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Tania Carver

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Beschreibung

Du kannst ihr nicht entkommen! Colchester: In kurzer Abfolge werden drei Männerleichen gefunden, die alle große Ähnlichkeit mit DI Phil Brennan haben. Bei jedem Opfer hat der Täter außerdem eine Tarotkarte mit dem Motiv des Gehängten hinterlassen. Auf der Rückseite: Phils Name. Steckt hinter den Morden die Stalkerin, die ihm schon seit Langem nachstellt?  Um das herauszufinden, muss Phil nach Colchester. Doch er kommt nie dort an. Seine Frau, Profilerin Marina Esposito, setzt alles daran, ihren Mann zu finden, bevor es zu spät ist. Ein packendes Finale für DI Phil Brennan und Profilerin Marina Esposito

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Jetzt gehörst du mir

Die Autorin

Tania Carver ist der Autorenname von Martyn Waites. Der Debütroman Entrissen mit der Profilerin Marina Esposito war wochenlang in der Sunday Times Top 10 und auf der Spiegel-Bestsellerliste. Danach begann der weltweite Erfolg der Thrillerserie.Von Tania Carver sind in unserem Hause die Marina-Esposito-Thriller erschienen: Entrissen · Der Stalker · Stirb, mein Prinz · Jäger · Morgen früh, wenn du willst · Du sollst nicht leben · Er will dein Herz · Jetzt gehörst du mir

Das Buch

In Colchester werden drei tote Männer gefunden – alle im Alter von DI Phil Brennan, alle ähnlich gekleidet wie er, alle an Orten ermordet, die in früheren Ermittlungen von Phil und seiner Frau, Profilerin Marina Esposito, eine Rolle spielten. Offensichtlich hat es der Täter auf ihn abgesehen. Schnell fällt der Verdacht auf eine alte Bekannte: die Fiona-Welch-Doppelgängerin, die seit einiger Zeit auf der Flucht ist und Phil aus ungeklärtem Motiv verfolgt. Nur Phil kann sie stoppen und macht sich auf den Weg nach Colchester. Doch Marina hat eine schreckliche Vorahnung. Und tatsächlich: Anstatt sein Ziel zu erreichen, findet sich Phil in einem exakten Nachbau seines eigenen Hauses wieder – gefangen in den Händen einer brutalen Killerin. Um ihren Mann zu retten, muss Marina die wahre Identität der Stalkerin aufdecken, die sich Fiona Welch nennt. Warum ist diese so fixiert auf Phil? Haben die beiden vielleicht mehr gemein, als Marina ahnt?

Tania Carver

Jetzt gehörst du mir

Thriller

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Januar 2019© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019© 2016 by Tania CarverTitel der englischen Originalausgabe: The Lost Girl (First published in Great Britain in 2016 by Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-1846-2

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Schneeengel

Erster Teil

Der Gehängte

1

Zweiter Teil

Nachtschwärmer

2

3

4

5

6

7

8

Brennende Burgen

Dritter Teil

Rainsford House

9

10

11

12

13

14

15

Festungsbau

16

17

Zähne zeigen

18

19

20

21

22

23

24

Fiona

Vierter Teil

Zeit der Hexe

25

26

27

28

29

30

Ein schmaler Grat

31

32

33

34

Die Schlinge zieht sich zu

35

36

Der Erste

37

38

39

40

41

42

Fünfter Teil

Gib Gas

Nach dem Ersten

43

44

Ein bequemes Leben

45

46

Detektivarbeit

47

Offenbarungen

48

49

50

51

52

53

Besessen

54

55

Bereit für den Rest ihres Lebens

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

Sechster Teil

Wolken

68

69

70

Anhang

Empfehlungen

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Schneeengel

Schneeengel

Eigentlich hätten sie in dem Haus sicher sein sollen. Deshalb waren sie ja dort.

Wo »dort« war, wusste sie nicht so genau, sie sagte es einfach, weil Mama und Papa es sagten. Sie ging dorthin, wo ihre Eltern hingingen. Machte das, was sie machten. Aber ja, dachte sie. Hier sind wir in Sicherheit. Wenigstens kam es ihr so vor.

Irrtum.

Es geschah ohne jede Warnung, an einem ganz normalen Tag – oder was für ihre Familie inzwischen als normal galt. Mama, Papa, ihr Bruder und sie waren alle zusammen, so wie immer. Es schneite, und sie wollte mit ihrem Bruder nach draußen gehen, um im Schnee zu spielen. Mama und Papa sahen sich besorgt an. Aber die Männer, die auf sie aufpassten – die für ihre Sicherheit sorgten, wie Mama immer sagte -, meinten, das wäre schon in Ordnung, sie würden ein Auge auf die Kinder haben. Also zog sie sich an.

Davor hatte sie mit den neuen Puppen gespielt, die sie geschenkt bekommen hatte. Eigentlich wusste sie gar nicht so richtig, was sie mit denen anfangen sollte. Ihre Kleider, ihre Haare und die kleinen beigefügten Teile waren ganz anders als die Spielsachen, die sie von früher gewohnt war. Natürlich hatte sie vorher auch schon Puppen gehabt, aber die waren aus Stoff und Stroh gewesen. Sie hatten ganz natürlich gerochen – nach den Materialien, aus denen sie gemacht waren. So wie ihre Belinda.

Diese neuen Puppen waren anders. Sie rochen irgendwie komisch. Unangenehm. Plastik, hatte ihre Mama gesagt und dabei den Mund verzogen, so wie sie es immer machte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Also hatte sie die Puppe wieder weggelegt. Wenn ihre Mama die Puppen nicht mochte, wollte sie lieber nicht damit spielen.

Doch als Mama das sah, lächelte sie.

Schon gut, meinte sie. Spiel ruhig mit deiner Puppe. Ich habe nichts dagegen. Aber sie lächelte nur so lange, wie sie in ihre Richtung sah. Als sie den Kopf hob und sich abwandte, war das Lächeln ganz schnell wieder verschwunden.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon hier waren. Sie erinnerte sich noch an ihr Leben davor. Sie erinnerte sich an ein Gefühl, das sie gehabt hatte – wahrscheinlich war es Glück gewesen. Geborgenheit. Sicherheit. Sie erinnerte sich auch, dass sie oft gelächelt und sich um die meisten Dinge keine Sorgen gemacht hatte. Aber dann waren eines Abends Mama und Papa zu ihr gekommen und hatten gesagt, sie müsse jetzt ganz leise sein. Mucksmäuschenstill. Ein bisschen war es so, als würden sie ein Spiel spielen. Sie durfte nur ein einziges Spielzeug mitnehmen, mehr nicht. Ihre Wahl fiel auf ihre Lieblingsstoffpuppe Belinda. Dann gingen sie los. Mama, Papa, ihr Bruder und sie. Hinaus in die Nacht.

Sie schlichen an einem Zaun entlang, unten am Ende des Gartens. Sie hatte Angst, aber um Mamas und Papas willen tat sie immer noch so, als wäre das alles ein Spiel. Sie versuchte so leise wie möglich zu atmen.

Irgendwann gelangten sie an ein Loch im Zaun. Papa lief hin und winkte die anderen zu sich. Sie blieb stehen und starrte auf das Loch. Auf einmal konnte sie sich nicht mehr bewegen. Mama hatte es gesehen, war stehen geblieben und schaute sie an.

Was ist? Nun komm doch. Es ist nur ein Spiel, zischte Mama mit gepresster Stimme. Jetzt mach schon. Wir sind bei dir. Alles wird gut. Wir können später noch mal zurückkommen und … alles andere holen. Aber jetzt beeil dich.

Sie war immer noch nicht ganz überzeugt, aber weil ihre Mama es sagte, folgte sie den anderen durch den Zaun.

Sie liefen durch einen Wald. Einen Wald, von dem sie bis dahin immer nur von weitem die Baumwipfel gesehen hatte. Und jetzt rannte sie auf einmal mitten hindurch.

Einmal hörten sie hinter sich ein Geräusch und wandten sich um.

Kommt schon, rief Papa, und sie gaben sich Mühe, noch schneller zu laufen.

Das ist kein Spiel, schoss es ihr durch den Kopf. Ich hab Angst. Ich will nicht hier sein. Ich will wieder zurück …

Kurz darauf sah sie weiter vorn Lichter aufscheinen. Zwei waren es. Sie blinkten. An, aus. An, aus. Von Papa angetrieben, rannten sie noch schneller, immer auf die blinkenden Lichter zu.

Es war ein Auto. Ein großes Auto mit vielen Sitzen. Jemand öffnete die hintere Tür, und Papa setzte erst ihren Bruder, dann sie auf die Rückbank. Danach stiegen er und Mama ein. Sie hatten kaum Zeit, dem Fahrer und den anderen Mann im Auto Hallo zu sagen, schon gingen die Türen zu, und sie fuhren los.

So waren sie hierhergekommen. In das sichere Haus.

So musst du es machen, sagte ihr Bruder.

Er legte sich rücklings in den Schnee, streckte Arme und Beine aus und bewegte sie hin und her. Weil er ihr älterer Bruder war und man ihr beigebracht hatte, dass man auf Erwachsene und Respektspersonen hören musste, machte sie es ihm nach.

Was ist das denn, was wir hier machen?, fragte sie nach ein paar Minuten.

Schneeengel, sagte er. Guck mal.

Er stand auf und bedeutete ihr, dasselbe zu tun. Dann zeigte er auf die Stelle, wo sie eben noch gelegen hatten.

Siehst du? Das sieht aus wie Flügel. Er schaute sie an und lächelte. Wir haben Flügel! Seit sie hier waren, lächelte er fast ununterbrochen. Wir haben Flügel!

Jetzt sah sie, was er meinte. Und weil er lachte, lachte sie mit. Und dann machten sie gleich noch zwei Schneeengel.

Es schneite den ganzen Vormittag, und es war so kalt, dass der Schnee liegen blieb und sie mehr als genug zum Spielen hatten. Sie spielten, bis sie müde wurden und Hunger bekamen.

Ich geh jetzt rein, verkündete sie.

Ihr Bruder sah von der riesigen Schneekugel auf, die er gerade vor sich her wälzte. Sie sollte der Bauch des größten Schneemanns aller Zeiten werden. Ach, bleib doch noch …

Ich komm wieder, sagte sie und verschwand um die Hausecke.

In dem Moment sah sie es. Es war ein Anblick, der sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würde.

Zuerst dachte sie, die Wachen würden auch Schneeengel machen. Doch im Näherkommen erkannte sie, dass ihre Flügel rot waren. Und dass sie sich nicht mehr bewegten.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war wie versteinert. Sie blickte um sich, wollte nach ihrem Bruder rufen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Schließlich lief sie mit wild klopfendem Herzen ins Haus. Sie wollte zu Mama und Papa.

Und fand sie. Auch sie lagen am Boden, so wie die beiden Polizisten. Auch sie waren voller Blut.

Dann wurde sie plötzlich von hinten gepackt.

Sie wehrte sich verzweifelt, biss, trat und schrie, damit mit ihr nicht dasselbe passierte wie mit Mama und Papa. Aber es hatte keinen Zweck. Sie war nicht stark genug.

Hör auf zu zappeln, du kleine Ratte, knurrte eine Stimme dicht an ihrem Ohr.

Sie roch schlechten Atem. Fauliges Fleisch und Zigarettenqualm. Sie kämpfte trotzdem weiter.

Ich hab gesagt, du sollst aufhören. Sonst blüht dir dasselbe wie denen da.

Sie begriff, was das bedeutete, und ihr Widerstand erlahmte.

Brav, sagte die Stimme. Wir gehen jetzt. Du legst dich auf den Boden und gibst keinen Mucks von dir. Mach die Augen zu und zähl im Kopf bis hundert. Kannst du das?

Sie wusste es nicht genau. Aber sie nickte trotzdem.

Gut. Wenn du damit fertig bist, fängst du noch mal von vorne an, hast du kapiert? Sonst kommen wir wieder. Das willst du doch nicht, oder?

Er stieß sie zu Boden. Sie kniff die Augen ganz fest zu und versuchte bis hundert zu zählen. Irgendwann machte sie die Augen wieder auf. Schaute sich um. Begegnete dem toten Blick ihrer Mama. Sie fühlte etwas Nasses an den Fingern und hob die Hand. Mamas Blut.

Sie fragte sich, was mit ihrem Bruder war. Wo er wohl steckte.

Doch sie wagte nicht, aufzustehen und nach ihm zu suchen. Also blieb sie liegen. Wie lange, wusste sie nicht. Sie starrte in Mamas leblose Augen, während Mamas Blut ihre Kleider tränkte.

Sie war zu verängstigt, zu benommen, um auch nur zu weinen.

1

Claire hielt Damiens Hand. Ganz fest. Ihr Herz klopfte, ihre Knie zitterten. Gewisse andere Regionen ihres Körpers zitterten ebenfalls. Sie konnte kaum glauben, was sie gleich tun würde.

Nicht sie allein – sie beide. Sie beide würden es tun. Endlich.

Sie sah zu Damien. Betrachtete sein Profil im Licht der Abenddämmerung. Gott, er sah so unfassbar gut aus. Vielleicht war er nicht jedermanns Typ. Er war nicht attraktiv im klassischen Sinn, aber er löste etwas bei ihr aus. Berührte etwas in ihr, wie niemand sonst es konnte. Ganz bestimmt nicht Gareth. Das war schon seit Jahren vorbei.

Sie wandte sich ab und richtete den Blick wieder auf ihre Füße. Sie kamen nur langsam voran, der Sand am Flussufer war noch nass von der auslaufenden Flut.

Hinter ihnen lag der Weg zur Hauptstraße, wo sie das Auto geparkt hatten. Was in Wrabness so als Hauptstraße durchging. Zwischen Colchester im Süden und Ipswich im Norden gelegen, war es nicht einmal ein richtiges Dorf. Eine Handvoll verstreuter Häuser, ein paar Gehöfte, ein Streifen Strand mit einigen Stelzenhütten und morschen Bootsrümpfen am steinigen Ufer: Das war Wrabness.

Und ein Wald. Ein dunkler Wald. Ein Wald, in dem zwei Menschen leicht vom rechten Weg abkommen konnten. Wenn sie es denn wollten. Und sie wollten. Sie wussten, was hier draußen passiert war. Die Morde. Der Wahnsinn. Die Babys. Der Stoff, aus dem Albträume, reißerische True-Crime-Bücher und effekthascherische Dokus auf Kanal 5 gemacht wurden. Und von allen dreien hatte es reichlich gegeben. Sicher, sie hätten auch in ein Hotel gehen können, so wie andere Leute, die eine Affäre hatten. Sie hätten Sex in einem Bett haben können, das sie bezahlt hatten, in dem sie aber nie schlafen würden. Aber wo blieb da das Abenteuer, der Nervenkitzel? Sie wollten etwas Aufregendes. Und wo war es aufregender als an einem der unheimlichsten Orte, die die Umgebung zu bieten hatte? Hier hatte ein gefährlicher, perverser, transsexueller Serienkiller sein Unwesen getrieben. Das machte die Sache noch aufregender: der kombinierte Kitzel von Sex und Tod.

Mit der freien Hand zog sich Claire die Bluse und den Rock zurecht, die verrutscht waren, als sie im Auto geknutscht hatten. Sie waren schon während der Fahrt so scharf aufeinander gewesen, dass sie kaum die Finger voneinander lassen konnten. Dass sie sich die Bluse jetzt wieder in den Rock steckte, war nur für den Fall, dass sie jemandem begegneten. Nicht dass das wahrscheinlich war. Nicht an einem Ort wie diesem und nicht um diese Zeit. Und wenn doch, dachte sie, während ein Schauer sie durchlief und ihr ganz schwindlig wurde vor Vorfreude auf das, was gleich passieren würde, dann hat er ja vielleicht Lust zuzuschauen?

Erneut sah sie sich um. Keine Menschenseele. Statt also ihre Bluse in Ordnung zu bringen, öffnete sie sie noch weiter. Damien beobachtete sie dabei. Beäugte ihren schwarzen Spitzen-BH, den sie extra für ihn angezogen hatte. Er war Teil eines Wäschesets, das er besonders gern mochte. Er hatte es ihr selbst gekauft. Sie sah sein Gesicht. Merkte, wie sich seine Schritte beschleunigten.

Seine plötzliche Eile rief etwas in ihr wach. Etwas Dunkles, Hungriges, Primitives.

Sie konnte es gar nicht mehr erwarten.

»Und hier wurde die Leiche gefunden.« Malcolm wies auf eine Stelle weiter vorn. »Genau hier, meine Damen und Herren …«

Er versuchte sie zu begeistern, wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass er sich umsonst bemühte. Ganze sieben Leute waren zu seiner Führung gekommen, und zwei von ihnen hatten sich bereits beschwert, weil sie so weit laufen mussten. Drei simsten ununterbrochen, als wären sie in der Schule und er hielte gerade eine besonders langweilige Unterrichtsstunde ab. Obwohl er sich redlich bemühte, seinen Vortrag durch theatralische Ausschmückungen lebendiger zu gestalten, war sein Mörder-Spaziergang durch Colchester beileibe nicht der durchschlagende Erfolg, den er sich ausgemalt hatte.

»Genau hier«, rief er, während ihm bereits der nächste blumige Ausdruck auf der Zunge lag. Er würde diesen Schwachköpfen etwas für ihr Geld bieten. »Vor dem Lichtmast auf dem Feuerschiff. Die Frau war splitternackt. Brutal zugerichtet – ja, beinahe gespalten …« Das letzte Wort brüllte er fast, als wäre er ein Jahrmarktschreier aus einem viktorianischen Groschenroman. Irgendjemand lachte – nicht gerade die Reaktion, die er sich erhofft hatte. Doch er fuhr unbeirrt fort: »Vergewaltigt. Ihr Körper trug die Spuren von Messern, Ketten, Peitschen …« Mit großen Augen beugte er sich nach vorn. »Der Täter hatte ihr ein Wort in die Stirn geritzt. Das Wort … HURE …«

Er riss die Augen noch weiter auf. Seine Zuhörer kicherten.

Mein Gott, ermahnte er sich im Stillen. Schalt mal einen Gang runter.Du klingst ein bisschen zu enthusiastisch. Er seufzte. Hätte ich doch noch meine Stelle in der Bücherei.

Als der Etat für die öffentlichen Bibliotheken gekürzt wurde, war Malcolm einer der Ersten gewesen, die entlassen wurden. Danach war ihm die Idee zu diesem Mörder-Spaziergang durch Colchester gekommen. Er hatte einmal an einer Jack-the-Ripper-Tour im Londoner East End teilgenommen und war tief beeindruckt gewesen. Ihr Führer hatte sich als überaus belesen herausgestellt, seine Tour aber dennoch unterhaltsam und lebendig gestaltet. Er hatte die Verbrechen innerhalb ihres historischen Kontextes erläutert und den Opfern eine Stimme gegeben. Seine Ausführungen waren kein bisschen reißerisch gewesen, sondern echte Geschichte zum Anfassen.

Auf der Zugfahrt nach Hause hatte Malcolm nachgedacht. Colchester hatte in den vergangenen Jahren einen deutlichen Anstieg an Gewalttaten zu verzeichnen gehabt, darunter sogar eine beachtliche Anzahl von Mordserien.

Warum also nicht …?

Und nun stand er hier, an einem trüben, kalten Dienstagabend, unten am Kai des Flusses Colne. Er hatte sich so extravagant gekleidet, wie seine Garderobe es hergab. Er versuchte nach Kräften, einen echten Charakter darzustellen, rang verzweifelt um die Gunst seiner winzigen Zuhörerschar. Am liebsten hätte er die Führung abgebrochen und wäre in den Pub gegangen.

»Gibt es dazu noch irgendwelche Fragen?«, wollte er wissen.

»Ja«, sagte ein Typ. Groß, rasierter Schädel, Tattoos. Die Frau an seiner Seite war solariumsgebräunt und trug Schuhe mit hohen Pfennigabsätzen. Ihre Beine waren dünn wie Zahnstocher, und jedes Mal, wenn sie auf ihren Schuhen vorwärts stöckelte, fürchtete Malcolm, sie könnten durchbrechen.

»Ja?«, sagte Malcolm.

»Was ist denn jetzt genau mit ihr passiert?«

»Dazu komme ich gleich.«

»Es ist nämlich so: Ein Kumpel von mir, der hatte früher mal einen Imbisswagen da oben.« Der Mann deutete die Straße hinunter. »Und er meinte, er hätte der Polizei geholfen. Hat mir ein paar Sachen über den Fall erzählt.« Der Mann lächelte genüsslich bei dem Gedanken an das, was er gleich sagen würde. »Zum Beispiel, dass …«

»Das ist ja ganz wunderbar«, schnitt Malcolm ihm das Wort ab. »Für Ihren Freund, meine ich. Und keine Bange, ich werde Ihnen nichts Wichtiges vorenthalten. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen …«

Er wandte sich um und ging den Kai entlang auf ein altes, leerstehendes Lagerhaus zu, neben dem ein rostiger Verladekran aufragte.

»Hier wird die Geschichte erst richtig interessant«, sagte er und wünschte, er könne seinen eigenen Worten Glauben schenken.

Josh war froh über die Dunkelheit. So konnte keiner sehen, wie viel Angst er hatte.

Zu dem Haus zu gehen war seine Idee gewesen. Mehr oder weniger jedenfalls. Es war eine Art Mutprobe. Er musste es tun – zumindest wenn er von den coolen Kids an seiner Schule akzeptiert werden wollte.

Er sah zu den anderen beiden hinüber. Kyle war klein, immer perfekt frisiert und hatte ein Gesicht, das manchmal aussah wie das eines Engels, aber meistens eher wie das eines irren Psychopathen, mit Augen, die die ganze Zeit auf Unheil zu lauern schienen. Tom war Kyles bester Freund und vergötterte ihn regelrecht. Der typische Mitläufer eben. Er machte alles, was Kyle sagte. In der Schule ging er immer in seinem Windschatten oder blieb genau hinter seiner linken Schulter stehen und lachte dreckig vor sich hin, als hätte er gerade einen wahnsinnig komischen Witz gehört.

Josh wollte dazugehören. Warum, das wusste er selbst nicht so genau. Normalerweise hing er eher mit den Strebern rum. Den Mathecracks und Bücherwürmern.

Aber aus irgendeinem Grund schienen sich Kyle und Tom für ihn zu interessieren und hatten beschlossen, ihn eventuell in ihren erlesenen Kreis aufzunehmen.

Joshs Freunden war das auch aufgefallen; sie waren alles andere als begeistert von den Typen, mit denen er sich neuerdings abgab, und zogen sich mehr und mehr vor ihm zurück. Er war traurig deswegen, klar, aber im Moment gab es da ohnehin jemand anderen, der praktisch seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: Hannah Cresswell. Sie stand auf Bad Boys, und seit Josh mit Kyle und Tom enger war, hatte sie ein Auge auf ihn geworfen. Also hatte Josh sein schlechtes Gewissen beiseitegeschoben. Sie war es allemal wert, seine alten Freunde zu opfern.

»Wo ist es denn jetzt?«

»Da vorn. Ist nicht mehr weit.«

Den East Hill in Colchester im Rücken, gingen sie einen baumbestandenen Weg entlang. Das Laub der Bäume wisperte und säuselte über ihren Köpfen und um sie herum in einer Sprache, die Josh nicht verstand. So viele Bäume so nah an der Straße. Und trotzdem konnte man die Straße weder sehen noch hören. Das Wispern rief in ihm ein unbehagliches Gefühl hervor.

Vor ihnen lag der Fluss, dahinter kamen die Schrebergärten, eine Trafostation und der Pfad, der zu ihrem Wohnblock führte. Er lag im Schatten und war fast vollständig zugewachsen – ein El Dorado für Räuber und Vergewaltiger. Wenigstens den lokalen Schauergeschichten zufolge.

Aber davor kam das Haus. Eigentlich waren es drei Häuser, aber nur eins davon interessierte sie.

Das Haus, wo man den irren Jungen im Käfig gefunden hatte. In einem Käfig aus Knochen.

Der Fall hatte damals in der ganzen Stadt für Aufsehen gesorgt und eine große Ermittlung losgetreten. Menschen waren ermordet worden, Geheimnisse ans Licht gekommen. Danach hatte man das Haus mitsamt Käfig einfach sich selbst überlassen. Eigentlich hätte es abgerissen werden sollen, doch irgendwie war es nie dazu gekommen, und so waren die finsteren Legenden mit dem Unkraut um die Wette gewuchert.

»Da ist es«, sagte Josh irgendwann, blieb stehen und deutete voraus.

Die Blicke der beiden anderen folgten seinem ausgestreckten Finger. So sahen sie auch nicht, dass Josh erschauerte. Das Haus war nicht viel mehr als eine Ruine, der teilweise nackte Dachstuhl notdürftig mit einer schwarzen Plastikplane abgedeckt. Es sah aus, als würde eine riesengroße, bösartige, geflügelte Gestalt auf dem Dach hocken. Die Ziegel an den Hauswänden waren fleckig und bröckelten. Die Rückseite hatte die Natur bereits vollständig zurückerobert. Vor dem Haus neben dem Pfad verlief ein hoher Maschendrahtzaun, der mit Betonfundamenten im Boden verankert war und an dem mehrere Schilder vor dem Betreten des Grundstücks warnten. Am Drahtgeflecht des Zauns flatterten noch einige Fetzen verblichenen Absperrbandes im Wind.

Die drei Jungen standen wie angewurzelt vor dem Zaun.

Irgendwann gab Kyle Josh einen Stoß in den Rücken.

»Na los«, sagte er. Jetzt blitzte kein Unheil in seinen Augen auf, höchstens unterdrückte Furcht. »Du zuerst.«

Josh drehte sich zu ihm um. »Ich dachte, wir gehen alle zusammen.«

»Hey, das hier war deine Idee. Du wolltest unbedingt herkommen. Du hast gesagt, du zeigst uns das Haus.«

»Genau«, meldete sich Tom von seinem Platz hinter Kyles linker Schulter. »Das hast du selbst gesagt.«

Josh blickte zwischen den beiden hin und her. Sie hatten genauso viel Angst wie er. Am Morgen in der Schule war es ihm noch wie eine gute Idee vorgekommen. Er hatte sich mutig gefühlt. Mittlerweile erschien ihm der Plan allerdings nicht mehr so toll.

»Wovor hast du Schiss?«, fragte Kyle in dem Versuch, von seiner eigenen Angst abzulenken.

Tom schien zu überlegen, ob er Kyle unterstützen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

»Vor gar nichts«, behauptete Josh und hoffte, dass die anderen ihm das abkauften.

»Na, dann los.«

»Du hast gesagt, wir machen es zusammen …«

Kyle lachte. In der Dunkelheit klang es eher nach einem Rülpser. »Dann lass es halt. Dann erzählen wir morgen allen, dass du die Hose voll hattest.«

Allen, dachte Josh. Er wusste, was das bedeutete: Hannah Cresswell.

»Ich hab nicht die Hose voll«, widersprach er zu laut und plötzlich wütend. »Ich geh ja schon.«

Er begann am Zaun zu rütteln, damit eine Öffnung entstand, durch die er sich hindurchzwängen konnte. Die anderen beiden standen untätig da und glotzten.

»Kommt ihr auch, oder was ist?«, fragte Josh.

»Wir warten, bis du drin bist.«

Fast hätte Josh gelacht. »Und dann rennt ihr schnell nach Hause oder was?«

Wut funkelte in Kyles Augen. »Du kannst mich mal. So was würd ich niemals machen.«

»Dann hast du also Schiss?«

»Ich hab doch keinen Schiss, Alter!«

Tom sah einfach nur zwischen den beiden hin und her. Vielleicht hatte es ihm die Sprache verschlagen.

Jetzt musste Josh wirklich lachen. Die zwei wollten cool sein? Von wegen. Die trauten sich ja nicht mal, mit ins Haus zu kommen. Dabei hatten er und seine Freunde das schon oft gemacht. Total oft. Sie hatten sich im ganzen Haus umgesehen. Seine Freunde. Seine echten Freunde. Plötzlich vermisste er sie.

Er quetschte sich durch den entstandenen Spalt im Zaun und hielt ihn auf. Bringen wir’s hinter uns, dachte er. Dann kann ich wieder zu meinen richtigen Freunden gehen. Diese Loser hier können mich mal.

»Na, dann kommt«, sagte er und hielt den Zaun fest. »Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.«

Widerstrebend folgten Kyle und Tom ihm aufs Grundstück.

»Hier«, sagte Claire und riss Damien an sich. »Jetzt.«

Ihre Hände waren überall, zogen ihm die Jacke aus und zerrten ihm gleichzeitig das Hemd aus der Hose. Ein Gefühl von Macht durchströmte sie, eine primitive Gier.

»Vorsicht …« Damien versuchte sich das Hemd selber aufzumachen, damit Claire ihm in ihrem Überschwang nicht die Knöpfe abriss. Das fehlt noch, dachte er, wenn Joanne meine Schmutzwäsche einsammelt und dabei ein zerrissenes Hemd findet. Den Rest würde sie sich dann bestimmt denken können.

Claire ließ von Damien ab und machte sich stattdessen an ihren eigenen Kleidern zu schaffen. Erst kam die Bluse, die sie ja bereits unterwegs aufgeknöpft hatte, dann der Rock.

Irgendwann stand sie in Unterwäsche vor ihm. Damien wollte sie in dem dämmrigen Licht erst eine Weile betrachten, sich Zeit nehmen, den Körper, auf den er schon so lange scharf war, ausgiebig zu bewundern, aber sie war bereits dermaßen in Fahrt, dass er keine Gelegenheit dazu bekam.

»Langsam, langsam … Wir haben doch keine Eile …«

Sie hörte gar nicht hin, sondern drückte ihn kurzerhand auf den Boden. Er landete auf fauligem Laub, abgebrochenen Zweigen und Steinen, die sich in seinen Rücken bohrten.

»Das ist es«, keuchte sie. »Ich spüre es ganz deutlich. Hier. Jetzt …«

Sie zog an ihm herum, streichelte ihn, zerrte an seinen Kleidern.

Ich hätte eine Picknickdecke mitbringen sollen, durchfuhr es ihn, und dann: Jetzt muss der Anzug in die Reinigung. Er begann sich gerade zu fragen, ob das hier nicht vielleicht zu viel Aufwand für ein bisschen Spaß war, als Claire endlich ihren BH auszog und sich rittlings auf ihn setzte. Er sah zu ihr empor. Zwei Kinder, und ihre Möpse hingen kein bisschen durch. Na ja, jedenfalls kaum. Er merkte, wie er steif wurde. Spürte ihre Hände an seiner Hose.

Ach, was soll’s?, dachte er bei sich. Jetzt, wo wir schon mal hier sind …

Er entspannte sich und ließ sie gewähren. Versuchte zu vergessen, wie unbequem er lag, und es einfach nur zu genießen.

»Fiona Welch, meine Damen und Herren, so lautete ihr Name.« Allmählich bekam Malcolm vom lauten Reden Halsschmerzen.

Trotz der kleinen Gruppe hatte er Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Aber das war seit jeher sein Problem gewesen.

»Und wenn Sie jetzt hierher schauen …« Er deutete auf den Kran über ihren Köpfen, dessen Silhouette sich neben den Lichtern des Kai vor dem dunkler werdenden Abendhimmel abzeichnete. »Von dort oben ist sie in den Todgestürzt.« Das von ihm angepeilte dramatische Crescendo bei den letzten Worten wurde leider dadurch zunichtegemacht, dass ihm urplötzlich die Stimme versagte. »Entschuldigung«, sagte er in der Hoffnung, dass sein Publikum mit ihm, nicht über ihn lachen würde. »Da können schon mal die Emotionen mit einem durchgehen.« Er räusperte sich, dann fuhr er fort.

»Fiona Welch. Sie war Psychologin und hat der Polizei in einer Reihe von Morden beratend zur Seite gestanden. Aber, meine Damen und Herren, wie Sie vielleicht wissen, war das alles nur ein Ablenkungsmanöver. Denn in Wahrheit war es Fiona Welch selbst, die hinter den Morden steckte.« Er wartete, bis seine Zuhörer diese Information verarbeitet hatten, erst dann sprach er weiter.

»Sie hat Frauen verschleppt – junge, alleinstehende Frauen – und sie hier gefangen gehalten.« Er zeigte auf das Lagerhaus. »Hat sie in sargähnliche Kisten eingepfercht, die, für den Fall, dass ihre Opfer zu fliehen versuchten, unter Strom gesetzt waren. Hilfe bekam sie dabei von einem stummen, humpelnden Ungeheuer in Menschengestalt, das nur unter dem Namen ›der Creeper‹ bekannt war.«

So viel zu »den Opfern eine Stimme geben, ohne ihr Leid auszuschlachten«, dachte Malcolm.

»Warum sie es getan hat? Welches Ziel sie damit verfolgte?« Er sah seine Zuhörer an, die mit gespannten Mienen darauf warteten, dass er all die grausigen, obszönen Einzelheiten vor ihnen ausbreitete. Jetzt hatte er sie endlich am Haken. Es war eine vollkommen neue Erfahrung, die ihn mit neuer Kraft erfüllte. Jetzt durfte er sie nicht enttäuschen.

»Nun, das wissen wir nicht. Diese jungen Frauen wurden bestialisch gefoltert, verstümmelt und anschließend getötet. Alle, bis auf die Letzte. Sie war eine wahre Heldin. Aber dazu später mehr.«

Erneut deutete er auf die Lagerhalle.

»Sollen wir hineingehen?«, fragte er. »Dort drinnen geht die Geschichte weiter.«

Sie folgten ihm begierig.

Malcolm lächelte. Er hatte sie genau da, wo er sie haben wollte. Also gut, vielleicht betonte er die reißerischen Aspekte des Falls etwas zu sehr. Und wenn schon – er gab den Leuten, was sie wollten. Oh ja.

Jetzt konnte seine Führung nur noch ein Erfolg werden.

»Na los, mach sie schon auf.«

Tom starrte auf die Türklinke, als würde sie ihn beißen, sobald er sie anfasste. Josh, von dem die Aufforderung gekommen war, stand da und beobachtete ihn abwartend.

Tom drehte sich zu ihm um. »Mach’s doch selber.« Und nicht einmal die Dunkelheit, die plötzlich noch tiefer geworden zu sein schien, konnte die Angst verbergen, die in seinen Augen flackerte wie ein schüchternes Flämmchen.

Josh sah zu Kyle, aber der sagte nichts. Dann starrte er wieder auf die Tür. Er selbst hatte keine Angst, jedenfalls nicht so viel wie die anderen beiden. Und das gab ihm Kraft. Fast hätte er gegrinst. »Wisst ihr eigentlich, was hier drin passiert ist?«

Kyle und Tom schwiegen. Atmeten schwer. Die Bäume blockierten fast alle Geräusche von der Straße. Nur das leise Rauschen des Flusses war zu hören. Es klang träge und bedächtig, als wäre das Wasser geronnen und kurz davor, endgültig zum Stillstand zu kommen.

»Jetzt mach halt die Tür auf«, sagte Tom. Kyle schien komplett mit Stummheit geschlagen zu sein. »Mach die Tür auf, dann bringen wir’s hinter uns.«

»Schiss?«, fragte Josh. »Denkt ihr, der Käfig ist noch da? Der Knochenkäfig?« Er fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Ich nicht. Bestimmt waren inzwischen viele Leute hier und haben Teile davon geklaut. Falls die Bullen ihn nicht abgebaut haben. Aber wär doch cool, wenn noch Knochen übrig wären, oder? Dann könnten wir uns ein Souvenir mitnehmen. Einen Knochen. Vielleicht sogar einen Menschenknochen …«

Tom und Kyle schlotterten mittlerweile vor Angst. Josh hatte seinen Spaß.

»Gehen wir rein«, sagte er und öffnete die Tür.

Er betrat das Haus und schaltete die Taschenlampe an seinem Handy ein. Der Lichtkegel irrte durch den Raum.

Das Haus war die reinste Müllhalde. Dem Abfall, den leeren Flaschen und Dosen und den vertrockneten braunen Haufen nach zu urteilen, musste jemand es als Unterschlupf benutzt haben. Er machte ein paar zaghafte Schritte. Etwas knirschte unter seinen Schuhen. Er blickte nach unten. Eine Spritze. Schlagartig verging ihm die Lust, das Haus weiter zu erkunden. Zum ersten Mal hatte er wirklich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun – an einem Ort zu sein, an dem er nichts zu suchen hatte. Nicht weil es so unheimlich war oder er sich vor Geistern fürchtete oder dergleichen – sondern weil irgendwo da drinnen womöglich ein echter, lebendiger Mensch lauerte, der ihnen etwas antun konnte.

Er wandte sich zu den anderen beiden um, die ihm zögerlich ins Haus gefolgt waren. Auch sie hatten an ihren Handys die Taschenlampen eingeschaltet.

»Ist das …?« Kyle deutete auf einen der vertrockneten Haufen.

»Ja«, sagte Tom. »Kacke …«

»Wir sollten lieber abhauen«, schlug Josh vor. »Wir waren drinnen, jetzt können wir wieder gehen.«

»Ich hab doch keine Angst vor irgendeinem Penner.« Erstaunt über die plötzliche Aggression in Kyles Stimme, sahen die anderen beiden ihn an. »Ich doch nicht. Wir sind zu dritt, und der ist nur einer. Mit dem werden wir locker fertig.« Kyle fuchtelte mit seiner Taschenlampe herum, als suche er jemanden.

Tom und Josh sahen sich an. Beide waren verwirrt und auch ein bisschen erschrocken darüber, wie schnell sich Bündnisse ändern konnten. Den ganzen Abend hatte es zwei gegen einen gestanden. Das war jetzt immer noch so – bloß dass es jetzt andere zwei waren.

Kyle ging weiter. Die Bodendielen knarrten unter seinen Schritten.

»Na los, schnappen wir uns den Wichser.«

Er drang tiefer ins Haus vor.

Josh und Tom tauschten erneut einen Blick. Sie hörten, wie Kyle irgendwo eine hölzerne Treppe hinabstieg.

»Na, komm«, sagte Josh. »Lass uns –«

Kyles Schrei ließ ihn jäh verstummen.

Damien nahm nichts mehr wahr außer seiner eigenen Lust, seinem eigenen Vergnügen.

Claire ritt ihn hart. Nahm ihn in sich auf und ließ ihn aus sich herausgleiten, wieder und wieder. Es war göttlich. Alle Gedanken an Moral, seine Frau, seine Kinder, seinen Job und sein Leben waren wie weggeblasen. Es gab nichts mehr außer diesen einen Augenblick.

Er spürte seinen Orgasmus nahen. Der beste seit Jahren.

Er hatte die Augen weit aufgerissen. Die meisten Männer kamen mit geschlossenen Augen. Nicht so Damien. Er hatte die Augen immer offen.

Früher, als seine Frau noch an ihm interessiert gewesen war, hatte sie einmal gesagt, dass er beim Orgasmus immer aussehe, als würde er gleich sterben.

Und jetzt war er ganz kurz davor, das Gesicht verzerrt, die Augen kugelrund. Gleich, gleich …

Und dann sah er es.

»Oh mein Gott!«, schrie er.

Claire verstand das als Anfeuerungsruf und ritt ihn noch energischer.

Damien wand sich unter ihr. Versuchte, sie abzuwerfen.

»Mein Gott … mein Gott, da ist … Scheiße …«

Er packte sie bei den Hüften und versuchte sie von sich herunterzuschieben. Doch sie wollte nicht aufhören und leistete Widerstand.

Wütend funkelte sie ihn an. »Verdammt, das ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt für Gewissensbisse, Damien …«

Endlich gelang es Damien, sie abzuschütteln. Taumelnd kam er auf die Füße. »Da ist …« Wie gelähmt stand er da, mit heruntergelassener Hose und halb erschlafftem Glied, die Kleider vom Waldboden schmutzig und zerrissen. Er zeigte mit dem Finger auf etwas.

Claires Unterwäsche war verrutscht, die Strümpfe voller Laufmaschen, und ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie sich über Damien ärgerte. Dennoch folgte sie seinem ausgestreckten Arm.

»Ach du Scheiße …«

Zuvor, als ihre Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war es ihnen gar nicht aufgefallen. Aber jetzt sahen sie es – direkt neben der Stelle, wo sie gelegen hatten. Da war die Gefahr, das Abenteuer, das Claire sich gewünscht hatte. Doch mit einem Mal war ihr nicht mehr nach Gefahr und Abenteuer zumute. Und Damien auch nicht.

Am dicken Ast einer Eiche hing ein Mann. Die Schlinge saß fest um seinen Hals, sein Kopf war in einem seltsamen Winkel abgeknickt, sodass man auf den ersten Blick erkennen konnte, dass sein Genick gebrochen war. Er trug Jeans, Lederjacke, Karohemd und Stiefel. Mehr konnten sie nicht erkennen. Aber das reichte.

Damien und Claire rafften hastig ihre Kleider zusammen und stürzten davon.

Sie blieben erst stehen, als sie beim Wagen ankamen.

»Ich muss nur noch diese Tür hier aufbekommen, meine Damen und Herren …«

Sie standen am Seiteneingang zur Lagerhalle. Malcolm rüttelte heftig an der verrosteten Wellblechtür. Sie ließ sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Die Kante des braunen, rostfleckigen Blechs war scharf und grub sich schmerzhaft in seine Hand.

Tetanus, dachte Malcolm. Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt.

»Man hat mir gesagt … man hat mir gesagt, sie würden es für uns offen lassen … sie würden nicht abschließen …«

Einer seiner Zuhörer trat vor. Es war der große Typ mit der braungebrannten Spielerfrau. Er packte die Tür und zog sie praktisch mit einer Hand auf. Die anderen applaudierten. Der Mann verbeugte sich.

»Wahrscheinlich habe ich sie für Sie gelockert …«, meinte Malcolm lachend. Aus Höflichkeit lachten die anderen mit.

»Also gut, gehen wir rein.«

Er ging vor. Seine Zuhörer folgten ihm einer nach dem anderen.

Im Gehen erzählte er weiter: »In diesem Lagerhaus, meine Damen und Herren, hat Fiona Welch ihre Opfer gefangen gehalten. In Kisten eingesperrt, mussten die jungen Frauen Todesängste ausstehen. So groß war ihre Furcht, dass sie es nicht einmal wagten zu sprechen oder sich zu bewegen. Damit sie nicht verhungerten, bekamen sie Hundefutter zu essen.« Diese Information veranlasste einige zu einem angewiderten Schaudern – genau wie Malcolm es sich vorgestellt hatte.

So langsam begann ihm die Sache Spaß zu machen.

»Wenn ich jetzt noch den Schalter finden könnte …«

Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und drückte ihn. Nichts tat sich.

»Aha. Kein Strom. Ein Glück, dass ich die hier mitgebracht habe …« Er holte eine Taschenlampe hervor. Es war die stärkste, die er sich hatte leisten können. Er knipste sie an und ließ den Strahl über die Gesichter seiner Zuhörer wandern. »Ohnehin viel atmosphärischer so, nicht wahr? Also, gehen wir weiter.« Er leuchtete mit der Taschenlampe den Weg.

Sie gingen bis zur Mitte der Lagerhalle.

»Wie gesagt, in diesem Raum wurden die Frauen gefangen gehalten. Und auf diesem Metallgerüst –«

Er brach abrupt ab und starrte wie versteinert geradeaus. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe glitt zu Boden.

»Oh Gott …«

Die anderen sahen erst ihn an, dann spähten sie angestrengt voraus in die Dunkelheit.

Malcolm stand noch immer wie angewurzelt da.

Langsam wurden seine Zuhörer unruhig. War das Teil der Führung? Würde gleich jemand aus einer Ecke gesprungen kommen und sie erschrecken? Sie auch in Kisten einsperren?

Der große Kerl, der die Tür geöffnet hatte, trat nach vorn und tippte Malcolm auf die Schulter. Der schrie auf und zuckte vor Schreck zusammen. Dann richtete er den Strahl seiner Taschenlampe auf das Metallgerüst.

»Ach du Scheiße …«

Die Blicke der anderen folgten dem Lichtstrahl. Vom Gerüst hing, einen Strick um den Hals, ein Mann. Er trug eine Lederjacke, ein kariertes Hemd und Jeans. Dem Winkel zufolge, in dem sein Kopf herunterhing, war er längst tot.

»Oh mein Gott … oh mein Gott …«

In der kleinen Gruppe brach Unruhe aus. Die Leute wussten nicht, was sie tun sollten. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, sahen einander an. Verängstigt, unsicher, fassungslos.

»Das ist … das war so nicht vorgesehen …«

Ganz allmählich überwanden sie ihren anfänglichen Schock, und ihnen wurde bewusst, was sie da sahen. Jemand machte den Vorschlag, einen Krankenwagen zu rufen. Jemand anders meinte, dafür wäre es ja wohl zu spät. Dann eben die Polizei. Gut, die Polizei.

Daraufhin begann eine Diskussion darüber, ob sie sich am Schauplatz eines Mordes befanden und ob man überhaupt etwas anfassen dürfe?

Malcolm war ihnen keine Hilfe. Die Autorität, die er über die Gruppe gehabt hatte, war von kurzer Dauer gewesen. Jetzt stand er einfach nur noch da und stierte verloren ins Leere.

Jemand alarmierte die Polizei. Während die Leute warteten, erholten sie sich zunehmend von ihrem Schrecken, und ihre Angst wich einer seltsamen Erregung angesichts ihrer Entdeckung. Sie holten ihre Handys heraus und machten Selfies mit der Leiche.

Tom und Josh sahen einander mit vor Angst geweiteten Augen an.

Sie waren wie erstarrt, konnten sich nicht rühren. Nach Kyles Schrei wussten sie nicht, ob sie die Flucht ergreifen oder ihm zu Hilfe kommen sollten.

Da schrie Kyle erneut. Und dann noch ein drittes Mal. Noch immer rührten die Jungs sich nicht vom Fleck.

Plötzlich hörten sie das laute Poltern von Schritten, als jemand Hals über Kopf die hölzerne Kellertreppe hinaufstürmte. Sie richteten die Lichtkegel ihrer Taschenlampen dorthin, woher die Geräusche kamen. Es war Kyle, der panisch auf sie zugerannt kam.

»Raus hier … raus …«

Seine Worte rissen sie aus ihrer Erstarrung, und alle drei stürzten zur Tür.

Raus in den Wald, nur schnell weg vom Haus.

Über Baumwurzeln, abgebrochene Zweige und die Füße der anderen stolpernd, rannten sie zum Maschendrahtzaun. Dahinter lag der Pfad. Dort wären sie in Sicherheit.

Sobald sie sich durch die Lücke gezwängt hatten und auf dem Weg standen, fand Josh die Sprache wieder.

»Was hast du gesehen?«, wollte er von Kyle wissen.

Doch der andere Junge gab keine Antwort. Er stand mit weit aufgerissenen Augen da und keuchte nur.

»Was war da?«, fragte Josh erneut.

Kyle sah zwischen den beiden anderen hin und her. Noch nie hatte Josh solche Angst in den Augen eines Menschen gesehen. Und er glaubte auch nicht, so etwas je wieder zu sehen. Er hoffte es wenigstens.

»Kyle …«

Kyle schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann öffnete er sie wieder.

»Da … da war eine Leiche … ein Mann … der … der hing einfach da …«

»Er hing da? Wo denn? So wie … wie denn?«

Kyle drehte sich zu ihm um und stieß hervor: »An einem Strick … der hatte einen scheißverdammten Strick um den Hals. Er war tot … Scheiße, Alter, der hing einfach so tot am Strick …«

Und dann tat Kyle etwas, womit Josh nie im Leben gerechnet hätte. Er fing an zu weinen.

Doch weder er noch Tom konnten es ihm verdenken.

Erster Teil Der Gehängte

Zweiter Teil Nachtschwärmer