10,99 €
An ihrem 17. Geburtstag beschließt Johanna, ihrem bis dahin eher durchschnittlichen Leben einen tieferen Sinn zu geben. Sie tritt einer freikirchlichen Gemeinde bei. Eine Zeit lang ist sich 'Hanna', wie sie nun genannt wird, sicher, den richtigen Weg gefunden zu haben. Doch dann muss sie feststellen, dass es auch in einer Kirche Intrigen gibt und sie mit den streng konservativen Ansichten ihrer Mitchristen nur schwer zurechtkommt. In den Ferien lernt Johanna einen überzeugten Atheisten und Marxisten kennen, der sie noch mehr ins Zweifeln bringt. Johanna heißt bald nur noch 'Jo', macht eine Kehrtwende, lebt bisexuell, konsumiert Alkohol und Marihuana. Wieder glaubt sie, auf dem richtigen Kurs zu sein, bis sie sich eingestehen muss, dass ihr manchmal sehr komplexes Liebesleben sie anstrengt und dass auch die kommunistische Ideologie nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Trotz dieser Rückschläge führt Johannas wechselvolle Suche letztendlich zum Ziel.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 459
Ann-Kristin Schäfer
Für meine Eltern. Für Svenja. Für Jule. Für Ali.
Weil ihr in allen seltsamen Phasen zu mir steht.
PROLOG
Ich saß gerade vor meiner Tiefkühl-Orangencremetorte, auf der 17 Kerzen brannten, als plötzlich die Normalität von der Decke fiel. Meine Verwandten saßen in einem engen Kreis um mich herum und es schien, als hätten sie keinen sehnlicheren Wunsch, als mich endlich beim Kerzenauspusten zu beobachten.
Die Normalität landete mitten in der Torte, vor meiner Nase, und grinste mich an. Ich pustete schnell die Kerzen aus, damit meine Verwandten sich wieder zufrieden und voller Hingabe ihrem koffeinfreien Kaffee mit fettarmer Milch widmen konnten. Sie hatten die Normalität offenbar nicht bemerkt.
Ich starrte das Etwas an, das es sich da in meiner Torte gemütlich gemacht hatte und nun fröhlich die Orangenstücke herauspulte. »Wo kommst du denn her?«, flüsterte ich eindringlich.
»Ich?«, quakte die Normalität. »Ich bin schon immer da!«
Ich war verwirrt. »Häh?! Wo denn?«, fragte ich. »Ich hab dich hier noch nie gesehen.«
Die Normalität schluckte ein Stück Orange herunter und sah mich aus großen Augen an. »Aber ich bin doch überall! Schau dich doch mal um!« Sie deutete zuerst aufs Wohnzimmer, dann auf meine Verwandten. Dabei schien sie sich köstlich über meinen offen stehenden Mund zu amüsieren.
»Guck mal: Du wohnst mit deinen normalen Eltern in einem normalen Haus. Deine stinknormalen Verwandten schenken dir stinknormale Geschenke zum Geburtstag und zu deinen normalen Zeugnissen. Du machst den ganzen Tag total normale Sachen, spielst Gitarre und Tischtennis. Sogar die Torte schmeckt total normal«, sagte die Normalität und schleckte etwas Sahne von ihrem Mittelfinger.
»Und jetzt kommt das Beste: Ich habe dir zu deinem Geburtstag jemanden mitgebracht, den du unbedingt kennenlernen musst!« Die Normalität strahlte. »Darf ich vorstellen: die kleine Sinnlosigkeit!«
In diesem Moment spürte ich, wie sich in meinem Kopf etwas bewegte. Irgendetwas krabbelte da in meinem Schädel herum und schien sich langsam einen Weg durch mein Hirn zu bahnen. Mit einem leisen Blop purzelte das Etwas aus meinem Ohr und landete in der Zuckerdose. Es war tatsächlich eine finster dreinblickende Sinnlosigkeit.
*
Am Abend, als meine Verwandten gegangen waren, saß ich mit der Normalität und der Sinnlosigkeit, die seit dem Nachmittag schon ein ganzes Stück gewachsen war, in meinem Zimmer.
»Wir werden von nun an dein Leben bestimmen. Du wirst uns nicht mehr los!«, grölten die beiden Gestalten und tanzten dabei Discofox auf meinem Teppich.
Ich presste mit aller Kraft meine Hände gegen die Ohren, doch es nutzte nichts. Ich konnte die beiden nicht ignorieren. Und irgendwie hatten sie ja recht. Mein Leben war so normal und durchschnittlich, dass ich mich wirklich fragte, wo darin der Sinn lag. Noch nie hatte ich irgendetwas Besonderes getan; und das Sinnvollste, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich einmal einem Obdachlosen in der Stadt eine Zeitung abgekauft hatte.
Allmählich wurde das Geschrei meiner beiden ungebetenen Gäste unerträglich. Die Sinnlosigkeit war inzwischen ins Regal geklettert und warf alle Bücher auf den Fußboden. Die Normalität saß schaukelnd und grölend auf der kleinen Discokugel, die an meiner Deckenlampe hing.
Ich fasste einen Entschluss. »Schluss jetzt!«, schrie ich, sprang vom Bett auf und begann, die beiden Nervensägen durchs Zimmer zu jagen. »Ab sofort werde ich etwas Besonderes und Sinnvolles mit meinem Leben anfangen, und euch beide werde ich nie wiedersehen!«
Fünf Minuten, einen umgeworfenen Papierkorb und zwei ausgeleerte Schubladen später stopfte ich schließlich zwei kreischende und schimpfende Gestalten in einen Schuhkarton. Ich wickelte eine ganze Rolle Klebeband darum und warf den Karton aus dem Fenster auf die Straße, über die um diese Zeit immer der gesamte Feierabendverkehr rollt.
1
Der hübsche Kerl war mir sofort aufgefallen. Er stand links in der Ecke und fummelte konzentriert an seinem E-Bass herum. Seine mittellangen dunklen Haare hatte er penibel geglättet. Sie fielen in sein Gesicht, dessen Makellosigkeit von einer rechteckigen Brille unterstrichen wurde. Ich versuchte zu entziffern, was auf seinem hellgrauen T-Shirt stand, aber sein Stoffhalstuch verdeckte den Großteil der Schrift. Er trug schwarze Chucks und ausgewaschene Jeans und war wohl höchstens ein paar Zentimeter größer als ich.
Ich hatte schon lange keinen so schönen Kerl mehr gesehen. Ich musste ihn einfach die ganze Zeit beobachten. Beim Spielen hatte er die Augen geschlossen. Ab und zu legte er den Kopf in den Nacken und öffnete dabei den Mund.Ich konnte nicht anders, als ihn mir beim Sex vorzustellen, aber ich schob dieses Bild schnell wieder beiseite. So was gehört sich nicht in einem Gottesdienst.
Irgendwann schaffte ich es für einen Moment, meinen Blick von dem hübschen Kerl loszureißen. Ich schaute mich um und bemerkte, dass fast alle im Raum solch einen sinnlich-verklärten Ausdruck im Gesicht hatten. Viele waren zum Singen aufgestanden; einige hoben die Hände in Richtung Decke. Kurz glaubte ich sogar zu sehen, dass ganz vorne jemand kniete.
Ich spürte, wie in meinem Magen ein kleines Unwohlsein geboren wurde, das schnell wuchs und seine Gliedmaßen in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ob es wohl jemandem auffiel, dass ich einfach so stocksteif auf meinem Platz sitzen blieb?!
Ich fragte mich, in was für einem seltsamen Gottesdienst ich da gelandet war. Anstatt auf Holzbänken in einer kalten Kirche zu sitzen, hatten die Leute auf gepolsterten Stühlen in einem modern eingerichteten Raum Platz genommen. Ein schlichtes Holzkreuz hing an der gegenüberliegenden Wand; davor stand auf einer Erhebung eine Art Rednerpult aus demselben Holz. In den Boden daneben war ein überdimensionales Wasch- oder zu klein geratenes Schwimmbecken eingelassen, in das einige Stufen führten.
An den Seitenwänden hingen Plakate, die genauso aussahen wie der Flugzettel, der mich an diesen seltsamen Ort geführt hatte.Godless – Hopeless – Senseless? stand darauf in türkisfarbenen Buchstaben. Jugendgottesdienst am Sonntag, den 26.8., um 19 Uhr.
Eine Orgel schien es auch nicht zu geben. Stattdessen spielte eine Band, zu der außer dem hübschen Kerl am Bass noch ein Schlagzeuger, ein E-Gitarrist, eine Keyboarderin und zwei Sängerinnen gehörten. Die meisten Lieder waren auf Englisch und ein Beamer projizierte die Texte an die Wand.
Die Predigt hielt auch kein Priester oder Pfarrer, sondern ein Typ in Jeans und T-Shirt, der allerhöchstens dreißig war. Er sprang beim Sprechen herum, als hätte er sich etwas eingeworfen, und er versuchte mit aller Gewalt, keine Sekunde Langeweile aufkommen zu lassen, indem er Witze und Anekdoten aneinanderreihte, die als Beispiele für irgendetwas dienen sollten. Leider gelang es mir beim besten Willen nicht herauszuhören, was der unterhaltsame Herr eigentlich vermitteln wollte. Ich vermutete aber, dass es irgendwie mit dem Sinn des Lebens und Gott zusammenhing, denn das hatte der Flyer ja angekündigt.
Nach zwei Stunden war der Gottesdienst vorbei und ich machte mich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung im Bauch, aber ohne den Lebenssinn in der Tasche, auf den Weg zum Ausgang.
Eine Woche war vergangen seit meinem 17. Geburtstag und der unangenehmen Begegnung mit der Normalität und der Sinnlosigkeit. Nachdem ich zwei Tage lang gegrübelt hatte, was ich nun Besonderes und Sinnvolles tun könnte, war ich schließlich hierhergekommen, in der vagen Hoffnung, vielleicht eine Antwort zu finden. Natürlich hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, aber mir war einfach nichts Besseres eingefallen, und ich wollte zumindest irgendetwas tun, um mir die beiden Viecher vom Leib zu halten.
Gerade als ich die Türklinke des Gottesdienstraumes herunterdrückte, um mich endlich aus dem Staub zu machen, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Erschrocken drehte ich mich um und sah in das kugelrunde Mondgesicht des Mädchens, das mir in der Schule den Flyer in die Hand gedrückt hatte.
Ich hatte dieses Mädchen schon auf dem Pausenhof immer seltsam gefunden. Sie hatte aschblondes krauses Haar bis zum Kinn, das in alle Richtungen von ihrem kugelförmigen Kopf abstand. Außerdem trug sie jeden Tag furchtbar bunte Kleider und war dafür bekannt, dass sie permanent grinste. Ich hatte immer gedacht, sie würde zu viel kiffen, aber nach diesem Gottesdienst befürchtete ich, dass es noch schlimmer sein könnte.
Auch jetzt grinste sie wieder übers ganze Gesicht. »Hallo! Wie schön, dass du gekommen bist! Du bist doch in meiner Jahrgangsstufe, oder? Ich bin Mara aus dem Mathe-Tutorium! Komm doch noch mit hoch ins Foyer, da gibt’s leckeres Essen und Trinken, und wir können ein bisschen quatschen!«
Ich starrte das Mädchen an, das beim Reden das Atmen zu vergessen schien. »Äh, danke … aber, ich denke, ich gehe besser nach Hause. Ich muss noch Hausaufgaben machen und so …«, erklärte ich und ärgerte mich, dass mir nie eine vernünftige Ausrede einfiel, wenn ich sie brauchte.
»Oh, das ist aber schade! Eine Viertelstunde hast du doch bestimmt noch Zeit, da sind wirklich nette Leute und …« Maras zweiter Redeschwall wurde jäh unterbrochen, als jemand vom anderen Ende des Raumes ihren Namen rief. Mara drehte sich um und ich neigte meinen Kopf nach rechts, um an ihrer Haarpracht vorbeizusehen, wer da gerufen hatte. Da stand der schöne Kerl, der gerade eine kleine Abstellkammer abschloss, in der vermutlich die Instrumente untergebracht waren.
»Mara, ich geh schon mal hoch, kommst du dann auch bald? Ich will heut nicht so lange bleiben, ich bin total am Arsch, weil wir vorhin noch so lange geprobt haben.«
»Jaja, ich komm gleich nach«, rief Mara ihm zu, bevor sie sich wieder mir zuwendete.
»Was ich sagen wollte, ich würde gerne wissen, wie es dir gefallen hat, und du hast doch bestimmt Durst und …«
»Ich denke, eine Viertelstunde Zeit habe ich wirklich noch«, entgegnete ich schnell und gab mir große Mühe, nicht zu grinsen.
Ich folgte Mara aus dem Gottesdienstraum, eine Treppe hoch und durch zwei Türen. Dieses Mädchen lief so schnell, wie es sprach; ich konnte ihr kaum folgen.
Schließlich waren wir in einer großen, hellen Halle angekommen. Hinter zwei geöffneten Glastüren lag ein weitläufiger Balkon, auf dem viele junge Leute an Stehtischen aßen, tranken und sich unterhielten. Eine Treppe führte vom Balkon hinunter auf den Parkplatz des Gemeindehauses. In einer Ecke der Halle wurden Sandwiches und Getränke verkauft. Auch dieser Raum war modern und schick. Das Weiß der Wände blendete beinahe und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich ein wenig wie in einem Krankenhaus.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum und über den Balkon schweifen. An einem Stehtisch am Ende des Balkons entdeckte ich schließlich, was ich gesucht hatte. »Der Junge von eben, ist das dein Freund?« Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass so ein hübscher Kerl so eine hässliche Freundin haben könnte, aber zur Sicherheit fragte ich lieber mal nach.
Mara lachte. »Sebastian? Mein Freund? Bloß nicht! Nein, Sebastian ist mein großer Bruder! Komm mit, ich stell ihn dir gleich vor!«
Bevor ich etwas entgegnen konnte, hatte Mara mich schon an der Hand gepackt und über den ganzen Balkon zu dem Stehtisch in der Ecke gezerrt.
Sebastian stand dort mit einem anderen Jungen, der offenbar gerade etwas Lustiges erzählt hatte. Als Sebastian lachte, fielen mir seine strahlend weißen, perfekten Zähne auf. Mir wurde übel.
»Hey Bruderherz, darf ich dir jemanden vorstellen? Das ist Johanna aus meiner Stufe. Johanna, das ist mein Bruder Sebastian. Und das da ist der Matti, der ist auch bei uns im Jugendkreis.«
Ich konnte mich nicht lange darüber wundern, woher Mara meinen Namen wusste, denn Sebastian hielt mir seine Hand entgegen und lächelte mich an, dass mir kurz das Herz stehen blieb.
Ich starrte seine Hand an und brauchte einen Moment, um auf die Idee zu kommen, seinen Händedruck zu erwidern.
»Hey, schön, dich kennenzulernen. Du kannst mich allerdings auch Basti nennen, das machen eigentlich alle. Nur meine Schwester besteht darauf, Sebastian zu sagen.« Er zwinkerte Mara zu.
»Ja und zu mir sagt wirklich jeder Matti, weil bei Matthäus immer alle denken, ich hätte die Bibel geschrieben.«
Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass da noch ein anderer Junge am Tisch stand. »Äh hi«, sagte ich zu ihm, »nett, dich kennenzulernen.«
Allmählich gelang es mir, meine Gedanken zu sortieren: Reiß dich zusammen, Johanna, ermahnte ich mich, du wirst ja wohl noch mit einem Jungen reden können!, und sah dann Basti direkt in die Augen. Irgendetwas musste ich jetzt sagen. »Ihr habt super gespielt! Die Musik hat mir echt gefallen!«
»Danke! Diesmal hat auch fast alles so geklappt wie geplant. Wir haben aber auch extrem viel geprobt vorher. Machst du auch Musik?«
Das war nun wirklich nicht die beste Frage. »Ähm, na ja«, stammelte ich, »ich spiele ein bisschen Gitarre. Aber nicht gut.« Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, mich spielen hören zu wollen.
»Jeder Christ ein Gitarrist!«, warf Matti ein und strahlte. Als er meinen fragenden Blick sah, wurde er schnell wieder ernst und fragte vorsichtig: »Du bist doch Christin, oder?«
Diese Frage warf mich nun endgültig aus dem Konzept. »Äh ja, schon. Also, ich geh jetzt nicht oft in die Kirche oder so, aber ich bin katholisch getauft und glaube an Gott und ab und zu bete ich auch mal und so.«
Matti sah auf den Boden und murmelte etwas Unverständliches.
Nach einer kurzen, aber äußerst peinlichen Stille ergriff Basti das Wort: »Mara, ich würd jetzt gern fahren, ich bin wirklich total kaputt und will mich nur noch auf die Couch hauen.«
Mara wendete sich mir zu. »Du hast es gehört, ich muss gehen. Du wolltest ja eh noch Hausaufgaben machen, ne?! Aber vielleicht magst du ja nächste Woche mal zu uns in den Jugendkreis kommen? Der ist immer freitags um sieben. Dann könnten wir uns noch ein bisschen in Ruhe unterhalten.«
Allmählich wurde Mara mir ein bisschen zu aufdringlich. Ich hatte wirklich nicht vor, mich mit ihr anzufreunden, auch wenn ihr Bruder noch so gut aussah. Ich suchte nach einer möglichst unverbindlichen Antwort und erklärte schließlich, ich wüsste noch nicht, was ich diese Woche so vorhätte, und würde ihr in der Schule noch mal Bescheid sagen.
»Gut, Johanna, dann bis Freitag!«, sagte Basti und lächelte dabei so atemberaubend, dass ich mir plötzlich nicht mehr so sicher war, ob ich nach einer Ausrede für Freitag suchen wollte.
*
Die ganze folgende Woche versuchte ich verzweifelt, Mara in der Schule aus dem Weg zu gehen. Obwohl ich selbst nicht besonders viele Freunde hatte und in der Pause oft allein herumstand, wollte ich das wenigstens würdevoll tun. Niemand sollte auf die Idee kommen, ich hätte mich nun aus lauter Verzweiflung mit Mara angefreundet. Außerdem war das Grinsegesicht wirklich nicht mehr zu stoppen, sobald man ihr einmal die Gelegenheit gegeben hatte zu sprechen.
Am Donnerstag wurde es mir schließlich doch zu anstrengend, mich die ganze Pause lang zu verstecken. Außerdem hatte anscheinend irgendeine Schülerin am Vorabend eine Chiliparty oder so etwas gemacht; an diesem Vormittag wäre es auf den Toiletten nur mit einer Atemmaske auszuhalten gewesen. Ich beschloss deshalb, das Beste aus der Situation zu machen, und, wenn ich mich schon mit Mara unterhalten musste, dabei wenigstens möglichst viel über Basti herauszufinden.
Bereits nach der ersten großen Pause wusste ich, dass Basti zwanzig Jahre alt war und im Herbst sein Studium der Theologie und Germanistik auf Lehramt beginnen würde. Weil er an einer anderen Schule Abi gemacht hatte, konnte ich ihn nicht kennen. (Ich hatte mich schon gewundert, wie es sein konnte, dass so ein hübscher Kerl mir in der Schule nie aufgefallen war.)
Mara erzählte mir sogar, dass Basti noch nie eine Freundin gehabt hätte, weil er auf die Richtige warten wollte. Obwohl mich das irgendwie schockierte, schmolz ich doch innerlich dahin; vor allem, weil ich nicht ganz den Wunsch unterdrücken konnte, selbst diese Richtige zu sein.
Am Freitag stand ich schließlich – nach langem Überlegen – pünktlich um Viertel vor sieben vorm Spiegel im Flur, frisch geduscht, geschminkt und nach meinem neuen Parfüm duftend. Ich wartete auf Mara, die darauf bestanden hatte, mich abzuholen, obwohl das überhaupt nicht auf ihrem Weg lag. »Sie will bestimmt sichergehen, dass ich auch wirklich komme«, murmelte ich, während ich verzweifelt versuchte, eine zickige Haarsträhne zu bändigen.
*
Der Jugendraum der Gemeinde war genauso modern eingerichtet wie die Räume, die ich am Sonntag gesehen hatte; allerdings war er weitaus gemütlicher und ich hatte nicht bei jeder Bewegung Angst, etwas schmutzig zu machen.
Auf einer Holztheke an der rechten Wand waren Getränke aufgebaut, daneben stand die Kasse des Vertrauens, in die, wie Mara mir erklärte, einfach jeder das Geld für die Getränke, die er sich genommen hatte, hineinlegte. Im Raum verteilt standen fünf plüschige Sofas, auf denen es sich schon einige Leute bequem gemacht hatten. Ein paar andere Jugendliche saßen auf Holzstühlen an Tischen und unterhielten sich. Die linke Hälfte des Raumes wurde komplett von einem Billardtisch und einem Tischkicker eingenommen. An den Wänden hingen zahllose Poster, auf denen Landschaften und Bibelverse zu sehen waren, und im gesamten Raum waren Sonnenblumen aus Kunststoff und bunte Kerzen verteilt.
Ich folgte Mara durch den Raum und ließ mich geduldig den ungefähr zwanzig anwesenden Leuten vorstellen. Die meisten von ihnen sahen nett aus und wirkten überraschend normal. (Ich hatte schon befürchtet, dort eine Armee von Mara-Klonen anzutreffen.)
Am Tischkicker stand Matti. Basti konnte ich nirgends entdecken.
Auch als wir uns alle gegen Viertel nach sieben auf den Sofas und Stühlen verteilten und das Programm anfing, fehlte von ihm noch jede Spur und ich befürchtete schon, ich sei umsonst gekommen.
Wir sangen einige Lieder, die ich zum Teil schon aus dem Gottesdienst kannte. Auch diesmal standen die meisten Jugendlichen auf und hoben die Hände beim Singen. Sofort machte sich wieder das Unwohlsein in meinem Magen bemerkbar – doch diesmal war es nicht allein: Ich spürte ganz deutlich, wie eine Art Neugier ihm den Platz streitig machen wollte. Irgendwann stellte der blonde Junge, der mir als Nico vorgestellt worden war, seine Gitarre beiseite und das Mädchen – Julia – verließ das Keyboard.
Ein älteres, auffällig hübsches Mädchen mit Pferdeschwanz und Pony trat nach vorne.
»Das ist Linda, unsere Jugendleiterin. Sie ist total cool!«, flüsterte Mara und quietschte vor Begeisterung. »Ihr Mann ist der Nils, der am Sonntag die Predigt gehalten hat. Die beiden sind so süß, die haben letztes Jahr geheiratet, das war die schönste Hochzeit aller Zeiten!«
»Hallo zusammen!« Als Lindas laute, aber freundliche Stimme erklang, verstummte Mara sofort und sah ehrfürchtig nach vorne.
»Ich freue mich, dass ihr wieder alle hier seid. Wie ihr vielleicht im Programm gesehen habt, ist heute unser vierteljährlicher Gebetsabend. Es gibt wie immer mehrere Stationen, an denen ihr zu verschiedenen Themen beten könnt.«
Als Linda die Gebetsstationen aufzählte, fiel mir plötzlich mein Geburtstags-Entschluss wieder ein, den ich vor lauter Basti-Schwärmerei total vergessen hatte. Ich überlegte, ob Beten wohl der Kategorie sinnvoll zuzuordnen sei und ob ich den Sinn darin vielleicht noch ein wenig verstärken könnte, indem ich, statt für mich persönlich zu beten, ganz selbstlos wäre und zur Station Gebet für die Welt ginge.
Wir verteilten uns in verschiedenen Räumen. Mara schien riesige Angst zu haben, ich könne mich verlaufen oder abhauen, denn sie ließ mich keine Sekunde lang aus den Augen.
»Mara, du kannst ruhig zu einer anderen Station gehen, die dich mehr interessiert. Ich komm schon alleine klar!«, gab ich ihr genervt zu verstehen.
»Ach nein, ich finde Gebet für die Welt doch auch toll. Außerdem will ich nicht, dass du dich hier einsam und unwohl fühlst. Ich komm mit dir.« Mara griff nach meiner Hand und ich stolperte ihr hinterher.
Die nächste Stunde verbrachte ich mit Mara und drei anderen Mädchen vor einer Weltkarte und einem Haufen aufgeschlagener Zeitungen sitzend. Ich hörte den anderen zu, wie sie Gott mit allen erdenklichen Bitten bestürmten.
Ich muss zugeben, ich hatte so meine Zweifel daran, ob die Eurokrise aufgrund unseres Gebetes wirklich schneller beendet und ob die Klimakatastrophe so einfach abgewendet werden könnte. Ich war auch nicht ganz überzeugt davon, dass die Konflikte im Nahen Osten nun ohne ein einziges weiteres Opfer zu Ende gehen würden. Doch ich dachte mir, diese Gebete könnten sicherlich nicht schaden, und sagte am Ende brav »Amen«.
Als wir von unserer Station zurück in den Jugendraum kamen, erwartete mich eine angenehme Überraschung. Auf einem der Sofas saß Basti und ich hätte schwören können, dass er seit dem letzten Sonntag noch schöner geworden war.
Viele Leute kamen auf mich zu, um sich mit mir zu unterhalten und mir zu sagen, dass sie sich über meinen Besuch freuten. Matti entschuldigte sich für sein seltsames Verhalten am Sonntag und spendierte mir eine Cola.
Die drei Mädchen von der Gebetsstation hatten mich gerade zu einer Partie Billard eingeladen, als Mara angerannt kam. »Ich, ich hab total vergessen, dass ich jetzt noch eine Besprechung wegen unserer Herbstfreizeit hab.« Selbst in diesem abgehetzten Zustand und nach Luft japsend sprach Mara noch schneller als andere Menschen normalerweise. Sie fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum und erklärte weiter: »Ich muss jetzt mal eine halbe Stunde dahin. Wir sind dahinten in dem Raum, falls du mich brauchst. Ansonsten kannst du dich ja auch an Matti oder Sebastian wenden.«
Wenn du wüsstest, wie gern ich das tun werde, dachte ich und gab mir Mühe, ein hämisches Grinsen zu unterdrücken und durch ein freundliches Lächeln zu ersetzen. »Kein Problem, ich komm schon zurecht«, erklärte ich und winkte großzügig ab.
Nach dem Billardspiel, das schnell vorbei war, weil ich im Gegensatz zu den anderen Anwesenden überhaupt keine Ahnung davon hatte (ich fragte eines der Mädchen, was denn der Stock mit der Düsseldorfer Einkaufsstraße zu tun habe), witterte ich meine Chance des Abends.
Basti saß auf einem der Sofas und der Junge, mit dem er die ganze Zeit geredet hatte, war aufgestanden und in Richtung Tischkicker gelaufen. Ich schnappte mir meine Bionade vom Tisch und ließ mich neben Basti aufs Sofa fallen. »Hey Basti!«, sagte ich so locker und cool wie möglich.
»Hey! Du bist ja wirklich gekommen. Am Sonntag wirktest du noch nicht so überzeugt?!«
»Tja, deine Schwester hat mich einfach die ganze Woche lang nicht in Ruhe gelassen, ich hatte quasi keine andere Wahl.« Ich lachte und auch über Bastis Gesicht huschte ein Grinsen.
»Oh Mann, meine Schwester kann echt anstrengend sein. Wenn sie das Gefühl hat, jemandem etwas Gutes tun zu können, ist sie nicht mehr aufzuhalten. Die meisten schreckt das ab.«
Mir wurde bewusst, dass ich gerade das Etikett meiner Bionade-Flasche in kleine Schnipsel zerfetzte, die sich nun quer über meine Oberschenkel verteilten.
»Na ja, ich hatte heute sowieso noch nix vor und da dachte ich, ich komm halt mal vorbei.«
Ich spürte, dass Basti mich bei dem Versuch beobachtete, möglichst unauffällig die Schnipsel wieder einzusammeln. Zum Glück war er höflich genug, nichts dazu zu sagen.
»Hat’s dir denn bis jetzt wenigstens gefallen hier? Bei welcher Gebetsstation warst du denn?«
»Ich war bei Gebet für die Welt. Joa, ist schon ganz nett hier. Aber ich hab so was halt noch nie gemacht, für Politik gebetet oder so. Und ich weiß auch nicht so genau, was das bringen soll.«
Noch während ich das sagte, hätte ich mir am liebsten gegen den Kopf geschlagen. So viel Ehrlichkeit war vielleicht für den Anfang etwas zu viel des Guten.
Basti seufzte. »Ja, das ist so eine Sache mit dem Beten. Heutzutage ist es leider überhaupt nicht mehr üblich zu beten, wenn man Probleme hat. Manche Menschen machen das vielleicht noch, wenn bei ihnen persönlich Sachen schieflaufen. Aber keiner kommt mehr auf die Idee, für große Dinge zu beten. Dabei ist Gott doch allmächtig!«
Ich hatte inzwischen alle Schnipsel eingesammelt, sie in meine leere Flasche geworfen und diese beiseitegestellt, um nicht mehr so nervös zu wirken. »Aber wieso braucht er denn dann die Gebete? Er kann doch auch einfach so seine Allmacht benutzen, ohne dass ihn jemand darum bittet?!«
Basti nickte. »Könnte er. Aber Gott hat sich dafür entschieden, uns Menschen die Verantwortung für diese Welt zu überlassen. Wenn wir ihn um Hilfe bitten, dann hilft er auch. Wenn wir es alleine schaffen wollen, lässt er uns in Ruhe. Und das ist leider das, was die meisten Menschen heute wollen. Was dabei herauskommt, sieht man, wenn man die Zeitung aufschlägt. Willst du auch noch was trinken? Ich hol uns zwei Flaschen Bionade, okay?« Basti zwinkerte mir zu, als er aufstand und zur Theke ging.
*
Als ich an diesem Abend im Bett lag, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Basti und ich hatten uns noch unterhalten, bis Linda um Mitternacht alle hinausgeworfen hatte, um das Gemeindehaus abzuschließen.
In meinem Bauch spürte ich einen riesigen Klumpen unterschiedlicher Gefühle, die sich aneinander festkrallten und nicht sortiert werden wollten. Der Abend war schön gewesen und irgendwie hatte ich mich wohlgefühlt. Doch ich hatte auch deutlich gespürt, dass diese Leute auf irgendeine Weise ganz anders waren als ich. Sie hatten Witze gemacht, die ich nicht verstand, und sich über Bands unterhalten, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich da jemals dazugehören könnte, und vor allem wusste ich gar nicht, ob ich überhaupt dazugehören wollte.
Zumindest eines war mir aber klar: Basti war nicht nur ein hübscher Kerl. An diesem Abend hatten mich besonders seine Ansichten fasziniert. Basti hatte eine Überzeugung, die sein Leben bestimmte. Er wusste, wofür er eintrat und mit welchem Ziel er lebte. Basti sah in seinem Leben einen Sinn. Und er lebte auf besondere Weise.
Ich erinnerte mich an die Normalität und die Sinnlosigkeit. »Bei Basti sind die bestimmt noch nie aufgekreuzt«, murmelte ich, bevor ich einschlief.
2
In den folgenden Wochen ging ich jeden Freitag in den Jugendkreis. Ich hatte mir vorgenommen herauszufinden, was genau diese Leute eigentlich glaubten und wieso sie so überzeugt davon waren. Außerdem war das natürlich die einfachste und beste Möglichkeit, Basti näherzukommen.
Bereits bei meinem zweiten Besuch stand Mara mit einem Geschenk vor mir. Ich riss das knallbunte Geschenkpapier auf, das mich sehr an eines von Maras Kleidern erinnerte, und hielt eine genauso bunte und nagelneue Bibel in den Händen.
»Danke, Mara, aber ich hab schon eine Bibel zu Hause«, erklärte ich und fragte mich im selben Moment, wohin ich die nach meiner Kommunion wohl geräumt hatte und ob ich sie jemals wiederfinden würde.
»Och«, entgegnete Mara grinsend wie immer, »von Gottes Wort kann man nie genug haben. Außerdem ist das eine echt coole Übersetzung und ich habe dir alle meine Lieblingsverse schon unterstrichen. Den wichtigsten davon hab ich auch gleich noch mal auf die erste Seite geschrieben. Und vorne drin liegt ein Bibelleseplan, damit du weißt, wo du anfangen kannst.«
Ich schlug die Bibel auf. Auf der ersten Seite stand in roter Schnörkelschrift: Von Mara für Johanna. Und darunter in einem schwarzen Rahmen, mit kleinen Herzchen anstelle der i-Punkte:
Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat. Joh. 3, 16
Auf die Innenseite des Deckblattes war mit einer Büroklammer ein gelber Zettel geklemmt, auf dem in einer Tabelle zu jedem Datum eine Textstelle angegeben war.
»Liest du wirklich jeden Tag Bibel?« Ich konnte mir das kaum vorstellen, denn mir gelang es meistens nicht mal, die Bücher zu lesen, die ich zum Geburtstag oder zu Weihnachten bekam. Und die waren wahrscheinlich noch um einiges spannender.
»Ja – jeden Morgen vor der Schule mache ich meine Stille Zeit. Da lese ich den vorgeschlagenen Bibeltext und bete für alles, was an diesem Tag ansteht. Weißt du, ich finde es einfach total spannend, herauszufinden, was der große Herr der Welt mir kleinem Menschen durch dieses Buch sagen will. Probier’s am besten einfach aus. Und wenn du Fragen hast, kannst du mich gerne ansprechen. Oder du fragst Linda, die hat sowieso viel mehr Ahnung als ich!«
Im Jugendkreis nutzte ich natürlich jede Gelegenheit, mit Basti zu reden. Inzwischen war ich weniger nervös, wenn ich ihn sah. Nur wenn ich lachte, verkrampfte ich mich ein wenig, weil mir dabei sonst ab und zu ein unüberhörbares Grunzen entfuhr.
Bastis Ansichten und Überzeugungen schienen denen seiner Schwester sehr ähnlich zu sein, doch er zeigte mehr Verständnis dafür, dass mir vieles davon fremd war, und er gab sich Mühe, mir alles verständlich zu machen. Er erklärte mir, dass es auch ihm grundsätzlich wichtig sei, jeden Tag in der Bibel zu lesen, er es aber nicht immer schaffe.
Er erzählte mir, dass er in dieser Gemeinde schon in der Krabbelstube gewesen sei und über die Kinderstunde bis zum Teenkreis alles mitgemacht habe. »Wirklich begriffen, worauf es ankommt, hab ich aber erst mit 14. Dann hab ich mich auch zum ersten Mal ganz bewusst fürs Christsein entschieden; man würde sagen, ich hab mich bekehrt«, fügte er hinzu.
Vieles von dem, was Basti erzählte, verstand ich nicht. Ich wusste nicht, was Sonntagsschule und Jungschar bedeutete, und ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ein Zwanzigjähriger zu dem Entschluss kommen konnte, nur noch christliche Musik zu hören, aber ich war fest entschlossen, das alles herauszufinden. Und als Basti mir schließlich erzählte, wie er nach einem Gebet von einem Moment auf den anderen von einer Mandelentzündung befreit worden war und wie plötzlich, nachdem er sich mitten in der Nacht in der einsamsten Gegend verfahren hatte, ein Taxifahrer auftauchte, der bis zum Ziel vor ihm herfuhr, ohne dafür Geld zu wollen, da konnte ich langsam nachvollziehen, wieso er so überzeugt von seinem Glauben war.
Auch mit Matti und seiner Freundin Julia verstand ich mich von Woche zu Woche besser. Matti hatte sich anscheinend selbst die Rolle des ewigen Entertainers auferlegt. Ständig hatte er neue Sprüche auf Lager und er verstand es, die alltäglichsten Geschichten so zu erzählen, dass mir die Augen vor Lachen tränten. Neben ihm geriet die ruhige und zurückhaltende Julia beinahe in die Gefahr, übersehen zu werden. Ich fragte mich oft, wie wohl ausgerechnet diese beiden zusammengekommen waren.
*
In der ersten Oktoberwoche war Mara nicht in der Schule. Auch am Freitag im Jugendkreis konnte ich sie nirgends entdecken. Nach dem offiziellen Teil des Abends, der wie meistens aus ein paar Liedern und einer Predigt bestand, ging ich zu Basti, um herauszufinden, was mit seiner Schwester los war.
»Die hat sich irgendwo das Pfeiffersche Drüsenfieber eingefangen. Sie wird wohl noch einige Wochen im Bett bleiben müssen, hat der Arzt gesagt. Das ist echt das Schlimmste, was man Mara antun kann, so hyperaktiv wie sie ist. Ihr wird immer sofort langweilig und im Moment darf sie nicht mal Besuch bekommen.«
»Oje, das tut mir ja leid. Hoffentlich wird sie schnell wieder fit«, erklärte ich und gab mir Mühe, die kleine Freude, die sich neben das Mitleid drängte, zu unterdrücken.
Als an diesem Abend wie immer pünktlich um Mitternacht der Jugendkreis beendet und das Gemeindehaus abgeschlossen wurde, lud Julia mich, Matti, Basti und ein paar andere ein, noch mit zu ihr zu kommen. Ihre Eltern waren übers Wochenende weggefahren. Zu siebt breiteten wir uns bei ihr im Wohnzimmer aus.
»Sag mal, Johanna, wieso hast du eigentlich keinen Spitznamen?« Matti hatte aus der Verpackung einer Schokoladentafel ein Flugzeug gefaltet, das er mir bei diesen Worten gegen den Kopf fliegen ließ.
»Wieso sollte ich denn einen haben? Ich find meinen Namen total in Ordnung!«
»Ja schon, aber der ist so lang. Guck mal, wir haben alle Namen mit zwei Silben, nur du hast drei. Das ist viel zu viel Aufwand beim Sprechen! Ich bin dafür, dass wir dich jetzt Hanna nennen. Das kommt auch häufiger in der Bibel vor.« Matti nickte eifrig, um seine grandiose Feststellung zu unterstreichen.
»Na wenn’s dich glücklich macht, von mir aus«, sagte ich großzügig, denn es war mir eigentlich ziemlich egal, wie ich genannt wurde.
Julia holte vier Bier- und zwei Colaflaschen aus der Küche und stellte sie auf den Tisch.
»Wenn das der Nils sehen würde, das würd ihm aber gar nicht gefallen«, sagte Basti lachend, als er seine Bierflasche öffnete. Dann bemerkte er meinen fragenden Blick und erklärte: »Nils, also der Mann von Linda, ist absoluter Antialkoholiker. Wenn der sieht, dass jemand von uns was trinkt, hält er uns immer gleich ’nen Vortrag. Auf der letzten Herbstfreizeit hat er unter Kays Bett ’nen Sixpack gefunden und ist total ausgerastet.«
»Apropos Herbstfreizeit«, meldete sich Julia zu Wort, »kommst du eigentlich dieses Jahr mit, Hanna?«
Ich hatte mitbekommen, dass jedes Jahr in den Herbstferien eine Freizeit stattfand, zu der die meisten aus dem Jugendkreis fuhren. Bisher hatte ich jedoch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, mitzufahren. »Hm, keine Ahnung. Mich hat noch niemand gefragt und die ist ja auch schon in zwei Wochen, oder? Da kann ich mich ja jetzt bestimmt eh nicht mehr anmelden.«
»Ach Quatsch, im Mädels-Haus ist bestimmt noch ein Bett frei. Am besten du rufst morgen mal Linda an, die regelt das schon. Ich würd mich freuen, wenn du mitkommst!« Julia zückte ihr Handy und gab mir Lindas Nummer.
Basti erhob seine Bierflasche und sagte laut: »Auf Hanna und die Herbstfreizeit.« Ich wurde knallrot.
»Ich hab mir übrigens heute ’ne neue DVD gekauft, die könnten wir gucken.« Julia kletterte über die Rückenlehne des Sofas und nahm eine Plastiktüte aus dem Regal. Ich beobachtete Julia dabei und mir fiel zum ersten Mal auf, wie schön sie war. Ihre langen hellbraunen Haare lagen immer perfekt und sie trug Kleidung, die ihren zierlichen Körper weiblicher und weniger zerbrechlich aussehen ließ. Ihr Gesicht war ein wenig blass, aber makellos und sie verstand es, das dunkle Grün ihrer Augen mit Lidschatten zu betonen, ohne geschminkt auszusehen. Irgendwie passt sie genau in dieses Wohnzimmer, dachte ich. Das war genauso schön und makellos wie sie. Sogar auf dem Fernseher war kein einziges Staubkörnchen zu sehen.
Julia schob die DVD in den Player. Es war der dritte Teil der Narnia-Verfilmung. Eigentlich mochte ich keine Fantasyfilme und der erste Teil von Narnia hatte mir überhaupt nicht gefallen. Weil sich aber herausstellte, dass alle anderen die Bücher in ihrer Kindheit gelesen hatten und den Film deshalb unbedingt sehen wollten, sagte ich nichts und ging stattdessen zur Toilette.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer kam mir Julia entgegen, die gerade noch mehr Getränke holen wollte. Mich durchzuckte es. Saß Julia nicht gerade neben Basti?
Erwartungsvoll öffnete ich die Wohnzimmertür. Ich hatte mich nicht getäuscht: Auf dem Sofa an der Wand saß Basti und links neben ihm war ein freier Platz.
»Ich setz mich mal da hin, da muss ich beim Film nicht die ganze Zeit den Kopf so drehen«, erklärte ich, weil mir so schnell kein besserer Vorwand eingefallen war.
Wie ich erwartet hatte, schaltete Julia das Licht aus, als sie mit vier weiteren Bierflaschen und zwei Tüten Chips das Wohnzimmer betrat. Ich rutschte ein paar Millimeter näher zu Basti.
Von der ersten halben Stunde des Films bekam ich rein gar nichts mit. Pausenlos überlegte ich hin und her, was ich tun sollte. Eigentlich war ich der Ansicht, der erste Schritt müsse immer vom Jungen kommen. Andererseits war Basti bei diesem Thema sicher sehr schüchtern und, da er ja noch nie eine Freundin gehabt hatte, vielleicht auch ein wenig überfordert. Am liebsten wäre es mir gewesen, ich hätte unauffällig seine Hand berühren und auf seine Reaktion warten können. Doch unglücklicherweise hatte die Hand es sich außer Reichweite mit einem Kissen hinter Bastis Kopf gemütlich gemacht.
Nach weiteren zehn Minuten inneren Kampfes beschloss ich schließlich, dass diese Gelegenheit einfach zu perfekt war, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Ich hob meine rechte Hand, strich mir damit eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht und legte sie auf Bastis Knie.
3
Ich hatte mich schon lange nicht mehr so beschissen gefühlt. Als ich am Samstagmorgen von der Sonne, die durch die Rollladenschlitze ins Zimmer schien, geweckt wurde, drückte ich mir ein Kissen ins Gesicht und schrie aus voller Kehle hinein. Dann sah ich mich in meinem Zimmer um und überlegte, womit ich am besten die zwitschernden Vögel abwerfen könnte. Die taten ja gerade so, als gäbe es irgendeinen Grund für gute Laune. Die wussten ja auch nicht, dass Basti einfach gegangen war.
Basti war zusammengezuckt, als er meine Hand auf seinem Knie bemerkt hatte. Dann hatte er mich zwei Sekunden lang angestarrt. »Ich muss jetzt gehen«, hatte er gesagt. »Mara muss alle drei Stunden ihre Medikamente bekommen und heute bin ich mit der Nachtschicht dran.«
Dann war er einfach aufgestanden und gegangen.
»Was hat den denn gebissen?«, hatte Matti gefragt und alle anderen hatten nur mit den Schultern gezuckt. Ich hatte mich gezwungen, nicht loszuheulen und das Ende des Films abzuwarten. Dann war ich nach Hause gegangen und hatte geweint, bis ich auf einem klatschnassen Kissen eingeschlafen war.
»Schrecklich«, murmelte ich nun meinem Stoffelefanten ins Ohr. »Wieso hat er das gemacht? Er hätte meine Hand ja auch einfach wegschieben können oder so. Jetzt wird er bestimmt nie wieder ein Wort mit mir reden.«
Ich blieb den ganzen Samstag im Bett liegen.
*
Am Sonntagmittag um zwölf – ich lag noch immer im Bett – klopfte es an meine Zimmertür.
»Nein«, grummelte ich, doch meine Mutter hatte die Tür schon geöffnet. Sie kam ins Zimmer und setzte sich zu mir aufs Bett.
»Johanna, was ist denn mit dir los? Bist du krank? Du bist gestern schon nur vom Bett zum Kühlschrank und wieder zurück geschlappt.«
Ich hatte wirklich keine Lust, ihr die Geschichte zu erzählen, und erklärte knapp: »Ja, ich bin krank, mir geht’s gar nicht gut.«
Meine Mutter strich mir über die Stirn. »Also Fieber hast du nicht. Im Kühlschrank steht noch eine Lasagne, die mach ich dir gleich warm. Wenn du was gegessen hast, geht’s dir bestimmt besser. Hier, im Briefkasten war was für dich.«
Meine Mutter zog einen gefalteten Umschlag aus der Tasche ihres Pullovers. »Zumindest glaub ich, dass es für dich ist. Es steht Hanna drauf.« Sie drückte mir den Umschlag in die Hand und verließ das Zimmer.
Ich betrachtete den Umschlag. Es waren weder ein Absender noch eine Briefmarke darauf zu sehen. Genau in der Mitte stand in ordentlicher Schrift mit Füllfederhalter geschrieben: An Hanna.
Mir blieb das Herz stehen. Es gab nicht viele Personen, die von meinem neuen Spitznamen wussten, und nur eine davon hätte einen Grund gehabt, mir einen Brief zu schreiben.
Vorsichtig öffnete ich den Umschlag und faltete einen Bogen Briefpapier auf. Mein Blick wanderte direkt zum Ende des Textes. Alle meine Hoffnungen und Befürchtungen bestätigten sich. In derselben ordentlichen Schrift stand da: Sebastian. Wieso schrieb er Sebastian?
In meinem Kopf entstand ein Wirbelsturm aus Gedanken: Er will sich entschuldigen – er will mir sagen, dass ich nicht mehr in den Jugendkreis kommen soll – er hat gemerkt, dass er mich doch mag – ich soll nicht mit zur Herbstfreizeit kommen – er hat heimlich doch eine Freundin – ich bin ihm zu jung – er will nur heimlich mit mir zusammen sein …
Ich atmete mit geschlossenen Augen zweimal tief durch und begann dann zu lesen.
Liebe Hanna,
es tut mir sehr leid, dass ich gestern einfach abgehauen bin. Ich wusste nicht, wie ich reagieren soll. Eigentlich hätte ich sofort mit Dir reden müssen, anstatt Dich einfach sitzen zu lassen, doch ich wollte nicht, dass die anderen etwas mitbekommen.
Weißt Du, das ist alles momentan nicht so leicht für mich. Du bist ein tolles Mädchen, wunderschön und intelligent und ich finde es super, dass Du in den Jugendkreis gekommen bist. Ich bin mir ganz sicher, dass es Gottes Führung war, die Dich in den Gottesdienst und dann in den Jugendkreis hat kommen lassen.
Ich mag Dich wirklich sehr – mehr als mir lieb ist, denn ich kann nicht mit Dir zusammen sein.
Ich weiß, das ist für Dich jetzt sehr schwer zu verstehen, deshalb gebe ich mir die größte Mühe, es Dir irgendwie gut zu erklären:
Ich habe ein paar Grundsätze, was Frauen angeht. Der wichtigste davon ist, dass ich nicht mit einer Nichtchristin zusammenkommen will. Das klingt jetzt total blöd, weil Du ja sagst, dass Du an Gott glaubst und weil Du ja auch sehr interessiert an allem bist, aber Du lebst eben noch nicht bewusst mit Jesus, Du hast ihm noch nicht Dein Leben übergeben. Ich hab Dir ja schon mal erklärt, dass ich der Überzeugung bin, dass nicht jeder, der in die Kirche geht oder als Baby getauft wurde (schon gar nicht katholisch), deshalb Christ ist. Es hängt von einer bewussten Entscheidung und deren Folgen ab.
Ich glaube allerdings nicht, dass ich der Richtige dafür bin, Dir das zu erklären. Vielleicht solltest Du darüber mal mit Mara oder Linda reden …
Ein zweiter Grundsatz von mir ist, dass ich auf die Richtige warten will. Wenn ich eine Beziehung eingehe, dann soll das Ziel davon ganz klar die Ehe sein. Eine Beziehung ist in meinen Augen die Probephase, in der ich herausfinde, ob diejenige die für mich bestimmte Ehepartnerin ist.
Deshalb ist dieses ganze Thema für mich auch mit sehr viel Gebet und Vertrauen auf Gott verbunden. Ich weiß, dass Gott die richtige Frau für mich hat und dass er sie mir zeigen wird, und deshalb ist es mir wichtig, vor einer Beziehung viel mit Gott zu sprechen und ganz genau zu prüfen, ob er damit einverstanden ist.
Es ist gerade sehr schwer für mich, einen klaren Kopf zu behalten. Ich fühle mich sehr zu Dir hingezogen, doch ich weiß, dass eine Beziehung mit Dir (noch) nicht Gottes Willen entsprechen würde. Er sagt in der Bibel ganz klar, dass Christen und Nichtchristen nicht heiraten sollen.
Ich hoffe, Du verstehst mich wenigstens ein kleines bisschen.
Es tut mir leid!
Sebastian
PS: Ich wünsche mir sehr, dass Du trotzdem weiter in den Jugendkreis kommst und auch mit zur Herbstfreizeit fährst. Ich werde Dir jedoch in nächster Zeit eher aus dem Weg gehen, um Dich und mich nicht unnötig zu verletzen. Bei der Herbstfreizeit werde ich sowieso erst ab Freitag dabei sein, weil das gerade die zweite Woche meines Studiums ist.
Wahrscheinlich war es ein Fehler, dass wir uns so oft so intensiv unterhalten haben, ich hätte verhindern müssen, dass es überhaupt so weit kommt.
Bitte komm trotzdem weiterhin; Jesus wartet darauf, von Dir entdeckt zu werden!
Ich kniff mir in den Oberarm, um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. So etwas Seltsames hatte ich wirklich noch nie gehört. Nichtchristin? Wie kam er dazu, mich so zu bezeichnen? Und was hatte er eigentlich dagegen, dass ich katholisch war? Wieso um alles in der Welt machte er sich Gedanken ums Heiraten? Ich hatte doch bloß meine Hand auf sein Knie gelegt!
Ich las den Brief ein zweites und ein drittes Mal, doch nichts wurde mir dabei klarer.
*
Sechs Tage lang trug ich den Brief in der Hosentasche mit mir herum. Bei jeder Gelegenheit las ich ihn. Am Mittwoch konnte ich ihn auswendig. Ich kannte jedes Wort darin, doch was mir das alles sagen sollte, war mir immer noch ein großes Rätsel.
Sechs Tage lang fragte ich mich, was ich tun sollte.
Drei Mal setzte ich mich an den Schreibtisch, um einen Antwortbrief zu schreiben, doch mir fiel einfach nichts ein, was ich Basti hätte sagen können. Er wusste offensichtlich selbst, dass ich ihn nicht verstehen konnte, und er schien damit gut leben zu können.
*
Bis zehn vor sieben am Freitag überlegte ich, ob ich in den Jugendkreis gehen sollte. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, Basti zu sehen. Schließlich machte ich mich trotzdem auf den Weg.
Ich muss mit irgendwem darüber sprechen, sonst lässt mir das mein ganzes Leben lang keine Ruhe mehr, machte ich mir klar. Außerdem hatte ich endlich ein paar Leute kennengelernt, die ich wirklich mochte und mit denen ich auch mal was unternehmen konnte. Das wollte ich mir nicht von einem Kerl kaputt machen lassen, egal wie hübsch er war.
Ich schloss gerade auf dem Parkplatz vorm Gemeindehaus mein Fahrrad ab, als Julia um die Ecke gelaufen kam.
Natürlich fragte sie mich zur Begrüßung, ob »alles klar« sei.
Ich murmelte »Hmhm, passt schon« und versuchte, dabei wie jemand zu klingen, der überzeugend wirken möchte, es aber nicht schafft. Leider schien Julia das nicht zu bemerken.
»Hast du mit Linda gesprochen wegen der Freizeit? Klappt das?«
»Ich hab sie nicht angerufen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich noch mitkommen will.«
Jetzt musste Julia einfach fragen, was los war. Und dann konnte ich so tun, als wolle ich es nicht erzählen, bis sie schließlich darauf bestand – weil ich ihr wichtig war.
»Wieso das denn? Letzten Freitag hast du dich doch noch darauf gefreut?!«
Sie versuchte, mir in die Augen zu schauen, doch ich blickte auf den Boden. Es funktionierte.
»Ist was passiert?«
»Hm na ja, schon … Ach, ist nicht so wichtig.«
»Komm, Hanna, wir setzen uns jetzt da drüben auf die Bank und du erzählst mir, was los ist.«
Ich gab mich geschlagen.
»Es geht um Basti«, sagte ich und meinte, in Julias Blick ein wenig Mitleid aufblitzen zu sehen.
»Am Freitag, als wir den Film geschaut haben, hab ich meine Hand auf sein Knie gelegt. Und er hat total bescheuert reagiert.«
Julia seufzte. »Ich hab’s fast befürchtet. An Basti haben sich schon viele die Zähne ausgebissen. Ich glaub, jedes Mädchen im Jugendkreis war schon mal in ihn verknallt und er hat sie alle abblitzen lassen.«
Seltsamerweise überraschte mich diese Information. Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, ich könne die Erste gewesen sein, die ein Auge auf ihn geworfen hatte?!
»Es geht aber eigentlich gar nicht so sehr darum, dass er mir einen Korb gegeben hat. Das ist mir ja schon öfter passiert und normalerweise macht mir das nicht viel aus.« Das war nicht einmal gelogen.
»Was mich so wahnsinnig macht, ist, wie und mit welcher Begründung er das gemacht hat. Hier, lies.«
Ich zog den Brief heraus, der immer noch in meiner Hosentasche steckte und inzwischen ziemlich zerfleddert war.
Julia las und machte dann eine lange Pause. Währenddessen fuhr Basti mit dem Fahrrad an uns vorbei. Er lächelte und rief »Hi!«. Nur eine Woche zuvor wäre er rübergekommen, um uns vernünftig zu begrüßen, doch nun hatte ich alles kaputt gemacht.
Er sah das Blatt Papier in Julias Hand und schien sofort Bescheid zu wissen. Er warf mir einen Blick zu, der laut »Es tut mir ja so leid!« schrie. Obwohl ich sauer auf ihn war, hätte ich ihn dafür abknutschen können.
In der Zwischenzeit hatte Julia ihre Gedanken sortiert. »Du verstehst nicht, was das soll, hab ich recht?«
Ich nickte.
»Weißt du, ich kann mir genau vorstellen, wie’s dir im Moment geht. Vielleicht sollte ich dir mal erzählen, wie das bei mir so war, als ich hierherkam.«
Wieder nickte ich, obwohl ich nicht wusste, was das bringen sollte.
»Im Gegensatz zu den meisten bin ich nämlich auch nicht durch meine Eltern hierhergekommen. Meine Eltern interessieren sich leider überhaupt nicht für Glauben und so. Mich hat damals eine Freundin aus der Schule mitgenommen; die ist aber inzwischen weggezogen.
Auf jeden Fall dachte ich am Anfang, ich sei hier in einem Irrenhaus gelandet. Wie die alle immer geheult haben beim Singen und wie sie ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie bei der letzten Klausur gespickt hatten. Das hab ich alles überhaupt nicht verstanden, aber ich fand die Leute einfach nett und war gerne hier. Und mit der Zeit hab ich dann begriffen, dass das alles eigentlich ganz logisch ist.
Alle hier haben sich irgendwann mal dafür entschieden, Jesus zum Herrn über ihr Leben zu machen. Wir haben begriffen, dass wir in unserem Leben immer wieder Mist bauen, Sachen, die wir eigentlich nicht wollen und nicht gut finden. Und dass der Einzige, der dagegen etwas tun kann, Jesus ist, weil der diesen ganzen Mist mit ans Kreuz genommen hat. Er macht uns das Angebot, den Mist aus unserem Leben zu nehmen und uns dabei zu helfen, in Zukunft weniger davon zu machen. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, dieses Angebot anzunehmen und Jesus freie Hand in unserem Leben zu lassen.
Er will, dass wir ihm immer ähnlicher werden, und deshalb verändert er uns. Plötzlich haben wir das Gefühl, dass Spicken bei einer Arbeit doch nicht total normal ist. Und dass wir auf der Party nicht mit dem süßen Typen in der Ecke einfach rumknutschen sollten, weil das ihm oder uns vielleicht mehr bedeutet und wehtut oder weil ein anderes Mädchen vielleicht in ihn verliebt ist oder so.
Und was Basti in dem Brief meint, hängt genau damit zusammen. Er weiß, dass du diese Entscheidung bisher nicht getroffen hast. Deshalb hast du zu vielen Dingen wahrscheinlich eine andere Einstellung als er.
Dinge, die du wahrscheinlich total normal findest, weil du sie gewohnt bist, will er vielleicht nicht. Und er weiß, dass du viele seiner Ansichten nicht verstehen kannst, weil du Jesus noch nicht kennst.
Ich kann das ehrlich gesagt verstehen, weil ich an Matti und mir sehe, wie wichtig diese Gemeinsamkeit ist. Uns bedeutet es zum Beispiel total viel, dass wir bei jedem unserer Treffen am Ende zusammen beten. Und dass wir uns gegenseitig erzählen, wenn wir irgendwas Blödes gemacht haben, damit wir gemeinsam um Vergebung dafür bitten können.
Basti glaubt und weiß einfach, dass eine Beziehung nur funktionieren kann, oder besser: nach Gottes Vorstellung funktionieren kann, wenn beide Partner denselben Herrn und dasselbe Ziel im Leben haben.«
Drei Sekunden Stille.
»Vielleicht verstehst du das jetzt ein bisschen besser? Es ist schwierig, ich weiß. Diese Wahrheit spielt in der heutigen Gesellschaft leider überhaupt keine Rolle mehr und viele Menschen werden damit nie so direkt konfrontiert. Aber es ist eine große Chance für dich. Glaub mir, ich hab meine Entscheidung nie bereut.«
Ich fühlte mich erschlagen.
Julia ging in Richtung Gemeindehaus, doch ich machte mich auf den Heimweg. Diese ganze Erklärung musste ich erst mal verdauen.
*
Ich saß in Gesellschaft einer großen Tasse Kakao in meinem Zimmer und dachte lange über das nach, was Julia gesagt hatte.
Es stimmte: Ich hatte mich schon oft gefragt, wieso ich immer wieder dieselben Fehler machte, egal wie sehr ich mir vornahm, mich zu bessern. Dass ich es zum Beispiel nicht schaffte, freundlich zu meinem Vater zu sein und ihn nicht wegen jeder Kleinigkeit anzupflaumen. Ob Jesus mir bei so etwas wirklich helfen konnte?
Ich nahm die bunte Bibel in die Hand. In den Tagen zuvor hatte ich ein paar Mal darin gelesen, doch was da stand, hatte mir nie besonders viel gesagt. Jetzt blätterte ich sie einfach durch und las die Stellen, die Mara unterstrichen hatte. Als ich sie wieder zuklappen wollte, fiel mir der Vers auf der ersten Seite ein. Ich las ihn noch einmal.
Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat.
Das gefiel mir. Nicht verloren gehen. Ich fühlte mich oft verloren in dieser riesigen Welt, in der einem jeder etwas anderes erzählte und offenbar keiner wusste, was wirklich Sache war. Und Jesus ähnlicher werden, wie Julia gesagt hatte, das klang eigentlich auch nicht schlecht. Jesus war schließlich ein toller Typ gewesen, so viel wusste ich. Und was er tat, war mit Sicherheit besonders. Und sinnvoll war es auch.
Am Samstag rief ich Linda an und bat sie, mich zur Herbstfreizeit anzumelden.
4
Die Herbstferien hatten begonnen und somit rückte auch die Freizeit näher. Am Mittwoch der zweiten Ferienwoche trafen wir uns schon morgens am Gemeindehaus. Bis auf Basti, der erst am Freitag nachkommen konnte, und Mara, die sich immer noch mit ihrem Drüsenfieber im Bett vergnügte, war tatsächlich der ganze Jugendkreis dabei.
Mara war nun schon drei Wochen krank und ich hatte mich kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Gerne hätte ich deshalb ein schlechtes Gewissen gehabt. Hatte ich aber nicht. Das waren wahrscheinlich so Sachen, die sich änderten, wenn man Jesus ähnlicher wurde.
Die Gemeinde hatte zwei Neunsitzer ausgeliehen, auf die wir uns aufteilten. Nils und Kay, einer der älteren Jungs, setzten sich ans Steuer. Linda lud ihr Auto mit unserem Gepäck voll und fuhr hinterher. Ehrlich gesagt wusste ich überhaupt nicht, wohin die Fahrt gehen würde. Julia hatte mir nur von einer schönen Jugendherberge erzählt, bei der wir zwei große Gruppenhäuser gemietet hatten. Dass das Ganze ziemlich weit vom Schuss sein musste, wurde mir während der Fahrt klar. Wir verließen die Autobahn nach nur fünf Ausfahrten und gurkten dann noch über eine Stunde durch Wälder und kleine Dörfer, vorbei an riesigen Maisfeldern und kleinen Tümpeln. Endlich bogen wir von einer kleinen Straße links ab und hielten auf einem Parkplatz.
Die Anlage der Jugendherberge war wirklich sehr schön. Um den rechten Teil des Parkplatzes wölbte sich das Hauptgebäude, in dem es außer dem Speisesaal und mehreren Aufenthaltsräumen auch Billardtische und Tischkicker gab. Im Billard war ich seit meinem ersten Abend im Jugendkreis schon um einiges besser geworden und ich freute mich darauf, das unter Beweis zu stellen. Links vom Parkplatz befand sich eine große Wiese, die offensichtlich zum Fußballspielen gedacht war, daneben standen drei steinerne Tischtennisplatten. Hinter dem Hauptgebäude führte ein gerader, schmaler Weg zu den Gruppenhäusern. Wir Mädchen bekamen das vorderste Haus zugeteilt. Die Jungs waren auf der gegenüberliegenden Seite des Weges untergebracht.
Julia und ich schleppten unser Gepäck eine schmale Holztreppe hoch und bezogen das Zweibettzimmer, während die anderen Mädchen sich auf die beiden Dreibettzimmer aufteilten.
*
Nach dem Mittagessen, das für Jugendherbergs-Verhältnisse wirklich lecker war, nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem Geländespiel teil.
Ich war noch nie ein großer Outdoorfreakgewesen und die Vorstellung, mich auf dem matschigen Waldboden herumzuwälzen, gefiel mir nicht besonders. Wenigstens war es an diesem Tag einigermaßen trocken und warm.
Nils teilte uns in zwei Teams ein. Wir mussten im Wald Diamanten finden und unbemerkt an unseren geheimen Stützpunkt schmuggeln, ohne dabei den Spionen des anderen Teams über den Weg zu laufen.
Da ich selbst von meinem Team zur Spionin gewählt wurde, bestand meine Aufgabe darin, die Spieler des anderen Teams zu finden, zum Stützpunkt zu verfolgen und sie ab einer bestimmten Markierung zu fangen, um ihnen die Diamanten abzunehmen. Ein paar Mal gelang mir das ganz gut und ich konnte Debbie, Leonie und Matti gleich mehrere Diamanten auf einmal abknöpfen.
Als ich jedoch gerade die Verfolgung von Julia aufgenommen hatte und nur noch wenige Schritte hinter ihr war, meinte eine fiese Baumwurzel, sich an meinen Fuß heranschmeißen zu müssen.
In einem hohen Bogen flog ich nach vorne und landete genau auf Julia. Lachend lagen wir im feuchten Laub. Julia roch gut.
*
Am Abend trafen wir uns alle im Gemeinschaftsraum. Linda hatte auf das Geländespiel verzichtet und in dieser Zeit den Raum für uns gemütlich hergerichtet. Auf dem Boden waren Kissen und Decken verteilt, in der Mitte standen Pflanzen und weiße Kerzen in verschiedenen Größen.
Wie immer eröffneten wir den Abend mit ein paar Liedern. Wie immer sang ich dabei die Lieder mit, die ich schon kannte, und beobachtete die übrige Zeit lang die anderen. Wie immer fiel mir dabei Debbie auf.
Debbie mit den langen blonden Haaren, die erst 15 war und sich zum Singen meistens hinkniete. Wenn sie von Gottes Macht und Größe sang, liefen ihr regelmäßig Tränen über die Wangen. Ich fragte mich deshalb oft, ob es ihr dabei extrem schlecht oder extrem gut ging. Sie war sonst eigentlich immer fröhlich und gut gelaunt, doch ich hatte bei einigen Leuten dort das Gefühl, dass sie beim Singen irgendwie nicht mehr ganz sie selbst waren und in eine Art andere Sphäre abhoben oder so. Am Anfang hatte mir das ziemlich Angst gemacht, doch allmählich begann ich, es eher faszinierend zu finden und mich zu fragen, wie sich dieses drogenlose Highsein wohl anfühlte.
Anschließend hielt Linda eine Message (was nichts anderes war als eine Predigt, doch Message klang einfach cooler) zum Thema Der Unterschied.
Als Einleitung stellte sie die Frage, was Christen eigentlich von allen anderen Menschen unterscheide. Ich wurde hellwach. Genau diese Frage beschäftigte mich seit Wochen, und obwohl ich immer noch nicht so ganz die Definition von Christen