigen Weltengebäudes, das von ganz anderen Gesetzen beherrscht wird als jenen, die wir für unumstößlich halten. Und zwischen diesen höheren Gefilden und Michaels Zuhause in den Boroughs von Northampton besteht eine geheimnisvolle Wechselwirkung ... Mit Jerusalem hat Alan Moore ein verstörendes, berauschendes Romanepos über die Tragik und das Glück des menschlichen Daseins verfasst, ein Monument, das in seiner brillanten Vielfalt von tiefschürfender Gesellschaftskritik bis zu extravaganter Phantastik alle Register zieht.
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Seitenzahl: 3101
»Die Vorstellungskraft, die Alan Moore hier zur Schau stellt, und die zahllosen Freuden und Überraschungen, die er uns bereitet, machen Jerusalem zu einer gewaltigen literarischen Errungenschaft für unsere Zeit – und vielleicht für alle Zeiten.«
Andrew Erwin, THE WASHINGTON POST
»Diese Textexplosion ist, wie eine Bombe, die in der Form eines Romans hochgeht, eine überwältigende Erfahrung. Am Schluss haben wir eine Vision des Universums erblickt, jenen Büchern nicht unähnlich, die – nach einiger Zeit und auf ihre Weise – zu Heiligen Büchern werden.«
Joe. M. MacDermott, TOR.COM
»Jerusalem lässt sich nur aushalten, wenn man sich seinen Exzessen hingibt – seiner Getriebenheit, sämtliche Herausforderer hinsichtlich Üppigkeit der Sprache und Weite des Blickfelds zu übertreffen – und anerkennt, dass der Roman wirklich so genial ist, wie es den Anschein erweckt.«
Douglas Wolk, THE NEW YORK TIMES BOOK REVIEW
»Eine Kosmologie der Arbeiterklasse, in der Götter und Engel keine Könige und keine vornehmen Herren sind, sondern fleißige Leute – sie bauen und basteln das Universum, spielen Billard und machen sich überhaupt die Hände schmutzig.«
Ben Graham, THE QUIETUS
»›Der Armut fehlt der Spannungsbogen‹, sagt eine Figur etwa nach zwei Dritteln von Jerusalem. In dieser Erzählung über bescheidene Lebensumstände vor einem epischen Hintergrund widerlegt Moore das auf seine eigene humanistische Weise.«
Tobias Carroll, ELECTRIC LITERATURE
»Jerusalem schwingt sich, auf den Flügeln der psychedelischen Einbildungskraft seines Autors, weit hinauf. Alan Moore brennt leidenschaftlich für seine Figuren, für seine Stadt und für das ganze monströse Unterfangen des menschlichen Daseins – und das ist äußerst mitreißend.«
Darren Franich, ENTERTAINMENT WEEKLY
Aus dem Englischen übersetzt von
Hannes Riffel & Andreas Fliedner
in Zusammenarbeit mit
Alex »molosovsky« Müller & Ralf Gnosa
Impressum
Titel der Originalausgabe: Jerusalem
Erstmals erschienen 2016 bei Knockabout in London
sowie bei Liveright (W. W. Norton) in New York
Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text
wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert
© 2016 by Alan Moore
Published by permission from Knockabout, London, UK
© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge
Alle Rechte vorbehalten
Die Lizenzrechte wurden freundlichst vermittelt von der Agence Littéraire Lora Fountain & Associates in Paris // Die Gedichte auf Seite 1280, 1281 und 1284 übersetzte dankenswerterweise Michael Siefener, desgleichen das Gedicht von H. P. Lovecraft auf Seite 425 [aus: Saat von den Sternen |Fungi from Yoggoth (Bellheim: Edition Phantasia, 1999), S. 102; wiederabgedruckt in Gesammelte Werke 13: Gedichte und Theaterstücke (Bellheim: Edition Phantasia, 2011), S. 315] // Das Lied auf Seite 1051/52 übersetzte Franz-Josef Knelangen // Ein besonderer Dank geht an Alexander W. Müller für fortwährendes Nüsseknacken und für unermüdlichen Beistand in vielen schwierigen Situationen // An Lisa Kuppler für ihre Begeisterung und ihren Sachverstand // An Hardy Kettlitz, den Fels in der Brandung // Und an Sünje Redies, ohne die das alles nicht möglich wäre
Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von
Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin
www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu
Recherche & Redaktion: Alexander W. Müller
Lektorat: Lisa Kuppler
Korrektorat: Franz-Josef Knelangen & Ralf Neukirchen
Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-948616-20-9 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-948616-21-6 (E-Book)
Für meine Familie, für die Einwohner der Boroughs und für Audrey Vernon, die beste Schifferklavierspielerin, die je in unseren verrückten Gassen gespielt hat.
Inhalt
VORSPIEL
Work in Progress
ERSTES BUCH – DIE BOROUGHS
Himmlische Winkelzüge
Unterbundenes Verlangen
Daseinslose
Hier, an diesem Ort
Moderne Zeiten
Blind war ich und bin nun sehend
Atlantis
Nach Lust und Laune
Der Wind, der an ihrer Schürze zupft
Höret den frohen Klang!
Nahtodbonbons
ZWEITESBUCH – MENSCHENSEELE
Im Obergeschoss
Asmodäische Fluchten
Kaninchen
Der Scharlachbrunnen
Flächenland
Geistige Kämpfe
Schlaflose Schwerter
Bösartige, aufsässige Geister
Die Bäume müssen das nicht wissen
Verbotene Welten
Der Destruktor
DRITTES BUCH –VERNALLS UNTERSUCHUNG
Wolken falten sich auf
Ein kalter, frostiger Morgen
Neben der Spur
Brennendes Gold
Die Sparren und die Balken
Die Stufen von All Saints
Blumen essen
In die Ecke getrieben
Das Kreuz in der Mauer
Jolly Smokers
Sehet doch nach dieser Verfluchten …
NACHSPIEL
Amtskette
Danksagungen
Nach einer »wahren Geschichte«
VORSPIEL
Work in Progress
ALMA WARREN, fünf Jahre alt, vermutete, dass sie einkaufen gewesen waren, sie, ihr Bruder Michael in seinem Kinderwagen und ihre Mama Doreen. Im Woolworth vielleicht. Nicht in dem an der Gold Street, nicht im unteren, sondern im oberen Woolworth ein Stück die von Läden erleuchtete Abington Street hoch, dem mit der minzgrün gefliesten Milchbar und mit der Waage, die neben der Holztreppe an der Rückseite des Gebäudes stand, das riesige Ziffernblatt in beruhigendes Magnetrot eingefasst.
Das stämmige kleine Mädchen, das so kompakt wirkte, als käme es aus einer Druckgussform, hatte keine Erinnerung daran, dort die schweren Schwingtüren aus schmierigen Messing und Glas aufgehalten zu haben, damit Doreen den Kinderwagen in das samtene Gewimmel der draußen flimmernden Hauptstraße bugsieren konnte. Angestrengt versuchte Alma, sich irgendeinen Orientierungspunkt entlang der altbekannten Route ins Gedächtnis zu rufen, vielleicht die Leuchtreklame, die von dem Regenbekleidungsgeschäft Kendall’s an der Ecke Fish Street hinausragte und deren marschierendes K sich verwegen gegen den stürmischen Wind stemmte, den mit ein paar Lichtstrichen gezeichneten Regenschirm aufgespannt und irgendwie vom handlosen, ausgestreckten Arm des Buchstabens gehalten, aber ihr wollte nichts einfallen. Ehrlicherweise konnte sich Alma im Rückblick überhaupt nicht mehr an ihre Einkaufsexpedition erinnern. Alles vor dem laternenerleuchteten Stück Gehweg, auf dem sie sich jetzt wiederfand; alles vor dem Quietschen von Michaels Kinderwagen und dem rhythmischen Klappern der Absätze ihrer Mutter lag in einem rätselhaften Nebel.
Das Kinn gegen die durchdringende Kälte der Abenddämmerung in den zugeknöpften Kragen ihres Regenmantels geschoben, betrachtete Alma eingehend die glitzernden Steinplatten, die in stetiger Folge unter dem hypnotisierenden Vor und Zurück ihrer abgerundeten Schnallenschuhe hindurchglitten. Die wahrscheinlichste Erklärung für die Lücke in ihrem Gedächtnis schien ihr schlichte Geistesabwesenheit. Vermutlich hatte sie während des ganzen langweiligen Ausflugs getagträumt und dabei lauter vertraute Dinge gesehen, ihnen jedoch keine Aufmerksamkeit geschenkt, versunken in den trägen Strom ihrer Gedanken, in die Phantasien und Ungereimtheiten, die zwischen ihren herabbaumelnden Zöpfen dahintrieben, unter ihren Schmetterlingsspangen, die verwaschen rosa waren und brüchig wie Karbolseife. Es passierte ihr fast täglich, dass sie aus einer Trance erwachte, aus ihrem Kokon aus Plänen und Erinnerungen auftauchte und auf einmal zwei oder drei Häuserreihen weiter war als beim letzten Hinsehen. Dass sie keinerlei Einzelheiten des gegenwärtigen Einkaufsbummels behalten hatte, war deshalb kein Grund zur Sorge.
Am ehesten, dachte sie, waren sie wohl in der Abington Street gewesen, und das würde auch erklären, warum sie jetzt am unteren Rand des menschenleeren Market Square auf die Gasse neben Osborn’s zuhielten. Von dort aus würden sie die Drapery hinaufstapfen und Michael an dem nach Meer riechenden Backsteinblock des Fischmarktes mit seinen hohen, staubverschleierten Fenstern vorbeischieben, dann die Silver Street runter, über die Mayorhold und hinein in die schmalen Passagen der Boroughs, in deren wankem Wirrwarr sie zu Hause waren.
Alma fand diese Vorstellung beruhigend, doch sie hatte noch immer das dumpfe Gefühl, dass an ihrer Erklärung irgendetwas nicht stimmte. Wenn sie Woolworth’s gerade erst verlassen hatten, konnte es nicht viel später sein als fünf Uhr, und alle Läden im Zentrum müssten noch geöffnet sein. Aber warum brannten dann entlang des Marktes keine Lichter? Kein blassgrüner Glanz kroch am oberen Rand des abschüssigen Platzes aus dem geschlossenen Schlund der Emporium Arcade, und auch die Fenster von Lipton’s an seiner Westseite waren verdunkelt, ohne ihre gewohnte käserindenfarbene Wärme. Sollten nicht im Übrigen die Markthändler noch immer ihre Waren zusammenpacken, ihre Verkaufsstände für heute schließen, während sie fröhlich lauthals miteinander redeten und durch verdorbene Früchte und Seidenpapier wateten, Tapeziertische zusammenklappten und mit hufschlagendem Klirren und Klappern in die klobigen, stotternden Laster luden, die aussahen wie Krankenwagen und deren blecherne Aufbauten bei jedem neuen Armvoll hallten wie ein Gong?
Aber die weite Fläche war verwaist, und ihr zugiges Gefälle verlor sich nach oben hin in leere Finsternis. Auf der Gänsehaut des nassen Pflasters erhoben sich nur schiefe Pfosten zur Unterteilung der abwesenden Buden, durchweichte Balken, die wie an einem Ende zerkaute Bleistifte aus viereckigen, von Rost gesäumten Löchern zwischen den buckligen Steinen ragten. Eine zerfledderte Markise war zurückgeblieben, offenbar zu armselig, um sie zu stehlen, und das nasse Flattern ihres einsamen Flügels war wiederholt über dem leisen, schläfrigen Murmeln des Windes zu hören; das Geräusch wurde von den hohen Gebäuden, die den Platz umstanden, wie Peitschenknallen zurückgeworfen. In der Mitte dräute, schwarz vor rußgrau, das eiserne Marktdenkmal im schmutzigen Waschwasser der Nacht; die verschnörkelte viktorianische Säule erblühte zu einem ausgekehlten, von einem Kupferglobus gekrönten Kapitell, einer prähistorischen Monsterblume ähnlich, einsam und versteinert. Um den gestuften Sockel herum wuchsen, wie Alma wusste, hartnäckig und heimlich in Ritzen und Rissen kleine smaragdgrüne Grasbüschel – außer ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihr vielleicht das einzig Lebendige an jenem Abend auf dem Platz, wenngleich für sie unsichtbar.
Wo waren all die anderen Mütter, die ihre Kinder durch die einladend leuchtenden Inseln vor den Schaufenstern nach Hause zum Tee schleiften? Wo waren die müden, unglücklich dreinblickenden Männer, die gebückt und allein aus den Fabriken zurückkehrten, eine Hand in der schäbigen Tasche ihrer marineblauen Hose und den ausgefransten Gurt eines geschulterten Beutels in der anderen? Über den Schieferdächern der umliegenden Häuser lag keine perlmuttfarbene Aura, die in den schwarzen Himmel aufschien, keine weißen elektrischen Strahlen zitterten aus der stromlinienförmigen Fassade des Gaumont – als sei Northampton plötzlich ausgeschaltet worden, als wäre es mitten in der Nacht. Aber wenn es so spät war, was taten sie dann im Stadtzentrum, wo alle Läden geschlossen hatten und die länglichen Glasaugen ihrer verriegelten Türen unfreundlich und abweisend geworden waren, dich mit leerem Blick anstarrten, als kennten sie dich nicht, als wollten sie dich nicht hier haben?
Während Alma neben ihrer Mutter hertrottete, eine heiße Hand auf dem kühlen Metallgriff des Kinderwagens, leicht widerspenstig, sodass Doreen sie hinter sich herziehen musste, wuchsen ihre Sorgen. Wenn die Dinge nicht mehr so abliefen, wie sie sollten, bedeutete das nicht, dass dann alles passieren konnte? Alma blickte hoch zu dem schalumwickelten Profil ihrer Mutter, konnte jedoch weder im weichen, gescheiten Blick ihrer blauen Augen, der auf das Pflaster vor ihnen gerichtet war, noch in ihrem kleinen, zu einem geduldigen Strich verschlossenen Rosenmund ein Anzeichen von Besorgnis entdecken. Wenn es irgendeinen Grund gäbe, sich zu fürchten, wenn sie in Gefahr wären, dann wüsste Mama das doch bestimmt? Aber was, wenn da etwas Grässliches umging, ein Gespenst oder ein Bär oder Mörder, und ihre Mutter ahnte nichts davon? Was, wenn es sie einholte? Alma kaute auf ihrer Unterlippe und versuchte erneut, sich zu erinnern, wo sie drei vor diesem geisterhaften kopfsteingepflasterten Platz gewesen waren.
Da bemerkte das stämmige Kind erleichtert, dass in den Schattentümpeln nicht weit vor ihnen an der unteren Flanke des Marktes wenigstens ein Licht in der ansonsten offenbar menschenleeren Düsternis brannte, ein Rechteck so hell wie Elfenbein, das aus dem großen Vorderfenster des Zeitungsladens an der Ecke Drum Lane in schiefem Winkel auf die ausgetretenen, vergilbten Steinplatten fiel. Als hätte sie die wachsende Besorgnis ihrer Tochter belauscht, sah Almas Mutter jetzt zu ihr hinunter, lächelte und wies mit einem Nicken auf die Ladenfront, die kaum mehr als drei Kinderwagenlängen entfernt war. »Na also. Da is’ mal ’n Laden, der nich’ zu is’, was?«
Alma nickte ebenso erfreut wie beruhigt, während Michael in seinem knarrenden Kinderwagen zustimmend gegen das Trittbrett trat. Sein goldener Lockenkopf, der ihn wie Bubbles auf dem bekannten Gemälde aussehen ließ, hüpfte dabei auf und ab. Als sie sich auf der Höhe des Zeitungsladens befanden, spähte das kleine Mädchen durch die große, saubere Fensterscheibe hinein in den blendend hellen, leergeräumten Innenraum, wo offenbar gearbeitet wurde – Zimmerleute, die in den Nachtstunden Renovierungen durchführten, zweifelsohne um während der normalen Öffnungszeiten nicht den Geschäftsbetrieb zu stören. Vier oder fünf Männer hantierten dort, über Sägeböcke gebeugt, auf den blanken, neu aussehenden Holzdielen, hämmerten und hobelten unter einer schirmlosen Glühbirne, und das Mädchen bemerkte, dass ihre Füße im Staub nackt waren und sich Hobelspäne wie Butterflocken um sie herum aufhäuften. Hatten sie denn keine Angst vor Splittern? Alle trugen sie einfache weiße Kittel, die ihnen bis zu den Knöcheln reichten. Alle hatten kurzgeschnittene Fingernägel und glatte Haut, die strahlend sauber war, als kämen sie gerade von einem anständigen Sitzbad. Auf ihren feuchten Schultern klebte noch Lavendelpuder, bildete Krusten, die wie ganze Kontinente geformt waren. Sie alle wirkten ernst und stark, aber nicht unfreundlich, und den meisten hingen die Haare bis auf die Kragen der frisch gewaschenen Kittel hinunter, die Köpfe über ihre kraftvolle, kratzende Plackerei gebeugt.
Ein Mann aus dem Trupp stand etwas abseits von seinen vier Kollegen und schaute ihnen aufmerksam bei der Arbeit zu. Alma vermutete, dass er das Sagen hatte. Sie bemerkte, dass sein Gewand, im Unterschied zu denen der anderen Männer, in eine Kapuze überging, sodass von seinem Gesicht oberhalb der Nase nichts zu sehen war. Sein Haar war bedeckt, aber aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass es dunkel war und kürzer als das seiner Kollegen, der Nacken unter den Falten seiner taubengrauen Kapuze ausrasiert. Wie die anderen auch, war er bartlos und hatte männlich-markante Gesichtszüge, jedenfalls soweit sie das unter dem tiefschwarzen Schatten, der seine Augenhöhlen ausfüllte und seine Augen hinter der Maske eines ehrenwerten Einbrechers verbarg, erkennen konnte. Anscheinend spürte er die Aufmerksamkeit des Kindes durch das Fenster, denn er drehte sich um und lächelte in ihre Richtung, wobei er zu einer flüchtigen Begrüßung eine Hand hob, und irgendwo in Alma geriet etwas, erstaunt und ungläubig, ins Taumeln – ihr wurde klar, wer der Mann sein musste.
Das gemessene Quietschen des Kinderwagens und die hallenden Zündplättchenexplosionen der Absätze ihrer Mutter wurden langsamer und erstarben, als Doreen stehenblieb und durch das erleuchtete Fenster zu den nächtlichen Handwerkern und ihrem Vorarbeiter mit der Kapuze hineinstarrte.
»Na, da fress mir doch einer ’nen Besen. Schaut mal, ihr zwei, das is’ der Frit Burr und seine Angeln.«
Alma vermutete, dass ›Angeln‹ wahrscheinlich ein Ausdruck aus den Boroughs für Zimmerer oder Schreiner war, aber der andere Begriff war ihr fremd, und mit fragend gerunzelter Stirn erwiderte sie Doreens leicht spöttischen Blick – offenbar dachte ihre Mutter, Alma sei nur begriffsstutzig und hätte in ihrem Alter wissen müssen, was ein ›Frit Burr‹ war.
Doreen gab ein leises »Tststs« von sich. »Na, du bist mir so eine. Das is’ der Frith Borh. Der Dritte Borough. Dauernd erzähl ich von dem, und du glotzt mich an, als hättst du nich’ die geringste Ahnung.«
Alma hatte schon vom Dritten Borough gehört, oder zumindest schien es ihr so. Die Worte waren ihr seltsam vertraut, und sie wusste, dass derjenige, den sie in dem Moment, als der Kapuzenmann die Hand hob, in ihm erkannt hatte, so bezeichnet wurde, wenn die Leute seinen anderen Namen nicht aussprechen wollten. ›Dritter Borough‹ bedeutete, wenn sie es richtig verstanden hatte, so etwas wie ein Zinseintreiber oder Polizist, nur viel netter und hochgeachtet, großartiger noch als der Rote Graf, Graf Spencer, den sie einmal auf einem Kneipenschild gesehen hatte. Ihr Blick schweifte von ihrer Mutter zurück zu der Szenerie des teilweise umgebauten Zeitschriftenladens, die Gestalten in einer Flut von Helligkeit konzentriert am Werk, das Geschäft mit seiner Glasfront wie ein Aquarium, in dem die Männer im – warmen, phosphoreszierenden – Wasser arbeiteten. Der Mann mit der Kapuze, der Dritte Borough, lächelte noch immer Doreen und die Kinder an, aber jetzt winkte er nicht mehr bloß, sondern bedeutete ihnen mit einer einladenden Handbewegung hereinzukommen.
Auf dem Bürgersteig, der an den stillen, verlassenen Marktplatz grenzte, drehte Mama den Kinderwagen knirschend in einem engen Viertelkreis und bugsierte Michael auf die Rampe, die, mit einem Mosaik aus schmutzig-beigen und türkisfarbenen Steinchen ausgelegt, von der glitschigen Straße zu dem Türrahmen führte. Alma hatte ihre pummelige Hand noch immer um den Griff des Kinderwagens geballt und wurde von ihrer Mutter hinter sich hergezogen. Sie zögerte noch, ob sie mitkommen sollte. Sie hatte irgendwo gehört oder den Eindruck bekommen, dass einem eine solche Audienz nur gewährt wurde, wenn man tot war, und Totsein war ein Zustand, von dem sie noch keine rechte Vorstellung hatte, aber sie wusste, dass er ihr nicht gefallen würde. Einer der Männer mit den fließenden Locken – sein Haar so hell, dass es weiß war – legte jetzt seine Handsäge weg und kam zur Tür, um sie ihnen aufzuhalten. Dabei zeigten sich freundliche Fältchen in seinen Augenwinkeln. Almas Mutter spürte den Widerwillen des Mädchens, drehte sich um und redete ihr aufmunternd zu.
»Himmel, was ’n albernes Kindchen, unsre Alma. Der tut dir nichts, und so oft trifft der keine Leute. Geh rein und sag Hallo, sonst meint er, wir sind unhöflich.«
Mit ihrem vorgebeugten Kopf und dem braunen, von Lockenwicklern gewellten Haar, das unter dem dunkelgrauen Kopftuch verborgen war, mit den Falten ihres Wintermantels, die wie eine Bugwelle über ihren vollen Busen fielen, hatte Doreen in ihrem Auftreten etwas, das Alma an Tauben denken ließ und an den unbekümmerten Gleichmut dieser Vögel, an ihre wie mit Wasserfarben gesprenkelten Hälse, ihre rhythmischen Gurrlaute. Sie erinnerte sich an einen Traum, in dem sie mit ihrer Mutter im Wohnzimmer an der Andrew’s Road gesessen hatte, unten an der Westgrenze der Boroughs. In dem Traum bügelte Doreen, während ihre Tochter auf einem Sessel kniete, geistesabwesend an der fadenscheinigen Polsterung der Rückenlehne nuckelte und durch das rückwärtige Fenster ins Zwielicht starrte. Über der Mauer des Hauses nebenan ragte der leerstehende Stall auf, mit schwarzen Löchern im Dach, wo Schindeln fehlten, was wie ausgestrichene Stellen in Schriftstücken aussah. Durch diese starteten und landeten, kaum sichtbar, die flimmernden Umrisse von Tauben, zeichneten sich wie blasse Rauchwirbel vor der Dunkelheit der Anhöhe dahinter ab, wo die Schule war. Mama, die vor ihrem Bügelbrett stand, wandte sich zu Alma um und erklärte in feierlichem Tonfall, was es mit den nistenden Vögeln auf sich hatte.
»Die sind da, wo die Toten hingehn.«
Das Kind war erwacht, bevor es fragen konnte, ob also alle Tauben Geister von Menschen wären, ob die Toten in sie hineingeschlüpft oder zu ihnen geworden wären, oder ob sie irgendwie im Himmel existierten, wohin die Toten gingen, und gleichzeitig oben zwischen den Dachsparren des verlassenen Stalls im Nachbarhof. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr der Traum jetzt einfiel, während sie ihrer Mutter und Michael durch die Tür folgte, die von dem silberhaarigen und weißgewandeten Zimmermann noch immer geduldig aufgehalten wurde, hinein aus der Nacht in den lichtdurchfluteten Laden.
Das Geschäft hatte einen Eingang auf der Marktseite und einen weiteren um die Ecke in der Drum Lane. Es wirkte größer, als Alma erwartet hatte, auch wenn sie begriff, dass das teilweise daran lag, dass es keine Papierwarenregale, Registrierkassen oder Theken gab; und keine Kunden. Der Raum war vom Duft frisch gehobelten Holzes erfüllt, ein Geruch irgendwo zwischen Dosenpfirsichen und Tabak, und unter ihren Füßen waren die neu verlegten Dielen so angenehm elastisch wie Langbögen. In den ungefegten Ecken häufte sich Sägemehl. Nachdem Frau, Mädchen und Kleinkind hereingekommen waren, kehrte der weißhaarige Handwerker, der die Tür aufgehalten hatte, zu seiner halbgesägten Diele zurück. Bevor er sich wieder seiner Aufgabe zuwandte, grinste er Alma und ihren Bruder an und blinzelte ihnen zu, als wären sie Teil einer unausgesprochenen, aber wundervollen Verschwörung.
Unsicher, mit welchem Gesichtsausdruck sie darauf reagieren sollte, versuchte Alma es mit einer halbherzigen Grimasse, brachte aber nichts Rechtes zustande und sah sich nach Michael um. Der hatte sich begeistert in seinem Kinderwagen aufgerichtet und zerrte am zerkauten Gurt seines Geschirrs – dasselbe, das Alma noch vor wenigen Jahren getragen hatte, ein rotes Ledergeschirr, auf dessen Vorderseite die abblätternden Umrisse eines Blattgold-Pferdekopfes allmählich verblassten. Michael gluckste vor Vergnügen, hatte die Arme erhoben und öffnete und schloss die Finger in dem Versuch, das milchigweiße Licht zu fassen zu bekommen, die Luft, die kribbelnde Weihnachtsstimmung dieses Augenblicks an der Ecke des gespenstischen mitternächtlichen Platzes, ganz so, als wollte er nach alldem greifen, es sich in den Mund stopfen und essen. Wie er da seinen großen Kopf auf dem zappelnden Kleinkinderkörper in den Nacken gelegt hatte, sah er aus wie das Kind aus der Fairy Soap-Werbung – er staunte blinzelnd alles an und lallte dabei so fröhlich, dass seine Schwester insgeheim fand, dass er für einen Zweijährigen ziemlich einfältig war, viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren, anstatt das Leben ernst zu nehmen. Hinter ihm, draußen vor dem Schaufenster, war alles dunkel. Der Markt war verschwunden, und nichts als ihre eigenen Spiegelungen hingen wie von einer Laterna magica projiziert in der Finsternis, ganz so, als stürze der Zeitschriftenladen einsam durch die Leere des Weltraums. Über ihr, im Erwachsenengeplapper, näher an der hohen, verputzten Decke des Geschäfts, unterhielten sich Doreen und der Mann mit der Kapuze, und ihre Mama bedankte sich, dass er sie hereingebeten hatte, und stellte ihm ihre Kinder vor.
»Das da im Wägelchen is’ Michael, und das is’ Alma. Sie geht jetzt zur Schule, stimmt’s, oben an der Spring Lane? Komm her und sag dem Dritten Borough Hallo.«
Alma blickte scheu zum Dritten Borough auf und brachte ein schwaches »Hallo« zustande. Aus der Nähe betrachtet war er ein wenig älter als ihre Mutter, vielleicht dreißig. Im Unterschied zu allen anderen Handwerkern, die weiß wie Kirchenmarmor waren, hatte seine Haut eine dunklere Farbe, war braun von der harten Arbeit in der Sonne. Oder er stammte von irgendwoher, wo es heiß war, vielleicht aus Palästina, eines der Länder, von denen sie die älteren Schulkinder in der großen Aula hatte singen hören, wo sie hinstapften, um ihre Gebete aufzusagen, drei Steinstufen oberhalb von Almas Erstklässlergarderobe – lauter Haken, die mit Lokomotiven, Winddrachen und Katzen gekennzeichnet waren anstatt mit den Namen von Jungen und Mädchen. »Quinquereme aus Ninive und dem fernen Ophir …«, ging das Lied, Orte und Wörter, die wunderschön und traurig klangen und längst verschwunden.
Der Dritte Borough ging in die Hocke. Er lächelte noch immer freundlich, und sie konnte seine Haut riechen, ein wenig wie Toast und Muskat. Sie bemerkte das Westernheldengrübchen in seinem Kinn, als hätte ihn dort jemand mit einem Dartpfeil getroffen, aber seine Augen erkannte sie unter dem Schattenstreifen, den der spitz zulaufende Rand der Kapuze warf, noch immer nicht. Später konnte sie sich nicht mehr entsinnen, ob sich seine Lippen überhaupt bewegt hatten, als er sie ansprach, oder wie seine Stimme geklungen hatte. Sie war sich sicher, dass es eine tiefe und aufrichtige Männerstimme gewesen war, die nicht vornehm geklungen hatte, aber auch nicht wie der behäbige Heim-und-Herd-Dialekt der Boroughs. Sein Tonfall glich am ehesten dem eines Radiosprechers, und sie hatte ihn weniger mit den Ohren gehört als vielmehr im Magen gespürt, warm und einladend wie ein Sonntagsessen. Hallo, kleine Alma. Weißtdu, wer ich bin?
Alma schauderte, ihre Gedanken plötzlich erfüllt von Donner, Sternen und weinenden Menschen, die keine Kleider anhatten. Sie war viel zu schüchtern, um seinen Namen laut auszusprechen, wollte ihm aber zeigen, dass sie ihn erkannte, und so versuchte sie, die erste Strophe von »Alle Dinge auf der Welt« zu singen, bei der sie immer an Gänseblümchen denken musste. Sie hoffte, dass er ihren unbeholfenen, befangenen Witz verstehen und nicht wütend sein würde. Zu ihrer Erleichterung wurde sein Lächeln ein wenig breiter. Noch immer in der Hocke wandte die in weiß gewandete Gestalt ihren kapuzenbedeckten Kopf und betrachtete einen Moment lang Michael, bevor sie eine sonnengebräunte Hand ausstreckte und dem Knirps mit den Fingern durch seine goldenen Bettfederlocken fuhr. Almas Bruder klatschte in die Hände und lachte, ein zufriedenes Wellensittichkreischen, und der Dritte Borough richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und unterhielt sich weiter mit ihrer Mutter.
Alma hörte dem Zwiegespräch der Erwachsenen, das über ihrem Kopf fortdauerte, nur halb zu. Sie schaute sich im Laden um und beobachtete müßig die vier Arbeiter, die noch immer mit ihren Hämmern, Drehbänken und Sägen hantierten. Obwohl sie alle die gleichen weißen Kittel anhatten und ihr helles Haar ähnlich geschnitten war, unterschieden sich die Männer voneinander – einer hatte einen großen Leberfleck mitten auf der Stirn, ein zweiter trug einen Bürstenhaarschnitt und sah mit seiner dunklen Haut ein wenig wie ein Ausländer aus –, und trotzdem schienen sie aus derselben Familie zu kommen; möglicherweise waren sie Brüder oder zumindest Vettern. Sie fragte sich, aus was ihre Kittel gemacht waren. Das Material war einfach und fest wie Baumwolle, sah aber weich aus, und in den Falten hingen eisblaue Schatten, also kostete es wahrscheinlich mehr. Das mussten die Schürzen sein, die höher gestellte Zimmerleute oder ›Angeln‹ trugen, überlegte Alma, und sie erinnerte sich schwammig an ein Wort, das sie einmal gehört hatte, an einen Markennamen, der diesen Stoff bezeichnete. »Might« oder »mighty« vielleicht? Irgendwas in der Art jedenfalls.
Doreen machte höfliche Konversation mit der verschleierten Eminenz und stieß von Zeit zu Zeit jenes beruhigende Gurren aus, das Alma so vertraut war – sie hatte mehr als einmal versucht, ihrer Mutter eine ihrer komplizierteren Zeichnungen zu erklären – und das bedeutete, dass Mama von dem, was ihr mitgeteilt wurde, eigentlich nichts verstand, aber ihren Gesprächspartner nicht beleidigen oder desinteressiert wirken wollte. Offenbar hatte sie den Dritten Borough beiläufig gefragt, wie die Arbeit voranging, und jetzt musste sie, während er antwortete, dabeistehen und – hoffentlich angemessen überrascht, begeistert oder besorgt – mit der Zunge schnalzen. Wie so oft, wenn sich die Erwachsenen unterhielten, erfasste Alma gerade eben so, worum es ging, und die meiste Zeit wahrscheinlich nicht einmal das. Einige seltsame Wendungen und vereinzelte Ausdrücke blieben ihr irgendwo im Gedächtnis haften, bildeten eine Garderobenleiste mit wackeligen Haken, an die sie provisorische Bindfäden hängen konnte, spekulativen Zwirn und wilde Mutmaßungen, die eine Vorstellung mit der anderen verbanden, bis Alma entweder einen vagen Begriff von dem hatte, was sie mithörte, oder bis sie sich ebenso verworrene wie alberne Missverständnisse aufbürdete, an die sie dann noch jahrelang glaubte.
Im Moment suchte sie sich, während sie dastand und den wortlosen, in unterschiedlichem Tonfall geäußerten Einwürfen ihrer Mutter lauschte, die den Monolog des Dritten Borough spickten, einen Weg zwischen den Stolpersteinen erwachsener Sprache hindurch und gab sich große Mühe, ein Bild davon zu zeichnen, worum sich die Unterhaltung drehte, eines ihrer Buntstiftdioramen, allerdings in ihrem Kopf, eine Szenerie, deren unterschiedliche Bestandteile fast ein sinnvolles Ganzes ergaben. Vermutlich hatte ihre Mutter gefragt, was die Männer da bauten, und aus der Antwort war zu entnehmen, dass sie etwas fertigstellten, das das »Porthimoth di Norhan« genannt wurde, Wörter, die Alma mit Sicherheit noch nie gehört hatte und die trotzdem richtig klangen, als wären sie ihr schon ihr ganzes Leben vertraut. Es war so etwas wie ein Gerichtshof, das Porthimoth di Norhan, nicht wahr, wo Streitfälle aller Art erörtert wurden und jeder bekam, was ihm zustand? Auch wenn es in diesem Fall, dachte Alma, eher so klang, als benutze der Dritte Borough den Begriff in einem anderen Sinn, der sich auf seine Zimmermannsarbeit bezog, bei der »Porthimoth di Norhan« ein äußerst kompliziertes Verbindungsstück bezeichnete. Er sprach darüber, dass dort die aufstrebenden Linien konvergierten, was, vermutete Alma, etwas Ähnliches wie »zusammentreffen« bedeutete, sodass sie mutmaßte, es könne sich vielleicht um einen vielarmigen Schnittpunkt handeln, wie es ihn wahrscheinlich oben in einer hölzernen Kirchenkuppel gab, wo alle gebogenen lasierten Balken in der Mitte zu einem klug geknüpften Knoten zusammenliefen. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich vor, dass dort ein einfaches Steinkreuz eingelassen war, tief im polierten Rosenholz im Herzen der Konstruktion.
Der Dritte Borough schien die Interpretation des Kindes zu bestätigen, denn er sagte jetzt, es wäre nur gut, dass es hier im Zentrum so viele Eichen gäbe, die das Gewicht und die Spannung trügen. Als er das sagte, legte er Doreen eine braungebrannte Hand auf die Schulter, wodurch die Bemerkung für Alma zwei verschiedene Bedeutungen bekam. Redete er über die vielen Eichen auf den Grasflächen überall in der Stadt, oder machte er Doreen ein Kompliment, indem er sagte, ihre Mutter wäre eine Eiche, eine tragende Säule aus Holz, die der Belastung klaglos standhielt? Ihre Mutter schien sich jedenfalls über die Bemerkung zu freuen – sie schürzte schüchtern die Lippen und gab Laute von sich, die ausdrückten, dass sie ein solches Lob nicht verdient hätte.
Der vermummte Mann ließ Doreens Ärmel los und setzte seine Erklärung fort: Das Projekt, das er beaufsichtigte, müsse bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sein, weshalb seine Männer Tag und Nacht arbeiteten, um ihren Auftrag zu erfüllen. Alma fand, dass daran etwas Widersprüchliches war. Sie war sich sicher, dass das Unternehmen des Dritten Borough zu den ältesten in der Stadt gehörte – älter als die Firmen, die ihre Geschäftsräume in der Bearward Street hatten, mit bröckelnden Toreinfahrten, über denen die verblassten Schilder der vormaligen Besitzer noch teilweise sichtbar waren und die auf seltsam geformte, geheimnisvolle Höfe führten. Manche der Kneipen, hatte ihr Vater einmal erzählt, gab es schon seit der Zeit von Jakob I., und sie ahnte, dass an diesem Porthimoth di Norhan bereits ebenso lange gebaut wurde, dass es in einhundert Jahre immer noch gebaut werden würde, und der Dritte Borough würde immer noch jedes Werkstück genau prüfen, um sich zu vergewissern, dass er und seine Kollegen es richtig bearbeitet hatten. Warum klang es dann so eilig, fragte sie sich. Wenn es noch Jahrhunderte dauern würde, bis alles fertig war, warum dann das ganze Gerede über Termine, die eingehalten werden mussten? Alma vermutete, dass der Mann mit der Kapuze einfach genauer vorausplanen musste als andere Leute, vielleicht weil seine langfristigen Verpflichtungen schwerwiegender waren.
Da stand sie nun, auf den dichtgefügten neuen Dielen des Ladengeschäfts, die sie an ein Schiffsdeck erinnerten, ein Schiffsdeck aus demselben Lied, das die älteren Schüler in ihrer Aula gesungen hatten, eine imposante spanische Galeone, die aus einer Landenge hinaussegelte oder etwas in der Art. Eine Hand noch immer um die Stange des Kinderwagens geschlossen, beobachtete sie die vier fleißigen Zimmerleute, die eifrig schliffen und hämmerten, und dachte, dass sie ein wenig wie Seemänner aussahen, obwohl ihre langen weißen Kittel Alma an Bäcker erinnerten. Der Unterhaltung des Vorarbeiters mit ihrer Mutter hörte sie kaum noch zu, denn sie hatte erst jetzt überrascht bemerkt, dass die Sägeblätter, Hammerköpfe und Bohrerspitzen der Handwerker alle aussahen, als wären sie aus echtem Gold gefertigt, und an den Griffen, wo die Schraubenköpfe hätten sein müssen, funkelten Diamanten. Alma überlegte tief in Gedanken versunken, warum ihr das nicht schon vorher aufgefallen war, und wurde sich des Dritten Borough und ihrer Mutter erst wieder bewusst, als ein bekannter Name aus dem leisen Murmeln des Gesprächs auftauchte.
Sie redeten über etwas, das sie als »Vernalls Untersuchung« bezeichneten, offenbar ein Vorgang, bei dem über Rinnsteine, Ecken, Mauern und die Ränder der Welt entschieden wurde, wo sich diese befanden und wem sie gehörten. Aus dem, was Doreen und der vermummte Meister da sagten, entnahm sie, dass diese Untersuchung das einzige Ereignis war, das in dem Gerichtssaal, der hier gebaut wurde, dem Porthimoth di Norhan, stattfinden sollte – der einzige Grund, warum er überhaupt gebaut wurde –, aber es war mehr der Name der Untersuchung als ihre Bedeutung, der die Aufmerksamkeit des Mädchens erregte. Vernall war ein Name aus ihrer Familie, auf der Seite von Almas Papa. Wenn sie darüber nachdachte, wurde Alma klar, dass sie in den Gesprächen der Erwachsenen schon so manches über die jüngste Geschichte ihrer Sippe mitgehört hatte, lauter Dinge, die sie wusste, die ihr jedoch bis jetzt nicht bewusst gewesen waren. May zum Beispiel, Papas Mutter und Almas und Michaels unbeugsame, grimmige Nana, war eine Vernall gewesen, bevor sie Tom Warren geheiratet hatte, Almas Großvater, der bereits einige Jahre tot gewesen war, als sie geboren wurde. Auch ihr anderer Großvater war bei ihrer Geburt schon tot gewesen, wie ihr jetzt auffiel, Doreens Papa Joe Swan, ein fröhlicher, kräftiger Kerl mit einem Walrossschnauzer, der auf den Lastkähnen gearbeitet hatte und an Tuberkulose gestorben war; sie kannte ihn nur von einer verblassten ovalen Fotografie, die drüben in der Andrew’s Road im Wohnzimmer hing, oben im Halbdunkel unter der Bilderschiene. Sie hatte ihre Großväter nie gekannt, und somit hatten diese auch keinen Einfluss auf sie ausgeübt und fehlten ihr auch nicht. Mit ihren Großmüttern war das völlig anders, mit Oma Clara, Doreens Mutter, mit der sie zusammenwohnten, und mit May, ihrer Nana, in ihrem Haus am unteren Ende des Angers hinter der St. Peter’s Church, am von Unkraut überwucherten Südwestrand der Boroughs.
May Warren, vormals May Vernall, war ein stämmiges, sommersprossiges Schlachtschiff von einer Frau. Samstags rollte sie meistens wie ein Fässchen die gefliesten Reihen des überdachten Fischmarktes entlang, in ihrem Windschatten freie Bahn, wobei sie mit jedem schweren Schritt mehr in Schwung kam wie ein Schneeball aus fröhlicher Heimtücke. Das Kinn versank in ihren gesprenkelten Hängebacken, die bei jedem Schritt wackelten, und ihre wild dreinblickenden Augen leuchteten wie Korinthen, die tief in die pralle Blutwurst ihres Gesichts hineingedrückt waren, voller Vorfreude auf die scheußliche Leckerei, die sie auf dem Markt erwerben wollte. Kaldaunen mochten das sein oder fette orangene Wellhornschnecken oder gehackter Aal in Schmalz. Alma war überzeugt, dass ihre Nana wahrscheinlich alles essen würde – dass sie zu den Leuten gehörte, die, wenn nötig, sogar Menschen essen würden. Andererseits war May auch die Totenpackerin der Green Street und der umliegenden Gegend. Totenpackerinnen holten die Leute ab und bahrten sie auf, wenn es mit ihnen vorbei war, also konntest du darauf wetten, dass sie jede Menge erlebt hatten. May war, so ging die Legende, auf dem Lambeth Walk geboren worden, mitten im Kehricht und der Pisse im Rinnstein. Jetzt lebte sie allein an der Ecke Green Street in einem Haus mit Stockflecken, Gasbeleuchtung und Türen, die sich auf halber Höhe einer verwinkelten, unauslotbaren Stiege befanden, das Haus, in dem Tommy, Almas Papa, und die Hälfte ihrer Tanten und Onkel aufgewachsen waren. In der Familie war man der Meinung, dass May nach einem Leben voller Enttäuschungen erst mit dem Alter zu einem bösartigen Ungeheuer geworden war, aber in der Familie war man auch der Meinung, dass die Vernalls zum Wahnsinn neigten.
Mays Papa Snowy Vernall, Almas Urgroßvater, war, wie die Familie es nannte, »aus der Spur« geraten und hatte, als es zu Ende ging, Blumen gegessen, was für Alma lecker und farbenfroh klang, aber nicht unbedingt verkehrt. Als Säugling hatte Snowy rote Haare gehabt, erzählten die Leute, doch diese hatten noch im Kindesalter jegliche Farbe verloren, etwa um die gleiche Zeit, als Snowys Vater Ernest, Almas Ururgroßvater, im neunzehnten Jahrhundert drüben in London den Verstand verloren und weiße Haare bekommen hatte, während er als Maler und Restaurator an der St. Paul’s Cathedral arbeitete. Ernest hatte seinen Wahnsinn an Snowy und Snowys Schwester Thursa Vernall weitergegeben. Thursa spielte dem Vernehmen nach trotz ihrer Verrücktheit ausgezeichnet Ziehharmonika, ebenso wie die hübsche Kusine von Almas Papa, Audrey Vernall, die Tochter von Snowys Sohn Johnny. Audrey war gegen Ende des Krieges mit einer Tanzkapelle aufgetreten, die ihr Vater leitete, und war jetzt in der Irrenanstalt um die Ecke in Berry Wood eingesperrt.
Aus der Spur, durch den Wind, um die Ecke – in Almas Familie gab es so einige, die diesen Weg gegangen waren. In ihrer Vorstellung handelte es sich dabei um einen plötzlich auftauchenden Dreh- und Angelpunkt im Denken, den man nicht vor sich sah wie etwa eine Straßenecke. Dieser war unsichtbar, fast jedenfalls, möglicherweise auch durchsichtig wie ein Gewächshaus oder ein Gespenst. Die Linien entlang dieses Punktes verliefen völlig anders als alle anderen, anstatt vorwärts, abwärts oder seitwärts führten sie woandershin, in eine Richtung, die man nicht zeichnen und nicht einmal denken konnte, und wenn man um diese unsichtbare Ecke bog, war man unwiederbringlich verloren. Dann fand man sich in einem Labyrinth wieder, das man nicht sehen konnte – man wusste nicht einmal, dass man drin war –, und alle hatten Mitleid mit einem, wenn sie sahen, wie man da herumstolperte, aber befreundet sein wollten sie wahrscheinlich nicht mehr mit dir, jedenfalls nicht so wie früher.
So viele Menschen auch um diese unsichtbare Ecke gegangen sein mochten – Alma blieb überzeugt, dass es jenseits davon, was auch immer sich dort befand, einsam und trist war und dass dort außer dir selbst nie jemand sein würde. Es wäre nicht deine Schuld, aber es wäre trotzdem etwas Beschämendes, etwas, das Oma Clara überhaupt nicht gefallen würde, eine Familienschande. Deshalb redete niemand über die Vernalls, und deshalb war Alma jetzt so erstaunt, dass ihre Mama und der Dritte Borough in so ehrfurchtsvollem Tonfall über Vernalls Untersuchung sprachen, die er da geplant hatte und für die all die Arbeit hier getan wurde. War dieser Zweig von Almas Verwandtschaft auf irgendeine geheimnisvolle Weise etwas Besonderes, oder war der Name der Untersuchung nur Zufall? Und wenn es nicht Almas Familie war, auf die sich das Wort bezog, was war dann ein Vernall?
Sie vermutete, dass es früher einmal ein Ausdruck für irgendein altmodisches Gewerbe gewesen war, das die Leute ausübten und aus dem im Laufe der Jahre ein Nachname geworden war. Almas Vater Tommy Warren zum Beispiel, der in der Brauerei arbeitete, hatte ihr einmal erzählt, dass ein Cooper – ein Küfer – vor vielen, vielen Jahren jemand war, der Fässer herstellte, also waren die Vorfahren ihrer besten Freundin Janet Cooper sehr wahrscheinlich Fassbinder gewesen. Das erklärte natürlich immer noch nicht, was ein Vernall war oder was für eine Tätigkeit so bezeichnet wurde. Vielleicht hatte der Name früher einmal im Zusammenhang mit einer Untersuchung der Grundstücksgrößen gestanden, weil es eine der Pflichten eines Vernalls war, sich um Grenzverläufe und Ecken zu kümmern? Alma fragte sich, ob zu den Ecken, auf die sie aufpassten, auch die gehörten, um die Ernest, Snowy, Thursa und die arme Audrey Vernall gegangen waren, aber sie wurde sich nicht klar darüber, wohin dieser Gedanke führte, und ließ ihn im Sand verlaufen.
Aus irgendeinem unklaren Grund ließ der Name Vernall sie auch an Gras denken und daran, wie die ungepflegte kleine Wiese in der Nähe der Spencer Bridge – auf der anderen Seite der Andrew’s Road – roch, wenn sie gemäht worden war, nach grünen Halmen, die sich durch die unterirdische Finsternis in die sonnenbeschienene Welt empordrängten; was das allerdings mit Grenzen und Ecken zu tun hatte, ging über ihren Horizont. In Gedanken sah sie das Haus ihrer Nana am vernachlässigten Ende der Green Street; zwischen Backsteinen sprießten dort Unkraut und sogar Mohnblumen, in dem Eisenbahnruß verwurzelt, der die Außentapete der Boroughs bildete, ein schwarzes Gerinnsel, das in kraftlosen Falten von dem dunkelorangenen Mauerwerk herabhing wie ein Schleier über den verwitweten Stadtteil. Jenseits der Straße und einer niedrigen Bruchsteinmauer zog sich der Anger bis hinauf zur Rückseite der Peter’s Church, neben dem Hintereingang zum Hof des Black Lion. In ihrer Vorstellung schritt, wenn die Leute das Kirchenlied von dem lieblichen Land sangen, Jesus in seinem langen Gewand über diesen grünen Hang; mit Lichtern um seinen Kopf und barfuß schlenderte er von der Pforte des Gasthauses hangabwärts zum Fuß der Narrow Toe Lane und zu Gotchs Süßwarenladen am anderen Ende der Green Street, nicht dort, wo das Haus ihrer Nana stand. Als sie sich bei der Vermutung ertappte, ob Jesus wohl eine Lieblingssüßigkeit hatte, wurde ihr bewusst, dass die Gedanken mit ihr durchgingen, und sie wandte ihre ruhelose, wolkige Aufmerksamkeit wieder dem zu, was ihre Mama und der Mann in der weißen Kapuze besprachen.
Der Dritte Borough schloss seinen Bericht darüber, wie die Dinge vorangingen, und versicherte Doreen, seine Familie arbeite bereits seit Menschengedenken mit Holz. Die Sache sei zwar langwierig und würde noch so manchen Rücken brechen, aber alles verliefe nach Plan und würde pünktlich fertig. Alma konnte nicht erklären, warum sie diese Erklärung mit solcher Freude erfüllte. Es war, als müsse sich niemand mehr irgendwelche Sorgen machen, denn letztlich würde alles gut werden – als versicherten deine Eltern dir, dass der Held nicht sterben, sondern wieder gesund werden würde, bevor die Geschichte zu Ende war.
Überall um sie herum im Flimmern des Ladens beugten sich die Zimmerleute gewissenhaft über ihr rastloses Werk, schliffen die Dielen aufwärts gegen die Maserung, aber Alma sah, wie sie hochblickten, um sich zu vergewissern, dass sie begriff, was für eine wundervolle Neuigkeit das für alle war, und wie alle mit stiller Zufriedenheit lächelten, als sie bemerkten, dass sie es verstand, mit einem gewissen Stolz und dennoch ein wenig beschämt über diesen Stolz. Der Porthimoth di Norhan würde gebaut, war gewissermaßen schon so gut wie fertig. Michael saß aufrecht in seinem Kinderwagen und schaute sich aufmerksam um. Selbst er schien sich bewusst, dass etwas Besonderes vor sich ging, denn er blickte seine Schwester erwartungsvoll an; in seinen riesigen blauen Augen tanzten Glanzlichter, während er über diesen privaten, wortlosen Kanal seine Freude kommunizierte und aufgeregt an seinen Zügeln ruckelte. Alma konnte erkennen, dass ihr Bruder zwar noch zu klein war, um den Dingen Namen zu geben, aber trotzdem irgendwie wusste, wer der Vorarbeiter mit der Kapuze in Wirklichkeit war. Es war unmöglich, ihm zu begegnen, ohne das zu wissen, selbst für einen solchen Knirps. Michael war von Natur aus ein zufriedenes Kind, aber in diesem Moment sah er aus, als würde er vor Staunen gleich platzen – als verstünde er ganz genau, was diese großartige Fertigstellung für alle bedeutete. Aus dem Nichts kam ihr der Gedanke, dass Michael und sie eines Tages, wenn sie beide alt wären, wahrscheinlich irgendwo auf einer Mauer sitzen und über all das lachen würden.
Doreen bedankte sich gerade beim Dritten Borough dafür, dass er sie hereingebeten hatte, während sie sich gleichzeitig für den Heimweg rüstete. Sie überprüfte, ob Michael sicher angeschnallt war, und forderte Alma auf, den Gürtel ihres Regenmantels zuzumachen. Entweder wurden die Lichter in dem Laden heller, dachte Alma, oder die Dunkelheit auf dem leeren Platz draußen hatte eine fremdartige Farbe angenommen, die schlimmer war als Schwarz. Sie freute sich nicht gerade auf den Heimweg, weder auf die unbestimmte, gedämpfte Furcht, die sie manchmal in der Bath Street empfand, noch auf den nächtlichen Schlund am Eingang der schmalen Gasse, die weiter unten auf der Rückseite der Häuserzeile zwischen der Spring Lane und der Scarletwell Street verlief, aber sie hatte das Gefühl, es wäre undankbar gewesen, das laut auszusprechen. Selbst wenn es einen frostigen Marsch bedeutete, hätte Alma das, was sie gerade erlebt hatte, nicht um alles auf der Welt missen wollen, obwohl sie sich wünschte, sie könnte die nächsten zwanzig windgepeitschten Minuten ihres Lebens überspringen und sich in ihrem warmen Bett wiederfinden.
Die Lichter in dem Laden wurden eindeutig heller, befand sie, während sie sich mit dem urplötzlich äußerst unhandlichen Gürtel ihres Regenmantels abmühte. Vor ihr, oder möglicherweise über ihr, hingen weißlich glänzende Rechtecke in der Luft, Spiegelungen der Fensterscheiben hinter ihr, wie Alma erkannte, während sie neben dem Kinderwagen stand und ihren Mantel zuzumachen versuchte. Allerdings stimmte da etwas nicht ganz. Ein erleuchtetes Zimmer spiegelte sich manchmal im Fenster, niemals aber warfen Fensterscheiben ein mit jedem Moment weißer und heller werdendes Spiegelbild in die Leere eines Zimmers, mitten ins Nichts. Irgendwo neben ihr drängte Doreen sie, sich mit ihrem Gürtel zu beeilen, damit die Herren weiterarbeiten konnten. Alma hatte das Ende mit der Schnalle losgelassen, und jetzt hing es unterhalb einer komplizierten Falte, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie da war. Je mehr sie versuchte, den Gürtel freizubekommen, umso mehr Gabardinebahnen, die nur ein Schneider ausloten mochte, entfalteten sich aus den Untiefen ihres Mantels und wickelten Alma in ihre schuhbändelfarbenen Knitterfalten. Über oder möglicherweise vor ihr leuchteten die freischwebenden Lichtflächen immer greller. Neben ihr forderte Mama sie auf, doch bitte einen Zahn zuzulegen, aber ihr Regenmantel wurde immer widerspenstiger. Alma rang, auf dem Rücken liegend, gegen endlose, alles einhüllende Stoffmassen, und stellte fest, dass vor den hellen schwebenden Rechtecken Vorhänge hingen. Mit ihrem Muster aus grauen Rosen ähnelten sie sehr jenen in Almas Kinderzimmer.
Das war im Wesentlichen der Traum, den Alma Warren, die später eine mäßig berühmte Künstlerin werden sollte, 1959 in einer Februarnacht hatte, als sie fünf Jahre alt war. Im folgenden Jahr erstickte ihr Bruder, wurde aber irgendwie wieder gesund und kehrte nach nur ein oder zwei Tagen unversehrt aus dem Krankenhaus zurück, war wieder bei ihnen zu Hause in der Andrew’s Road, worüber weder er noch Alma jemals sprachen, obwohl es ihnen damals einen Riesenschreck einjagte.
Ihr Vater Tommy Warren starb 1990, Doreen bald darauf im glühendheißen Sommer 1995. Keine zehn Jahre später hatte Mick Warren, als er alte Stahlfässer aufarbeitete, einen Arbeitsunfall. Wie bei einem Slapstick-Sketch außer Gefecht gesetzt, erwachte er erst wieder, als seine Kollegen ihm mit kaltem Wasser ätzenden Staub aus den Augen spülten. Nachdem Mick ein zweites Mal ins Leben zurückgekehrt war, gingen ihm eine Vielzahl von beunruhigenden Gedanken durch den Kopf, merkwürdige Erinnerungen, die an die Oberfläche gewirbelt worden waren, als er bewusstlos gewesen war. Manche der Dinge, an die er sich zu erinnern glaubte, waren so seltsam, dass sie unmöglich passiert sein konnten, und Mick machte sich zunehmend Sorgen, dass er den gefürchteten und deshalb verschwiegenen Wesenszug geerbt hatte, der im Blut der Familie lauerte, mit anderen Worten: dass er aus der Spur geriet.
Als er endlich den Mut aufbrachte, seiner Frau Cath von seinen Befürchtungen zu erzählen, schlug sie auf Anhieb vor, er solle mit Alma reden. Cathys Familie war, wie Micks auch, aus den rußigen Auen der Boroughs vertrieben worden, jener Quadratmeile Dreck unten am Bahnhof, als die Stadtverwaltung Anfang der 1970er die letzten Überbleibsel der Wohngegend dort hatte beseitigen lassen. Solide und vernünftig und trotzdem stolz auf ihre Verschrobenheiten verfügte Cath über jene Eigenschaften, die in Micks Augen die Frauen aus den Boroughs auszeichneten: Entschlusskraft und einen unerschütterlichen Glauben an Intuition, an ihre eigene Fähigkeit zu wissen, was unter jeglichen Umständen, ganz gleich wie sonderbar, zu tun sei.
Cathy und Alma verstanden sich blendend, obwohl oder möglicherweise gerade weil sie so unterschiedlich waren. Cathy machte keinen Hehl daraus, dass sie Alma für eine verrückte Hexe hielt, die auf einer Müllhalde lebte, und Alma konterte mit beißenden Bemerkungen über die Vorliebe ihrer Schwägerin für Mick Hucknall von Simply Red. Gleichwohl hegten die beiden Frauen, soweit es ihr jeweiliges Spezialgebiet betraf, größten Respekt füreinander, und als Cath vorschlug, ihr Ehemann solle mit Alma sprechen, wenn er denn glaube, dass ihm ein paar Tassen im Oberstübchen fehlten, wusste Mick genau, warum: Seine Ehefrau hielt seine ältere Schwester nicht nur für eine Expertin darin, die Orientierung zu verlieren, sondern vertrat überhaupt die Meinung, dass Alma vorsätzlich gleich sämtliche Landkarten das Klo runtergespült hatte. Überdies wusste er, dass sie sehr wahrscheinlich recht hatte. Er verabredete sich mit Alma für den folgenden Samstag, und aus irgendeinem Grund, den er nicht hätte angeben können, entschied er sich für den Golden Lion an der Castle Street, einen der wenigen Pubs, der von den Dutzenden überlebt hatte, die die Boroughs in ihrer Hochzeit hatten aufweisen können. Zufälligerweise hatte er da auch Cath kennengelernt, als sie noch dort gearbeitet und bevor er sich seinen Traum erfüllt und die Kellnerin geheiratet hatte.
Selbst an einem Samstag war, wie er feststellte, als er sich mit Alma traf, das einst brechend volle Lokal so gut wie leer. Offenbar zogen die Bewohner, die in dem ausgeweideten Stadtteil geblieben waren und nicht aufgrund einer Anordnung zur Unterbindung asozialen Verhaltens in ihren Schlafzimmern festsaßen, es vor, den – Kotze, Sperma und Messerstechereien gewogeneren – Zoo der Innenstadt anzusteuern, anstatt die Grabesruhe der Lokale in der Nähe ihres Zuhauses zu ertragen. Seine Schwester saß dort in ihrer schwarzen Einheitskluft: Jeans, Weste, Stiefel und Lederjacke. Schwarz war, wie Alma ihm kürzlich erklärt hatte, der neue iPod. Während sie, ein Mineralwasser vor sich auf dem Ecktisch, versuchte, einen runden Strongbow-Bierdeckel auf seiner Kante zu balancieren, wurde sie von dem augenscheinlich an einer klinischen Depression leidenden Barmann beobachtet. Ein einziger Gast den ganzen Abend über, und dann war das eine hässliche, abstinente Tusse.
Auch wenn er das Alma nie ins Gesicht gesagt hätte, musste Mick zugeben, dass sie eher – wie sagte man? – markant wirkte als hässlich, sogar noch jetzt, so spät in ihrem Leben. Wie alt war sie eigentlich, einundfünfzig? Fünfzig? Markant, gewiss, wenn man damit eigentlich sagen wollte: furchteinflößend. Sie war eins achtzig groß, nur ein paar Zentimeter kleiner als ihr Bruder, aber mit Absätzen waren es fast eins neunzig; ihre langen, ungeschnittenen braunen Haare, hier und dort zu Kupfergrau verblasst, hingen wie Sicherheitsvorhänge beiderseits ihrer hohen Wangenknochen, eine Frisur, die sie Mick gegenüber einmal als »Kraterkriecher« bezeichnet hatte. Dann waren da natürlich noch ihre Augen, groß und gespenstisch, wenn sie nicht kurzsichtig zusammengekniffen waren, die Iris warm und blaugrau, ein starker Kontrast zu dem außerirdischen Zitrusgelb, das die Pupillen wie bei einer Sonnenfinsternis umflackerte, und mit dichten Wimpern, die unter dem Gewicht des Mascara ächzten.
Im Laufe der Jahre hatte sie nicht wenige Bewunderer gehabt, aber ehrlich gesagt hielten Männer Alma überwiegend für »ziemlich beängstigend«, wie es ein Bekannter einmal ausgedrückt hatte, oder, in den Worten eines anderen, für einen »gottverdammten klimakterischen Albtraum«, wobei selbst das mit einer gewissen Bewunderung geäußert wurde. Mick dachte manchmal, seine Schwester sei auf abstoßende Weise gutaussehend, aber es war lustiger, wenn er darauf beharrte, sie sähe aus wie Lou Reed auf dem Cover von Transformer, »ein solarisierter Glam-Frankenstein«, wie Alma es vergnügt umformuliert hatte, um hinzuzufügen, dass sie das bei ihrer nächsten Ausstellung in der Katalogbiografie verwenden würde. Alma genoss es gleichermaßen, Beleidigungen einzustecken oder auszuteilen, und sie wusste sich dabei bestens zu behaupten – mit todernster Miene legte sie dar, ihr engelsgleich gutaussehender jüngerer Bruder, der sich seit seiner Geburt albern und weibisch aufführte, sei eigentlich als Mädchen auf die Welt gekommen und einmal sogar zur Miss Pears gewählt, aber dann einer Geschlechtsumwandlung unterzogen worden, da ihre Eltern sich ein Mädchen und einen Jungen gewünscht hätten. In vollem Ernst probierte sie diese schmerzhafte Nummer das erste Mal an Mick selbst aus, als er sechs und sie neun war, worauf er, ebenso verwirrt wie beschämt, in Tränen ausbrach. Als er ihr einmal, nicht ganz unzutreffend, erklärt hatte, sie wirke auf viele Leute wie ein homosexueller Mann, der in etwas gefangen sei, das annähernd wie ein Frauenkörper aussähe, hatte sie »Jau, du aber auch« erwidert und so lange gelacht, bis sie erst husten und dann sogar würgen musste, wie immer über die Maßen begeistert von ihrer eigenen cleveren Erwiderung.
Nach einem Zwischenstopp an der Bar, wo er zufrieden die Hand um sein erstes eiskaltes Pint legte, stapfte er über einen abgewetzten Teppich mit einem Blümchenmuster, das wie die Skizze für einen Selbstmord aussah, zum Tisch seiner Schwester hinüber, wenig überraschend so weit wie nur möglich von der Tür entfernt, die Zufluchtsecke jeder echten Menschenhasserin. Alma blickte auf, als er scharrend einen Stuhl heranzog und sich ihr gegenüber niederließ, zwischen den beiden Geschwistern das nasse Furnier mit seinem dürftigen Archipel aus Bierdeckeln. Sie gab ihr übliches Begrüßungslächeln zum Besten, was, so vermutete er, wohl den Eindruck erwecken sollte, dass sie sich freute, ihn zu sehen, aber da Almas Neigung, Dinge zu übertreiben, auch das Grand-Guignol-Theater ihrer Mimik einschloss, wirkte sie eher wie eine religiös motivierte Mörderin oder Pyromanin, mit gelblich lodernden Flammen in der Mitte beider Augen.
»Na, wenn das nicht Warry Warren ist. Wie in Gottes Namen geht’s dir, Warry?«
Almas Stimme glich, von Zigarettenqualm geräuchert, einem unheilvollen Bassakkord, der durch eine gotische Kirche hallte, und war manchmal sogar noch ein wenig tiefer als Micks Stimme. Trotz der Sorgen um seinen gegenwärtigen Geisteszustand musste er grinsen, ehrlich froh darüber, seine Schwester zu sehen, all die geheimen, geheimnisvollen Verbindungen zwischen ihnen wieder aufzunehmen und jemanden zu treffen, der – was ihm durchaus tröstlich schien – noch mehr durch den Wind war als er. Mick holte Zigaretten und Feuerzeug hervor, legte sie, zur Vorbereitung auf den Abend, neben sein Glas, an dem die Tropfen herabperlten, und antwortete ihr.
»Ich bin ziemlich von der Rolle, Warry, wenn du die Wahrheit wissen willst.«
Sie nannten sich gegenseitig »Warry«, und das seit einem Augenblick irgendwann 1966, an den sie beide keine klare, verlässliche Erinnerung hatten. Die dreizehnjährige Alma hatte möglicherweise angefangen, ihren kleinen Bruder damit zu hänseln, und er hatte den Namen zurückgebrüllt, weil, wie sie schon immer insgeheim vermutet hatte, seine grundlegende Haltung dem Dasein gegenüber viel zu unernst war, um sich selbst eine Beleidigung auszudenken, sogar eine so bescheuerte wie »Warry«. Nachdem die Geschwister einmal damit angefangen hatten, wurde die ganze Sache zu einem idiotischen Kräftemessen, bei dem sie nicht mehr wussten, wie sie hineingeraten waren, aber keiner von beiden wollte den anderen zuerst beim Vornamen nennen und damit, was unvorstellbar war, eine Niederlage eingestehen. Dieses verbale Tennismatch hatte sich peinlicherweise durch ihr ganzes Leben gezogen, obwohl sie den Spitznamen längst liebevoll meinten und seinen unausgegorenen Ursprung vollkommen vergessen hatten. Auf die Frage, warum sie beide einander Warry nannten, antwortete Mick für gewöhnlich, sie stammten eben aus einem ärmlichen Haushalt in den Boroughs, und Mama und Papa hätten sich zwei Spitznamen für die Kinder nicht leisten können, sodass sie sich einen teilen mussten. »Nicht wie diese schnieken Kinder«, fügte er manchmal, in glaubhaft verbittertem Tonfall, hinzu. Wenn Alma dabei war, sah sie die Anwesenden mit vorwurfsvollem Kälberblick an und verbat sich jegliches Lachen. »Einmal haben wir an Weihnachten nur diesen Spitznamen gekriegt, sonst nichts.«
Jetzt pflanzte seine Schwester das geschundene Leder ihrer Ellbogen in den Flüssigkeitsfilm, der den Tisch bedeckte, umschloss ihr Kinn mit langen Fingern und beugte sich durch die an schwachen Tee gemahnende Atmosphäre fragend vor, den Kopf zur Seite geneigt, sodass ihre längeren Haarsträhnen durch den nassen Gießspiegel des Tisches schleiften und die Spitzen so scharf wurden wie Marderpinsel.
»Wahrheit? Was interessiert mich die Wahrheit? Ich hab nur aus Höflichkeit gefragt, Warry. Ich will nicht die Ilias zu hören kriegen.«
Sie bewunderten beide Almas Abgebrühtheit, und dann erzählte Mick ihr von seinem Arbeitsunfall, wie er bewusstlos gewesen war und sich das Gesicht verbrannt hatte, worauf er eine Stunde oder zwei blind gewesen war. Und dass er sich seither Sorgen machte, er würde den Verstand verlieren. Alma sah ihn mitleidig an, schüttelte dann ihren unverhältnismäßig großen Kopf und seufzte.
»Ach Warry. Alles dreht sich immer um dich, was? Mir ist schon seit Jahren hundeelend, ich bin halbblind und völlig wirr in der Birne, aber mach ich ein großes Gewese drum? Nö. Wohingegen du, kaum kriegst du mal eine Ladung ätzende Chemikalien ins Gesicht, mit denen sonst Schlachtschiffe gereinigt werden, gleich alle viere von dir streckst.«
Mick drückte seine Kippe in dem Bullauge des meerblauen Aschenbechers aus und steckte sich eine neue an.
»Das ist nicht witzig, Warry. Seit ich da auf dem Hof aufgewacht bin, während die Jungs mich mit dem Schlauch abgespritzt haben, gehn mir seltsame Gedanken durch den Kopf. Das liegt nicht so sehr an dem Zeug, das ich in die Augen gekriegt hab, oder daran, dass ich mir den Kopf gestoßen hab. Aber für einen Moment konnte ich mich nicht daran erinnern, dass ich neunundvierzig bin oder bei dieser Recyclingfirma arbeite. Ich konnte mich nicht an Cathy erinnern oder an die Jungs oder an irgendwas sonst.«
Er hielt inne und trank einen Schluck Bier. Alma saß ihm an dem triefenden Tisch gegenüber und glotzte ihn mit ausdrucksloser Miene an. Sie hatte begriffen, dass er es ernst meinte, und hörte ihm aufmerksam zu. Mick fuhr fort.
»Die Sache ist die – als ich zum ersten Mal aufwachte, war ich mir sicher, dass ich wieder drei war und im Krankenhaus lag, damals, als mir das Hustenbonbon im Hals steckengeblieben ist.«
Almas trotzig ungezupfte Augenbrauen zogen sich zu einem nachdenklichen Stirnrunzeln zusammen.
»Damals, als du fast erstickt bist und Doug von nebenan dich mit seinem Gemüselaster die Grafton Street hochgefahren hat, über die Mounts und ins Krankenhaus? Wir dachten alle, du hättest dir deinen Dachschaden da geholt, ich jedenfalls.«
»Ich hab mir keinen Dachschaden geholt.«
»Ach, hör doch auf. Was denn sonst? Drei Minuten ohne Sauerstoff reichen schon. Sie haben alle erzählt, dass du nicht geatmet hast, den ganzen Weg von der Andrew’s Road bis zum Cheyne Walk, und mit einem rostigen Laster wie dem von Doug sind das mindestens zehn Minuten. Zehn Minuten ohne zu atmen, Kumpel, da reden wir von Hirntod.«
Mick lachte in sein Bier hinein und besprenkelte seine Nase mit Schaum.
»Und du willst eine Intellektuelle sein, Warry? Versuch doch mal, zehn Minuten nicht zu atmen, dann bist du nicht nur hirntot, sondern komplett hinüber.«
Das ließ sie beide verstummen, und sie hingen eine Weile ihren Gedanken nach, ohne zu einem greifbaren Ergebnis zu kommen. Schließlich erzählte Mick weiter.
»Also, was ich sagen will – als ich damals in dem Krankenhaus aufwachte, hatte ich keine Ahnung, wie ich dort hingekommen war. Ich konnte mich nicht erinnern, fast erstickt zu sein oder dass ich in Dougs Laster gewesen war, obwohl er mir erzählte, dass ich die ganze Zeit die Augen aufhatte. Als ich dieses Mal erwachte, war das anders. Wie gesagt, für einen Moment dachte ich, ich bin wieder drei und komme im Krankenhaus zu mir, aber dieses Mal konnte ich mich erinnern, wo ich gewesen war.«
»Was denn, im Garten hinten mit dem Hustenbonbon oder in Dougs Laster?«
»Das meine ich nicht. Nein, ich hab mich erinnert, dass ich in der Zimmerdecke war. Etwa zwei Wochen lang, und ich hab Feen gegessen. Muss ich wohl geträumt haben, während ich bewusstlos war, auch wenn es mir nicht wie ein Traum vorkam. Es war realer, aber auch bizarrer, und es ging dabei die ganze Zeit um die Boroughs.«
Alma versuchte unterdessen, die Frage einzuwerfen, ob er sich im Klaren war, dass er gerade gesagt hatte, er würde sich daran erinnern, zwei Wochen in der Zimmerdecke gewesen zu sein und Feen gegessen zu haben, oder meinte er, dass er das nur gedacht und nicht laut gesagt hatte? Mick ging darüber hinweg und fuhr fort, ihr sein ganzes Abenteuer zu erzählen, an das er sich jetzt mit verstörender Deutlichkeit erinnerte. Als er fertig war, saß Alma mit offenem Mund da und starrte ihren Bruder verblüfft aus medikamentös geweiteten Pandaaugen an. Schließlich äußerte sie ihre erste ehrliche Bemerkung des Abends.
»Das ist kein Traum, Kumpel. Das ist eine Vision.«
Ungewohnt ernst setzten die beiden ihre Unterhaltung im Halbdunkel des menschenleeren Gastraums fort und füllten wiederholt ihre Gläser, wobei Alma sich an Mineralwasser hielt – ihre Droge der Wahl waren das halbe Dutzend Haschischplatten von der Größe eines Bountyriegels, die in ihrer monströsen Wohnung oben an der East Park Parade herumlagen. Während sie so dasaßen, herrschte um sie her im Golden Lion das Gegenteil von Trubel – Anti-Lärm, vom tödlichen Pochen der Wanduhr beherrscht. Die Barbeleuchtung flackerte bisweilen, als schwirrten all die ausbleibenden Gäste braun und durchsichtig wie altes Zelluloid durch den Raum, wobei sich ihre mit Fliegendreck übersäten Un-Körper hin und wieder überlagerten und, wenn auch unmerklich, das Licht verdeckten. Stundenlang redeten Mick und seine Schwester über die Boroughs und über ihre Träume. Alma erzählte Mick ihren Traum von dem erleuchteten Laden an dem verlassenen Marktplatz, wo die Zimmerleute die Nacht hindurch gehämmert hatten. Sie erzählte ihm sogar, dass sie in jenem Traum an einen anderen Traum gedacht hatte, einen, den sie davor gehabt hatte, der Traum, in dem Doreen gesagt hatte, die Tauben seien, wo die Leute hinkamen, wenn sie tot waren, wenngleich Alma zugab, dass sie, als sie aufwachte, nicht mehr sicher war, ob sie das wirklich geträumt hatte oder ob sie nur geträumt hatte, dass sie es geträumt hatte.
Schlussendlich, als sie eine ganze Weile später in die böige Kälte der Castle Street hinaustraten, vibrierte Alma vor Energie, und Mick war hellauf knülle. Jetzt, wo er mit seiner Schwester gesprochen und ihre begeisterten Tiraden hatte über sich ergehen lassen, war alles viel besser. Während sie durch dieses geisterhafte Viertel die Castle Street entlang zur Fitzroy Street stiefelten, redete Alma über eine ganze Serie neuer Gemälde, die auf Micks Nahtoderfahrung fußen sollten (denn inzwischen hatte sie sich selbst davon überzeugt, dass seine wiedererlangten Erinnerungen genau das waren) und auf ihren eigenen Träumen. Sie machte sich darüber lustig, dass ihr Bruder um seine geistige Gesundheit fürchtete, und nahm das als ein weiteres Beispiel für seine Mädchenhaftigkeit, seine panische Unkenntnis von allem, was einem schöpferischen Gedanken ähnelte. »Dein Problem ist, Warry, dass du einen Einfall hast und den prompt für eine Hirnblutung hältst.« Ihr dabei zuzuhören, wie sie schwer umsetzbare transzendentale Bildideen ausspuckte wie ein hyperventilierender Lochstreifendrucker, gab ihm das Gefühl, dass ein Gewicht von ihm genommen wurde, und er schwebte in einem wonnigen, wüsten Bierfurz, der sich unter der riesigen, sternenklaren obsidianschwarzen Puddingschüssel der Sperrstunde verflüchtigte, die verkehrt herum auf die Boroughs gestellt worden war, wie um die Fliegen fernzuhalten.