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Gundula ist ein eigenwilliges Mädchen, die ihren Eltern manchmal auf den Nerven herumtanzt. Seit das Brüderchen da ist, ist für Gundula noch weniger Zeit und das macht sie manchmal für die Eltern noch unausstehlicher. Da reißt den Eltern der Geduldsfaden. Gundula soll ins Internat geschickt werden. "Ich lass mich nicht in ein Internat abschieben!", sagt Gundula entrüstet zu ihren Eltern, aber viel vermögen diese Worte an der Entscheidung nicht zu ändern. Doch im letzten Moment tritt ein Ereignis ein, das es Gundula ermöglicht, allen zu beweisen, was wirklich in ihr steckt. Erst jetzt erkennen alle, wie schön und wertvoll es ist, dass alle füreinander da sind und gemeinsam unter einem Dach leben.-
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Seitenzahl: 162
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Jetzt schlägt’s dreizehn, Gundula
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1984 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719497
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Gundula erwachte davon, daß ihr ein Sonnenstrahl genau auf die Nasenspitze fiel. Sie mußte niesen und schlug die Augen auf.
Sofort merkte sie, daß irgend etwas anders in der Wohnung war als sonst. In ihrem Zimmer war nichts verändert, und dennoch – irgend etwas war seltsam. Es dauerte eine ganze Weile, bis Gundula drauf kam, was sie störte – es war so still in der Wohnung, viel stiller als sonst.
Gewöhnlich, wenn Gundula morgens aufwachte, hörte sie das Klappern von Tellern und Tassen aus der Küche, wo die Mutter schon den Tisch deckte. Sie hörte auch das Brausen des Wasserhahnes, wenn der Vater sich rasierte. Aber heute morgen gab es nicht den leisesten Laut.
Gundula erschrak und wußte selber nicht, warum. Sie schwang die Füße über die Bettkante, war mit einem Satz auf dem weichen Teppich, rannte barfuß zur Tür.
„Mammi …!“ rief sie. „Pappi …!“
Sie riß die Tür zur Diele auf, blieb einen Augenblick lauschend stehen. Es kam keine Antwort.
Gundula raste ins Elternschlafzimmer – die Betten waren benützt, aber weder Vater noch Mutter waren zu sehen. Auch das Badezimmer war leer, genau wie die Küche und das große Wohnzimmer. Die Eltern waren fort. Sie hatten Gundula allein gelassen.
Noch nie, soweit Gundula zurückdenken konnte, war so etwas geschehen. Sie war schon manchmal allein in der Wohnung geblieben, nachmittags, wenn die Mutter einkaufen und der Vater noch auf der Bank war, oder abends, wenn die Eltern ins Kino gingen, aber daß sie morgens aufwachte und die Wohnung leer fand – das war einfach unfaßbar. Um ein Haar wäre Gundula in Tränen ausgebrochen.
Aber dann riß sie sich zusammen. Weinen, das wußte sie aus Erfahrung, hatte nur einen Sinn, wenn jemand da war, der einen trösten konnte. Ganz allein in einer leeren Wohnung zu sitzen und zu weinen, das war dumm. Viel besser war es, zu überlegen, wohin die Eltern gegangen sein konnten.
Gundula zerbrach sich den Kopf, aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Dann kam ihr eine Idee. Vielleicht hatten die Eltern ihr, bevor sie fortgingen, eine Nachricht hinterlassen? Bestimmt hatten sie das. Aber wo?
Gundula sah auf Vaters Schreibtisch nach, auf dem Küchentisch, auf den Nachttischen ihrer Eltern – dabei fiel ihr Blick zufällig auf die Weckeruhr, und sie erschrak ein zweites Mal. Es war gleich halb acht, und sie war noch nicht angezogen. Wie konnte sie es da schaffen, rechtzeitig in der Schule zu sein?
Oder war die Schule heute vielleicht überhaupt gar nicht so wichtig? Gundula legte nachdenklich den Finger an die Nase. Mußte man in die Schule gehen, wenn die Eltern verschwunden waren?
In diesem Augenblick hörte sie von der Diele her ein Geräusch. Sie fuhr herum, lauschte mit angehaltenem Atem. Tatsächlich, es klang gerade so, als wenn die Wohnungstür aufgeschlossen würde.
Gleich darauf erkannte sie auch schon die Stimme des Vaters: „Hallo, Gundel … wo steckst du denn?“
Mit einem Aufschrei der Erleichterung rannte Gundula in die Diele hinaus und warf sich dem Vater in die Arme. Dabei sah sie noch im Spiegel einen großen Zettel stecken. Mit einer Nachricht für sie. Aber die war ja jetzt nicht mehr wichtig.
Einen Augenblick hielt Herr Berendt seine Tochter ganz fest, dann schob er sie ein wenig von sich, betrachtete prüfend ihr Gesicht. „Sag mal, Gundel, du hast doch nicht etwa Angst gehabt?“
„Nein, überhaupt nicht“, behauptete Gundula rasch, „nur … mir war so komisch.“ Sie rieb sich mit der Hand über die Magengrube. „Hier drinnen … so, als wenn ich einen Frosch verschluckt hätte!“ Sie riß die Augen auf. „Sag mal … aber wo ist eigentlich Mammi?“
„Gundel, aber höre … kannst du dir das wirklich nicht denken?“
„Nein“, sagte Gundula unsicher, „müßte ich das wissen?“
„Eigentlich schon. Schließlich bist du ja ein großes Mädchen von fast zehn Jahren … unsere große Tochter! Wir haben doch …“
Herr Berendt kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen. Gundula machte einen Luftsprung und schrie: „Ist es da? Ist es wirklich da?!“
„Ja, Gundel“, sagte Herr Berendt lächelnd, „heute nacht hast du ein Brüderchen bekommen.“
„Toll!“ Gundula war tief beeindruckt. „Toll, jetzt werden alle staunen, wenn ich es ihnen erzähle – oder brauche ich heute gar nicht in die Schule zu gehen? Zu spät komme ich ja sowieso schon.“
„Hast du schon gefrühstückt?“ fragte der Vater.
Gundula schüttelte heftig den Kopf mit den kurzgeschnittenen blonden Locken. „Nö!“
„Dann werde ich dir rasch eine Tasse Kakao machen … und du ziehst dich währenddessen an. Weißt du, lernen ist nämlich immer wichtig, auch wenn man ein Brüderchen bekommen hat. Gerade dann. Wenn wir jetzt bald ein Baby im Hause haben, dann mußt du ganz besonders vernünftig sein, Gundel.“
„Wann kommt es? Wann kann ich es sehen?“
„Zieh dich jetzt erst einmal an“, sagte der Vater, „beim Frühstück werde ich dir alles erklären.“
Gundula raste in ihr Zimmer und schlüpfte in Windeseile in ihre Sachen. Vor lauter Aufregung vergaß sie ganz, sich zu waschen, aber ein einziges Mal konnte das doch nicht so schlimm sein. Immerhin ging sie, als sie fix und fertig war, ins Badezimmer und putzte sich die Zähne.
Der dampfende Kakao stand schon auf dem Tisch, als Gundula in die Küche kam. Der Vater war gerade dabei, ihr ein Brötchen mit Butter zu bestreichen.
„Na, das ist aber fix gegangen“, sagte er und musterte sie ein wenig mißtrauisch.
„Klar“, sagte Gundula rasch, „ich soll doch ganz besonders vernünftig sein, hast du gesagt! Deshalb habe ich mich beeilt, damit ich so schnell wie möglich in die Schule komme.“
„Großartig!“ Herr Berendt lächelte. „So brennend vor Fleiß habe ich dich noch nie erlebt.“
„Es ist ja auch das erste Mal, daß ich ein Brüderchen bekomme!“ Gundula biß in die eine Hälfte des Brötchens. „Also … wann kann ich es sehen?“
„Ein bißchen Geduld mußt du schon noch haben, Gundel. Mutter muß noch eine Weile … vielleicht acht Tage … im Krankenhaus bleiben!“
„Warum?“ fragte Gundula mit vollem Mund.
„Ja, so ein ganz kleiner Säugling, Gundel, der ist noch sehr zart, weißt du. Man muß auf ihn aufpassen, er braucht viel Sorgfalt und Pflege … und das hat er natürlich am besten im Krankenhaus.“
„Ist er denn krank?“
Herr Berendt schüttelte den Kopf. „Nein. Ganz gesund, glücklicherweise. Aber trotzdem …“
„Dann werde ich Mammi und das Brüderchen im Krankenhaus besuchen“, erklärte Gundula entschlossen.
„Ich fürchte, das wird auch nicht gehen!“
„Nicht?“
„Nein. Ich habe mich schon erkundigt. Der Besuch von Kindern auf der Wöchnerinnenstation – weißt du, so nennt man die Abteilung des Krankenhauses, wo die Mütter mit den Säuglingen liegen –, also auf der Wöchnerinnenstation ist der Besuch von Kindern verboten.“
„So eine Gemeinheit!“ sagte Gundula aus tiefstem Herzen. „Aber warum denn, Pappi?“
„Ich denke, damit die Kleinen sich nicht anstecken.“
„Ich versteh schon. Wenn jemand Masern hat oder Halsschmerzen und so … aber ich bin doch schließlich gesund!“
„Ich weiß es ja, Gundel … ich weiß, daß du gesund bist, aber …“
„Bitte, Pappi, lieber, lieber Pappi, nimm mich mit ins Krankenhaus. Du kannst mich ja hineinschmuggeln … ja, das können wir doch machen! Du steckst mich einfach in einen großen Koffer …”
„Also, Ideen hast du, Gundel! Die gehen wirklich auf keine Kuhhaut! Was du da sagst, kann doch nicht dein Ernst sein!“
In Gundulas große blaue Augen stiegen die Tränen. „Ich möchte das Brüderchen so gern sehen … kannst du das denn nicht begreifen, Pappi?“
„Natürlich kann ich das. Aber was nicht geht, das geht nicht. Jetzt haben wir so lange auf unser Brüderchen gewartet, jetzt wirst du dich ja wohl noch eine Woche gedulden können.“
„Schwer“, sagte Gundula bedrückt. Sie blies die Haut von ihrem Kakao, probierte einen Schluck – er war noch sehr heiß. „Hast du das Brüderchen wenigstens schon gesehen?“ fragte sie dann.
„Jaja, natürlich.“
„Wie sieht es denn aus?“
Herr Berendt lachte. „Wie alle kleinen Kinder … winzig klein und ziemlich rot und voller Falten …“
„Pappi!“ sagte Gundula halb entsetzt, halb lustig, „du schwindelst mich an. Falten haben doch nur die alten Leute … Babys nicht!“
„Doch, doch. Auch die ganz kleinen Babys haben Falten. Ich innere mich noch genau, als ich dich zum erstenmal gesehen habe!“
„Nun mach aber mal ’nen Punkt, Pappi, ich habe bestimmt nicht Falten gehabt. Meinst du, ich lasse mich so beschwindeln? Schließlich hast du mich doch damals geknipst!“
„Ja, als du drei Monate alt warst!“
„Ich glaube dir kein Wort“, sagte Gundula mit Nachdruck.
„Ich bin sicher, daß wir ein schönes Brüderchen bekommen haben … ein schönes, kluges, liebes Brüderchen. Das habe ich mir doch gewünscht. Gib zu, Pappi, du hast versucht, mich anzuschmieren.“
„Anschmieren … was ist das wieder für ein Ausdruck!“ Mit einer Handbewegung brachte Herr Berendt seine Tochter, die sich verteidigen wollte, zum Schweigen. „Es hat wirklich keinen Zweck, daß wir uns herumstreiten … warte ab, bis du dein Brüderchen selber siehst.“
„Und was machen wir bis dahin? Ohne Mutter?“
„Ja, das wird nicht so einfach sein, aber wir müssen eben sehen, wie wir allein fertig werden. Frau Helmbrecht wird, wie immer, dreimal die Woche kommen …“
„Und wer wird kochen?“
„Ich denke, wir beide. Abwechselnd …“
„Aber ich kann ja bloß Rührei!“
Herr Berendt lachte. „Dann werden wir eben jeden zweiten Tag Rührei essen. Komm, Gundel, mach nicht so ein Gesicht. Irgendwie werden wir schon miteinander auskommen. Heute mittag, zum Beispiel, habe ich mir gedacht, gehen wir zusammen auswärts essen – na, wie wäre das?“
Gundula sprang so heftig auf, daß der Kakao aus ihrer Tasse über den Tisch schwappte. „Prima, Pappi!“ rief sie begeistert. „Wir beide ganz allein … das habe ich mir immer schon mal gewünscht.“ Sie fiel ihrem Vater um den Hals, küßte ihn zärtlich auf beide Wangen. „Ein Brüderchen zu kriegen ist wirklich etwas ganz Tolles!“
Als Gundula an diesem Morgen in die Schule kam, hatte die zweite Stunde schon begonnen. Einen Augenblick blieb sie vor der Tür ihres Klassenzimmers stehen und lauschte auf die Stimmen, die von drinnen kamen. Fräulein Zimmermann gab Geschichtsunterricht. Sie sprach scharf und energisch wie immer.
Gundula zog eine Grimasse. War es nicht eigentlich dumm von ihr, ausgerechnet jetzt hineinzugehen? Niemand würde es merken, wenn sie sich bis zum Schluß der Geschichtsstunde irgendwo versteckte. Gundula zögerte. Aber dann siegte der Wunsch, ihren Freundinnen so schnell wie möglich das große Ereignis mitzuteilen. Entschlossen pochte sie an die Tür, trat ein.
Zweiunddreißig Mädchenköpfe flogen zu ihr herum. Gundula blieb in der Tür stehen und genoß das Aufsehen, das ihr verspätetes Eintreffen erregte.
„Guten Morgen“, grüßte sie laut und unbekümmert.
Fräulein Zimmermann schüttelte ihren grauhaarigen Kopf. „Gundula Berendt!“ sagte sie mit Nachdruck. „Wer anders könnte sich erlauben, in der Mitte der zweiten Stunde zum Unterricht zu erscheinen!? Gundula … hast du wenigstens eine Erklärung für dein Zuspätkommen?“
Gundula ging vor bis zum Katheder. „Jawohl, Fräulein Zimmermann“, trompetete sie, „ich habe ein Brüderchen bekommen!“ Sie strahlte die Lehrerin aus ihren blauen Augen an. Ein Raunen und Geflüster ging durch die Klasse.
„Ach, wirklich?“ sagte Fräulein Zimmermann, und Gundula schien es, als wenn ihr Gesicht auf einmal viel wärmer und gütiger geworden wäre. „Dann gratuliere ich dir aber von ganzem Herzen!”
Gundula öffnete ihre Schulmappe und zog einen Brief heraus. „Mein Vater hat mir eine Entschuldigung geschrieben, Fräulein Zimmermann.“
„Nein, danke, Kind, ich glaube dir auch so“, sagte Fräulein Zimmermann freundlich. „Ein Brüderchen hast du also bekommen … wie soll es denn heißen?“
„Michael Sebastian“, antwortete Gundula wie aus der Pistole geschossen.
„Ein schöner Name“, lobte Fräulein Zimmermann. „Aber nun setz dich bitte, Gundula … vergiß für eine Weile das große Ereignis und versuche, dich auf den Unterricht zu konzentrieren!“
Gundula ging strahlend vor Stolz und hocherhobenen Kopfes durch die Reihe zwischen den Bänken auf ihren Platz zu, als plötzlich ein brausendes Gelächter durch die Klasse ging. Gundula stutzte, sie blieb stehen, blickte um sich. Selbst Fräulein Zimmermann lachte.
Gundula war so verwirrt, daß sie gar nichts begriff. Dann sah sie, wie die Mädchen, die etwas weiter von ihr entfernt saßen, sich über die Bänke beugten und auf den Boden blickten. Sie schaute an sich herunter und – also so etwas war ja wirklich noch nie dagewesen! Gundula stellte fest, daß sie zweierlei Schuhe anhatte, einen roten und einen schwarzen. In der Eile hatte sie wahrhaftig nicht darauf geachtet. Mit wenigen Schritten war sie bei ihrer Bank, setzte sich auf ihren Platz und schob die Beine nach hinten, um sie den Blicken der anderen zu entziehen.
„Gratuliere, Gundel!“ flüsterte ihr Leni Brinkmann, ihre Banknachbarin und beste Freundin, zu. „Mach dir nichts draus, verkehrte Schuhe bringen Glück!“
„So? Woher weißt du das?“
„So was weiß man eben!“ behauptete Leni von oben herab. „Das ist genauso, als wenn man einen Pullover verkehrt herum anzieht oder so etwas. Alles, was schief oder verkehrt ist, hat etwas Gutes zu bedeuten!“
Gundula hatte keine Zeit mehr, über diese kühne Behauptung nachzudenken, denn Fräulein Zimmermann hatte inzwischen die Ruhe in der Klasse wiederhergestellt. Sie nahm den Unterricht dort wieder auf, wo sie ihn bei Gundulas Eintritt in die Klasse unterbrochen hatte. Noch eine gute halbe Stunde mußten die Mädchen sich mit den bemerkenswerten Taten der Karolinger beschäftigen.
Dann endlich war große Pause. Auf dem Hof wurde Gundula von ihren gesamten Klassenkameradinnen umringt. Sie mußte den neugierigen Mädchen Rede und Antwort stehen. Dabei stellte sich heraus, daß sie selber leider sehr wenig darüber wußte, wie das Brüderchen angekommen war. Sie hatte ja nicht einmal gehört, daß die Eltern das Haus verlassen hatten.
„Was? Du hast dein Brüderchen noch nicht einmal gesehen?“ rief Olly Hahn frech. „Ja, woher willst du denn dann überhaupt wissen, ob es wirklich da ist?“
„Nun mach aber mal ’nen Punkt!“ sagte Gundula ärgerlich. „Mein Vater lügt doch nicht. Er hat’s mir erzählt … und überhaupt, heute nachmittag gehe ich ins Krankenhaus und schau mir das Brüderchen selber an. Morgen früh kann ich euch dann alles ganz genau erzählen!“
Damit gaben sich die anderen glücklicherweise zufrieden, aber Gundula behielt ein ungutes Gefühl zurück. Sie wußte aus Erfahrung, daß Lügen meistens kurze Beine haben, und pflegte deshalb, wenn es irgendwie ging, sich an die Wahrheit zu halten. Warum bloß war ihr herausgerutscht, daß sie sich ihr Brüderchen heute nachmittag ansehen wollte? Der Vater hatte ihr doch ausdrücklich erklärt, daß das nicht ging. Wenn die anderen drauf kamen, daß sie geschwindelt hatte, würde sie schön blamiert dastehen.
Als die Schule aus war, wollte Leni sie nach Hause begleiten.
„Nein, danke“, wehrte Gundula ab, „ich muß heute in die andere Richtung. Ich esse mit meinem Vater zu Mittag!“
„Prima!“ sagte Leni neidvoll. „Was wirst du dir bestellen? Kartoffelsalat mit Würstchen?“
„Was viel Besseres … mindestens Wiener Schnitzel!“
„Ich esse am liebsten Kartoffelsalat mit Würstchen“, beharrte Leni. „Aber an deiner Stelle würde ich doch erst nach Hause laufen und mir andere Schuhe anziehen!“
„Auch wieder wahr!“ Gundula drehte sich auf dem Absatz um und folgte ihr.
„Du, Gundula … kannst du mir nicht einen Gefallen tun?“ fragte sie. „Schließlich … ich meine, ich bin doch deine beste Freundin, oder?“
„Doch, schon“, sagte Gundula etwas zögernd, denn wenn Leni so anfing, dann wollte sie meistens etwas geliehen haben. „Weshalb fragst du?“
„Ich habe eine große Bitte“, sagte Leni, „wann willst du eigentlich ins Krankenhaus gehen? Gleich nach dem Essen?“
„Wahrscheinlich“, murmelte Gundula.
„Könntest du nicht ein bißchen später gehen … ich würde dich so gern begleiten.“
„Warum?“ Gundula fragte es, um Zeit zu gewinnen. Sie wußte die Antwort schon im voraus.
„Weil ich dein Brüderchen auch so gern sehen möchte, Gundel … kannst du das nicht begreifen? Du weißt genau, wie lange ich mir selber schon eins wünsche. Es könnte von mir aus auch ein Schwesterchen sein, es käme mir gar nicht drauf an … es ist doch nicht zuviel verlangt, wenn ich deines mal sehen möchte.“
„Nö”, sagte Gundula, „eigentlich nicht.“
„Du nimmst mich also mit? Hand drauf!?“
Gundula sah Leni prüfend an. „Jetzt muß ich dir eine Frage stellen, Leni … du bist doch meine beste Freundin, nicht wahr?“
„Ehrensache.”
„Versprichst du mir, mich nicht zu verraten, wenn ich dir jetzt ein Geheimnis sage?“
„Ein Geheimnis? Oh, los! Sag’s mir bitte! Bitte!“ Es war Leni anzusehen, daß sie vor Neugier schon fast platzte.
„Dann halt dich fest! Was ich dir jetzt sagen muß … es ist ein bißchen peinlich für mich, weißt du!“
„Was?!“ schrie Leni. „Jetzt sag bloß nicht, du hast es erfunden! Gundel! Sieh mich an! Hast du am Ende gar kein Brüderchen bekommen?!“
„Doch. Natürlich!“ sagte Gundula. „So was erfindet man doch nicht.“
„Kannst du mir deine Hand drauf geben?“
„Na klar. Das mit dem Brüderchen stimmt schon, nur keine Bange …“
„Aber irgendwas ist doch nicht in Ordnung! Gib es zu!“
„Also … wenn du’s genau wissen willst!“ Gundula holte tief Luft. „Mein Vater hat gesagt, Kinder dürfen nicht ins Krankenhaus!“
„Quatsch“, sagte Leni sofort. „Als mein Onkel sich das Bein gebrochen hatte …“
„Das ist etwas anderes. Mein Vater sagt, die … jetzt habe ich den Ausdruck vergessen … aber eben, man darf die Mütter mit den ganz kleinen Kindern nicht besuchen, weil die Babys eben so furchtbar empfindlich sind. Sie können sich schrecklich leicht anstecken oder so etwas, sagt mein Vater.“
„Schade!“ Leni machte ein bekümmertes Gesicht. „Und ich hatte mich schon so drauf gefreut.“
„Ja. Verflixtes Pech! Weißt du, Leni, ich überlege mir schon die ganze Zeit, ob man nicht versuchen könnte … verstehst du … ob es nicht irgendeinen Weg gibt, doch ins Krankenhaus hineinzukommen, ohne daß es jemand merkt. Willst du mir helfen?“
„Na klar.“ Leni blieb stehen. „Also, wo treffen wir uns? Um wieviel Uhr?“
Gundula legte den Finger an die Nase. „Sagen wir … Punkt drei am Schillerdenkmal!“
„Gut“, sagte Leni, „aber … wie immer … wer zuerst da ist, muß warten!“
Sie liefen auseinander, blieben nach ein paar Metern noch einmal stehen, winkten sich zu, um dann endgültig davonzujagen.
Gundula schloß die Haustür auf, rannte die Treppe hinauf, öffnete die Wohnungstür, stürzte in ihr Zimmer und wechselte rasch den linken Schuh. Befriedigt sah sie auf ihre Füße. Sie hatte jetzt zwei gleiche, zwei rote Schuhe an. Der Vater würde nichts von ihrem Mißgeschick merken.
Sie wollte die Wohnung schon wieder verlassen, als ihr noch etwas einfiel. Sie lief zu ihrem Pult, öffnete es, fand den kleinen Pappkasten mit ihrem Geld in der hinteren Ecke. Ohne es zu zählen – sie wußte auswendig, daß es sieben Mark und fünfundachtzig Pfennig sein mußten –, schüttete sie den ganzen Inhalt in ihre Manteltasche, warf die leere PappSchachtel achtlos in das Pult zurück und jagte davon.
Herr Berendt erwartete sie schon vor dem Eingang des großen Bankhauses, in dem er arbeitete. „Na endlich“, sagte er, als Gundula angelaufen kam. „Wieso kommst du jetzt erst? Die Schule ist doch schon seit fast einer Stunde aus!“
„Verstehe ich auch nicht, Pappi“, versicherte Gundula mit unschuldsvollem Augenaufschlag. „Ich habe mich schrecklich beeilt.“
Sie gingen zusammen in ein kleines Lokal ganz in der Nähe, und Gundula bekam das Wiener Schnitzel, das sie sich gewünscht hatte. Es schmeckte ihr großartig.